Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

unglueck titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wie oft haben wir nicht schon erlebt, dass das Schicksal uns etwas Ersehntes vorenthält? Wer ist es aber, der uns Schicksal schickt?

Weil wir gläubig vertrauen, dass das göttliche Geheimnis Quelle und Ursprung unseres Lebens und so auch unseres Schicksals ist, schreiben wir Gott auch dieses Vorenthalten zu und nennen Gott den VERWEIGERNDEN.

Wie oft haben wir aber im Nachhinein dann sehen können, wie gut es für uns war, dass uns verweigert wurde, was wir uns erhofften und worum wir beteten.

Wir sind doch auch unseren Eltern nicht nur für das uns Gewährte dankbar, sondern ebenso für alles, was sie uns aus besserer Einsicht verweigerten. Erst als reife Menschen können wir so recht würdigen, was wir unseren Eltern durch ihr Verweigern verdanken. Es schwingt also Dankbarkeit mit, wenn wir Gott den VERWEIGERNDEN nennen.

Denk an einen großen Wunsch, der dir nicht in Erfüllung ging. Es ist nicht zu spät, dem VERWEIGERNDEN dafür zu danken. Vielleicht willst du das heute tun und dabei die innere Freiheit verspüren, die dir dieses Danken für Verweigertes gibt.[1]

Die Lehrerin fragt ein Schulkind: «Wozu brauchst du deinen Verstand?» «Um Geheimnisse zu bewahren», antwortet das Mädchen ohne zu zögern. Für sie bedeutet «Verstand» offenbar mehr als Vernunft, sie meint damit ihr ganzes Innenleben. Darum ist ihre Antwort so treffend. Unser Inneres wird uns als ein Bereich bewusst, der jeden Zugriff von außen zurückzuweisen vermag. Dieses geheimnisvolle, die innerste Würde behütende Zurückweisen gehört auch zu unseren innigsten persönlichen Beziehungen, ja, ganz besonders zu ihnen, und aus dieser Erfahrung erklärt sich wohl auch «der ZURÜCKWEISENDE» als Name für unser göttliches Du.

«Es tauchten tausend Theologen
in deines Namens alte Nacht ...»
[2]

Aber kein Name kann die Dunkelheit des Unergründlichen über die Grenze dieser Zurückweisung hinweg aufhellen.

Auch Nikolaus Lenau verwendet für die Unergründlichkeit des ZURÜCKWEISENDEN das Bild der Nacht, wenn er betet:

«Weil’ auf mir, du dunkles Auge,
übe deine ganze Macht,
ernste, milde, träumerische,
unergründlich süße Nacht!»
[3]

Süß, nicht erschreckend, dürfen wir uns die Nacht des ZURÜCKWEISENDEN vorstellen, weil sie ja letztlich jene Unergründlichkeit ist, die zur Vertrauensschulung in jeder Liebesbeziehung gehört.

Diese Erfahrung, Vertrauen auf Unergründlichkeit, macht es uns dann auch leichter, im täglichen Leben damit umzugehen, dass der ZURÜCKWEISENDE oft zu unseren Wünschen Nein sagt.

Wir dürfen ja nicht vergessen, dass unser tägliches Leben nichts Anderes ist, als immer wieder neue Gelegenheit zur Begegnung mit dem namenlosen Geheimnis, das hinter allen Gottesnamen steht.

«Kein Schicksal, keine Absage, keine Not ist einfach aussichtslos»,

schreibt Rilke: «Irgendwo kann das härteste Gestrüpp es zu Blättern bringen, zu einer Blüte, zu einer Frucht. Und irgendwo in Gottes äußerster Vorsehung wird auch schon ein Insekt sein, das aus dieser Blüte Reichtum trägt ...»[4]

Im Vertrauen auf den ZURÜCKWEISENDEN dürfen wir selber wohl jene Bienen sein, die auch aus den Blüten von Absage und Verweigerung Süßes saugen.

Was scheint dir das Leben zu verweigern? Kannst du, zum ZURÜCKWEISENDEN aufschauend, Honig des Vertrauens daraus machen? [5]

Wie können wir Gott den SCHADEN ZUFÜGENDEN nennen? Nur im tiefsten Vertrauen darauf, dass auch alles, was uns schadet, Geschenk der Liebe ist. Bei diesem radikalen Lebensvertrauen geht es um jene Haltung völligen Eins-Seins ‒ mit sich selbst und mit dem unergründlichen Geheimnis ‒, die uns in T. S. Eliots Worten «nicht weniger kostet als alles».[6]

Viele sagen «Ich habe an Gott geglaubt, bis mir das und das zugestoßen ist. Seitdem kann ich nicht mehr an Gott glauben.»

Da hat etwas zum Zusammenbruch des Glaubens geführt, was eigentlich Anstoß zur radikalen Verwirklichung gläubigen Vertrauens hätte werden können.

Wir können nicht sicher im Voraus wissen, ob unser Glaube an einem überaus schmerzlichen Anstoß scheitern oder erst so recht beginnen wird. Aber wir können uns darauf vorbereiten!

So wie wir durch unsere Erwägungen der Unergründlichkeit des Verweigernden vertrauen lernten, so können wir verstehen lernen, dass auch der SCHADEN ZUFÜGENDE ein Gottesname sein kann.

Leichter fällt uns das, wenn wir von uns selbst absehen und aufs Ganze schauen.

Denn nur in Teilbereichen können wir von Schaden und Nutzen sprechen. wenn wir aber aufs Ganze schauen, sind beide, Schaden wie Nutzen, Gewinn, nämlich Gewinn an Sein.

Unser Herz in einem großen Entschluss für die Fülle des Seins aufzuschließen, kostet uns aber, wie schon gesagt, «nicht weniger als alles».

Auch hier gilt: Schaue aufs Ganze ‒ und du wirst das Ganze rühmen.

«Meide den Irrtum, dass es Entbehrungen gebe
für den geschehnen Entschluss, diesen: zu sein!
Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.

Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, dass der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.»
[7]

Wo fordert der SCHADEN ZUFÜGENDE dich am meisten heraus? Nimm das als Anstoß, dich zu äußerstem Vertrauen zu entschließen. Dieser Entschluss entscheidet zwischen einem verbitterten und einem erfüllten Leben.[8]

Ergänzend:

1. Text, Filme und Audios in Lebensvertrauen

2. Weitere Audios

2.1. Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
Drei Grundfragen Warum? Was? Wie? (Bruder David):
(32:10) Unsere Aufgabe: ‹Rühmen, das ists› (Rilke: Sonette an Orpheus ‒ ‹Ich geh doch immer auf dich zu› (Rilke: ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst›) ‒ Kann man denn alles rühmen? ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) ‒ ‹Zwischen den Schlägen besteht unser Herz› (Rilke: Die Neunte Elegie) ‒ Die Dunkelheit, der Schatten des Geheimnisses und unser eigener Schatten gehören zum Ganzen dazu ‒ ‹Du
Dunkelheit aus der ich stamme› (Rilke: Das Stunden-Buch)
(37:37) Das Böse, das noch nicht Vollendete ‒ Und so gehen wir aus dem Schweigen in das Wort und durch das Verstehen wieder ins Schweigen zurück auf einer andern Ebene ‒ In der liebenden Dunkelheit sind wir versöhnt mit dem Schweigen
(58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit
Schuldgefühlen

2.2. Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)
Gespräch Teil 2 in folgende Themen zusammengefasst:
(04:38) Gottvertrauen in gedrückter Stimmung / (07:24) Traurigkeit und Zorn – eine Form unserer Lebendigkeit

3. Texte

3.1. Gottesnamen, die ein Echo auslösen (2019): Interview von Bruder David mit Susanne Huber; siehe auch Buchpräsentation «99 Namen Gottes» im Europakloster Gut Aich (2019):

«Wie ist es Ihnen dabei ergangen, sich mit den vielen Facetten der unterschiedlichen Gottesnamen im Islam auseinanderzusetzen?»

«Viele Namen sind ja die selben wie bei uns Christen – ‹der Schöpfer› oder ‹der Erlöser›. Manche sind für uns aber ein bisschen irreführend, wie ‹der Zurückweisende›, oder ‹der Verweigernde›. Diese Namen würde man zunächst negativ auffassen. Letztlich kommt es aber darauf an, was wir als Menschen erleben, wenn wir sie in Bezug auf das große Geheimnis, mit dem wir alle konfrontiert sind, hören. Wenn uns das gelingt, dann haben wir eine Brücke gebaut – nicht von Muslimen zu Christen irgendwo oben, sondern tief unten, wo wir als Menschen eins sind. Ich habe mich bemüht, die Namen dorthin zu bringen, wo sie auf den Menschen vibrieren und ein Echo auslösen könnten.»

«Meinen Sie mit Lebensvertrauen auch Gottvertrauen?»

«Das ist ein und dasselbe. Heute ist es fast besser Lebensvertrauen zu sagen, weil so viele Menschen etwas Falsches unter Gott verstehen oder das Wort gar nicht verwenden wollen. Vertrauen ins Leben ist das Gegenteil von Furcht. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Furcht getrieben ist. Angst ist etwas anderes, sie ist im Leben unvermeidlich. Man kann in Angst sein und sich trotzdem nicht fürchten.»

3.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021): Mit dem Herzen horchen, 16f.; siehe auch Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 264; Die schönsten Texte von David Steindl-Rast (2010): Unglück, 140; Horchen und Gehorchen:

«Auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. lm Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen. Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebensspendendes Wort? Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.

Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt. Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit. Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck. Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube. Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebens nicht offenbar ist, heißt den Weg zum Herzensfrieden finden. Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.»]

_______________

[1] 99 Namen Gottes (2019): 20 al-Qābiḍ: der VERWEIGERNDE, der Gaben nach Seinem Ermessen zurückhält, 46f.

[2] R. M. Rilke: Das Stunden-Buch

[3] Nikolaus Lenau: ‹Bitte›

[4] R. M. Rilke: Brief an Annette de Vries-Hummes (München, 25. August 1915)

[5] 99 Namen Gottes (2019): 90 al-Māniʿ: der ZURÜCKWEISENDE, der Hindernde, 186f.

[6] R. M. Rilke: Four Quartets: Little Gidding, V: Schlussverse, übersetzt von Norbert Hummel (2015):

«Quick now, here, now, always ‒
A condition of complete simplicity
(Costing not less than everything)
And all shall be well
When the tongues of flame are in-folded
Into the crowned knot of fire
And the fire and the rose are one.»

«Rasch jetzt, hier, jetzt, immer ‒
Ein Zustand völliger Einfachheit
(Kostet nicht weniger als alles)
Und alles wird gut und
Jede Art Ding wird bald gut sein
Wenn die Flammenzungen sich zusammenfalten
Im gekrönten Feuerknoten
Sind das Feuer und die Rose eins.»

[7] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXI

[8] 99 Namen Gottes (2019): 91 aḍ-Ḍārr: der SCHADEN ZUFÜGENDE, 188f.



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

verhaltensmuster titelCopyright © - Barbara Krähmer

Die Meisten gehen immer wieder auf dieselbe Art mit Freunden, Ehepartnern oder Verwandten um. Wir rutschen immer wieder in die ausgefahrenen alten Verhaltensmuster. Sagen wir mal, dass jemand eine sarkastische Bemerkung macht, wohl wissend, dass der Andere ärgerlich oder noch sarkastischer darauf reagieren wird. Möglicherweise kommt es zum Streit oder einfach nur zu einer verbitterten und verfahrenen Lage. Jedenfalls führt das nirgendwo hin. Beide stecken fest. Sie finden keinen Ausweg, um aus den Rollen auszubrechen, die sie im Umgang miteinander übernommen haben.

Ganz selten ist es mir gelungen, solche Rollen zu durchbrechen, aber nur, wenn ich mich ganz sorgfältig vorbereitet habe. Zuerst muss ich mich lange vor einer Begegnung sammeln, wenn möglich Stunden zuvor, mich genau daran erinnern, wie das Gespräch gewöhnlich verläuft und wo wir stecken bleiben. Dann stelle ich mir vor, wie ich dem Andern kreativer antworten könnte und probe das richtiggehend, bevor ich mich in die Situation begebe. Wenn das gewohnte Reizwort dann fällt, sage ich etwas völlig Unerwartetes, und ganz plötzlich fallen die Rollen in sich zusammen. Aber das passiert nicht einfach so. Man muss sich wirklich gut darauf vorbereiten und wissen, was man tun will. [ST 142, Quelle: SW 230f.]



Quellenangaben

Text und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB

stillehalten titelCopyright © - Barbara Krähmer

In seinen «Four quartets» spricht T.S. Eliot von dem Paradox, dem Paradox der Hoffnung.

«We must be still and still moving» «Wir müssen still sein und dennoch vorangehen»[1],


Seine Einsichten sind so klar und so treffend ausgedrückt, dass ich hier gerne ein paar von Eliots poetischen Zeilen in meine eigenen tastenden Versuche, über Hoffnung zu sprechen, einfügen möchte.[2]

«We shall not cease from exploration «Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
And the end of all our exploring Und das Ende unseres Kundschaftens
Will be to arrive where we started Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
And know the place for the first time.» Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.»[3]


«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften», weil «auf dem Weg sein» das Unterwegs sein bedeutet.

Es spielt kaum eine Rolle, ob wir uns auf der falschen oder der richtigen Straße niederlassen.

Solange wir sitzen, sind wir nach nirgendwo hin auf dem Weg.

Wann immer wir uns bequem niedergelassen haben, sagt Gott: «Eure Wege sind nicht meine Wege» (Jesaja 55,8).

Das lässt die Illusion von Sicherheit zerbrechen und wirft uns wieder hinaus auf die kalte, dunkle Straße.

Und das ist ein Segen.

Arg wäre es, wenn Gott uns selbst überließe, bis uns übel würde von dem, was wir am meisten wünschten.

Im Gefundenen steckenzubleiben ist nicht besser als beim Suchen uns selbst zu verlieren.

Früher oder später werden wir erkennen, dass nicht unser Finden wirklich zählt, sondern unser Gefundenwerden.

Wir werden sehen, dass es nicht darauf ankommt, dass wir den Weg kennen, sondern dass wir an unserem Gehen erkannt werden.

Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung  offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.

In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern.

«In Stillesein und hoffendem Vertrauen liegt eure Kraft» (Jesaja 30,15).

Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille  mit Bewegung.

Es ist wahr, unser erwartungsvolles Verlangen setzt uns in Bewegung.

«Desire itself is movement Not in itself desirable;» «Begehren selbst ist Bewegung
Not in itself desirable;» Nicht an sich begehrenswert.»[4]


Das «in Hoffnung ruhen» (Psalm 16,9) ist ganz gewiss nicht jenen vorbehalten, die am Ende des Weges sind.

Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt das Ziel, denn das Ende geht dem Anfang voraus.[5]

Die Spannung der Hoffnung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht ist die Grundlage für ein Verständnis von Pilgerschaft.

Sie ist die Grundlage jener Sinnsuche, die wiederum die Pilgerfahrt jedes einzelnen menschlich menschlichen Herzens ist.

Ruhen wir in der Hoffnung, dann bewegen wir uns laut T. S. Eliot in dynamischer Stille:

«The stillness, as a Chinese jar still «Wie eine chinesische Vase
Moves perpetually in its stillness. Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist
Not the stillness of the violin, while the note lasts Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt
Not that only, but the co-existence, Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein,
Or say that the end precedes the beginning Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht
And the end and the beginning were always there
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher
Before the beginning and after the end.» Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende
And all is always now.» Dass alles immer jetzt ist.»[6]


Wann immer wir auf etwas stoßen, das Sinn hat, dann ist dieser Sinn schon jetzt und doch noch nicht gegeben.

Er ist da, aber er führt immer noch weiter.

Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nachhause nehmen und im Einsiedlerglas aufbewahren kann.

Sinn ist immer etwas Frisches.

Er leuchtet uns plötzlich ein, so wie die Strahlen der Nachmittagssonne plötzlich auf unsere Waldlichtung fallen.

So oft wir hinschauen, können wir in diesem Licht immer neue Wunder entdecken.

Den Gott der Hoffnung müssen wir uns als «still (...) und dennoch vorangehen(d)» vorstellen.

Hoffnung, als Gottes Leben in uns, entfaltet sich in jener schöpferischen Spannung:

«We must be still and still moving «Wir müssen still sein und dennoch vorangehen,
Into another intensity Mit vertiefter Empfindung
For a further union, a deeper communion …» Zu neuer Vermählung, tieferer Vereinigung …»[7]


Die Überraschung in der Überraschung jeder neuen Entdeckung besteht darin, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt.

Hoffnung hält die Gegenwart offen für eine völlig neue Zukunft.

Hoffnung hält uns im doppelten Sinne offen: für eine Zukunft in der Zeit und für eine Zukunft jenseits von Zeit, für Gottes Jetzt.

Diese göttliche Zukunft kommt nicht erst später.

Kennen Sie

«the moment in and out of time «… den Augenblick in und außer der Zeit,
The distraction fit, lost in a shaft of sunlight Den Wachtraum, verloren im Sonnenstrahl,
The wild thyme unseen or the winter lightning, Den ungesehenen Thymian, das Wetterleuchten im Winter,
Or the waterfall, or music heard so deeply Den Wasserfall oder Musik, die so innig gehört wird,
That it is not heard at all, but you are the music
Dass du sie nicht mehr hörst, weil du selbst die Musik bist,
While the music lasts». Solange sie forttönt»[8]


Wenn Sie auch nur einen Vorgeschmack dieser schmerzlichen Seligkeit erfahren haben, so wird es Ihnen sicher nicht schwer fallen zu verstehen, dass manche Menschen ihr ganzes Leben auf dieses eine Ziel ausrichten:

«But to apprehend, the point of intersection of the timeless with time.»

«den Punkt, wo sich Zeitloses schneidet mit Zeit zu erkennen.»[9]


Und wenn Ihnen in einem blitzartig erleuchteten Augenblick klar geworden ist, dass alles Sinn hat, sobald man das rationale Denken zurücklässt, so werden Sie auch verstehen, weshalb manche Männer und Frauen ihr ganzes Leben diesem Paradox widmen.

Was sie suchen ist:

«Not the intense moment «Nicht der gesteigerte Augenblick
Isolated, with no before and after, losgelöst, frei von Gewesenem und Künftigem
But a lifetime burning in every moment.» sondern das ganze Leben, glühend in jedem Augenblick.»[10]
«But to apprehend «Aber die Stelle zu erkennen,
the point of intersection of the timeless Wo die Zeit das Zeitlose
With time, is an occupation for the saint ‒ Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒
No occupation either, but something given Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird
And taken, in a lifetime’s death in love, Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens,
Ardour and selflessness and self-surrender.» Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.»[11]


Eliot spricht auch vom:

«… the sudden ...Blitz der
illumination ‒ Erleuchtung ‒
We had the experience Wir haben das Erlebnis gehabt,
but missed the meaning, doch erfassten den Sinn nicht
And approach to the meaning Aber wenn man den Sinn erkundet,
restores the experience kehrt das Erlebnis wieder
In a different form …» In veränderter Form …»[12]


Hoffnung besitzt sogar die Macht, die Vergangenheit zu verändern, indem wir in ihr immer neuen Sinn entdecken.

«What might have been and what has been «Was hätte sein können und was wirklich war
Point to one end, which is always present.» Weisen auf ein, stets gegenwärtiges Ende.»[13]


Dieses Ende ist der Sinn, den alles hat. Und der Modus, in dem es gegenwärtig ist, ist Hoffnung.

Der heilige Paulus sagt uns, dass «Drangsal Geduld bewirkt, die Geduld Bewährung, die Bewährung Hoffnung» (Römer 5,3f.).

Dieser Läuterungsprozess findet sich an wichtiger Stelle in jeder spirituellen Tradition.

Die Geduld hält still im Feuer der Bewährung.

Disziplin besteht ja vor allem im Stillhalten. Das macht sie nicht weniger anstrengend.

Aber alle Anstrengung fließt ein in die entscheidende Aufgabe, nämlich, Aufgabe, sich nicht zu bemühen.

Um es wieder mit den Worten von Eliot zu sagen:

«I said to my soul, be still, and wait without hope
«Ich sprach zu meiner Seele: sei still und warte [14], ohne zu hoffen,
For hope would be hope for the wrong thing; Denn Hoffen wäre auf Falsches gerichtet;
wait without love warte ohne zu lieben,
For love would be love of the wrong thing Denn Liebe wäre auf Falsches gerichtet;
there is yet faith da ist noch der Glaube,
But the faith and the love and the hope are all Doch Glaube und Liebe und Hoffnung sind alle
in the waiting.» im Warten.» [15]


Der Schüler hält still vor seinem Lehrmeister. Der Schüler, Auge in Auge mit seinem Lehrer, ist ganz Aufmerksamkeit.[16] Diese Stille ist kein Abschalten. Es ist die Stille der Anemone, die sich weit dem Sonnenlicht geöffnet hat.[17]

Selbst das Durcheinander von Gedanken ist durch die Disziplin dieser Stille beruhigt.

Eliot sagt:

«Wait without thought, for you are not ready for thought:
«Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif,
So the darkness shall be the light, and the stillness the dancing.»
Dann wird das Dunkel das Licht sein und die Stille der Tanz.»[18]


Der Tanzmeister spiritueller Disziplin stellt hohe Anforderungen.

Die Stille und das Dunkel, in der Hoffnung geläutert wird, ist ein

«A condition of complete simplicity
(Costing not less than everything)»

«Zustand vollendeter Einfalt
(Der nicht weniger kostet als alles)»
[19]


Das Bild des Tanzes weist auf einen Aspekt der Hoffnung hin, den Joseph Pieper, der meisterhaft über diese Tugend schrieb, aufzeigte:

Hoffnung steht im engen Zusammenhang mit Jugendlichkeit.

Dies ist nicht nur in dem Sinne wahr, dass wir von jungen Leuten erwarten, dass sie voller Hoffnung seien.

Auch alte Leute, sofern sie die Tugend der Hoffnung erlernten, strahlen eine unerwartete Jugendlichkeit aus.

«Deshalb sind wir nicht verzagt», schreibt Paulus, «wenn wir auch äußerlich aufgerieben werden, so werden wir doch innerlich von Tag zu Tag jünger» (2 Korinther 4,16).

Tanzen verjüngt uns.

In der Jugendlichkeit der Hoffnung ist wartendes Stillehalten eins mit dem Tanzen und bedeutet den Punkt erreicht zu haben,

«At the still point oft he turning world. … «den ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt»,
Neither from nor towards;  
at the still point, there the dance is, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel,
but neither arrest nor movement. And do not call it fixity,  
Where past and future are gathered.» «wo Vergangenes und Zukunft vereint sind.»[20]
«Neither movement from nor towards, «Weder Fortgehen noch Hingehn,
Neither ascent nor decline. Weder Steigen noch Fallen.
Except for the point, the still point, Wäre der Punkt nicht, der ruhende
There would be no dance, So wäre der Tanz nicht ‒
and there is only the dance.» Und es gibt nichts als den Tanz.»[21]
«And the way up ist the way down, «Und der sei der Weg hinab,
the way forward ist the way back.» der Weg voran der Rückweg.»[22]


Das einzig Wichtige ist der Ruhepunkt des Tanzes.

Alte Leute fragen sich häufig, worauf es sich noch zu warten lohnte, und sie fühlen sich zum Tanzen zu steif.

Aber irgendwo zwischen kindischem Optimismus und senilem Pessimismus liegt der jugendliche Tanz der Hoffnung, anmutig in seiner Stille, da er in völliger Sammlung auf jeden neuen Einsatz zu warten weiß.

Warten ist nur dann ein Ausdruck von Hoffnung, wenn es ein «Warten auf den Herrn» ist, auf Gott, dessen Name Überraschungen  heißt ‒ und auf sonst nichts.

Solange wir auf eine Verbesserung der Situation warten, machen unsere Ambitionen einigen Lärm.

Und wenn wir auf eine Verschlechterung der Situation warten, dann werden unsere Ängste laut.

Die Stille, die in jeder beliebigen Situation auf das Aufleuchten des kommenden Herrn wartet ‒ das ist die Stille biblischer Hoffnung.

Diese Stille verträgt sich nicht nur gut mit tatkräftigem Dienst an der Welt, wenn das unsere gottgegebene Aufgabe ist.

Sie ist sogar unbedingt nötig, wenn wir klar und deutlich hören wollen, was unsere Aufgabe eigentlich ist.

Auch wie tüchtig wir unsere Aufgabe angehen, beweist sich durch Stille.

Die Stille der Hoffnung ist der Ausdruck einer vollkommenen Energiekonzentration auf die aktuelle Aufgabe.

Die Stille der Hoffnung ist deshalb die Stille der Integrität.

Hoffnung integriert.

Sie macht ganz.

Und so bietet die Hoffnung eine gesunde Basis für spirituelle Disziplin, eine solide Verankerung.

(Es ist kein Zufall, dass das traditionelle Zeichen der Hoffnung ein Anker ist.)

«A condition of complete simplicity «Ein Zustand vollendeter Einfalt
(Costing not less than everything) (Der nicht weniger kostet als alles)
And all shall be well and Und alles wird gut sein,
All manner of thing shall be well …» Und jederlei Ding wird gut sein ...»[23]


Aber bevor jederlei Ding gut sein wird, steht uns die schmerzhafteste Prüfung unserer Hoffnung noch bevor.

«The unattached devotion which might pass for dovotionless, «Das ziellose Frommsein, nach außen unfromm erscheinend,
In a drifting boat with a slow leakage …» Im treibenden Boot, das langsam dahinleckt ...»[24]


Dieses langsame Dahinlecken, das T.S. Eliot beschreibt, kommt daher, dass für unsere Hoffnungen, die sich im Strom der Zeit bewegen, die Zeit ausläuft.

Für die Hoffnung aber, die «verweilt», erfüllt sich die Zeit auf jene Fülle hin, die sich uns jeweils hier und jetzt schenkt.

«Here the impossible union «Hier wird die unmögliche Einheit
Of spheres of existence is actual Der Sphären des Seins Ereignis.
... ...
For most of us, this ist the aim Dies Ziel ist hienieden
Never here to be realised; Den meisten von uns unerreichbar,
Who are only undefeated Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Because we have gone on trying.» Weil wir es stets aufs Neue versuchten.»[25]
   
«For us, there is only the trying. «Für uns gilt nur der Versuch.
The rest ist not our business.» Der Rest ist nicht unsere Sache.»[26]


Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als «tranquillitas ordinis», die Stille der Ordnung.

Ordnung  ist untrennbar von Stille, aber diese Stille ist dynamisch.

Die Ruhe der Ordnung ist eine dynamische Ruhe, es ist die Stille einer unbewegt brennenden Flamme, eines Rades, das sich so schnell dreht, dass es still zu stehen scheint.

Stille in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umwelt, sondern vor allem eine innere Haltung, die Haltung des Hinhorchens.

Jeder von uns ist eingeladen, dieses Geschenk der Stille allen anderen weiterzuschenken.

Wir wollen einander Stille schenken.

Lasst uns hier und jetzt damit beginnen.

Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.

Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.

Sinn ist Stille.

Er erfüllt sich, indem er Gestalt annimmt; er nimmt Gestalt an, indem er zum Wort wird.

Aber Sinn als solcher ist Stille.

Und

«Words, after speech, reach into the silence.» «Worte, nachdem sie gesprochen, reichen in das Schweigen hinein.»[27]


_________________________

[1] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V [17] BLUMENMUSKEL, der der Anemone
[2] Dieser Beitrag ist eine Komposition mit Texten aus den
Kapiteln «Hoffnung: Offenheit für Überraschungen» in FN
und «Die Umwelt als Guru», sowie «Spiegel des Herzens» in AH
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt
[3] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V in den stillen Blütenstern gespannter 
[4] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V Muskel des unendlichen Empfangs, 
[5] Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(3. Juni 2011)
Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(05:46) Pilgerfahrt im Unterschied

zur Reise: Die beiden Alten (Leo N. Tolstoi)
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs
kaum vermag die weitzurückgeschnellten
[6] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch:
TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL II, 83
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten!
[7] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten!
[8] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
[9] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V Aber wann, in welchem aller Leben, 
[10] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V  sind wir endlich offen und Empfänger?  
[11] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V,
Übersetzung aus: T. S. Eliot: Vier Quartette. Four Quartets.
Englisch und deutsch; übertragen von Norbert Hummelt, Berlin,
Suhrkamp Verlag 2015, 61
R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, V, siehe auch:
Leidenschaft für das Mögliche
[12] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II [18] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III
[13] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, I [19] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V
[14] Impulskontrolle finden (2022) [20] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II
[15] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III [21] T. S. Eliot : Four Quartets: Burnt Norton, II
[16] Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Vortrag:«Sehen lernen»:
(01:15:11) Das Wort Disziplin stammt aus dem

Umfeld der Schule, nicht des Militärs: «Der «Discipulus», der Schüler,
schaut den Lehrer an und sieht sich selber in der Pupille des Lehrers.
«Pupilla», engl. «pupil», ist «der kleine Schüler», der sich in den Augen
des Lehrers sieht, und wenn man so ist Aug zu Auge ist mit dem
Lehrer, dann lernt man Disziplin, dann wird man wirklich Schüler.»
[22] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III
[23] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V
[24] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II
[25] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V
[26] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V
[27] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS  TEIL I, 25




Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

leidensch d moeglichen titelCopyright © - pixabay

Der Dichter Rilke blickt in den weit geöffneten Blütenstern einer Anemone und staunt über den Blumenmuskel, der den Blütenkelch nach und nach dem Morgenlicht erschließt.

Jener Muskel des unendlichen Empfangs, in den stillen Blütenstern gespannt, ist manchmal so von der Fülle des Lichts übermannt, das er kaum vermag, die weitgeöffneten Blüten bei Sonnenuntergang wieder zu schließen.

Und wir, so fragt der Dichter ‒ «wann sind wir endlich offen und Empfänger?»[1]

Erinnert uns das nicht wieder an jene Augenblicke, in denen wir selbst von des Lebens Fülle überwältigt waren?

Da waren wir von Freude überrascht.

Wie flüchtig diese Erfahrung auch war, jetzt kennen wir die Freude, für Überraschungen offen zu sein.

Einen Moment lang fühlten wir uns uneingeschränkt willkommen, und das erlaubt uns seither, das Leben ohne Einschränkungen willkommen zu heißen.

Der Geschmack jener Augenblicke erweckt in uns eine Leidenschaft für das Leben mit seinen schier grenzenlosen Möglichkeiten.

Jene Leidenschaft ist Hoffnung: «Leidenschaft für das Mögliche.»

Die Formulierung «Leidenschaft für das Mögliche» wurde von einem zeitgenössischen Propheten der Hoffnung geprägt.

Es sind die letzten Worte auf der letzten Seite von William Sloane Coffins Autobiographie, «Once to Every Man» («Einmal für jeden Menschen»).

Dieses Buch hat mich tief bewegt. Meine Liebe und meine Bewunderung für den Autor hat sicherlich dabei eine Rolle gespielt. Aber objektiv betrachtet, war ich betroffen von der Art und Weise, in der er sich mit den entscheidenden Anliegen unserer Zeit auseinandersetzt.

Mutig nimmt er sich diese Anliegen zu Herzen, mit all dem Leiden, das ihn das kostet und erlaubt jener Leidenschaft (das Leiden schwingt ja in dem Worte mit), seine Hoffnung zu läutern.

Das Leben selbst wird unsere Hoffnung Schritt für Schritt läutern, wenn wir mit Leidenschaft für das Mögliche leben.

Indem wir voranschreiten, werden die Grenzen des Möglichen weiter und weiter, bis in den Bereich des scheinbar Unmöglichen hinausgeschoben.

Früher oder später erkennen wir, dass das Mögliche keine festen Grenzen kennt.

Was wir für eine Grenze hielten, stellt sich als Horizont heraus.

Und wie jeder Horizont weicht er zurück, während wir uns ins volle Leben hineinbegeben.

Diese Entdeckungsfahrt, die ihren Ursprung in der Leidenschaft für das Mögliche hat, ist unsere religiöse Suche, angetrieben von der Ruhelosigkeit unseres menschlichen Herzens.

Jedes «noch nicht» lässt unsere Suche ruhelos bleiben. Jedes «schon jetzt» hält jene Ruhelosigkeit gesammelt.
[FN 1) 107-109; 2-5) 109-111; 6) 110f.]

Hoffnung kann sehen, was kein Spiegel der Welt zeigen kann.

Und so,

Happy fault, the flaw, which offending,
lets us see we have eyes for the perfect …
[2]

Glückliches Versehen, der Fehler, dessen Missfallen
uns erkennen lässt, dass wir Augen für das Vollendete besitzen.

Unsere Augen für das Vollkommene sind die Augen der Hoffnung.

Hoffnung betrachtet alles so, wie eine Mutter ihr Kind anschaut, mit einer Leidenschaft für das Mögliche.

Diese Art zu sehen ist schöpferisch.

Sie erschafft den Raum, in dem sich Vollkommenheit entfalten kann.

Mehr noch, die Augen der Hoffnung schauen durch alles Unvollkommene hindurch in das Herz aller Dinge und finden dort Vollkommenheit. [FN 1) 122; 2-5) 124f.; 6) 125]

Hoffnung als Leidenschaft für das Mögliche schärft unsere Sinne für praktische Möglichkeiten.

Sie gibt uns eine Jugendlichkeit, die das Mögliche nur durch einen immer weiter zurücktretenden Horizont begrenzt sieht.

Der adelige Geist der Hoffnung verlangt und bestimmt unseren moralischen Einsatz.

Denn Hoffnung wurzelt in unserem Herzen, wo wir mit allen verbunden ‒ und damit für alle verantwortlich sind.
[FN 1) 123; 2-5) 126; 6) 126]

Hoffnung ist eine Leidenschaft für das Mögliche.

Das «Leiden» gibt dem Wort «Leidenschaft» im Licht des Kreuzes Jesu eine neue Bedeutung.

Hoffnung, als Leidenschaft für das Mögliche, fordert leidenschaftliche Hingabe an das Mögliche ebenso, wie das Leiden für seine Verwirklichung.

Nur Geduld kann diese Doppelaufgabe leisten.

Mütterliche Geduld ist die Leidenschaft der Hoffnung.

Und da Geduld ebenso ansteckend ist wie Ungeduld, gibt sie uns die Möglichkeit, einander in der Hoffnung zu stärken.

Geduld verlangt Leidenschaft für unsere Ziele, ja, Leidenschaft selbst für unsere Hoffnungen, für die wir bereit sein müssen zu leiden, ohne uns in sie zu verkrampfen.

Im stillen Zentrum unseres Herzens begegnen wir der Fülle des Lebens als einer großen Leere.

Es muss so sein.

Denn diese Fülle ist größer als alles, was das Auge gesehen und das Ohr gehört hat.

Nur Dankbarkeit  in der Form einer grenzenlosen Offenheit für Überraschung kann die Fülle des Lebens in Hoffnung erahnen.
[FN 1) 136-138; 2-5) 139-14; 6) 140f.]

______________________

[1] Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,

in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs

kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten!

Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber wann, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?

R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, V, siehe auch: Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH:
Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 8]

[2] Dorothy Donnelly in «Trio in a mirror»



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

barbara titelCopyright © - Elisabeth Cerny-Gutmann

Schönheit verwandelt den Betrachter. Schönheit wirkt anziehend. Sie zieht dich auf ihre Seite.

Selbst Güte und Wahrheit können das menschliche Herz nicht völlig gewinnen, wenn sie nicht mit einer Anmut und Leichtigkeit ausgestattet sind, die sie schön sein lassen.

Wenn Jesus sagt: «Betrachtet die Lilien» (Matthäus 6,28), dann ist das eine Einladung an jeden einzelnen von uns.

Im Augenblick aber, da wir diesen Lilien unser Herz schenken, geschieht etwas Überraschendes.

Wir meinten die Lilien zu betrachten, doch plötzlich betrachten die Lilien uns.

Rilke fängt diese Erfahrung in seinem Gedicht «Archaischer Torso Apollos» ein.

Er verwendet vierzehn Zeilen, um uns das Gefühl zu geben, wir betrachteten die Skulptur, die er eher vor uns hinstellt, als sie beschreibt.

Wir sind ganz Auge.

Plötzlich kehrt der Dichter die Perspektive um und sagt:

«da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht.»

Unvermittelt endet das Gedicht nun mit:

«Du musst dein Leben ändern.»[1]

Die Lilie schaut dich an, und jedes einzelne Blütenblatt wird zu einer Zunge, die dich schweigend herausfordert.

Mit dieser Herausforderung beginnt die Verwandlung unserer Welt. Sobald wir uns der Herausforderung der Schönheit stellen und das Wagnis auf uns nehmen, schlägt uns die Verwandlung in ihren Bann.

Dies beginnt mit einem Wandel in unserem Herzen und geht dann seinen Weg bis zur Umwandlung selbst der sozialen Ordnung, ja bis zur Transformation der Materie. [FN 1) 132f.; 2-5) 134-136; 6) 134-136]

Die Natur ist einfach da; sie hat keinen unmittelbaren Nutzen. Sie ist ein reines Geschenk der Schönheit und des Lebens.

Gerard Manley Hopkins sagt:

«Tief drinnen in den Dingen lebt die kostbarste Frische.»

Und diese ursprüngliche Frische wird jeden Morgen erneuert.

Denise Levertov hat das freudige Staunen über diese Frische in einem Gedicht eingefangen, das offenbar ganz speziell für Pendler im morgendlichen Berufsverkehr geschrieben ist.

Es beginnt mit allen Schwierigkeiten und der ganzen Spannung und Negativität, die am Morgen auf einen Pendler zukommen.

Dann aber erhascht das Auge wie zufällig einen Schimmer von Schönheit.

Wenn wir uns Zeit nehmen, so lange bei diesem Anblick zu verweilen, als wir brauchen, um den zweiten Vers zu lesen, dann wird dieses beflügelnde Gedicht unser Herz erheben, so wie es sich auf den melodischen Schwingen der Gesänge erheben kann.

Der Schrecken eines jeden Tages,
beinahe eine Form von Langeweile ‒
Wahnsinnige
Am Steuer und
Mit dem Fuß aufs Gas, und
Die Bremsen taugen nichts ‒

Und täglich eine am Morgen erblühte
Purpurwinde, manchmal zwei,
makellos, blau
oder rotgesprenkelt, und jede
erstrahlt wie von innen
mit dem ersten Sonnenstrahl.

Das Gegenteil von Dankbarkeit ist, alles als selbstverständlich anzusehen.

Solange wir unserer Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.

In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hineinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig.

Musikhören oder Singen heißt: etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen. Es heißt, nur die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten. [MS 5) 54f., 25]

… Hände reden. Sie können aber auch horchen.

Das hat mich Sen Soshitsu gelehrt, der Groß-Teemeister Japans, dessen Urahne Sen Rikyu, im 16. Jahrhundert der Teezeremonie ihre klassische Form gab.

In einer vornehmen Privatwohnung in New York wurde das Ehepaar Sen an jenem Abend mit einem Empfang geehrt. Man wollte den Gästen aus dem Osten das Beste westlicher Kultur darbieten. Ein berühmter Cembalist sollte auf einem Instrument spielen, das eigens für diese Gelegenheit ausgeliehen worden war.

Da stand es in seiner schlichten Schönheit, glänzend im Licht der vielen Kerzen, aber versperrt. Der Schlüssel zum Deckel der Tastatur war einfach unauffindbar.

Verwirrung, Geflüster, peinliche Stille.

Mit heiterer Gelassenheit geht Sen Soshitsu auf das Cembalo zu, lässt seine Hand bewundernd über das seidige Holz gleiten.

Völlig gesammelt scheint er dankbar zu sagen:

«Ist das nicht schon mehr als genug?»

Dann lächelt er, und alle atmen auf.

Alle nur mögliche Musik war aus dem Instrument durch seine horchende Hand in dieses Lächeln gestiegen und darin Wirklichkeit geworden. [AH 1-2) 73f.; 3-5) 72f.

Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.

Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.

Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!

Je stärker sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern.

Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte.

Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.
[Auf dem Weg der Stille (2016), 137f.]

_________________________

[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH:
Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 7, siehe auch AH 1-2) 47f.; 3-5) 45-47]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

ordnung titelCopyright © - Georg Stahl

Klöster legen Wert auf Reinlichkeit und Ordentlichkeit; die meisten Besucher bemerken das sofort. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Anstrengung, die Dinge in deinem Inneren, in deinem Leben und in dem Bereich um dich herum in Ordnung zubringen. Aber Novizen finden das schwer verständlich. Sie sagen «Wir sind hierher gekommen, um spirituelle Dinge zu lernen und man sagt uns, wann wir unsere Schuhe anziehen und wann ausziehen sollen, wie wir sie hinstellen sollen mit dem rechten auf der rechten Seite und dem linken auf der linken Seite, und parallel, nicht mit den Schuhspitzen nach innen. Was hat das mit dem spirituellen Leben zu tun?» Es hat alles damit zu tun. Das ist Spiritualität; es ist nicht etwas, das du einfach als Novize tust und dann erlangst du spirituelle Reife. Aber es braucht lange Zeit zu verstehen, dass Ordnung und Sauberkeit nicht nur bedeutet, dass man den Raum reinigt, sondern dass man sein Leben in Ordnung bringt.

Also ist es das Ziel, Dinge in Ordnung zubringen. Ordnung ist die Anordnung von Dingen, in der jedes dem anderen Raum lässt, seinen eigenen gebührenden Platz. Das ist der äußere Aspekt. Der andere ist, dass Ordnung immer der Liebe entspringt: Es gibt keinen anderen Weg, Ordnung herzustellen als durch Liebe. [ST 100, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]

«Höre» ist das erste Wort von Benedikts Klosterregel, und ein weiteres Schlüsselwort heißt im Lateinischen «considera» («bedenke»), was wörtlich heißt:

«Stimme dich auf die Sterne (sidera) ein!»

Der heilige Benedikt, der Patriarch der abendländischen Mönche, will, dass sie «apertis oculis et attonitis auribus» leben,

wörtlich: «mit offenen Augen und vom Donner gerührten Ohren»;

das Schweigen von Gottes Gegenwart soll sie also wie der Donner rühren.

Aus diesem Grund soll das Benediktinerkloster eine «schola Dominici servitii» sein, eine Schule, in der man sich auf die oberste Ordnung einstimmt.

Aber mit einer solchen Ordnung ist nichts Starres gemeint.

Das wäre die größte Gefahr, ja die Falle, in die man tappen könnte: die oberste Ordnung als statisch zu verstehen.

Sie ist im Gegenteil zutiefst dynamisch.

Das einzige Bild, das wir letztlich für diese Ordnung finden können, ist der Tanz der Sphären.

Wozu wir im Kloster eingeladen werden, was wir darin lernen sollen, und was wir als Profis darin üben sollen, ist, auf diese Melodie zu hören und uns selbst in diese Harmonie einzustimmen, nach der das ganze Universum tanzt.

Der heilige Augustinus bringt diese Dynamik der Ordnung damit zum Ausdruck, dass er sagt:

«Ordo est amoris»,

was bedeutet, dass die Ordnung einfach der Ausdruck der Liebe ist, die das Universum bewegt.

Auch Dante sagt das in der wunderschönen Zeile in seinem «Paradiso», wenn er von

«l'amor che muove il sole e l‘altre stelle»

spricht, frei übersetzt:

«der Liebe, die die Sonne und alle andern Gestirne bewegt.»

Doch Tatsache ist, dass sich zwar das ganze übrige Universum frei und anmutig in kosmischer Harmonie bewegt, aber wir Menschen nicht.

Uns kostet es große Mühe, uns auf die dynamische Ordnung der Liebe einzustimmen.

Ab einem gewissen Punkt kostet es uns sogar die allergrößte Mühe, uns paradoxerweise überhaupt keine Mühe zu geben.

Das größte Hindernis, das wir überwinden müssen, ist die Anhänglichkeit, und sogar die Anhänglichkeit an unser eigenes Bemühen.

Bei der Askese  handelt es sich um das professionelle Trachten danach, die Anhänglichkeit in allen ihren Formen zu überwinden.

Unser Bild vom Tanz sollte uns das verstehen helfen.

Die Loslösung, also einfach deren Gegenteil, lässt unsere Bewegungen frei und geschickt werden.

Die positiven Aspekte der Askese sind Aufgewecktheit, Wachsamkeit, Lebendigkeit.

Wenn wir uns frei bewegen können, fangen wir an, die Tanzschritte zu lernen. Dann hören wir auf die Musik, stimmen uns auf sie ein und bewegen uns nach ihr.

[Auf dem Weg der Stille (2016), 103-105]

Unsere lateinische Tradition definiert den Frieden als «tranquillitas ordinis», «Stille der Ordnung».

Ordnung ist untrennbar mit dem Schweigen verbunden, aber das ist ein dynamisches Schweigen.

Die Stille der Ordnung ist also eine dynamische Stille, die Stille einer Flamme, die in vollkommener Ruhe brennt, oder eines Rads, das sich so schnell dreht, dass es stillzustehen scheint.

Schweigen in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umgebung, sondern in erster Linie eine Einstellung, eine Haltung des Hörens.

Das ist ein Geschenk, dass jeder von uns eingeladen ist, allen anderen zu machen: das Geschenk des Schweigens.

Lasst uns also einander Schweigen schenken.

Lasst uns damit auf der Stelle anfangen.

[Auf dem Weg der Stille (2016), 109]

[Ergänzend:

Was verlangst du von der Kunst: Vortrag von Franz Kuno Steindl-Rast (ca. 1945) und
Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011:
  Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Dialog (29. April 2011): (18:54) Ordo est amoris (Augustinus): Was würde die Liebe dazu sagen?]



Quellenangaben

Text und Video von Br. David Steindl-Rast OSB

mystik titelCopyright © - Georg Stahl

Im mystischen Erleben Gottes erfahren wir uns nicht als Wesen, die von Gott getrennt sind, sondern als Wesen, die mit dem Göttlichen eins sind. Das wird von allen Menschen ‒ ganz gleich, wie sie religiös eingestellt sind ‒ in einer innigen Weise erlebt. Da gibt es keine Glaubenssätze mehr, und der Mensch erlebt, dass sein innerstes Geheimnis eine göttliche Wirklichkeit ist: Ich kann mein Tiefstes nicht ausloten, denn diese tiefste Wirklichkeit ist meine göttliche Wirklichkeit. Das ist schon in der Bibel gut ausgedrückt: Der Mensch ist Gottes Ebenbild ‒ Gott ist es, der durch uns hindurch atmet, wir sind durch Gottes eigenes Leben lebendig und genauso auslotbar wie er. Dann erleben wir, wie das der amerikanische Dichter Edward Estlin Cummings treffend ausgedrückt hat: «I am through you so I» («Durch dich bin ich so Ich») ‒ in Deutschland haben diesen Gedanken Martin Buber und Ferdinand Ebner weitläufig ausgeführt. Zuerst bin nicht Ich, sondern du. Ich bin nur deshalb so sehr Ich, weil es dieses DU gibt, das mir gegenübersteht und auf das ich mich beziehe. Dieses DU nennen wir in der christlichen Tradition «Vater», aber wir könnten auch genauso gut «Mutter» sagen.

Dieses Göttliche also kann jeder Mensch in sich auffinden ‒ und dann staunt er, ist überwältigt und empfindet Ehrfurcht und Dankbarkeit. Es tritt jedem als Geheimnis entgegen ‒ trotzdem umgibt es uns von allen Seiten. Es überragt alles ‒ trotzdem können wir es als DU persönlich fassen und erleben, ob wir nun Buddhisten oder Christen sind. Und wenn wir uns fragen: Was erleben wir eigentlich zutiefst? So ist die Antwort: Wir erleben unsere eigene Lebendigkeit, die aus der Beziehung zu diesem DU entsteht. Wir spüren das Leben in uns durch die Beziehung, in der die Liebe vom DU zum Ich fließt und vom Ich zum DU zurückfließt. Und diesen Fluss nennen wir in der christlichen Tradition den Heiligen Geist. [ST 95f., Quelle: Gelebte Dankbarkeit]

Gibt es überhaupt religiöses Wissen, das diesen Namen verdient und nicht aus Erfahrung stammt? Wenn religiöse Traditionen vom göttlichen Leben in uns sprechen, dann setzen sie zumindest implizit unsere Höhepunkte wacher Bewusstheit voraus, unsere mystischen Erfahrungen. Wir sind alle Mystiker. Wenn Mystik definitionsgemäß die Erfahrung der Kommunion mit der letzten Wirklichkeit ist (mit Gott, wenn du dich mit dem Begriff wohlfühlst), wer könnte dann abstreiten, ein Mystiker zu sein? Ohne irgendwelche Erfahrungen einer letzten Wirklichkeit wüssten wir nicht einmal, was mit Wirklichkeit im alltäglichsten Sinn gemeint ist. Wir wüssten nicht einmal, was «ist» bedeutet oder «jetzt». Wir wissen es aber.

Ebenso wie wir Kontemplation nicht den Kontemplativen überlassen dürfen, so können wir die Mystik nicht den Mystikern überlassen. Das hieße, die Wurzeln menschlichen Lebens abzuschneiden. Setzen wir die Mystiker in unseren Gedanken auf ein Podest, hoch oben und außerhalb unserer Reichweite, dann werden wir weder ihnen noch uns selbst gerecht. Ähnlich dem, was Ruskin über das Künstlersein äußerte, könnten wir sagen: Ein Mystiker ist keine besondere Art Mensch; vielmehr ist jeder Mensch eine besondere Art Mystiker. Warum sollte ich mich der Herausforderung nicht stellen und jener einzigartige, unersetzliche Mystiker werden, der nur ich werden kann? Niemals hat es jemanden gegeben, und niemals wird es jemanden geben, der mir völlig ähnlich ist. Wenn ich es versäume, Gott in der nur mir eigenen Weise zu erfahren, dann wird jene Erfahrung für immer und ewig im Schattenland der Möglichkeiten bleiben. Mache ich jedoch diese Erfahrung, dann lerne ich das Leben in Fülle durch das göttliche Leben in mir selbst kennen. [ST 96f., Quelle: FN 1) 76f.; 2-5) 78f.; 6) 79f.]

[Grundlegend: Steindl-Rast, David: Mystik als Grenze der Bewusstseinsrevolution: Eine Betrachtung, in: Stanislav Grof (Hrsg.): Die Chance der Menschheit: Bewusstseinsentwicklung ‒ der Ausweg aus der globalen Krise (1988), 168-194]

[Grundlegend: David Steindl-Rast: Die Religion religiös machen in: Erhard Doubrawa (Hrsg.): Verbunden trotz Abstand: Von Gipfelerlebnissen und mystischen Erfahrungen (2021), 43-67, sowie: Einführung von David Steindl-Rast in: Abraham Maslow: Jeder Mensch ist ein Mystiker: Impulse für die seelische Ganzwerdung (2014), 7-13]

[Ergänzend:

Folgende Interviews: Mystiker sind wie Hechte im Karpfenteich: Interview mit Br. David Steindl-Rast im Kirchenbote, Zürich) (2005). ‒ Wir können alle Mystiker sein: Interview mit David Steindl-Rast von Gisela Remler (2009). ‒ Jeder Mensch ist ein Mystiker: Interview mit Br. David Steindl-Rast in den «Salzburger Nachrichten» (2010). ‒ Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein: Interview mit David Steindl-Rast von Evelin Gander) (2020)]

Mitschrift des Videos «Der Atem der Stille: Mystik heute» (2006) vom Gespräch mit Willigis Jäger und Br. David Steindl-Rast.
Video auf YouTube: Mystik für alle ‒ ist jeder Mensch ein Mystiker (2017)]



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

ja sagen titelCopyright © - Georg Stahl

Wenn die Gipfelerfahrung Sie trifft oder fortträgt oder was immer, dann ergibt alles blitzartig einen Sinn.

Nun ist das etwas ganz anderes, als wenn man mühsam die Lösung für ein Problem sucht; üblicherweise meinen wir ja, dass wir, auf diese Art und Weise schließlich dazu kommen, dass alles einen Sinn ergibt. Wir glauben, dass wir die Antwort haben, aber sobald sie da ist, tauchen neue Probleme auf. Also denken wir: Nun gut, gehen wir auch dieser Frage noch bis zum Ende nach; wir glauben, dass wir uns von Frage zu Antwort, von neuen Fragen zu neuen Antworten und zu weiteren Antworten forthangeln könnten, bis wir dann irgendwann die letzte Antwort finden. Aber was schließlich passiert ist, dass die Kette zum Kreis wird, in dem wir immer und immer und immer wieder herumgehen; die letzte Antwort wirft wieder die erste Frage auf und so geht es weiter.

In Ihrer Gipfelerfahrung wird Ihnen intuitiv bewusst, dass Sie die Frage fallen lassen müssen, um die Antwort zu bekommen.

Etwas reißt Sie fort, und für den Bruchteil einer Sekunde lassen Sie die Frage fallen, und in diesem Augenblick ist die Antwort da.

Auf einmal haben Sie den Eindruck, dass die Antwort schon immer versucht hatte, zu Ihnen durchzudringen, und dass der einzige Grund, weshalb das nicht gelang, die Tatsache war, dass Sie zu sehr mit dem Fragen beschäftigt gewesen waren.

Warum ist das so? Warum geschieht dies während unserer Gipfelerfahrung? Es scheint ein grobes Missverhältnis zwischen Ursache und Wirkung zu geben. Ich habe doch nichts anderes getan, als einem Strandläufer zuzuschauen, der den Wellen nachlief und vor ihnen wieder davonlief; ich habe doch nichts anderes getan, als wach zu liegen und dem Regen zu lauschen, wie er aufs Dach trommelte; warum sollte alles plötzlich einen Sinn ergeben?

Es gibt noch einen anderen Weg, diese Sache anzugehen.

Man könnte sagen, sofern man die Erfahrung wirklich durch und durch nachvollzieht und untersucht, dass da etwas ist, das Sie immer wieder dazu bringen will, Ja zu sagen.

Sie sehen den Strandläufer, und etwas in Ihnen sagt aus vollem Herzen Ja; oder Sie hören den Regen und Ihr ganzes Wesen sagt Ja dazu. Es ist eine besondere Art von Ja: es ist ein unbedingtes Ja.

Und in dem Augenblick, da Sie zu einem Teil der Realität Ja gesagt haben, haben Sie auch bedingungslos zu allem anderen Ja gesagt; nicht zu jedem einzelnen Ding, sondern Ja zu allem, was sie sonst in die Schubladen von «gut» und «schlecht» und «weiß» und «schwarz» und «oben» und «unten» stecken.

Sie machen plötzlich keine Unterscheidungen mehr. Sie sagen nur Ja und mit einem Mal ordnet sich alles zu einem Muster, und Sie bejahen das ganze Muster allein. [Der Mönch in uns (1978)]

Ausschnitt aus Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019)

(39:31) Frage: «Wie erkenne ich, ob ich jetzt in Angst bin oder in Furcht?»

Bruder David: «Furcht sagt ‹Nein›, Furcht sagt immer ‹Nein›! ‒ ‹Nein, Nein, Nein, das will ich nicht›!

Angst sagt ein oft sehr zaghaftes ‹Ja›, aber doch ‹Ja ‒ es wird schon gehen ‒ es wird schon gehen› ‒ mindestens: Es ist ein Ausdruck des Vertrauens.

Den Unterschied fühlt man schon selber:

Sage ich jetzt mehr ‹Ja›, oder mehr ‹Nein› in diesem Augenblick?

Und wenn ich finde, dass ich mehr ‹Nein› als ‹Ja› sag, dann ist es Zeit zu sagen: ‹Erinnere dich doch! Du warst schon in so ähnlichen Situationen. Sträuben hilft nichts. Vertrauen bringt dich durch und kommt was Besseres heraus›.

Sich daran zu erinnern ist wichtig.

Hilft das ein bisschen?»

«Ja.» [Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019) und Mitschrift des Vortrages]

Jedes Mal, wenn wir ein einfaches «Danke» sagen und es meinen, üben wir jene innere Gebärde des Jasagens.

Und je häufiger wir das tun, um so leichter fällt es uns.

Je schwieriger es ist, ein dankbares «Ja» zu sagen, um so mehr lernen wir, wenn wir es dennoch tun.

Das wirft neues Licht auf das Leiden und andere schwierige Geschenke.

Im gewissen Sinne sind die schwierigen Geschenke die besten, denn an ihnen wachsen wir am meisten. [FN 1) 149; 2-5) 153; 6) 152f.]

[Ergänzend:

1. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis ‒ jede mystische Erfahrung ‒ paradox wahrnehmen und ausdrücken:

«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben.»

Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger.

2. Retreat-Woche in Assisi (1989):
Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‚Ich glaube an Gott‘:(07:38) Wenn ich die Frage loslasse, bin ich endlich aufgeschlossen, die Antwort zu empfangen — Ja ist die Antwort auf jedes warum?

3. Audio-Fokus aus Audio-Vortrag 1989 – Retreat-Woche in Assisi  «Die Antwort auf jedes Warum ist 'Ja' – im Wachbewusstsein.»

4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 03:

«In diesen Augenblicken sagen wir so etwas wie ein unkonditionelles

JA
zu allem, was ist, wie es ist.
Urteilsfrei — wir urteilen nicht, wir sagen einfach JA.
Wir schauen alles an, was wir sonst gut nennen, was wir sonst böse nennen.
Ich kann es alles anschauen —
es bleibt gut, es bleibt böse, aber wir können Ja dazu sagen, was ist.
Wir sagen JA zu dem, was ist.»
]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

hoffnung titelCopyright © - Georg Stahl

In jenen Augenblicken, in denen wir wirklich lebendig sind, erfahren wir das Leben als Geschenk. Auch als Überraschung erfahren wir das Leben.

Glaube ist die dankbare Antwort des Herzens auf das Leben als Geschenk.

Die Herzensantwort auf das Leben als Überraschung ist, wie wir noch sehen werden, die Hoffnung.

Je mehr wir uns der Einsicht öffnen, dass das Leben Geschenk ist, desto mehr wird aus unserem Leben ein Leben des Glaubens, ein Leben gläubigen Vertrauens  in den Geber. Natürlich ist der Glaube selbst Geschenk: Die Treue Gottes schenkt uns Vertrauen als unsere eigene gläubige Antwort. Wir dürfen also den Glauben als Gottes eigenes Leben in uns selbst verstehen.

Hoffnung ist ein weiterer Aspekt derselben Lebensfülle. Je tiefer die Einsicht, dass unser Leben überraschend ist, desto mehr wird es ein Leben voller Hoffnung sein, ein Leben voller Offenheit für das Überraschende.

Überraschung ist aber ein Name Gottes.

Tatsächlich ist Überraschung vielleicht der einzige Name, mit dem wir es wagen dürfen, den Namenlosen zu benennen. Zwar gelingt es auch dem Namen Überraschung nicht, Gott zu benennen. Indem wir ihn aussprechen, gelingt es uns aber zumindest, unser Herz für die Erkenntnis offen zu halten, dass Gott mit keinem Namen eingefangen werden kann. Und das macht gerade aus unserer Unzulänglichkeit einen Erfolg. Hier stehen wir schon mitten im Paradox der Hoffnung.

Wir dürfen auch die Hoffnung als Gottes eigenes Leben in uns selbst verstehen. Wenn Glaube das Vertrauen in den Geber aller Gaben  ist (ein leicht erkennbarer Name Gottes), dann ist Hoffnung die Offenheit für Überraschung. Die größte Überraschung ist es aber, Gott in uns selbst zu begegnen. [FN 1) 107; 2-5) 109; 6) 109f.]

(Video-Film gelesen von Bettina Buchholz): Bevor unsere Hoffnung geläutert war, erwarteten wir das Beste, oder zumindest das Zweit- oder Drittbeste. Reine Hoffnung aber erwartet die Überraschung, dass selbst das Schlechteste, sollte es zutreffen, das Beste ist. Und reine, dankbare Hoffnung wird in dieser Erwartung niemals enttäuscht.

Die Standhaftigkeit der Hoffnung ist tief im Herzen verankert.

Wenn aus dem Herzen leben dankbar und gläubig leben heißt, dann bedeutet das zugleich voller Hoffnung leben.

Von daher gibt die Hoffnung unserem Einsatz für die großen Anliegen der heutigen Welt die nötige Kraft. [FN 1) 123; 2-5) 125f.; 6) 125f.]

Vielleicht könnten wir unsere Hoffnung einem einfachen Test unterziehen. Er ist nicht narrensicher. Auch ist er nicht sehr präzise. Aber vielleicht bietet er uns einen Anhaltspunkt.

Vielleicht probierst du ihn zuerst an einem deiner Lieblingsprojekte aus.

Schreibe die verschiedenen Hoffnungen auf, die du im Zusammenhang mit jenem ganz bestimmten Projekt hast. Das ist der erste Schritt.

Als nächstes stelle dir lebendig vor, dass deine Hoffnungen, eine nach der anderen zuschanden würden.

Kannst du den Grad der Verzweiflung spüren, zu dem dich diese Möglichkeiten verführen könnten?

Die Hoffnung, die bleibt, nachdem alle deine Hoffnungen zuschanden wurden ‒ das ist reine Hoffnung, die im Herzen wurzelt.

Wir haben hier eine wichtige Unterscheidung gemacht zwischen Hoffnung und Hoffnungen.

Ein Mensch der Hoffnung ist reich an Hoffnungen.

Aber diese Hoffnungen sagen uns nicht, ob dieser Mensch auch die Tugend der Hoffnung hat.

Erst wenn alle Hoffnungen zerbrechen, zeigt es sich. Dann wird ein Mensch von Hoffnungen mit ihnen zerbrechen.

Ein Mensch der Hoffnung jedoch hat meist schon ein neues Feld voll blühender Hoffnungen, kaum dass sich der Sturm gelegt hat.

Unsere kleinen Hoffnungen wirken auf den ersten Blick harmlos genug.

Vielleicht wirken sie sogar altruistisch: Wird nicht alles im besten Interesse jener getan, denen wir helfen möchten?

Früher oder später aber entdecken wir, dass jene anderen nicht unbedingt die Hoffnungen teilen, die wir für sie haben. Arme Geschöpfe, sie wissen nicht, was gut für sie ist!

Es scheint nun einmal in der menschlichen Natur zu liegen, dass wir unsere Hoffnungen oft energischer verfolgen, als es jenen gefällt, für die wir so hohe Hoffnungen hegen.

Eltern haben manchmal mit ihren eigenen Hoffnungen ihre Kinder zwangsbeglückt und so deren Leben ruiniert. Eheleute ruinieren so einander das Leben aufgrund der besten Hoffnungen, die sie jeweils füreinander hegen.

Ganze Nationen, unsere eigene nicht ausgenommen, haben Hunderttausende hingemetzelt, verstümmelt und verbrannt im Bestreben, anderen Völkern unsere eigenen Hoffnungen aufzuzwingen.

Reine Hoffnung ist so fest in unserem Herzensgrund verankert, dass sie es sich leisten kann, ihre eigenen Hoffnungen leicht zu nehmen.

Das ist die Art und Weise, in der eine Mutter ihre Kinder hält, mit Leichtigkeit, ganz gleich wie fest sie sie hält ‒ immer bereit, sie loszulassen, auf dass sie wachsen können, ohne sie jedoch jemals fallen zu lassen.

So bemuttert Hoffnung ihre Hoffnungen. Und das liebste Kind der Hoffnung ist der Friede. [FN 1) 124f.; 2-5) 126-128; 6) 126-128]

Mutter und Kind ‒ das ist das Bild, das Habsucht, Angst und Gleichgültigkeit herausfordert.

Überall auf der Welt sind es die Mütter, die nähren; sie haben Mut, sie umsorgen.

Es sind die Mütter der Welt, die uns auffordern durch die Hoffnung «die Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes» (Römer 8,21) in die Welt zu setzen.

Vielleicht beginnt alles mit einer Veränderung unserer inneren Haltung, einer Verlagerung des Schwergewichts von Hoffnungen auf Hoffnung.

Vielleicht müssen wir zuerst mütterlicher werden.

Das würde bedeuten, die überwältigende Größe der Aufgabe anzuerkennen und dann jenen kleinen Teil zu finden, dem wir uns selber mit der Hingabe einer Mutter zu widmen vermögen.

Durch die Augen der Hoffnung gesehen, ist unsere alternde Zeit hochschwanger mit Neuem.

Dass die Zeit uns zu knapp wird, kündigen Geburtswehen an, durch die das strahlende Kinder der Hoffnung geboren wird, wenn die Zeit sich erfüllt.

Wie eine Mutter, die ihr Kind mit dem hoffnungsvollen Blick des Herzens betrachtet und genau das tut, was hier und jetzt nötig ist, verbindet die Wachheit der Hoffnung Schau und Tat.

Hoffnungsvolles Handeln entspringt der Schau jener Gottesherrlichkeit, die in unserem Innen schon aufstrahlt.

Ist das nicht die Art und Weise, in der Menschen wie Papst Johannes XXIIII, Dorothy Day, Martin Luther Kind und Mutter Teresa das ausstrahlen, was sie, die guter Hoffnung sind, bereits in sich tragen?

Dies ist es, was ihnen Kraft gibt.

«In Stillesein und hoffendem Vertrauen liegt eure Kraft» (Jesaja 30,15). [FN 1) 126f.; 2-5) 129f.; 6) 129f.]

Hoffnung tut einfach das, was sie tun muss, wie die Spinne in der Ecke meines Bücherregals.

Sie wird wieder und wieder ein neues Netz spinnen, wann immer ich das alte mit meinem Staubwedel weggefegt habe ‒ ohne sich selbst zu bedauern, ohne sich selbst zu beglückwünschen, ohne Erwartungen und ohne Angst.

Wenn ich das mit meinem menschlichen Bewusstsein zustande brächte, ja, das wäre Hoffnung!

Mich würde es mehr kosten.

Auf meiner Ebene steht mehr auf dem Spiel.

Aber ich verbeuge mich tief vor der Spinne.
[FN 1) 117; 2-5) 119; 6) 119]

[Ergänzend:

Text

Der Beitrag von Briuder David Steindl-Rast: Offenheit für Überraschung im Buch: Was Menschen bewegt (2019) enthält Ausschnitte aus dem ersten Drittel des Kapitels «Hoffnung: Offenheit für Überraschung» in FN 1) 107-116; 2-5) 109-118; 6) 109-119

Audios

TAO der Hoffnung (1994): Diskussion nach dem Vortrag bei der existential-psychologischen Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte: (54:39) Bei schweren Prüfungen sehen wir erst nachher, dass wir sie gebraucht haben. Wir alle haben Angst vor dem Leben: Das Leben ist ein ununterbrochenes Sterben in größeres Leben hinein. Sterben ist etwas, was wir tun müssen: Ein sich Hingeben – Loslassen üben – Hoffnung ist Offenheit für Überraschung im Unterschied zu Hoffnungen, die sich vielleicht nicht verwirklicht haben]

Audio-Fokus «Hoffnung auf dem Prüfstand» aus Audio-Vortrag 1989Retreat-Woche in Assisi.]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

allein all eins titelCopyright © - Barbara Krähmer

Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen einen Augenblick gewählt haben, in dem Sie allein waren ‒ ein Augenblick allein in Ihrem Zimmer, beim Strandspaziergang, im Wald oder vielleicht auf einem Berggipfel. In einer dieser Erfahrungen stellen Sie fest, dass Sie, obwohl Sie allein waren ‒ und, paradoxerweise, nicht obwohl Sie allein waren, sondern gerade weil Sie in diesem Augenblick so allein waren ‒ mit allem und jedem vereint waren.

Wenn es keine Menschen um Sie herum gab, mit denen Sie sich vereint fühlen konnten, dann waren es die Bäume oder die Felsen oder die Wolken oder das Wasser oder die Sterne oder der Wind oder was auch immer. Es fühlte sich an, als dehne sich Ihr Herz aus, als ob Ihr Wesen ausgedehnt würde, um alles zu umarmen, als ob die Schranken auf irgendeine Weise heruntergerissen oder aufgelöst worden wären, und Sie mit allem eins wären.

Sie können das im Nachhinein überprüfen, indem Sie feststellen, dass Sie keinen Ihrer Freunde auf dem Gipfel Ihrer Gipfelerfahrung vermisst haben. Einen Augenblick später mögen Sie vielleicht gesagt haben: «Ach, ich wünschte, der-und-der könnte jetzt hier sein und diesen herrlichen Sonnenuntergang erleben, oder könnte dies sehen, oder diese Musik hören.» Aber auf dem Gipfel Ihrer Gipfelerfahrung haben Sie niemanden vermisst, und der Grund dafür liegt nicht darin, dass Sie alle anderen vergessen hätten, sondern dass die anderen bei Ihnen waren, oder Sie bei den anderen. Weil Sie mit allem eins waren, war es sinnlos, irgend jemanden zu vermissen.

Wenn man so will, hatten Sie den Mittelpunkt erreicht, von dem die religiöse Tradition manchmal spricht, und in dem jeder und alles zusammenschmelzen.

Nun gut, es ist also ein Paradoxon, dass ich, wenn ich am stärksten allein bin, eins mit allem bin.

Man kann das auch umdrehen:

Manche von Ihnen haben vielleicht an eine Erfahrung gedacht, in der ein Teil der Gipfelerfahrung gerade darin bestanden hat, dass Sie sich innerhalb einer riesigen Menschenmenge mit allen eins fühlten. Das war vielleicht eine liturgische Feier, vielleicht aber auch ein Friedensmarsch, ein Konzert oder ein Theaterstück ‒ irgendeine Versammlung, in der ein Teil Ihrer überströmenden Freude darin bestand, dass sie das Gefühl hatten, alle seien ein Herz und eine Seele, und jeder mache dieselbe Erfahrung. Übrigens mag das objektiv gar nicht gestimmt haben. Es ist möglich, dass Sie der Einzige waren, der in einer solchen Stimmung war, aber Sie haben es so erfahren als ob es jeder genauso empfände.

In diesem Fall drehen wir das Paradoxon um:

Wenn man mit allen am meisten eins ist, ist man auch wirklich allein.

Sie sind plötzlich herausgehoben, als ob jenes besondere Wort des Redners (falls es ein Vortrag war, der dies bewirkte) an Sie persönlich gerichtet gewesen wäre, und fast werden Sie rot. «Warum spricht er über mich? Warum wählt er mich dafür aus?»

Oder: «Diese Passage einer bestimmten Symphonie ist für mich geschrieben, für mich komponiert worden und wird für mich aufgeführt; was für eine wunderbare, vollkommene Aufführung ‒ und alles für mich, jetzt und hier!» Sie sind auserwählt; Sie sind völlig allein. Und wir erkennen, dass das kein Widerspruch ist.

Wenn man wirklich allein ist, ist man eins mit allem ‒ schon das Wort «allein» spielt darauf an. Es mag vielleicht nur eine Gedächtnisstütze sein, sich das zu merken, aber es kann auch mehr dahinterstecken ‒ all-ein, eins  mit allem, wirklich allein. [Der Mönch in uns (1978)]

[Ergänzend:

1. Die Achtsamkeit des Herzens (2021):

«In dem bewussten Augenblick waren Sie, in einem tieferen Sinn, allein. Nicht, dass Sie sich damals darüber Gedanken gemacht hätten, aber rückblickend stellen Sie fest, dass das Wort ALLEIN passt, selbst wenn Sie sich inmitten einer Menschenmenge befanden. In einem gewissen Sinn waren Sie ‹der oder die Einzige›. Nicht nur in dem Sinne von auserwählt sein, sondern, und das ist noch wichtiger, im Sinne von wirklich dort sein, wo Sie sind, aus einem Stück: ‹all-eins›.

Genau dann, als Sie all-eins mit sich selbst waren, fühlten Sie sich innig vereint mit allem. Ihr tiefes Alleinsein fand seine Entsprechung in grenzenloser Verbundenheit. Tatsächlich handelt es sich um zwei Aspekte derselben Erfahrung. Und auch hier kommt es nicht darauf an, ob Sie äußerlich allein oder inmitten einer Menschenmenge waren. Selbst auf einer einsamen Insel, weit entfernt von anderen menschlichen Wesen, könnten Sie vom Bewusstsein tiefer Verbundenheit überwältigt worden sein. Auch beschränkt sich diese Zugehörigkeit nicht auf Menschen. An diesem Schmelzpunkt war Ihr innerstes Wesen mit allem vereint: mit dem Duft wilden Thymians auf der Wiese in der Dämmerung; mit dem plötzlichen Aufleuchten eines Winterblitzes, der Stimme des Wasserfalls oder einer Krähe Eine Vision für die Welt]. Sie waren allein, all-eins, eins mit allem.» [ST 55; AH 1-2) 108f.; 3-5) 105]

2. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis  ‒ jede mystische Erfahrung  paradox wahrnehmen und ausdrücken:

«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins.»
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben»: Ja-sagen

Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger.

3. Retreat-Woche in Assisi (1989):

Audio: Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‚Ich glaube an Gott‘:
(03:01) Ich bin allein und dennoch mit allen und allem verbunden oder ich bin in Gemeinschaft und zugleich allein, ganz persönlich angesprochen — Gotteserfahrung muss paradox sein, weil in Gott sich alle Widersprüche treffen]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

mich verlieren finden neu titelCopyright © - Georg Stahl

Versuchen Sie es einfach, erinnern Sie sich ganz konkret an eine Erfahrung, in der Sie etwas sehr tief berührt hat, eine Erfahrung, in der Sie auf irgendeine Weise über die normale Ebene erhoben wurden.

Ich sagte, dass der Inhalt dieser Erfahrungen schwer zu fassen sei. Sie könnten sogar sagen: «Mensch, da ist ja überhaupt nichts Richtiges passiert!» Nun, das ist ein tiefer Einblick, denn wenn Sie es nicht zulassen, dass etwas geschieht, dann ist das die größte mystische Erfahrung.

Wenn Sie weiter versuchen, darüber zu reden, werden Sie auf Redewendungen kommen wie: «Ich habe mich einfach ganz verloren. Ich habe mich verloren, als ich dieses Stück Musik hörte.» Oder: «Ich habe mich verloren, als ich diesem Strandläufer zuschaute; sobald die Wellen kommen, läuft er zurück, und dann läuft er wieder den Wellen nach.»

Sie verlieren sich in einer solchen Erfahrung, und wenn Sie sich für eine Weile verloren haben, sind Sie nie mehr ganz sicher, ob die Wellen den Strandläufer jagen, oder ob der Strandläufer die Wellen jagt, oder ob überhaupt irgendjemand irgendjemanden jagt. Aber es ist dort etwas geschehen, und Sie haben sich wirklich darin verloren.

Und dann, seltsamerweise, paradoxerweise ‒ und genau darauf wollen wir hinaus; auf die Paradoxa, die in jeder mystischen Erfahrung vorhanden sein müssen ‒, stellen Sie auch fest, dass Sie in dieser Erfahrung, in der Sie sich verloren haben, wirklich Sie selbst gewesen sind.

«Das war ein Augenblick, in dem ich wirklich ich selbst war, mehr als sonst. Es hat mich einfach fortgetragen.»

Das ist ein poetischer Ausdruck. Manche Dinge im Leben kann man nur dichterisch ausdrücken, und so geraten diese Ausdrücke auch in unser Alltagsleben.

Aber auch hier finden wir wieder das Paradoxon, denn über dieselbe Erfahrung, von der wir gesagt haben: «Es hat mich fortgetragen», müssen wir auch sagen: «Ja, aber in dem Augenblick, in dem ich am stärksten fortgetragen wurde, war ich viel stärker in der Gegenwart, als ich es sonst jemals bin.»

Wie die meisten von uns, so muss auch ich zugeben, dass ich nicht voll dort gegenwärtig bin, wo ich jetzt bin. Statt dessen bin ich mir selbst zu neunundvierzig Prozent voraus und werde schon von dem angezogen, was noch kommt, und zu neunundvierzig Prozent bin ich hinter mir, hänge noch an dem, was schon vorbei ist. Es ist kaum etwas von mir übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.

Dann passiert etwas, das gar nicht fassbar ist, jener Strandläufer etwa, oder Regen auf dem Dach, das trifft mich plötzlich und für den Bruchteil einer Sekunde bin ich wirklich da, wo ich bin. Es trägt mich fort und ich bin dort, wo ich mich befinde. Ich habe mich verloren, und ich habe mich gefunden, mein wirkliches Selbst. allein. [Der Mönch in uns (1978)]

[Ergänzend:

1. Die Achtsamkeit des Herzens (2021):

«Das Gipfelerlebnis ist deshalb so befreiend, weil wir endlich einmal nicht fühlen, dass wir fühlen, und nicht wissen, dass wir wissen, sondern einfach nur fühlen und wissen, weiter nichts. Erst später können wir darüber nachdenken und so davon sprechen. Unsere Beschreibung könnte sich dann etwa so anhören: ‹Es hat mich einfach überwältigt› oder ‹Ich war völlig weg.› Auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde der Fall war: ‹Ich hatte mich ganz vergessen.› Das war alles; aber doch nicht ganz, denn in der Rückschau wird mir auch bewusst, dass ich während des Gipfelerlebnisses mehr ich selbst war als jemals sonst. Und so finde ich mich mit dem merkwürdigsten Widerspruch konfrontiert, dass ich am wahrhaftigsten ich selbst bin, wenn ich mich vergesse. Wenn ich mich verliere, finde ich mich selbst.» [ST 54f.; AH 1-2 107; 3-5) 104]

2. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis ‒ jede mystische Erfahrung ‒ paradox wahrnehmen und ausdrücken:

«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden.»
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins»: Allein ‒ All-Eins
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben»: Ja-sagen

Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger.

3. Retreat-Woche in Assisi (1989):
Audio: Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‚Ich glaube an Gott‘:
(00:00) Paradoxe Gottesbegegnung: Da war ich einfach weg und zugleich wirklich da]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

vergebung titelCopyright © - Barbara Krähmer

Die größte Form des Gebens ist die Vergebung. Vergebung steht im Gegensatz zu Übelnehmen. Verglichen mit Inbesitznehmen und Als-selbstverständlich-Hinnehmen ist Übelnehmen die dümmste aller «Nehmensformen», weil wir hier etwas «nehmen», was wir gar nicht wollen.

Vergeben ist die größte aller Formen von «Geben». Es fällt uns deshalb so schwer, weil es beinhaltet, dass wir Schuld auf uns nehmen. Nicht im juristischen Sinn ‒ «Vielleicht habe ich es getan», «Es hätte leicht auch mir passieren können» ‒, sondern in dem Sinn, dass wir, wenn wir wirklich verzeihen, aus tiefstem Herzen vergeben. Und in unserem tiefsten Herzen sind wir eins mit allem und demnach auch eins mit jedem, dem wir zürnen. Da gibt es niemanden zu tadeln. Wir nehmen Schuld weg durch das Vergeben.

«Vergib uns, wie auch wir vergeben», bitten wir. Jesus sagt: «Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie auch vergeben». Wenn wir vergeben, vergibt Gott. Tatsächlich hat Gott bereits «vor aller Zeit» vergeben. Wir werden aufgefordert, Gottes Vergebung durch die Welt fließen zu lassen. Die Vergehen sind einfach fort, ausgelöscht. [ST 141, Quelle: [ST 141, Quelle: MS 5) 112f.]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

dankesspirale titelCopyright © - pixabay

Der Ausdruck des Dankes ist ein wesentlicher Bestandteil der Dankbarkeit, er ist ebenso wichtig wie das Erkennen des Geschenks als solches und die Anerkennung meiner Abhängigkeit. Man denke nur an die Hilflosigkeit, die wir empfinden, wenn wir ein anonymes Geschenk erhalten und folglich nicht wissen, wem wir dafür danken sollen. Erst wenn unser Dank zum Ausdruck gekommen ist und akzeptiert wurde, ist der Kreis des Gebens und Dankens geschlossen und ein Austausch zwischen Geber und Empfänger hergestellt.

Allerdings ist das Bild vom geschlossenen Kreis nicht besonders gut gewählt. Austausch ist wohl eher mit einer Spirale zu vergleichen, in der der Geber den Dank entgegennimmt und so selbst zum Empfänger wird. So wird die Freude des Gebens und Empfangens immer stärker.

Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm eine Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter, ihrerseits hochbeglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es.

Das ist sie, die Spirale der Freude.

Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug?

Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, größer als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte?

Die Aufwärtsbewegung der Spirale deutet jedoch nicht nur an, dass die Freude stärker geworden ist. Vielmehr sind wir zu etwas völlig Neuem gelangt.

Ein Übergang hat stattgefunden.

Ein Übergang von der Vielheit zur Einheit:

Zu Anfang waren es Geber, Geschenk und Empfänger; daraus wird die Umarmung, die Danksagung und entgegengenommenen Dank umfasst.

Wer kann im abschließenden Kuss der Dankbarkeit noch zwischen Geber und Empfänger unterscheiden?

Bedeutet Dankbarkeit nicht einen Übergang vom Misstrauen zum Vertrauen, von stolzer Isolation zu demütigem Geben und Nehmen, von der Versklavung in falscher Unabhängigkeit zur Selbst-Annahme in der befreienden Abhängigkeit?

Ja, Dankbarkeit ist die große Geste des Übergangs.

«Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt»,

schreibt Rilke in den «Duineser Elegien».

Unser Übergang ist nicht durch den Instinkt vorbestimmt.

Uns sind nur Ahnungen gegeben wie jede Regung der Dankbarkeit in unserem Herzen, und die Freiheit, diesen Ahnungen zu folgen.

Und selbst den Nicht-Christen unter uns erlaubt die Erfahrung der Dankbarkeit zumindest eine gewisse Annäherung an die christliche Überzeugung, dass die Dankesspirale das dynamische Muster jeglicher Realität ist.

Innerhalb der absoluten Einheit des dreieinigen Gottes ist Raum für einen ewigen Austausch von Geben und Danken, für eine Spirale der Freude.

Der Vollzug dieses Übergangs führt uns zur Einheit mit uns selbst, zur Einheit mit allen anderen und zur einen Quelle des Lebens.

Denn «… nur darauf kommt es an: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das, einfach nur das».[1]

[AH 1-2) 144f., 150, 154f.; 3-5) 140f., 146, 149-151; SD 44f., 49, 52-54]

[Auszug aus: Dankbarkeit und Opferritus]

[Ergänzend:

1. Wachstumsprozess

2. Audio-Vortrag Fülle und Nichts:
(01:47) Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt‘ (Rilke, Die vierte Elegie) – horchen, gehorchen, Gehorsam als Methode und Ziel)]

_________________

[1] Aus einer Ansprache des Rev. Eido Tai Shimano, eines japanischen Zen-Meisters, der bei der Gesellschaft für Zen-Studien in New York unterrichtet



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

wachtumsprozess titel neuCopyright © - unbekannt

Sobald wir aufwachen und nicht mehr alles als selbstverständlich erachten, glimmt zumindest ein Fünkchen von Staunen, der Beginn von Dankbarkeit in uns.

Dankbarkeit aber muss sich ausdrücken.

Wir kennen das unangenehme Gefühl, das mit einem anonymen Geschenk einhergeht. Wenn ich eines erhalte und nicht weiß, wem ich nun danken soll, dann drängt es mich den ganzen Morgen lang, jedem, der mir über den Weg läuft, so etwas wie Dank zu äußern, einfach um mein eigenes Bedürfnis danach zu befriedigen.

Und während ich meinen Dank ausdrücke, wird er mir immer mehr bewusst.

Und je größer meine Bewusstheit, desto größer mein Bedürfnis, ihn auszudrücken.

Was hier geschieht, ist ein spiralförmiges Ansteigen, ein Wachstumsprozess immer weiterer Kreise um ein ruhendes Zentrum herum, eine Bewegung, die immer tiefer in die Dankbarkeit führt.

Ebenso ist es mit Gebeten.

Als Ausdruck unserer Andächtigkeit verstärken Gebete unsere Andacht. Und jene größere Andächtigkeit bedarf wiederum des Ausdrucks in Gebeten.

Vielleicht haben wir anfänglich nicht viel vorzuweisen, aber die Spirale dehnt sich entsprechend ihrer eigenen inneren Dynamik solange aus, wie wir beteiligt bleiben.

Ein hervorragendes Abbild dieser dynamischen Wachstumsentwicklung ist die Nautilusmuschel.

Ich kann an keiner Muschelausstellung vorbeigehen, ohne nach einer dieser faszinierenden Muscheln zu suchen. Besonders begeistern mich jene Exemplare, die in zwei Hälften geschnitten wurden, um die ganze Reihe leerer Kammern mit ihren Innenwänden aus Perlmutt zu zeigen. Irgendwo im Südpazifik oder im Indischen Ozean baute sich eine Molluske diese großartige Muschelschale um ihren Körper.

Und als dieses geheimnisvolle Meerwesen immer größer wurde, wanderte es von einer Kammer zur nächsten, löste sich von der alten, zu klein gewordenen, um zur nächsten, größeren überzusiedeln.

Aber schon bald war auch diese neue zu klein geworden und zwang seinen Erbauer und Bewohner dazu, weiterzubauen und umzusiedeln.

 Year after year beheld the silent toil   Jahr für Jahr beäugte das schweigende Mühen
 That spread his lustrous coil;   sein strahlendes Gewölbe auszubauen.
 Still, as the spiral grew,   Und weiter wuchs die Spirale.
 He left the past year's dwelling for a new,   Er ließ das Heim vom vorigen Jahr für ein neues zurück, 
 Stole with soft step its shining archway through,   Wanderte heimlich durch seinen glänzenden Bogengang, 
 Build up its idle door;   Verbaute hinter sich die jetzt nutzlose Pforte, 
 Stretch'd in his last-found home, and knew the old no more.   Dehnte sich aus im neugefundenen Heim und vergaß das alte. 


Diese Zeilen stammen aus einem Gedicht von Oliver Wendell Holmes, «The Chambered Nautilus».

Der Dichter dankt unserer kleinen weichen Muschel, jenem «Kind der ewigen See» für seine Botschaft, die in den längst verlassenen Kammern immer noch widerhallt.

Eine «himmlische Botschaft» nennt sie der Dichter, denn sie erzählt vom Wachsen auf ein höchstes Ziel hin.

Von der Botschaft sagt er:

While on mine ear it rings   Während sie in meinem Ohr nachklingt
Through the deep caves of thought I hear a voice that sings:                 Höre ich durch die tiefen Gedankenhöhlen hindurch eine singende Stimme:
‒ Build   ‒ Baue
Build thee more stately mansions, O my soul,   Baue dir erhabenere Gebäude, meine Seele,
As the swift seasons roll!   Während die Jahreszeiten dahinfliegen!
Leave thy low-vaulted past!   Verlasse deine flachgewölbte Vergangenheit!
Let each new temple, nobler than the last,   Jeder neue Tempel, vornehmer als der vorige,
Shut thee from heaven with a dome more vast,   Soll dich mit höheren Kuppeln vom Himmel schirmen
Till thou at length art free,   Bis du zuletzt befreit
Leaving thine outgrown shell by life's unresting sea!   Die Muschel, der du entwachsen, an des Lebens müheloser See zurücklässt.


[FN 1) 44-46; 2-5) 46-48; 6) 48-51; die deutsche Übersetzung des Gedichts ist dieser Ausgabe entnommen]

[Ergänzend:

Dankbarkeitsspirale]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

danken preisen segnen titelCopyright © - Georg Stahl

Das Herz sieht voller Staunen, dass diese gegebene Welt und alles, was wir in ihr finden, letztlich Geschenk ist. Auf diesen Geschenkcharakter aller Dinge antwortet das Herz mit danken, preisen und segnen.

Das menschliche Herz wurde zum allumfassenden Lobpreisen und Rühmen geschaffen.

Solange wir auswählen und zurückweisen und unser Lob von unserer Billigung abhängig machen, kommt unsere Antwort nur aus halbem Herzen.

Unser Herz als ganzes aber ist mit der ganzen Wirklichkeit in Einklang. Und Wirklichkeit verdient unser Lob.

Mit klarem Blick erkennt das Herz den letztendlichen Sinn von allem: Segen.

Und mit klarem Entschluss antwortet das Herz mit dem letztendlichen Lebenszweck:

Danken, preisen, segnen.

«Rühmen, das ists!» ruft Rilke in seinen Sonetten an Orpheus aus.[1]

Und Orpheus, das Urbild des Dichters, der Mensch in seiner göttlichsten Gestalt, wird uns als «ein zum Rühmen Bestellter» gezeigt.

Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor
wie das Erz aus des Steins
Schweigen.

Das Bild lässt an das Erz für Glocken denken. In einem anderen Bild ist sein Herz eine Kelter. Die Zeit des Traubenpressens geht vorüber, der Wein des Rühmens jedoch hält sich. Nicht einmal der Moder in den Grüften der Könige straft seine Rühmungen Lügen. Seine Botschaft bleibt. Noch weit in die Türen der Toten hinein trägt er Opferschalen mit rühmlichen Früchten.

Vom menschlichen Herzen sagt Rilke in seinen Duineser Elegien:

Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch die preisende bleibt.

Danken, segnen und preisen: alle drei gehören zur Dankbarkeit.

Keines dieser Wörter reicht ganz zu.

Loben und preisen mag sich für das Alltagsleben zu formell anhören.

Vielen mag der Klang des Wortes segnen zu sehr nach Weihrauch riechen, um sich damit wohlzufühlen.

Das Danken wiederum lässt eher an eine höfliche Konvention denken, als an die universelle Haltung zum Leben, die wir hier meinen.

Aber jeder einzelne dieser drei Begriffe fügt der Dankbarkeit einen Aspekt hinzu, den die anderen zwei nicht betonen.

Das Preisen betont die Antwort auf einen Wert.

Das Segnen hat einen religiösen Unterton.

Das Danken weist auf die persönliche Verpflichtung.

Nur zusammengenommen machen diese drei aus Dankbarkeit uneingeschränkte Dankbarkeit.

Und plötzlich ist alles ganz einfach. Wir können all die großen, sperrigen Worte vergessen.

Dankbarkeit sagt alles.

Und Dankbarkeit ist etwas, das wir alle aus Erfahrung kennen.

Kann spirituelles Leben wirklich so einfach sein?

Ja, was wir insgeheim erhofften, stellt sich als wahr heraus: es ist alles ganz einfach.

Es ist eigentlich gerade diese Einfachheit, die uns so schwierig erscheint.

Aber warum vergessen wir nicht all die Komplikationen, die wir selbst auf unserem Weg auftürmen?

Was Erfüllung bringt, ist Dankbarkeit, die einfache Antwort des Herzens auf dieses uns gegebene Leben in all seiner Fülle.
[FN 1) 68, 71-73.; 2-5) 71, 74f.; 6) 72, 75-77]

______________________

[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH: Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 4



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

segnen u segen titelCopyright © - pixabay

Auch das Segnen ist ein Aspekt von Dankbarkeit.

In meinem eigenen Bemühen, Segen richtig zu verstehen, stieß ich auf zwei schwierige Fragen. Die erste gab mir in meiner Schulzeit Rätsel auf. Mit der zweiten setze ich mich noch heute auseinander. In der Schule sangen wir von «Gott, der den Segen spendet.» Damit gab es keine Probleme. Gott stand hoch über uns, und Segen war etwas, das auf uns herabfiel wie Sonnenstrahlen oder Frühlingsregen.

Dann aber stolperte ich über Verse wie «Segne den Herrn, meine Seele.»

Selbst «alle Tiere wild und zahm» ruft der Psalmist auf, Gott zu «segnen.»

Das kam mir verdreht vor. Sollte ich Gott segnen? Kamen nicht alle Segnungen von Gott? Waren selbst Tiger und Pudel dazu aufgefordert, zu tun, was meiner Meinung nach nur Gott tun konnte ‒ segnen?

Diese Frage muss ich eine ganze Weile mit mir herumgetragen haben. Aber eines Tages sprang mir die Antwort im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden entgegen.

Es geschah auf meinem Heimweg von der Schule an einem Frühlingsnachmittag. Die Sonne hatte den ganzen Schnee von der Landstraße geschmolzen. Alle Chancen, von einem Pferdeschlitten mitgenommen zu werden, waren dahin, und so nahmen wir eine Abkürzung am Bach entlang und prüften die dünne Eisschicht an verschiedenen Stellen, während wir dahinschlenderten. Wie wenn man irgendwo spüren kann, welch ein Segen warme Sonnenstrahlen sein können, dann in den österreichischen Alpen nach einem langen Winter.

Jedes Fleckchen Erde schien diesen Segen zu spüren. Und dann, während wir durch den aufgeweichten Boden stapften, standen wir Kinder plötzlich vor den ersten Blumen. Hunderte von Huflattichblüten schoben sich durch totes Blattwerk. Das ganze Ufer war goldgelb. Huflattich hat seinen Namen von der Form seiner Blätter, die an einen Hufabdruck erinnern. Aber die Blätter waren noch nicht da, nur die Blüten, immer mehr von ihnen, als wir weiterliefen und herumschauten. Das war der Frühling.

O ja, selbst mitten im Winter hatte es Nieswurz gegeben, Schneerosen, wie wir sie nannten. Wenn an einem sonnigen Tag zwischen zwei Schneestürmen an den Südhängen trockene Flächen auftauchten, dann suchten und fanden wir sie sofort unmittelbar unter der Schneedecke, mondweiße Blüten. Manche waren hellgrün angehaucht oder hatten rosafarbene Ränder wie Wolken beim Sonnenuntergang. Diese Winterrosen, fünf blasse Blütenblätter und eine winzige Krone in der Mitte, stammten aus einer Welt ohne Jahreszeiten. Jetzt aber war Frühling.

Und diese goldenen Sonnen, nicht größer als ein Pfennig, jede auf ihrem eigenen kräftigen Stamm, waren der Segen der Erde, die Antwort auf den Segen, den die Sonne herabschickte.

Keine andere Blume des Jahres, nicht einmal die riesige Sonnenblume im September, würde jemals ein genaueres Abbild der Sonne bieten, als dieser erste Frühlingssegen.

Und da war meine Antwort. Nicht nötig, etwas auszuklügeln. Ich ging einfach in sie hinein, sah sie, wurde sie, und meine Augen segneten Gott.

Da wusste ich, was das bedeutet:

Segen gibt Segen zurück, wie ein Echo.

Das ist die tiefe, die eigentliche Bedeutung von Kontemplation. Die Vorstellung des Segens verbindet den Tempel oben mit dem Tempel hier unten.

Unseres Herzens umfassendste Schau zeigt uns, dass alles Geschenk ist ‒ Segen. Und die Antwort, die spontanste Handlung unseres Herzens ist das Danken ‒ Segnen.

Hier aber kommt meine zweite Frage ins Spiel: Was, wenn ich das Gegebene nicht als Segen erkenne? Was, wenn nicht Sonnenschein auf uns herabstrahlt, sondern wenn es Hagelkörner sind, die uns wie Hammerschläge treffen? Was, wenn es saurer Regen ist?

Hier müssen wir bedenken, dass das eigentliche Geschenk immer Gelegenheit ist. So habe ich beispielsweise die Gelegenheit, gegen den sauren Regen etwas zu unternehmen. Ich kann mich den Tatsachen stellen, mich über die Ursachen informieren, zu ihren Wurzeln vordringen, andere alarmieren, mich mit ihnen zur Selbsthilfe, zum Protest verbünden. Nehme ich jede Gelegenheit wahr, wie sie sich anbietet, dann erweise ich mich dankbar.

Meine Antwort wird jedoch nicht vollständig sein, wenn ich nicht auch die immer vorhandene Gelegenheit zu segnen und zu preisen sehe. W. H. Auden hat mir mit seinem Gedicht «Precious Five» besonders mit der letzten Strophe, geholfen, dies zu erkennen.

«Ich könnte», sagt Auden dort

Find reasons fast enough
To face the sky and roar
In anger and despair
At what is going on,
Demanding that it name 
Whoever is to blame:
The sky would only wait
Till all my breath was gone
And then reiterate
As if I wasn't there
That singular command,
I do not understand,
Bless what there is for being,
Which has to be obeyed, for
What else am I made for,
Agreeing or disagreeing? 
  Schnell genug Gründe finden,
Gen Himmel blickend aufzuschreien
Vor Zorn und Verzweiflung
Über das, was gerade geschieht,
Verlangen, dass er den Namen nennt
Dessen, der schuldig ist:
Der Himmel würde nur warten,
Bis mir die Luft ausging,
Um dann fortzufahren,
Als gäbe es mich nicht.
Jenes einzigartige Gebot
Verstehe ich nicht
Segne was ist, weil es ist,
Was wir befolgen müssen, denn
Wofür sind wir sonst geschaffen,
Gleich ob einverstanden oder nicht?


Zu segnen was ist, und das aus keinem anderen Grund als einfach weil es ist ‒ das ist unsere raison d'être; dafür sind wir als Menschen geschaffen worden.

Dieses eine Gebot ist uns ins Herz geschrieben. Ob wir das verstehen oder nicht, spielt kaum eine Rolle. Ob wir damit einverstanden sind oder nicht, ändert nichts.

Im Herzen unseres Herzens wissen wir es ja doch. Ganz gleich wie fest du eine Glocke schlägst, sie wird ertönen. Wofür sonst ist sie gemacht? [FN 1) 68-71; 2-5) 71-74; 6) 72-75]

[Ergänzend:

1. Film Blessings ‒ Segenswünsche von Bruder David (2019) und Text in deutscher Sprache: Blessings ‒ Segenswünsche (2013) mit Audio-Mitschnitt in englischer Sprache, gesprochen von Bruder David

2. Die Kraft des Staunens: Der Schönheit der Welt begegnen ‒ 99 Blessings (2022):
Bruder David im Vorwort des Buches:

«Segnen heißt ja ein Zeichen setzen, wenn etwa der Vater als Segenszeichen dem Kind die Hände auf den Scheitel legt. Wer genau hinhorcht, kann sogar hören, dass stammverwandte Wörter für Zeichen ‒ wie Signal und signieren ‒ an segnen anklingen. Segen ist die Signatur des Seins.»

«Wenn du auch bei den Wiederholungen der Segenssprüche in diesem Buch einen Hauch geheimnisvoller Kraft verspürst, lass es nur zu. 99 Mal fülle ich das gleiche Raster mit einem neuen Dank an den Quellgrund aller Gaben und einem neuen Vorsatz. Für das 100. Mal gebe ich dir nur das leere Raster. In das kannst du einen Segen eintragen, den du selber empfangen hast und weiterschenken möchtest. Hast du erst einmal die Freude entdeckt, die dieses Muster wecken kann, dann wirst du es nicht nur hundertmal, sondern unendlich oft wiederholen wollen. Mögest du dabei immer reicher gesegnet werden, immer freudiger bereit, Segen zu spenden, begabter, segnen zu können.»]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

dankbar leben b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Dankbarkeit beginnt im Bereich der Sinne, mit jener staunenden Freude, die sich am Sinnlichen ganz von selbst entzündet. Wer das bezweifelt, braucht nur ein Fußbad zu nehmen. Da wird Dankbarkeit ganz spontan lebendig. Wenn Herz und Mund es nicht tun, so fangen wenigstens die Zehen an, auf ihre Art dankbar zu singen. [AH 1-2) 85; 3-5) 82]

Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht es ist, die Aufmerksamkeit zu verlieren. Die Übersättigung unserer Sinne führt dazu, dass unsere Wachsamkeit eingeschläfert wird. Eine Flut von Sinneseindrücken neigt dazu, unser Herz von der konzentrierten Achtsamkeit abzulenken. Das schenkt mir eine neue Wertschätzung der Eremitage und ein neues Verständnis dafür, worum es in der Einsamkeit geht. Der Eremit ‒ der Eremit in jedem von uns ‒ läuft nicht vor der Welt davon, sondern sucht nach dem stillen Punkt im Inneren, worin man den Herzschlag der Welt vernehmen kann. Wir alle ‒ jede und jeder in anderem Maß ‒ bedürfen des Alleinseins, weil wir uns unbedingt in die Achtsamkeit einüben müssen. Wie soll das praktisch aussehen?

Gibt es für die Kultivierung der Achtsamkeit eine Methode?

Ja, dafür gibt es sogar viele Methoden. Diejenige, die ich gewählt habe, ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit kann man praktizieren, kultivieren, lernen.

Je stärker unsere Dankbarkeit wächst, desto stärker wird auch unsere Achtsamkeit.

Ehe ich morgens die Augen aufschlage, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe, jedoch Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind, und zwar die Mehrzahl von ihnen aufgrund von Bedingungen, die sich verbessern ließen, wenn nur unsere Menschheitsfamilie zu Verstand kommen und ihre Ressourcen vernünftig und gerecht einsetzen würde. Wenn ich mit diesen Gedanken die Augen aufschlage, sind die Chancen groß, dass ich für das Geschenk, sehen zu können, dankbarer bin und aufmerksamer für die Bedürfnisse derer, denen dieses Geschenk fehlt. Bevor ich abends das Licht ausschalte, vermerke ich in meinem Taschenkalender immer eine Sache, für die ich noch nie dankbar war. Das übe ich schon jahrelang, und der Vorrat an Themen kommt mir immer noch unerschöpflich vor.

Die Dankbarkeit bringt Freude in mein Leben.

Wie könnte ich mich über etwas freuen, das ich für selbstverständlich halte? Seit ich damit aufgehört habe, etwas als «selbstverständlich» anzusehen, kommen die Überraschungen, die ich finde, an kein Ende.

Eine dankbare Einstellung ist etwas Kreatives, denn letztlich ist die Gelegenheit dazu das Geschenk, das in jedem uns geschenkten Augenblick steckt. Das bedeutet meistens, dass sich uns Gelegenheiten bieten, etwas mit Freude zu sehen, zu hören, zu riechen, zu tasten und zu schmecken.

Habe ich mir aber erst einmal angewöhnt, immer neue Gelegenheiten dafür zu finden, so werde ich recht kreativ darin, diese sogar in unangenehmen Situationen zu entdecken.

Doch das Wichtigste daran ist: Dankbarkeit verstärkt diesen Sinn für das Dazugehören, von dem ich ganz zu Anfang gesprochen habe.

Es gibt kein engeres Band als dasjenige, das die Dankbarkeit feiert, nämlich das Band zwischen Geber und Danksagendem.

Alles ist Gabe, ist Geschenk.

Ein dankbares Leben ist eine Feier des allumfassenden Gebens-und-Nehmens des Lebens, ein grenzenloses «Ja» zum Dazugehören. [Auf dem Weg der Stille (2016), 88-90]

Alles ist unentgeltlich, alles ein Geschenk. Der Grad, in dem wir für diese Wahrheit aufgewacht sind, ist das Maß unserer Dankbarkeit. Und Dankbarkeit ist das Maß unserer Lebendigkeit. [FN 1) 15; 2-5) 15; 6) 18]

Bei den meisten Menschen quietschen die glorreichen Pfortenflügel der Wahrnehmung in rostigen Angeln. Ungemein viel Lebensglanz wird recht fruchtlos für uns vergeudet, weil wir mit gedrosselten Sinnen halb blind und halb taub herumtappen und vor lauter Gewohnheit ganz benommen sind. Wie ungeheuer viel Freude verpassen wir, wie viele Überraschungen bemerken wir gar nicht! Das ist, als wären unter jedem Busch Ostereier versteckt, aber wir sind zu faul, um sie zu beachten.

Doch das muss nicht so sein. Genau wie eine sich ausbreitende Krankheit können wir auch unsere fortschreitende Benommenheit beheben, ja können diesen Prozess sogar umkehren und die Heilung einleiten.

Wir können vorsätzlich täglich auf einen bestimmten Duft achten, auf einen Klang, den wir bislang noch nie genossen hatten, auf eine Farbe oder Form, eine Struktur oder einen Geschmack, die wir noch nie beachtet hatten. Versuchen Sie nur eine Woche lang, jeden Tag je ein anderes Ihrer Sinnesorgane bewusst einzusetzen, etwa am Montag das Riechen, am Dienstag das Schmecken und so weiter.

Die Freude fängt jenseits des Glücklichseins an. Freude ist das Glück, das nicht von dem abhängt, was gerade geschieht. Sie entspringt der Dankbarkeit.

Wenn wir anfangen, alles für selbstverständlich zu halten, verfallen wir in Langeweile. Aber alles in uns sehnt sich danach «Leben zu haben, und es in Fülle zu haben» (Joh 10,10).

Der Schlüssel zum Leben in Fülle ist die Dankbarkeit.

Machen Sie den folgenden Versuch: Halten Sie inne und denken Sie nach, bevor Sie morgens die Augen aufschlagen. Denken Sie daran, dass es auf dieser Welt Millionen von blinden Menschen gibt. Wenn Sie Ihre Augen etwas länger geschlossen halten und noch etwas weiterdösen, werden Sie sie dann sogar noch dankbarer aufschlagen. Sobald wir einmal unser Augenlicht nicht mehr für selbstverständlich halten, geht uns auf, was für ein Geschenk unsere Augen sind, und dass wir sie bislang noch gar nicht als solches wahrgenommen hatten.

Ein Geschenk als solches zu erkennen, ist der erste Schritt zur Dankbarkeit. Da die Dankbarkeit der Schlüssel zur Freude ist, halten wir diesen Schlüssel zur Freude in unseren Händen, also zu dem, was wir uns am meisten wünschen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 97-99]

[Ergänzend:

Dankbarkeit  mit ergänzenden Hinweisen zu Filmen, Audios, Interviews und weiteren Texten]


Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

loslassen titelCopyright © - Elisabeth Cerny-Gutmann

Wenn wir nicht unterscheiden zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir wirklich brauchen, so verlieren wir unser Ziel aus den Augen. Dann werden unsere Bedürfnisse (viele von ihnen nur eingebildet) immer mehr und unsere Dankbarkeit schwindet, damit aber auch unsere wahre Freude. Mönchisches Training kehrt diesen Prozess um. Der Mönch strebt danach, immer weniger zu wollen und so immer dankbarer zu werden für das, was er hat.

Losgelöstheit macht uns bedürfnisloser. Je weniger wir haben, umso leichter ist das, was wir haben, zu würdigen.

Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt. Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen. Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse … Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten. Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße. Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit. Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zunehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt. [ST 91, Quelle: AH 1-2) 18; 3-5) 17f.]

Vor langer Zeit suchte mich eine christliche Nonne auf, die intensiv Zen übte. Ein Meister hatte ihr gesagt, sie solle alles loslassen, und jetzt war sie in einem Dilemma. Wie konnte sie denn Christus jemals loslassen? Was ich ihr sagte, brachte mir einige Schwierigkeiten ein. Ich sagte, selbstverständlich müsse sie Christus loslassen, und sie brauche sich überhaupt keine Sorgen darum zu machen, weil ihr alles, was in Bezug auf Christus überhaupt wichtig sei, aufgehen würde, wenn sie erst einmal losgelassen habe.

Danach habe ich sie aus den Augen verloren, ich weiß also nicht, ob sie das getan hat. Aber davon bin ich überzeugt: Wir müssen alles, was wir äußerlich als Christus verstehen, loslassen, müssen alles loslassen, woran wir überhaupt hängen. Nur dann wird sich das auftun, an dem wir nicht zu hängen brauchen, das, was da ist, ohne dass wir daran hängen. Das ist es, worauf sich der hl. Paulus meiner Meinung nach bezieht, wenn er sagt: «Ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.» Und das kann man erst dann erkennen, wenn man alles losgelassen hat, was man überhaupt loslassen kann. [ST 91f., Quelle: SW 50]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

mitgefuehl titelCopyright © - Barbara Krähmer

Es stimmt, dass die gesamten Charaktereigenschaften, die wir entwickeln, indem wir auf die jeweiligen Anforderungen des Augenblicks eingehen oder nicht, eine Art karmisches Selbst oder unseren Seelenzustand darstellen. Diese recht unerbittliche Tatsache findet allerdings ein Gegengewicht in der Einsicht, dass jedwedes Karma, das sich angesammelt haben mag, vollständig aufgelöst werden kann durch mitfühlende, von Herzen kommende Vergebung. Auch wenn es in unserer Alltagswirklichkeit noch etwas durchzuarbeiten gibt, dann ist dem doch der Stachel genommen. Es wirkt nicht mehr destruktiv und lebensverneinend. Leiden, das zu Mitgefühl führt, ist schöpferisch und lebensermutigend. [ST 93, Quelle: MS 5) 113f.]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

musse titel stahlCopyright © - Georg Stahl

Vielleicht kann es für uns eine Hilfe sein, wenn wir uns klarmachen, dass Arbeit im engsten Sinn eng mit dem Zweck zusammenhängt: Arbeit ist die Art von Tätigkeit, die auf einen bestimmten Zweck abzielt, und wenn dieser bestimmte Zweck erfüllt ist, hört die Arbeit als solche auf.

Spielen dagegen ist etwas ganz anderes. Das Spielen zielt nicht auf irgendeinen bestimmten Zweck. Aber das Spielen hat Sinn; das Spielen lässt Sinn aufblühen.

Man arbeitet, bis man seinen Zweck erfüllt hat. Man wischt den Boden, bis er ganz gewischt ist. Aber man singt nicht, um ein Lied abzusingen, sondern man singt ganz einfach, um zu singen.

Und, wie der Religionsphilosoph Alan Watts gesagt hat, man tanzt auch nicht, um irgendwohin zu kommen, sondern man tanzt, um zu tanzen. Das hat seinen Sinn ganz in sich selbst.

Nun neigen wir aber zu der Vorstellung, das Gegenteil von Arbeit sei die Muße. Aber die Muße ist nicht das Gegenteil von Arbeit.

Wenn man schon eine Polarität aufstellen will, dann kann man sagen, das Gegenteil von Arbeit sei das Spiel.

Die Muße aber ist genau die Brücke über diese Kluft zwischen beidem.

Das heißt, man bringt in seine Arbeit das hinein, was das Wichtigste beim Spielen ist, nämlich, dass man sie um ihrer selbst willen tut und nicht dazu, um mit ihr einen bestimmten Zweck zu erfüllen.

Das heißt aber, dass man ihr Zeit lassen muss.

Muße ist kein Privileg für solche, die sich für die Muße Zeit nehmen können. Muße ist eine Tugend, nämlich die Tugend derjenigen, die allem Zeit lassen, was immer Zeit braucht, und ihm so viel Zeit widmen, wie es verdient, und deswegen in Muße arbeiten und in ihrer Arbeit Sinn finden und ihr Leben voll entfalten.

Wenn wir eine strikte Arbeitsmentalität haben, leben wir nur halb. Wir sind dann wie Menschen, die bloß einatmen und deswegen ersticken. Es macht auch gar keinen Unterschied aus, ob man bloß einatmet oder bloß ausatmet; in beiden Fällen erstickt man.

Damit lässt sich recht gut die Tatsache vor Augen führen, dass wir die Arbeit nicht gegen das Spielen ausspielen sollten und auch nicht den Zweck gegen den Sinn. Beides muss Hand in Hand gehen. Wir müssen einatmen und ausatmen, und so erhalten wir uns am Leben. Darum geht es ja in Wirklichkeit bei allem, worauf wir aus sind, und darum muss es auch der ganzen Religion gehen: um das Lebendigsein. [Auf dem Weg der Stille (2016), 61f.]

Diese Art von Erfahrung benötigen wir, um unsere Weltsicht zu korrigieren. Gar zu leicht neigen wir zu der Vorstellung, dass Gott diese Welt aus einem bestimmten Zweck erschuf. Wir sind dermaßen im Zweckdenken verfangen, dass wir uns sogar Gott als zweckgebunden vorstellen. Gott aber spielt. Die Vögel eines einzigen Baumes sind Beweis genug, dass Gott sich nicht mit einer göttlichen No-Nonsense-Haltung daran machte, eine Kreatur zu schaffen, die auf perfekte Weise den Zweck eines Vogels erfüllt. Was könnte dieser Zweck auch sein, frage ich mich. Es gibt Kohlmeisen, Schneefinken und Amseln, Spechte, Rotkehlchen, Stare und Krähen. Der einzige Vogel, den Gott nie geschaffen hat, ist der No-Nonsense-Vogel.

Öffnen wir unsere Augen und Herzen für Gottes Schöpfung, dann sehen wir schnell, dass Gott ein spielerischer Gott ist, ein Gott der Muße.

Menschen, die ihre Arbeitszeit mit nichts als ihrem Ziel vor Augen verbringen, wissen kaum mehr, was spielen heißt, wenn ihre Freizeit schließlich anfängt. Entweder fallen sie erschöpft mit einem Glas in der Hand in das Sofa vor dem Fernsehschirm, weil diese Art von Arbeit einen völlig verschleißt. Oder aber sie sind so sehr der Gewohnheit bloßem Zielstreben verfallen, dass sie auch jetzt weiterarbeiten. Unfähig zu spielen, machen sie entweder Überstunden, oder arbeiten mit ihren Golf- oder Tennisschlägern in den Händen weiter.

Wir sind einfach solange unfähig, spielerisch zu spielen, wie wir nicht gelernt haben, spielerisch zu arbeiten.

Spielerisch arbeiten?

Hört sich das nicht beinahe frivol an, wenn man die Haltung zur Arbeit bedenkt, die vielen von uns eingebläut wurde? Spielerisch arbeiten, das klingt wie Herumspielerei. Und doch führt eigentlich nur jene Arbeit, die wir mit Muße tun, zum Ziel. Das Ziel ist ja nicht der Zweck, sondern ein sinnerfülltes Leben.

Mit Muße arbeiten heißt, die Sinnbetonung, die wir vom Spiel her kennen, auch in unserer Arbeit zu verwirklichen. Muße lässt inmitten einer zielgerichteten Aktivität Raum für Sinn.

Das chinesische Schriftzeichen für Muße besteht aus zwei Elementen, die für sich genommen offenen Raum und Sonnenschein bedeuten: Muße schafft Raum, um die Sonne hineinscheinen zu lassen. Eines späten Morgens sah ich einmal ein Bündel Sonnenstrahlen im steilen Winkel in die von Menschen geschaffene Schlucht der Wall Street fallen und verstand, was jenes alte chinesische Ideogramm für Muße beschäftigten New Yorkern zu sagen hätte.

Wenn unsere zweckgerichtete Arbeit obendrein sinnvoll ist, dann werden wir uns inmitten all der Arbeit wohlfühlen. Dann werden wir nicht so darauf versessen sein, sie hinter uns zu bringen. Wenn du nur einige Minuten täglich damit verbringst, etwas hinter dich zu bringen, dann könntest du im Verlauf eines ganzen Lebens Tage, Wochen und Jahre vergeuden. Sinnlose Arbeit ist eine Art, Zeit totzuschlagen. Muße aber lässt die Zeit lebendig werden.

Das chinesische Schriftzeichen für Geschäftigkeit ist ebenfalls aus zwei Elementen zusammengesetzt: aus Herz und Töten. Eine zeitgemäße Warnung. Selbst unser Herz ist nur dann gesund, wenn es mit Muße schlägt.

Das Herz ist ein Muskel mit Muße

Er unterscheidet sich von allen anderen Muskeln. Wie viele Liegestütze schaffst du, bevor deine Muskeln an Armen und Bauch so müde werden, dass du anhalten musst? Dein Herzmuskel aber arbeitet, solange du lebst. Er wird nicht müde, denn eingebaut in jeden Herzschlag ist eine Ruhephase. Für unser körperliches Herz ist es wesentlich, dass es in aller Ruhe arbeitet. Wenn wir unsere innerste Wirklichkeit «Herz» nennen, dann bedeutet das, dass jene lebensspendende Ruhe und Muße unserem tiefsten Wesen entspricht. [FN 1) 65f.; 2-5) 67-69; 6) 68-70]

 

[Ergänzend:

Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit  im Hinblick auf die Zeit.

«Muße ist mit den äußeren Fakten von Arbeitspause, Freizeit, Wochenende, Urlaub nicht schon gegeben. Muße  ist ein Zustand der Seele!» Das schrieb Josef Pieper (1904–1997), der in der Muße die Voraussetzung aller Kultur erblickte. Nur durch Muße finden wir den rechten Rhythmus für Arbeit und Entspannung, fürs Allein- und Beisammensein, fürs Schlafen und Wachen und für alles, was wir tun. Wir stimmen uns ein auf den Rhythmus im großen Tanz.]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

vertrauen titelCopyright © - Ruth Businger

Vertraue dem Leben, dass es jeden Moment genau das zur Verfügung stellt, was du brauchst.

Dem Leben zu vertrauen heißt: fest damit rechnen, dass jeder Tag uns genau das bringen wird, was wir brauchen ‒ wenn es auch nicht immer das ist, was wir uns wünschen. Daher werden wir keine Energie an inneren Widerstand verschwenden oder an Wunschträume; dann haben wir mehr Energie verfügbar, um mit der gegebenen Lage umzugehen – genau dort, wo das Schicksal uns hingestellt hat. Wir verlassen uns eben darauf, dass die Lebensquelle uns schon gibt, was für uns gut ist, ob wir es immer gleich erkennen oder nicht.

Menschen, die so leben, gleichen Schwimmern in einem reißenden Strom. Sie liefern sich der Strömung nicht willenlos aus, aber sie widerstehen ihr auch nicht; sie passen sich vielmehr mit jeder Bewegung der Trift oder Sog an, und nützen den Lauf des Wassers zielstrebig und geschickt so aus, dass sie sich an dem Abenteuer richtig freuen können.

Was wäre für ein erfülltes, geglücktes Leben wichtiger als solch gläubiges Vertrauen? Je bewusster wir leben, umso klarer erkennen wir, was für ein unfassbares Geschenk es ist, überhaupt lebendig zu sein. Diese Einsicht löst mit jedem Atemzug tiefe Dankbarkeit aus und öffnet dadurch unser Herz für immer größere Lebensfreude. [CG 1) 184; 2) 184]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

sterben titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Freudig zu leben ‒ darum geht’s uns allen, auch wenn wir glauben, wir müssen uns unglücklich machen, um wirklich freudig zu leben ‒ das gibt es, nicht so selten der Fall ‒, das Ziel ist doch immer, freudig zu leben.

Um wirklich freudig zu leben, müssen wir auch mit dem Sterben auskommen. Das Sterben gehört zum Leben dazu und wir müssen irgendwie auch unser Sterben verstehen.

Sterben lernen heißt leben lernen und leben lernen heißt sterben lernen.

Und da können wir jetzt einen anderen Ansatz machen ‒ wir werden sofort sehen, wie eng die beiden verbunden sind ‒, und zwar können wir wieder der Sprache nachforschen und sehen, dass wir sagen: Ich habe einen Leib. Das ist eine sehr sonderbare Feststellung. Wer hat denn diesen Leib? Wer sagt denn das? Das ist ein Leib, der das sagt; wenn er keinen Mund hätte, könnte er es nicht sagen: Ich habe einen Leib. Ist da so ein Kleiner irgendwie, der da drinnen sitzt und einen Leib hat. Sonderbare Situation:
Ich bin ein Leib, der da sagt, ich habe einen Leib. Und das ist das Geist Materie Problem, auf das wir auch immer wieder stoßen.

In unserem Selbst, weil wir eben in diesem Doppelbereich von Materie und Geist leben, kennen wir etwas, was nicht gemessen und nicht geteilt werden kann, und alles, was materiell ist, kann gemessen und geteilt werden. Aber unser Selbst kann nicht gemessen und nicht geteilt werden. Es ist Eines. Und das kennen wir.

Wir kennen es nur von innen ‒ und das ist der Unterschied ‒ und nicht von außen. Von außen kennen wir die Dinge, die geteilt und gezählt werden können. Es gibt eben verschiedene Perspektiven. Und die Geist Perspektive ist eine Erste-Person-Einzahl Perspektive. Von innen her erleben wir das.

Ken Wilber, mit dessen Werk sicher viele von ihnen vertraut sind, hat das ja sehr eingehend und am besten von allen, die darüber schreiben, dargestellt, dass wir immer, was er die Quadranten nennt, beobachten müssen. Also wir müssen beobachten: In welcher Perspektive sprechen wir jetzt? Und über den Geist können wir nur in der ersten Person sprechen. Über die Materie in der dritten Person.

(33:58) Und jetzt leben wir in diesem Doppelbereich: Wir sind Leib und haben Leib. Und das ist die Aufgabe in unserem Leben. Und worum geht es im Leben? Worum geht es? Mit einem Wort: Um Erfahrung oder um Reife, um reif werden.

Was immer für ein Wort wir finden, wir merken, dass im Bereich der Materie ‒ also im Bereich unseres Leibes ‒ ein anderer Vorgang sich abspielt im Leben als im Bereich des Geistes.

Im Bereich des Leibes, der Materie, nehmen wir teil in dem Leben, das wir überall rund um uns beobachten können auch von außen her, und das ist, was Goethe das große «Stirb und Werde» nennt:[1]

Es beginnt mit einem Samen, es führt zu einer Geburt, es kommt zur Blüte, es treibt Früchte, es verwelkt, es stirbt. Und es bleibt vielleicht noch ein Same, der wieder aufwächst und wieder blüht und wieder Früchte trägt: Es ist dieses «Stirb und Werde.» Dem gehören wir an, dem gehört jede und jeder von uns an, weil wir eben im Bereich der Materie leben.

Im Bereich des Geistes geht es um etwas ganz anderes. Da geht es nicht um Entwicklung, sondern um etwas, was man Anreicherung nennen könnte.

Brigitte hat gestern schon in ihrem Vortrag auf das schöne Wort von Rilke hingewiesen, der sagt von uns Menschen:

«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren ‒ und das heißt, den Nektar des Sichtbaren und mit allen Sinnen Erfahrbaren: darum leben wir in dieser Körperlichkeit im Bereich der Materie ‒ Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[2]

Und das ist der Bereich des Geistes. Das ist, was ich Anreicherung nenne und das kann niemand von außen beobachten, das können wir nur aus eigener Erfahrung, nur von innen her.

Dinge, die großartig von außen ausschauen, tragen vielleicht sehr wenig zu unserer Bereicherung innerlich bei. Und andere Kleinigkeiten, die sonst von außen kaum jemand bemerkt, können uns unglaublich Reichtum schenken.

Also, so wie wir im Bereich der Materie diesem «Stirb und Werde» angehören, so geht es im Bereich des Geistes um Erfahrungsreichtum: um Erfahrungsreichtum ansammeln.

Und wenn wir das sehen, dann haben wir schon einen Zugang, nicht nur zu dem, worum es im Leben geht ‒ eben in diesem Doppelbereich um zweierlei, das innigst miteinander verwoben ist ‒, sondern wir haben auch Zugang zu dem Sterben:

Das Sterben kann sich nur auf das Materielle beziehen.

Das, was nicht geteilt und nur innerlich erlebt werden kann, ist nicht diesem Sterben unterworfen.

Und das kann ein großer Trost sein, nicht was äußerlich Beweiskraft hat, aber etwas, das innerlich Trost und Stärke geben kann. Dass wir in diesen großen goldenen Honigwaben etwas ansammeln, was durch unser Sterben, das eben zum Leben gehört ‒ zum Leben gehört das Sterben ‒, überhaupt nicht betroffen wird, sondern eben: Sein ist über den Tod erhaben. Sterben ‒ Tod ist nicht das Gleiche. [Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog: Vortrag (2014), siehe auch Mitschrift 7-9]

_________________________

[1] «Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.»
(Johann Wolfang Goethe, Selige Sehnsucht)

[2] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 105-107. Br. David spricht in diesem Vortrag von Bereicherung, meint aber dasselbe wie Anreicherung.



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

tod titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Wir wissen wenig über unsere letzten Augenblicke, wir wissen aber, worauf es jetzt ankommt. Ich würde also sagen: Stirb, solange du lebendig bist, weil du nicht weißt, wie gut du etwas tun kannst, das deine ganze Energie braucht, wenn du erst einmal senil, schwach oder sehr krank bist.

Hier ist wieder einer der Punkte, wo meines Erachtens Geburt und Tod einander sehr nahe kommen. Weder Geburt noch Tod können auf einen zeitlichen Augenblick festgelegt werden. Wir wissen nicht genau, wann eine Person geboren ist. Wir können auf den körperlichen Vorgang verweisen, in dem die Nabelschnur durchschnitten wird, doch manche Leute werden vielleicht erst nach 40 Jahren richtig lebendig oder noch später. Wann wird eine Person lebendig? Ich kann mir vorstellen, dass der eigentliche Augenblick, in dem Jemand zum Leben erwacht, genau derjenige ist, in dem er wirklich stirbt. Und alles was dahin führte, vielleicht 45 Jahre lang, ist Zeit, die zum Üben gebraucht wurde für diesen wichtigen Moment; und alles, was danach folgt, ist Zeit, die gebraucht wird, um der Natur ihren Lauf zu lassen. Im Leben mancher Leute geschieht das vielleicht ganz plötzlich, in einem einzigen Augenblick, während es bei anderen schrittweise geschieht, mühsam durch viele Stufen hindurch. [Sterben lernen (2005)]

Wenn man tot ist, dann ist man tot. Deine Zeit ist abgelaufen, daher gibt es nichts «nach» dem Tode. Von der Definition her ist Tod dasjenige, nach dem es nichts mehr gibt. Die Zeit ist vorbei; die Uhr ist abgelaufen. Die Zeit eines anderen mag weiterlaufen, deine eigene jedoch ist vorbei. Für dich gibt es kein «danach».

Und doch erleben wir selbst jetzt, vor dem Tode, wichtige Augenblicke, die nicht in der Zeit liegen. Sie sind, wie T. S. Eliot es formuliert, «innerhalb und außerhalb der Zeit». Wir erfahren hier und jetzt Wirklichkeiten, die jenseits der Zeit liegen. In solchen Augenblicken wird Zeit eine Begrenzung erfahren. Wenn meine Zeit jedoch abgelaufen ist, dann bleibt alles das bestehen, was jenseits der Zeit ist. Das ist keinem Wandel unterworfen. Es dauert. Wenn mein Leben schließlich vollendet ist, ist es so, als wenn eine Frucht vom Baum fällt. Ich fahre nicht fort, für alle Zeiten irgendetwas zu tun. So wie in den lebendigsten Augenblicken in diesem Leben, besitze ich mein gesamtes Leben auf einmal. Außerhalb der Zeit besitze ich mein Leben. Und da alles mit allem in diesem «Jetzt, das nicht vergeht» zusammenhängt, besitzen wir alles. Wenn Zeit uns nicht mehr trennt, besitzen wir alle diejenigen, die wir lieben, einschließlich aller Tiere und Pflanzen. [ST 133f., Quelle: WZ 1-3) 128]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

sterben lernen titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Der beste Ausgangspunkt für jedes Gespräch, auch für eines über den Tod, ist der Punkt, an dem man sich selbst befindet. Für mich ist der Ausgangspunkt der eines Benediktiner-Mönchs. Gemäß der Regel des Heiligen Benedikt ist das memento mori eine grundlegende Lebenshaltung: als Mönch leben heißt „den Tod allzeit vor Augen haben“.[1] Als mir zum ersten Mal die Benediktinerregel in die Hände fiel, war dies der Schlüsselsatz, der mich am meisten beeindruckte und anzog. Darin lag die Herausforderung, das Bewusstsein des Sterbens in mein tägliches Leben hineinzunehmen, denn darum geht es hier. Es handelt sich nicht in erster Linie darum, an die letzte Lebensstunde zu denken, also an den Tod als ein physisches Phänomen; die Herausforderung besteht vielmehr darin, jeden Moment des Lebens vor dem Horizont des Todes zu sehen, das Wissen um das Sterben und Vergänglichkeit in jeden Augenblick des Lebens hineinzunehmen, um dadurch erst wirklich lebendig zu werden.

Ich fand später, dass diese Haltung - manchmal ausdrücklich, manchmal implizit -, in allen spirituellen Traditionen geübt wird, mit denen ich in Berührung kam. Im Zen-Buddhismus ist sie sicher sehr stark ausgeprägt, sie findet sich aber auch im Hinduismus und im Sufismus. [Sterben lernen (2005)]

Für viele heutige Menschen ist das ein wichtiges Anliegen: ein würdevoller Tod, ein Tod, der den Kreis unseres Lebens schließt und ein vollständiges Ganzes daraus macht, und nicht bloß Auflösung ist.

Wir befürchten, dass der Tod uns wie ein Dieb in der Nacht überfällt, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten zu leben. Diese Furcht ist dann am größten, wenn wir nicht im Augenblick leben. Wenn wir nicht herausfinden, wie wir im Jetzt leben können, ängstigt uns der Tod, weil wir in unserem Leben nie richtig da waren. Wir haben es verpasst, und jetzt ist es plötzlich vorbei.

Je intensiver wir leben, desto leichter ist es, loszulassen und zu sterben. Mönche lernen, sich den Tod jederzeit vor Augen zu halten. An den Tod zu denken heißt nicht, sich ständig mit dem Tod zu beschäftigen. Es heißt, dass hier und jetzt Gelegenheit ist, uns mit dem Leben zu beschäftigen. Carlos Castaneda berichtet in einem seiner Bücher, dass Don Juan zu ihm sagte: «Du bist so launisch, und du bist nicht wirklich lebensfroh, weil der Tod nicht dein Berater ist. Du glaubst, dass du ewig leben wirst.»

Wenn wir uns eingestehen, dass jeder Tag ein Ende hat, dass jedes Leben ein Ende hat, so heißt das, dass wir der Aufforderung nachkommen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und etwas aus diesem Tag, aus diesem Leben zumachen. Wenn wir etwas aus diesem Tag gemacht haben, werden wir auch loslassen können. [ST 134f., Quelle: [ST 134f., Quelle: MS 5) 108f.]

Das ist der springende Punkt: Wenn wir uns hingeben an die Wirklichkeit, wie sie auch immer sei, dann sind wir im Fluss des Lebens. Wir halten das fließende Leben nicht an, wir versuchen nicht, es zu halten und zu besitzen, sondern wir lassen los, und alles wird lebendig, sobald wir es lassen. Wenn wir eine Blume abschneiden, ist sie nicht länger lebendig. Wenn wir Wasser aus dem Fluss nehmen, ist es nur noch eine Schale voll Wasser und nicht mehr der strömende Fluss. Wenn wir Luft in einen Ballon füllen, ist sie nicht mehr Wind. Alles was fließt und lebt muss genommen und gegeben werden zur selben Zeit - genommen mit einer sehr, sehr leichten Berührung. Hier spielen wir wieder das Geben und Nehmen nicht gegeneinander aus, sondern lernen die beiden angesichts von Leben und Tod in ein richtiges Verhältnis zu bringen.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir von einer jungen Frau erzählt wurde, deren Mutter nahe am Sterben war.[2] Sie fragte sie: „Mutter, hast du Angst vor dem Sterben?“, und ihre Mutter antwortete: „Ich habe keine Angst, aber ich weiß nicht, wie ich es machen soll“. Die Tochter, durch die Antwort überrascht, legte sich aufs Sofa und überlegte, was sie selbst tun würde in dieser Situation, und dann ging sie zu ihrer Mutter und sagte: „Mutter, ich glaube, du musst dich einfach hingeben“. Ihre Mutter gab keine Antwort, aber kurz darauf sagte sie: „Mache mir eine Tasse Tee und mache es genau so, wie ich es gerne mag, mit viel Sahne und Zucker, denn es wird meine letzte Tasse Tee sein. Ich weiß jetzt, wie ich sterben kann.“

Sind wir aufrichtig mit jemandem befreundet, müssen wir diesen Freund immer wieder lassen um ihm Freiheit zu geben, wie eine Mutter, die ihr Kind unablässig freigibt. Gibt die Mutter das Kind nicht frei, kann es schon gar nicht geboren werden; es stirbt im Mutterleib. Aber auch nach der physischen Geburt, muss das Kind immer wieder freigegeben und losgelassen werden. Viele Schwierigkeiten, die wir mit unseren Müttern haben, und die unsere Mütter mit uns haben, kommen daher, dass sie uns nicht gehen lassen können; und offensichtlich ist es viel schwieriger für eine Mutter, einem Teenager das Leben zu schenken als einem Baby. Doch ist dieses Auf-Geben nicht auf Mütter beschränkt; wir müssen uns alle gegenseitig bemuttern, egal ob wir Männer oder Frauen sind. Ich denke, Bemuttern ist in dieser Hinsicht wie Sterben; es ist etwas, das wir unser ganzes Leben hindurch tun müssen. Und immer, wenn wir einen Menschen oder einen Gegenstand oder einen Standpunkt aufgeben, wahrhaft aufgeben, dann sterben wir ‒ ja, aber wir sterben hinein in eine größere Lebendigkeit. Wir sterben hinein in die Einheit mit dem Leben. Nicht zu sterben, nicht aufzugeben heißt, dass wir uns von diesem freien Lebensstrom ausschließen. [Sterben lernen (2005)]

_______________________

[1] Wegweisend für Bruder David «Den unberechenbaren Tod täglich vor Augen haben» (RB 4,47), siehe (34) Lebendig sein ‒ den Tod allzeit vor Augen haben (Fest des hl. Benedikt), aus: DVD-Vortrag 2006 – Der Atem der Stille, Mystik heute – Die christlich-buddhistische Begegnung

[2] «Wähle das Leben» (5. Mose 320,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben: Gespräch Teil 1



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

dankbark u opferritus titelCopyright © - Barbara Krähmer

«Ich werde oft gefragt, wie ein Buddhist die Frage: ‹Existiert Gott›? beantwortet.

Vor ein paar Tagen ging ich am Fluss entlang. Der Wind wehte. Plötzlich dachte ich: ‹Oh, die Luft existiert wirklich!› Wir wissen, dass die Luft da ist, aber solange uns nicht der Wind ins Gesicht weht, sind wir uns ihrer nicht bewusst. Vom Wind umweht, wurde mir plötzlich bewusst, dass sie wirklich da ist.

Genauso ist es mit der Sonne. Plötzlich nahm ich die Sonne wahr, die durch die kahlen Bäume schien. Ihre Wärme, ihre Helligkeit alles vollkommen frei, vollkommen gratis. Wir können sie einfach genießen. Und ohne es bewusst zu wollen, völlig spontan, legte ich die Hände gegeneinander und machte ‹gassho›. Da wurde mir klar, dass es nur darauf ankommt: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das. Einfach nur das.»[1]

Wären wir in der Lage, diese elementare Dankbarkeit ständig zu empfinden, dann bräuchten wir nicht darüber zu sprechen, und viele der Widersprüche, die unsere Welt zerreißen, wären sofort aufgehoben. In unserer derzeitigen Situation mag es jedoch angebracht sein, davon zu sprechen. Es könnte uns zumindest helfen, die Erfahrung zu erkennen, wenn sie uns geschenkt wird, und uns den Mut geben, uns in die Tiefe der Dankbarkeit hinabsinken zu lassen.

Zunächst einmal sollten wir uns fragen: Was geschieht, wenn wir uns spontan dankbar fühlen? (Natürlich geht es uns hier um das konkrete Phänomen, nicht um irgendeine abstrakte Idee.) Zum einen spüren wir Freude. Freude liegt der Dankbarkeit zweifellos zugrunde. Aber es ist eine ganz besondere Freude ‒ eine Freude, die uns von einem anderen Menschen geschenkt wird. Meine Freude wird um etwas wesentliches erweitert, wenn ich spüre, dass jemand anders, ein anderer Mensch, sie mir schenkt.

Ich kann mich selbst mit einem köstlichen Mahl verwöhnen, aber meine Freude wird in diesem Fall eine ganz andere sein, als wenn jemand anders mich verwöhnt hätte (und sei es auch mit einem weniger exquisiten Essen). Ich kann mir selbst etwas gönnen, aber keine geistige Verrenkung wird mich in die Lage versetzen, mir selbst dankbar zu sein; hierin liegt der Unterschied zwischen der Freude, aus der Dankbarkeit entspringt, und jeder anderen Art von Freude.

Dankbarkeit bezieht sich auf eine andere Person. Wir können nicht im selben Sinne Dingen oder unpersönlichen Mächten, wie dem Leben oder der Natur, dankbar sein, es sei denn, wir empfinden sie auf irgendeine unklare Weise als menschlich, vielleicht als übermenschlich.

Kann sich Dankbarkeit nicht auf eine Person richten, schwindet sie. Woran liegt das? Dankbarkeit impliziert, dass mir die Gabe, die ich empfange, aus freien Stücken geschenkt wird, und jemand, der mir einen Gefallen tun kann, ist, per definitionem, eine Person.

Aber auch wenn mir jemand anders eine Freude bereitet, empfinde ich nur dann Dankbarkeit, wenn er es absichtlich getan hat. In dieser Hinsicht sind die meisten Menschen sehr empfindlich. Wenn wir in der Cafeteria ein ungewöhnlich großes Stück Kuchen erhalten, zögern wir wahrscheinlich einen Augenblick, und erst wenn wir die Möglichkeit ausgeschlossen haben, dass es eben ab jetzt größere Stücke gibt oder dass es sich um ein Versehen handeln könnte, interpretieren wir es als persönlichen Gefallen, der uns ein Lächeln für den Angestellten hinter der Theke wert ist.

In manchen Fällen lässt sich nur schwer entscheiden, ob uns eine Gefälligkeit auch wirklich persönlich zugedacht war, aber unsere Dankbarkeit hängt von dieser Interpretation ab. Zumindest muss die Gefälligkeit einer Gruppe gelten, mit der ich mich persönlich identifiziere. (Trägt man ein Mönchsgewand, dann geschieht es nicht selten, dass man ein größeres Stück Kuchen bekommt oder mit einer anderen unerwarteten Freundlichkeit bedacht wird ‒ noch dazu von Menschen, die einem völlig fremd sind und die man auch nie wiedersehen wird. Hier ist man in seiner Eigenschaft als Mönch persönlich gemeint.) Völlig anders ist es in der peinlichen Lage, in der jemand uns zulächelt ‒ oder wir meinen so ‒ um dann festzustellen, dass das Lächeln jemandem gilt, der hinter uns steht.

Wozu diese kleine Phänomenologie der Dankbarkeit? Soviel ist sicher: Dankbarkeit beruht auf der Einsicht, dass mir etwas Gutes widerfahren ist, das von einem anderen Menschen ausging, dass es mir aus freien Stücken geschenkt wurde und als Gefälligkeit gedacht war. In dem Augenblick, wo ich dies erkenne, empfinde ich spontan Dankbarkeit: «Je suis reconaissant» ‒ Ich erkenne, ich anerkenne, ich bin dankbar; im Französischen umfasst dieser eine Ausdruck alle drei Bedeutungen. Ich erkenne die besondere Qualität dieser Freude der Dankbarkeit: es ist eine Freude, die mir aus freien Stücken als Gefälligkeit zugedacht wurde. Indem ich ein Geschenk, das mir nur ein anderer aus freien Stücken geben kann, aus freien Stücken akzeptiere, erkenne ich meine Abhängigkeit an.

Ich bin dankbar und erlaube meinen Gefühlen, die Freude, die mir geschenkt wurde, voll auszukosten und zum Ausdruck zu bringen. So fließt die Freude ‒ durch die Dankbarkeit, die ich ausdrücke ‒ zu ihrer Quelle zurück. Aufrichtige Dankbarkeit nimmt den ganzen Menschen in Anspruch: Der Verstand erkennt das Geschenk als Geschenk; der Wille erkennt Abhängigkeit an; die Gefühle schwingen mit der Freude dieses Erlebnisses mit.

Der Intellekt erkennt: Ja, diese Freude ist wirklich ein Geschenk; der Wille erkennt an: Ja, es ist gut, meine Abhängigkeit zu akzeptieren; die Gefühle schwingen in Dankbarkeit mit und preisen die Schönheit dieses Erlebnisses. So findet das dankbare Herz, das im Wahren, Guten und Schönen die Fülle des Seins erfährt, durch Dankbarkeit seine Erfüllung. Deshalb ist ein Mensch, der nicht von Herzen dankbar sein kann, ein so beklagenswertes Geschöpf. Fehlende Dankbarkeit weist immer auf eine Störung im Bereich des Intellekts, des Willens oder der Gefühle hin, welche eine Integration der Persönlichkeit verhindert.

So mag etwa der Verstand auf Misstrauen bestehen und nicht erlauben, dass eine Gefälligkeit als solche erkannt wird. Selbstlosigkeit lässt sich nicht beweisen. Wenn ich auch über die Motive eines anderen nachgrüble, so muss an einem gewissen Punkt der Verstand doch dem Vertrauen Platz machen. Dankbarkeit ist eine Geste, die nicht vom Verstand allein, sondern vom ganzen Herzen ausgeht. Vielleicht weigert sich auch mein stolzer Wille, meine Abhängigkeit von einem anderen Menschen anzuerkennen. Das lähmt mein Herz, noch bevor es sich zum Dank erheben kann.

Schließlich mögen auch die Narben verletzter Gefühle eine volle emotionale Antwort verhindern. Mein Verlangen nach reiner Selbstlosigkeit mag so tief und meine bisherigen Erfahrungen so schlecht sein, dass ich verzweifle. Wer bin ich denn auch schon? Weshalb sollte irgendjemand selbstlose Liebe an mich verschwenden? Bin ich es wert? ‒ Nein. Dieser Tatsache ins Auge zu sehen, meine Unwürdigkeit zu erkennen und mich doch hoffnungsvoll der Liebe zu öffnen ‒, das ist der Ursprung aller menschlichen Ganzheit und Heiligkeit, der Kern der verbindenden Geste des Dankens. Die innere Geste der Dankbarkeit kann sich jedoch nur dann verwirklichen, wenn sie auch Ausdruck findet.

Der Ausdruck des Dankes ist ein wesentlicher Bestandteil der Dankbarkeit, er ist ebenso wichtig wie das Erkennen des Geschenks als solches und die Anerkennung meiner Abhängigkeit. Man denke nur an die Hilflosigkeit, die wir empfinden, wenn wir ein anonymes Geschenk erhalten und folglich nicht wissen, wem wir dafür danken sollen. Erst wenn unser Dank zum Ausdruck gekommen ist und akzeptiert wurde, ist der Kreis des Gebens und Dankens geschlossen und ein Austausch zwischen Geber und Empfänger hergestellt.

Allerdings ist das Bild vom geschlossenen Kreis nicht besonders gut gewählt. Austausch ist wohl eher mit einer Spirale zu vergleichen, in der der Geber den Dank entgegennimmt und so selbst zum Empfänger wird. So wird die Freude des Gebens und Empfangens immer stärker. Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm eine Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter, ihrerseits hochbeglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es. Das ist sie, die Spirale der Freude. Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug? Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, größer als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte?

Die Aufwärtsbewegung der Spirale deutet jedoch nicht nur an, dass die Freude stärker geworden ist. Vielmehr sind wir zu etwas völlig Neuem gelangt. Ein Übergang hat stattgefunden. Ein Übergang von der Vielheit zur Einheit: Zu Anfang waren es Geber, Geschenk und Empfänger; daraus wird die Umarmung, die Danksagung und entgegengenommenen Dank umfasst. Wer kann im abschließenden Kuss der Dankbarkeit noch zwischen Geber und Empfänger unterscheiden?

Bedeutet Dankbarkeit nicht einen Übergang vom Misstrauen zum Vertrauen, von stolzer Isolation zu demütigem Geben und Nehmen, von der Versklavung in falscher Unabhängigkeit zur Selbst-Annahme in der befreienden Abhängigkeit? Ja, Dankbarkeit ist die die große Geste des Übergangs.

Und diese große Geste des Übergangs eint uns. Sie eint uns als menschliche Wesen, denn wir erkennen, dass wir in diesem ganzen vergänglichen Universum die Einzigen sind, die um ihre Vergänglichkeit wissen. Darin liegt ja unsere menschliche Würde. Darin liegt zugleich unsere menschliche Aufgabe. Sie besteht darin, den Sinn dieses Übergangs auszuloten. Unser ganzes Leben ist ja Übergang. Sein Sinn will durch die Geste des Dankens gefeiert sein.

Diese Geste des Übergangs eint uns tief in unserm Innern, wo Menschsein religiös sein bedeutet. Dankbarkeit ist im wesentlichen Selbstannahme in jener Abhängigkeit, die befreit. Die Abhängigkeit, die befreit, ist jedoch nichts anderes als jene Religiosität, die allen Religionen zugrunde liegt. Ja, sie liegt sogar jener tief religiösen (wenn auch irrigen) Ablehnung aller Religionen zugrunde.

Wenn wir uns die großen Übergangsriten ansehen, die Teil des ältesten religiösen Erbes der Menschheit sind, dann wird uns die religiöse Bedeutung der Dankbarkeit klar. Anthropologie und vergleichende Religionswissenschaft haben diesen «rites de passage», Riten, die Geburt und Tod und andere wichtige Übergänge im menschlichen Leben feiern, in den letzten Jahren große Bedeutung beigemessen. Im Mittelpunkt dieser Riten steht immer ein Opfer, was insofern verständlich ist, als das Opfer an sich typisch für alle Übergangsriten ist.

Wir können die verschiedenen Formen des Opferritus auf ihre gemeinsamen Grundzüge hin untersuchen. Da finden wir dann, dass zwischen der Struktur der Dankbarkeit als einer Geste des menschlichen Herzens und der inneren Struktur des Opferns eine erstaunlich große Ähnlichkeit besteht. In beiden Fällen findet ein Übergang statt. In beiden Fällen geht die Geste vom freudigen Erkennen eines empfangenen Geschenks aus, gipfelt in der Anerkennung der Abhängigkeit des Empfängers vom Geber und findet ihre Vollendung im äußerlichen Ausdruck des Dankes. Geber und Empfänger werden dadurch vereint, sei es in Form des traditionellen Händedrucks oder in Form einer Opfer-Mahlzeit.

Denken wir nur an Formen des Erstlingsopfers. Fast sicher gehören die ältesten Opferriten hierher. Selbst in seiner einfachsten und primitivsten Form hat der Ritus eindeutig die beschriebene Struktur.

Da wären etwa die Chenchu, ein Stamm, der in Südindien lebt und zu den ältesten Kulturen nicht nur Indiens, sondern der ganzen Welt zählt. Was geschieht, wenn ein Chenchu von einer Sammel-Expedition im Dschungel zurückkehrt? Er wirft eine Handvoll der gefundenen Nahrung in den Busch zurück und begleitet diese Opfergeste mit einem Gebet zur Gottheit, die als Herrin des Dschungels und all seiner Früchte verehrt wird. «Unsere Mutter», sagt er, «durch deine Güte haben wir gefunden. Ohne dich empfangen wir nichts. Dafür danken wir dir.»

Unter den primitiven Völkern sind Tausende ähnlicher Riten beobachtet worden, aber das ebengenannte Beispiel (es wurde von Christoph von Fürer-Haimendorf (1909-1995), der unter den Chenchu Feldforschung betrieben hat, aufgezeichnet) zeichnet sich durch seine besonders klare Struktur aus. Jeder Satz des einfachen Gebets, das die Gabe begleitet, entspricht einer der drei Phasen der Dankbarkeit. «Unsere Mutter, durch deine Güte haben wir gefunden»: Das entspricht dem Erkennen der Gabe als Gabe. «Ohne dich empfangen wir nichts»: Das bringt die Abhängigkeit zum Ausdruck. «Dafür danken wir dir» ist der Ausdruck der Dankbarkeit, der die ursprüngliche Freude über das erhaltene Geschenk auf ein höheres Niveau hebt.

Was das Gebet unter drei Gesichtspunkten ausdrückt, vermittelt der Ritus in einer einzigen Geste: Der Jäger, der einen Teil seiner Beute der Gottheit opfert, drückt damit aus, dass er das Geschenk zu schätzen weiß und dass er durch das symbolische Teilen des Geschenks gewissermaßen einen Bund mit dem Geber eingeht.

Die Ähnlichkeit zwischen gesellschaftlichen Dankesbezeugungen und religiösen Opferhandlungen springt ins Auge. Wir dürfen aber nicht dem Irrtum verfallen, es handle sich bei den Opfergaben der Chenchu und ähnlichen Beispielen lediglich um die Übertragung gesellschaftlicher Konventionen auf die religiöse Ebene. Zwischen den beiden Phänomenen besteht keine einfache Abhängigkeit. Beide entspringen in der Tiefe des Herzens, dehnen sich jedoch in unterschiedliche Richtungen aus.

Das religiöse Bewusstsein des Menschen verwirklicht sich in seinen Opferriten, sein Bewusstsein menschlicher Solidarität im Dank, den einer dem anderen ausspricht.

Der Mensch sieht das Leben an uns, sieht, dass es aus einer Quelle zu ihm kommt, die außerhalb seiner Reichweite liegt. Er sieht das Leben an uns, sieht, dass es gut ist ‒ gut für ihn. Und aus der Sicherheit dieser beiden intellektuellen Einsichten heraus wagt das Herz den Sprung zu einer dritten Einsicht, die über rationale Erwägungen hinausgeht: der Einsicht, dass alles Gute, das mir widerfährt, ein Geschenk aus der Quelle des Lebens ist. Dieser Sprung des Glaubens übertrifft alle Zusammenhänge, die der Verstand herstellt. Er ist ebenso wie das Vertrauen, das man in einen Freund setzt, eine Geste des ganzen Menschen.

In dem Augenblick, wo ich das Leben als ein Geschenk erkenne und mich selbst als den Empfänger dieses Geschenks, wird mir meine Abhängigkeit klar, und ich muss eine Entscheidung treffen: Ebenso wie ich mich im zwischenmenschlichen Bereich weigern kann, Abhängigkeit anzuerkennen, und mich hinter meinem Stolz verbarrikadieren kann, so kann ich auch auf der religiösen Ebene eine Haltung stolzer Unabhängigkeit gegenüber der Quelle des Lebens einnehmen. Und die Versuchung ist groß, die Lächerlichkeit dieser Pose zu übersehen. Abhängigkeit im religiösen Zusammenhang beinhaltet ja mehr als das Geben und Nehmen in der gegenseitigen Abhängigkeit von Menschen; sie beinhaltet Gehorsam gegenüber der Quelle aller Gaben, die größer ist als ich ‒ eine Tatsache, mit der sich mein kleinlicher Stolz nicht abfinden mag. (Hierin liegt übrigens auch die Ursache für die scheinbare Grausamkeit vieler Opferriten. Wir können auf diesen Aspekt hier nicht näher eingehen. Es sei nur angemerkt, dass blutige Opferriten sinnvoll sein können als Symbol für die Gewalt, die wir uns selbst antun müssen, bevor unser im Eigensinn versklavtes Herz die Freiheit liebenden Gehorsams gewinnen kann.)

Der Mensch, der ein Tier opfert, drückt in diesem Ritual die Bereitschaft aus, selber zu sterben, für alles, was ihn vom Ziel dieses Übergangs trennt. Das Ziel ist die Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen. Daher muss zunächst eine Vereinigung göttlichen und menschlichen Willens erreicht werden. Dies geschieht durch Gehorsam. Dabei ist der Tod des Eigensinns nur der negative Aspekt des Gehorsams. Sein positiver Aspekt ist das Erwachen des Menschen zu echter Lebendigkeit und Freude. Der rituellen Tötung folgt die Freude des Opfermahls.

Wenn wir von Gehorsam sprechen, sollten wir der Unterwerfung keine allzu große Bedeutung beimessen. Der positive Aspekt ist viel wichtiger: Aufmerksamkeit für die geheimen Zeichen, die den Weg zur wahren Freude weisen. (Ich nenne sie geheime Zeichen, weil sie ganz persönlicher Natur sind; wir erkennen sie in Augenblicken, in denen wir ganz wir selbst sind.)

«Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt», schreibt Rilke in den «Duineser Elegien». Unser Übergang ist nicht durch den Instinkt vorbestimmt. Uns sind nur Ahnungen gegeben, wie jene Regung der Dankbarkeit in unserem Herzen, und die Freiheit, diesen Ahnungen zu folgen.

In dem Maße, wie wir diese Freiheit verwirkt haben, ist Losgelöstheit vonnöten. Gehorsam ist unsere Wachheit, unsere «disponibilité», unsere Bereitschaft, unserem heimwärts strebenden Herzen in seinem Aufwärtsflug zu folgen. Losgelöstheit befreit die Flügel unseres Herzens. So erst können wir uns aufschwingen zur Dankbarkeit für das Leben in seiner ganzen Fülle. Wir müssen unsere Hand öffnen und loslassen, was wir festhalten. Dann erst können wir die Geschenke empfangen, die uns jeder neue Augenblick darbietet. Losgelöstheit und Gehorsam sind nur Mittel zum Zweck. Das Ziel ist Freude.

Verstünden wir das moralische Opfer in diesem positiven Sinn, dann könnten wir auch seinen Ausdruck, das rituelle Opfer, verstehen. Weder das eine noch das andere ist so schrecklich, wie es manchmal dargestellt wird. Beide haben die Struktur des Übergangs im Dank. Beide gipfeln in der Freude über die Vereinigung des Menschen mit dem, was ihn transzendiert. Dies findet im Höhepunkt des Opferritus, dem Opfermahl, seinen Ausdruck. Dieses frohe Mahl drückt das Vertrauen aus, dass der Geber aller Gaben unseren menschlichen Dank annimmt. Es ist die Umarmung, die den Schenkenden mit dem Dankenden vereint. (Hier sei noch angemerkt, dass im religiösen Kontext Gott allzeit der Gebende ist, wir Menschen die Danksagenden. Nur in dem weit weniger ursprünglichen Kontext der Magie kann diese Beziehung zu einer Art wirtschaftlicher Transaktion degenerieren oder gar zu dem Bemühen von Menschen, über-menschlichen Mächten etwas zu entlocken. Aber Magie und Ritualismus sind Sackgassen des Herzens; sie betreffen uns hier nicht.)

Worauf es uns ankommt, ist, dass unsere eigene Erfahrung der Dankbarkeit mit einem universellen religiösen Phänomen zusammenhängt: mit dem Opfer, das zum Wesenskern aller Religionen gehört. Haben wir nur einmal diesen Wesenskern erfasst, dann wird uns jede Religion zugänglich. Man kann die gesamte Entwicklung der Religionen als eine Entfaltung der Opfergeste verstehen. Wir selbst vollziehen innerlich diese Geste, sooft Dankbarkeit in unseren Herzen aufsteigt.

So geht etwa die jüdische Religion von der unausgesprochenen Überzeugung aus, dass der Mensch kein Mensch wäre, wenn er kein Opfer darbrächte, und gelangt zu der ausdrücklichen Erkenntnis, dass «nur der, der sich selbst als Opfer darbringt, verdient, Mensch genannt zu werden». (Rabbi Israel aus Rizin; verstorben im Jahre 1850.)

Genau dasselbe finden wir im Hinduismus: Ein früher vedischer Text sieht den Menschen als «das einzige Tier, das es versteht, Opfer zu bringen» (Satapata Brahmanah VII, 5, 2, 23). Die Entwicklung findet ihren Höhepunkt in einer Stelle aus dem Chandogya Upanishad (III, 16, 1), wo es heißt: «Wahrlich, Mensch sein heißt Opfer sein.» Zeigt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass ein Mensch erst in der Opfergeste der Dankbarkeit völlig Mensch wird?

Und selbst zum Verständnis des Gebots der Nächstenliebe (das in der einen oder anderen Form die reife Frucht jeder Religion ist) verschafft Dankbarkeit uns Zugang. Im Vorgehenden hat uns die scheinbare Rohheit der Wurzel, aus der Religion entspringt, abgestoßen. Jetzt stößt uns der scheinbare Widerspruch ab, den ihre reifste Frucht enthält. Kann man denn Liebe gebieten? Kann es denn eine Verpflichtung zur Liebe geben? Liebe ist nicht Liebe, wenn sie nicht frei von Zwängen ist. Unsere Erfahrung mit der Dankbarkeit gibt uns einen Hinweis: Eine Gefälligkeit, die wir einem anderen erweisen, bleibt eine Gefälligkeit, bleibt freiwillige Zuwendung, auch wenn uns unser Herz sagt, dass wir es tun sollten, dass wir großzügig sein sollten, verzeihen sollten. Weshalb? Weil uns eine tiefe Solidarität verbindet, die das Herz spürt. Wir gehören zusammen, weil wir gemeinsam einer Wirklichkeit verpflichtet sind, die über uns hinausreicht.

Jesus sagt dazu: «Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so lass allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfre deine Gabe.» (Mt 5,24).

Dies stimmt völlig überein mit der Tradition der Propheten Israels. Diese bestanden darauf, dass wahres Opfer Danksagung sei, wahrer Opfertod Gehorsam, der wahre Sinn des Opfer-Mahls Barmherzigkeit, «hesed». «Hesed» ist jene Bundesliebe, die uns Menschen miteinander verbindet, in dem sie uns als Gemeinschaft an Gott bindet. Abzulehnen ist nur leerer Ritualismus, nicht das Ritual an sich. Danksagung, Barmherzigkeit, Gehorsam sollen das Ritual nicht ersetzen, sondern ihm seinen vollen Sinn geben. Das ganze Menschenleben soll zu einem heiligen Ritual des Dankes werden, das ganze Universum ein Opfer. Der Prophet Sacharja sagt, dass «in jener Zeit» (der Zeit des Messias) «alles Küchengeschirr in Jerusalem und ganz Judäa» dem Herrn der Heerscharen heilig sein werde, heilig genug, um Opfer darin darzubringen. Das heißt, dass es nichts auf Erden gibt, was der Mensch nicht wie ein Gefäß mit Dank füllen und zu Gott emporheben könnte.

Diese universelle Eucharistie, diese kosmische Feier eines Dankopfers, ist der Kern der christlichen Botschaft. Und selbst den Nicht-Christen unter uns erlaubt die Erfahrung der Dankbarkeit zumindest eine gewisse Annäherung an die christliche Überzeugung, dass die Dankesspirale das dynamische Muster jeglicher Realität ist. Innerhalb der absoluten Einheit des dreieinigen Gottes ist Raum für einen ewigen Austausch von Geben und Danken, für eine Spirale der Freude. In der einen und unteilbaren Gottheit gibt sich der Vater dem Sohn hin; der Sohn gibt sich in Dankbarkeit dem Vater hin; das Geschenk der Liebe, das immerfort zwischen Vater und Sohn ausgetauscht wird, ist der Heilige Geist, selbst göttliche Person, der Geist der Dankbarkeit.

Schöpfung und Erlösung sind lediglich das Überfließen dieser göttlichen «perichorese», dieses innergöttlichen Reigens der Dreifaltigkeit, ein Überfließen in das, was von sich aus Nichts ist.

Gottes Sohn wird, dem Willen des Vaters gehorchend, Menschensohn. Durch sein liebendes Opfer vereint er alle Menschen miteinander und mit Gott. Im Geist der Dankbarkeit führt er sie zurück in die ewige Umarmung Gottes, so dass «Gott alles in allen sei» (1 Kor 15,28). «Alles, was existiert, existiert durch das Opfer» (Satapata Brahmanah XI, 2, 3,6). Der ganze Kosmos wird Augenblick für Augenblick durch das Opfer erneuert, durch Dank zu seiner Quelle zurückgeführt, und als Geschenk in all seiner ursprünglichen Frische neu empfangen. Aber dieses kosmische Opfer ist nur deshalb möglich, weil der eine Gott zugleich Geber, Gabe und Danksagung ist.

Denen unter uns, die durch den Glauben bereits in dieses Geheimnis eingedrungen sind, braucht es nicht erklärt zu werden; den anderen kann es nicht erklärt werden. Aber in dem Maße, wie in unseren Herzen Raum für Dankbarkeit ist, haben wir alle an dieser Wirklichkeit teil, wie auch immer wir sie nennen. Es ist eine Wirklichkeit, die wir nie ganz erfassen werden. Worauf es ankommt, ist, dass wir uns von ihr ergreifen lassen, dass wir die innere Gebärde von Dankbarkeit und Opfer vollziehen. Der Vollzug dieses Übergangs führt uns zur Einheit mit uns selbst, zur Einheit mit allen anderen und zur einen Quelle des Lebens. Denn «… nur darauf kommt es an: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das, einfach nur das». [AH 1-2) 139-155; 3-5) 135-151; SD 39-54]

[Ergänzend: Aufwachsen in Widersprüchen (1989) ‒ Salzburger intern. Pädagogische Werktagung, «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Vortrag und Dialog am 19. Juli 1989, Teil 7: Das Opfer ‒ ein Übergansritual]

[1] Aus einer Ansprache des Rev. Eido Tai Shimano, eines japanischen Zen-Meisters, der bei der Gesellschaft für Zen-Studien in New York unterrichtet.



Quellenangaben

Text, Film und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus gebet georg stahl titelCopyright © - Georg Stahl

Gerne möchte ich eine Erinnerung erzählen, die Erinnerung an meine erste Begegnung mit dem Jesusgebet, dem Herzensgebet wie es auch genannt wird. Damals war ich schon älter, aber immer noch ein Kind, vielleicht zwölf. Ich saß mit meiner Mutter im Wartezimmer eines Arztes. Meine rechte Hand lag zuerst auf dem linken Knie, dann auf dem andern, dann auf der Stuhllehne, dann auf dem Sims eines Fensters, durch das ich nur eine hohe Hecke und ein paar Spinnennetze erblicken konnte. Meine Hand war stark eingebunden und ich war gekommen, damit mir der Doktor den Verband wechselte. Nachdem ich eine Weile aufmerksam einen Topf voll Blutegel beobachtet hatte (sie wurden damals von Landärzten noch zum Aderlass benutzt), gab es in diesem leeren Zimmer nichts mehr, was mich hätte unterhalten können. Ich wurde immer zappeliger.

Plötzlich sagte meine Mutter etwas, was mich überraschte: «Russische Menschen kennen das Geheimnis, sich nie zu lang-weilen». Meine Vorstellung von den Russen beschränkte sich auf die olympischen Spiele, aber wenn es da eine geheime Methode gegen die Langweile gab, musste ich sie so schnell wie möglich lernen.

Erst viele Jahre später verstand ich diese geheimnisvolle Anspielung meiner Mutter, als ich auf das Buch «Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers» stieß, das eine Übersetzung aus dem Russischen ist. Es berichtete mir ausführlich über dieses Geheimnis sich nie zu langweilen, aber meine Mutter schaffte es, dies so einfach zusammenzufassen, dass es für einen Jungen von zwölf Jahren Sinn machte: «Du musst nur den Namen Jesus mit jedem Atemzug wiederholen. Immer und immer wieder. Das ist alles. Der Name von Jesus wird dir so viele gute Geschichten in Erinnerung rufen, dass du die Zeit nie lang findest.» Ich versuchte es. Es wirkt.

Es stellte sich heraus, dass Langweile in meinem Leben sowieso nie ein Problem sein würde, eher das Gegenteil. Tatsächlich, als später das Jesusgebet meine ständige Gebetsform wurde, begann ich es eher als einen Anker zu sehen, der mich geerdet hält, wenn das Leben alles andere als langweilig ist. Mit einem Wort, das ich dem Römischen Messbuch entlehne: das Jesusgebet hält mein Herz «in bleibender Freude verankert».

Nachdem ich die «Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers» gelesen hatte, machte ich mir einen Ring aus Holzperlen, die ich bewege, eine nach der anderen, während ich das Jesusgebet wiederhole. Diese Bewegung meiner Finger ist nun mit diesem Gebet so verbunden, dass sie dank diesem Gebetsring weitergeht, selbst wenn ich lese oder mit jemandem spreche. Sie läuft weiter wie Musik im Hintergrund, nicht im Vordergrund meines Bewusstseins und doch jederzeit gehört.

Die Worte, welche ich dazu sehr hilfreich finde, sind: «Herr Jesus, erbarme dich!»[1]

Der russische Pilger brauchte eine längere Formel. Ich habe verschiedene Versionen ausprobiert, doch diese passt mir am besten.

Meist ist sie Ausdruck meiner Dankbarkeit: wenn ich einer gegebenen Situation ins Auge sehe und sie ganz hinnehme, sehe ich diese gegebene Wirklichkeit als eine einzige Facette von Gottes höchstem Geschenk, das im Namen von Jesus zusammengefasst ist.

Beim Ausatmen sage ich dann die zweite Hälfte des Gebets, dem Sinn nach: «Oh, mit welcher Barmherzigkeit überschüttest du mich in jedem Augenblick!»

Manchmal kann «Erbarme dich!» natürlich auch ein Schrei um Hilfe sein, etwa wenn ich todmüde bin und weitermachen muss, um einen Termin einzuhalten. Oder wenn ich über die Zerstörung des Regenwaldes lese oder von Zehntausenden von Kindern, die täglich auf diesem Planeten des Überflusses verhungern. «Erbarme dich!» seufze ich «Erbarme dich!»

Das Jesusgebet ist mittlerweile mit meinem Ein- und Ausatmen so verbunden, dass es meist von selbst fließt. Währenddem ich einschlafe, geht das Gebet manchmal weiter, bis es mit dem tiefen Atem des Schlafes verschmilzt.[2]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]

[Ergänzend:

1. Jesus-Gebet

2. Film Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), sowie die Transkription von Werner Binder †:

«Eine Form, in der viele Menschen täglich und stündlich beten, ist das Herzensgebet. Das ist nicht so sehr ein Gebet, das man spricht, obwohl die klassische Form des Herzensgebetes, die Wiederholung des Namens Jesu, dafür typisch ist. Eigentlich handelt es sich beim Herzensgebet eher um eine Gebetshaltung, um eine Aufmerksamkeit und Achtsamkeit des Herzens.

Beim Beten ist das Entscheidende die Achtsamkeit, denn wenn wir nicht mit Achtsamkeit beten, ist es nur ein Herunterleiern, kein wirkliches Beten. Achtsamkeit macht alles, was wir tun, zum Gebet.

Wenn wir nur die Augen des Herzens am Horizont halten, in allem was wir tun, dann wird alles zum Gebet. Dann wird unser ganzer Alltag zum Gebet. Und das ist ja eigentlich die Aufgabe: ohne Unterlass zu beten. Nicht nur hie und da Gebete zu sagen.»

3. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 1 in folgende Themen zusammengefasst:
(01:10) Das Jesusgebet, auch Herzensgebet genannt / (03:39) Jean-Yves Leloup: Das Herzensgebet nach Starez Séraphim vom Berge Athos, Neumühle-Verlag, Mettlach 1989, 16 S. / (05:01) Wie hängt das Jesus-Gebet mit Sinnenfreude und der Offenheit im horchenden Herzen zusammen?]

_____________________

[1] Bernardin Schellenberger, S. 13: «Am hilfreichsten habe ich die Formulierung ‹Lord Jesus, mercy!› gefunden (Anm. d. Ü.: deutsch z. B. ‹Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!›

[2] Den großen Tanz beten (1998) [derselbe Text aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, in: Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 «Der Mystiker in uns», 11-14]:


Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus gebet georg stahl titelCopyright © - Georg Stahl

Meine Methode ist das Jesus-Gebet, das ursprünglich östlich war, in der westlichen Christenheit aber auch weit verbreitet ist.

Ich benutze selbstgemachte Perlenschnüre, die ich an meinem Finger als Ring trage. Sie haben zehn Perlen, so dass ich sie als Rosenkranz benutzen kann. Diese Perlen zu bewegen, setzt einen psychomotorischen Kreislauf in Gang. Es braucht einige Übung, aber immer, wenn man die Perlen bewegt, lässt das dieses Gebet auf einer unterbewussten Ebene ablaufen. Während ich mit jemandem rede oder andere Dinge tue, löst die Bewegung der Perlen etwas in mir aus, das dieses Gebet durch mein Herz flammen lässt. Es gibt bekanntlich mehrere unterschiedliche Arten des Jesus-Gebets, längere und kürzere Formen. Ich benutze nur die kurze Form: «Herr Jesus, Erbarmen; Herr Jesus, Erbarmen.» Ich finde die anderen zu lang; ich werde abgelenkt. Außerdem passt «Herr Jesus, Erbarmen; Herr Jesus, Erbarmen» besser zu meiner Atmung. Abgesehen davon finde ich, dass in unserer Tradition viel Betonung auf Sünden liegt, und die längere Form «Hab Erbarmen mit mir Sünder verstärkt diese Betonung noch. Wir sind sicherlich Sünder. Nicht einmal so sehr persönlich, aber wir leben in einer Welt der Entfremdung, der Sünde; egal wie viel guten Willen man hat, man kann nicht verhindern, dass man allein durch die Tatsache, dass man selbst in der Ersten Welt lebt, verursacht, dass in der Dritten Welt Millionen Menschen ausgebeutet werden. Das ist Sünde, viel mehr als unsere kleinen Kavaliersdelikte. Ich bin mir dieser Sündhaftigkeit durchaus bewusst. Aber ich glaube nicht, dass es notwendig ist, mit jedem Atemzug darauf herumzureiten. Ich preise Gott lieber für seine Vergebung und die Überwindung der Sünde. Wenn ich sage «Herr Jesus, Erbarmen», kann das ein Ruf nach Erbarmen sein oder auch ein Dank für erwiesenes Erbarmen. Es ist ein Gebet des Lobes und der Danksagung.
[ST 71f., Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]

Das Jesus-Gebet ‒ Herzens-Gebet, wie es auch heißt ‒ besteht im Wesentlichen in der mantrischen Wiederholung des Namens Jesu im Rhythmus des eigenen Atems und Herzschlags. Wenn ich den Namen Jesu in einem gegebenen Augenblick vor mich hin spreche, so mache ich diesen Augenblick transparent für das Jetzt, das nicht vorübergeht.

Was die Bibel «vom Worte Gottes leben» nennt, ist zusammengefasst im Namen Jesu, in dem ich als Christ das fleischgewordene Wort anbete. Wenn ich jedem Ding und jedem Menschen, den ich treffe, diesen Namen gebe, wenn ich ihn mir in jeder Lage vergegenwärtige, dann erinnere ich mich daran, dass all dies nur Erscheinungsformen der unerschöpflichen Fülle des einen ewigen Wortes Gottes, des Logos, sind. Ich erinnere mein Herz daran, hinzuhorchen, hellhörig zu werden.

Dieses Bild, könnte irreführen, als ob zwischen Gott, der spricht, und dem gehorsamen Herzen eine dualistische Spaltung bestehe. Die dualistische Spaltung, auf die wir hier stoßen, ist aber im Geheimnis der Dreifaltigkeit aufgehoben, im Vollsinn dieses Wortes. lm Lichte dieses Mysteriums verstehe ich mich zugleich als Wort aus dem Herzen des Schöpfers und als vom Schöpfer im Herzen angesprochen.

Aber die Verbundenheit geht noch tiefer. Um das an mich gerichtete Wort, das Wort, das ich zugleich bin, zu verstehen, muss ich die Sprache des Einen, der mich anspricht und ausspricht, sprechen. Wenn ich Gott überhaupt verstehen kann, so ist dies nur möglich, weil Gott mir am Geist des göttlichen Selbstverständnisses Anteil schenkt.[1]

Das Hinhorchen und Antworten, das unser geistliches Leben ausmacht, ist also keine dualistische Angelegenheit, sondern vielmehr Feier dreieiniger Verbundenheit: das Wort, das aus der Stille entspringt, führt im Verstehen heim in die Stille.

Mein Herz, wie ein Gefäß, das im Meer versinkt, ist voll von Gottes Leben und zugleich völlig darin eingetaucht. All das ist reines Geschenk. Meine Antwort ist Dankbarkeit. [ST 72f., Quelle: AH 1-2) 19f.; 3-5) 19f.]

[Ergänzend:

Herzensgebet]

 ______________________

[1] Siehe auch Sinn - dreifaltiges Mysterium, Anm. 9



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

konvertieren g stahl titelCopyright © - Georg Stahl

Das Eine, was wir immer finden werden müssen, ist natürlich unsere eigene Mitte: nicht irgendeine Lehre da draußen, sondern unser eigenes innerstes Herz. Wenn die Tradition, in der du aufgewachsen bist, dir nicht geholfen hat, das zu finden, dann belaste dich nicht, wenn du woanders danach suchst, denn ich bin hoffnungsvoll, dass deine Suche erfolgreich sein wird.

Aber ich bin auch traurig, wenn ich sehe, wie viel meine Religion mir gegeben hat und wie viel sie anderen Leuten geben könnte, und ich merke, dass in den Erziehungseinrichtungen oder in der Familie etwas zu fehlen scheint. Ich kann nicht genau sagen was. Aber wenigstens haben junge Menschen genug Mut und Interesse und religiöses Feuer, um anderswo danach zu suchen.

Bei einem Kind, das auf katholische Schulen gegangen ist, katholische Eltern hat und dessen Eltern jetzt erschüttert sind, weil er oder sie auf einmal buddhistische Roben trägt oder nach Indien geht oder was auch immer, gilt meine einzige Sorge den Eltern. Ich versuche, ihnen immer zu sagen, «Freut euch mit eurem Kind, weil dieses Kind unter einer anderen Hülle, unter einem anderen Etikett das gefunden hat, was euch so wichtig ist.» Ich versuche, ihren Horizont ein wenig zu erweitern. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass diese jungen Leute, wenn sie auf dem Weg, den sie gewählt haben, weitergehen, das finden werden, was wir «Christus» nennen. Weil ich weiß, dass man es in all den verschiedenen Traditionen finden kann. Natürlich passiert es sehr oft, dass Leute, die einen christlichen Hintergrund haben, viele Jahre damit verbringen, beispielsweise Zen zu praktizieren, oder Yoga ‒ und dadurch letzten Endes ihren christlichen Hintergrund wiederentdecken.

Aber das soll nicht bedeuten, dass ich Nominalist bin. Ich sage nicht: «Es ist alles gleich». Die Wege sind sehr, sehr unterschiedlich. Je mehr du sie erforschst, desto mehr stellst du fest, dass sie weit unterschiedlicher sind, als du anfangs gedacht hattest. An der Oberfläche gibt es eine gewisse Ähnlichkeit, und tief drunten ist eine Einheit. Aber zwischen diesen beiden Polen sind sie so verschieden, wie sie nur sein können. Und das ist gut, weil es so für jeden etwas gibt.
[ST 143f. unter dem Titel «Wege», Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn Hoffnungen um der einen überragenden Hoffnung  willen mit Hoffnungen zusammenstoßen, dann wird offensichtlich, in welchem Sinne wir uns «rühmen im Kreuze unseres Herrn Jesus Christus» (Gal 6,14).

Das Kreuz ist ja nicht juwelenbesetztes Zeichen des Triumphs, sondern unser eigenes, äußerst reizloses Leid ‒ Martin Luther Kings, Karen Silkwoods, Oscar Romeros, dein eigenes.

Die Flugbahn der Hoffnung ist keine ungestörte Kurve «von Herrlichkeit zu Herrlichkeit».

Sie führt durch das Paradox des Kreuzes.

Seine zwei Linien kreuzen sich im Konflikt wie aufeinanderstoßende Hoffnungen.

Das Kreuz steht für jene Kollision, in der unsere Hoffnungen untergehen müssen, auf dass am dritten Tage Hoffnung auferstehen kann. Der auferstandene Herr sagt zu seinen entmutigten Jüngern:

«Musste nicht der Messias all dies leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?» (Lukas 24,26)

«Heil, heiliges Kreuz, einzige Hoffnung du»

singt eine alte christliche Hymne:

«O crux ave, spes unica!»

Wie kann denn das Kreuz Zeichen der Hoffnung sein und nicht eher der Hoffnungslosigkeit?

Als Jesus am Kreuze hing, waren alle seine Hoffnungen zerbrochen.

Warum war es «nötig», dass Jesus all dies erleiden musste?

Weil wir unsere Hoffnungen auf das gründen, was wir uns vorstellen können. Hoffnung aber ist offen für das Unvorstellbare.

«Kein Auge hat gesehen, kein Ohr gehört,
was Gott vorbereitet hat.»
(1 Kor 2,9)

So müssen denn unsere verzweifelten kleinen Hoffnungen durchkreuzt werden, um Platz zu schaffen für die überragende Überraschung, «den Gott der Hoffnung», dessen Einbrechen in unser Leben Tod und Auferstehung bedeuten.

Ein Freund, der das Manuskript für mich las, schrieb an dieser Stelle an den Rand: «Gib Beispiel aus Lebenserfahrung.»

Ein wohlgemeinter Rat, aber streng genommen eine unmögliche Aufgabe. Erfahrung des Lebens, wie wir es kennen, liefert für Gottes Einbrechen keine Beispiele, denn jenes Ereignis ist immer Todeserfahrung.

Seine andere Seite freilich heißt Auferstehung.

Auferstehung aber ist nicht Wiederbelebung, überleben oder Wiedererweckung.

Auferstehung ist nicht Rückkehr in dieses Leben des Todes.

Was wäre das schon wert?

Auferstehung ist ein Hineingehen in den Tod und ein Hindurchgehen, hinein in eine Fülle jenseits von Leben und Tod, wie wir sie kennen.

Von unserem Ufer aus betrachtet, ist der Tod einfach das Sterben. Es sei denn, wir steigern unsere Hoffnungen zur Fata Morgana. Hoffnung tut das nicht. Sie schaut dem Tod direkt ins Gesicht, schaut geradewegs hinein in das weit offene Tor der Überraschung.

Am Ostermorgen verkündet der Engel die Auferstehung Jesu nicht, indem er sagt: «Hier ist er; er kehrte ins Leben zurück!» Nein.

Auf diese Weise nach ihm zu suchen hieße, den Lebenden unter den Toten zu suchen. Hier ist er nicht. Er lebt nicht mit dem Leben, das wir kennen und das dem Tode näher ist als wahrem Leben.

«Er ist auferstanden»,

heißt die frohe Botschaft, und‒

«Er ist nicht hier.»

Alles was wir aus dieser Perspektive sehen können, ist, dass die Grabkammer offen und leer ist, ein passendes Bild für weit offene Hoffnung.[1]

Bruder David: «Maßloses ‹Mehr und Mehr› ist ja geradezu das Markenzeichen unserer Gesellschaft. In Gottes Reich gilt: ‹Weniger ist mehr.›

Mitten in einer Gesellschaft, die tief in Versuchung gefallen ist, verlangt das Reich Gottes ein Aufstehen.»

Brigitte Kwizda-Gredler: «Ein Aufstehen gegen eine schier übermächtige Gesellschaft wird da von uns verlangt.»

Bruder David: «Das ist es ja schließlich, was ‹Nachfolge Christi› bedeutet. Aber dieses Aufstehen und Dagegenhalten führt auch für uns schließlich zu einem Auf-er-stehen.»

Brigitte Kwizda-Gredler: «Das ist in jedem Augenblick möglich. Jeder Augenblick kann in diesem Sinn zu einem Ostern werden.»[2]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f.]

[Ergänzend:

1. Audios und zum Gedicht von Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen›:

So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(18:46) ‹Es wandelt, was wir schauen› und ein Brauch im jüdischen Laubhüttenfest

Siehe auch den Text des Gedichts in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 93

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffungsvortrag:
(30:39) ‹Es wandelt, was wir schauen› / (34:25) Offen zum Himmel und zu den Nachbarn: Die Laubhütten am jüdischen Laubhüttenfest

Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unsern Glauben› (Lk 17,5)
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen ‒ ‹Du bist’s, der, was wir bauen, mild über uns zerbricht› (‹Es wandelt, was wir schauen›): Die Hütten am Laubhüttenfest sind durchsichtig zu den Nachbarn und den Sternen

2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(54:39) Bei schweren Prüfungen sehen wir erst nachher, dass wir sie gebraucht haben. Wir alle haben Angst vor dem Leben: Das Leben ist ein ununterbrochenes Sterben in größeres Leben hinein. Sterben ist etwas, was wir tun müssen: Ein sich hingeben – Loslassen üben – Hoffnung ist Offenheit für Überraschung im Unterschied zu Hoffnungen, die sich vielleicht nicht verwirklicht haben]

______________________

[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 138-140 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 138f.]

[2] Das Vaterunser (2022): ‹Jeder Augenblick kann zu einer Erfahrung von Ostern werden!›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 92f.



Quellenangaben

Text, Interview und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

krise g stahl titelCopyright © - Georg Stahl

Eine Krise ist immer eine Läuterung, wenn wir sie richtig verstehen. Das Wort «Krise» selbst geht auf eine Wurz zurück, die «aussieben» bedeutet. Die Krise ist ein Trennen, ein Aussieben dessen, was machbar ist und über das hinausführt, was tot ist und zurückgelassen werden muss.

In persönlichen Krisen sind immer drei Elemente enthalten: Das erste ist die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, wir stehen vor einer Wand. Dann kommt die Einsicht, dass wir Ballast abwerfen müssen, wenn wir weiterkommen wollen. Die dritte und wichtigste Einsicht in diesem Prozess ist, dass wir innere Führung brauchen.

Es kommt darauf an zu erspüren, was es ist, das wir abwerfen müssen, um dieses scheinbar unbezwingliche Hindernis zu überwinden.

Letztlich müssen und dürfen wir uns dann von jener segensreichen Lebenskraft leiten lassen, die immer in uns fließt, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.

Wenn wir uns in unserer Hilflosigkeit vertrauend öffnen und fragen: «Was kann mich jetzt führen? Ich bin hilflos, aber ich vertraue darauf, dass es eine Führung gibt», dann bekommen wir immer Antwort.

Manchmal bekommen wir unerwartete Wegweisungen: Wir lesen etwas, was genau auf unsere Situation zuzutreffen scheint, oder wir begegnen jemandem, der genau das richtige Wort für uns hat. Manchmal findet die Neuausrichtung auch völlig innerlich statt, durch einen Traum oder eine unerwartete Einsicht. Auch ein glücklicher Zufall kann uns helfen.

Ganz plötzlich wird uns die Weisung, die wir brauchen, geschenkt.

Was wir in die Krise einbringen müssen, ist Vertrauen. Und ein vertrauensvolles Warten ist eine wahrhaft innige Form des Betens.
[ST 80f., Quelle: MS 5) 100-102]

[Ergänzend:

Audio-Vorträge und weitere Links zu Interview / Texten:

1. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen – Goldegger Dialoge 18.-20.06.1992, siehe auch Tagungsband Schmerz – Stachel des Lebens (AT).
Drittes Seminar mit Br. David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg
(15:19) Das Leben führt uns immer wieder in Krisen.

O-Ton Bruder David:

«Ganz formell gesprochen, ist es entweder eine Krise, dann kommt man durch oder es war eine Sackgasse, dann bleibt man drinstecken.

Das Wort Krise beinhaltet schon, dass man durchkommt. Sonst ist es eine Sackgasse und man bleibt drinstecken. Krise hängt mit dem Wort Sieb zusammen im Deutschen. Es ist eine Situation, in der das Lebensfähige von dem zum Absterben verurteilten ausgesiebt wird. Das Lebensfähige bleibt zurück und das, was sterben muss, das fällt durch. Das ist das grundsätzliche Bild, das hinter dem Wort Krise steht.

Man kann das vielleicht auch so sehen, dass zu einer Krise immer drei Phasen gehören, drei Elemente und das erste ist das Erlebnis: So geht es nicht weiter! Also das Anstehen. Der Anstoss. Wir stossen an etwas an. Und wenn wir daran zerbrechen, dann wars keine Krise.

Wenn es zum Anstoss wird fürs Weitergehen, für eine ganz neue Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit oder der Aufstieg zu einer neuen Ebene, dann können wir von einer Krise sprechen.

Diese Phase drückt sich meistens auch in Dunkelheit aus, des Lebens Dunkelstunden, wie Rilke das nennt.

Das Leben geht von Krise zu Krise und wenn wir keine Krise haben, dann geht’s bestenfalls so dahin, aber nicht wirklich lebendig und nicht wirklich anwachsend oder bereichernd und so.

Die meisten von uns würden sagen: Mach dir nur keine Sorgen, mir ist’s ganz recht, wenn’s nur so dahin geht. Ich brauch weiter nichts. Aber wenn wir ernstlich darüber nachdenken, dann ist Krise doch etwas, wofür wir dankbar sein müssen, wenn es kommt. Man kanns nicht herbeizwingen.

(24:53) Die zweite Phase, die zu einer Krise gehört ist das Abstreifen. Irgendetwas muss zurückgelassen werden.

Man versucht alles mitzunehmen und was nicht mitgenommen werden kann, wird abgestreift.

Wenn man ein bisschen Erfahrung hat, dann hat man schon eine Ahnung, was nicht lebensfähig ist und was abgestreift werden muss.

Das Abstreifen ist auch ein sich auf das Wesentliche besinnen.

(28:20) Und die dritte Phase ist die Kraft, die uns durchführt oder Führung, die Leitung. Den Strom, den man beginnt zu spüren. Wir spüren, dass etwas uns durchziehen wird. Eine Kraft, die uns durchbringen wird, aber es ist ganz entscheidend, dass die Dunkelheit, von der wir anfänglich gesprochen haben, auch hier in der dritten Phase nicht aufgehoben wird.

Es ist sehr wichtig für uns, um uns in Krisen zurechtzufinden, nicht zu glauben, dass wir erst dann durchkommen, wenn wir sehen, wo’s hingeht. Wir sehen nur die Richtung. Wir sehen ein Dämmern und noch keine Gestalt, noch keine Figur. Wir sehen ein Morgengrauen und noch keine Landschaft. Wenn man die Landschaft sieht, dann ist man schon nicht mehr in der Krisensituation.

Und diese Phase des Fühlens, dass es wohin geht, des Mitgehens und viel wichtiger noch, des Suchens nach etwas, was Führung gibt und leitet, das ist sehr wichtig, denn das könnte man übersehen. Sonst sitzt man da, zuerst angestossen, dann abgestreift, und kann sich jetzt nicht fassen, weil man immer noch nicht sieht und wie lange wird das jetzt dauern?

Es wird so lange dauern, bis wir uns dem Lebensstrom willig hingeben, der uns dorthin führt und keine Ahnung haben, wohin es geht, (29:53) sowie im ersten Vers des 12. Kp. der Genesis mit der Berufung Abrahams, und die Stimme Gottes sagt zu Abraham:

‹Geh hinaus aus deinem Vaterhaus, aus deiner Familie, aus deinem Land – also es wird alles aufgezählt: Geh hinaus! Und das Hebräische ist ganz stark, ‹Lech lécha›, hinausgehen, geh hinaus.›

Also Superlativ: ‹Geh hinaus in das Land, das ich dir zeigen werde›.

Und nicht einmal ein Name für das Land, keine Beschreibung, nur eine Richtung und nicht einmal die Richtung eigentlich, sondern: ‹Folge, ich werde dich führen›.»

2. Dankbar in einer Krise? (2005): Darin zeigt Bruder David an Hand eines konkreten Beispiel aus den 70er Jahren in Südindien die drei Elemente jeder Krise noch einmal auf.

3. Aufwachsen in Widersprüchen ‒ Salzburger intern. Pädagogische Werktagung 17. sowie 19. bis 20. Juli 1989
Vom Rhythmus des Lebens
Eröffnungsreferat und Dialog
Siehe auch die Transkription des Vortrags: Vom Rhythmus des Lebens,  im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 13-22:

In diesem Vortrag erklärt Bruder David mit Blick auf die Forschungen von James Fowler, wie sich das Zugehörigkeitsbewusstsein phasenweise von Krise zu Krise erweitert und parallel dazu sich das Autoritätsbewusstsein verinnerlicht ‒ von der allmächtigen Autorität der Eltern in der frühesten Kindheit bis zum prophetischen Gehorsam des reifen Erwachsenen:

«Das ist auch der Rhythmus, in dem sich unsere wahre Lebendigkeit entfaltet. Eine Strecke der Entfaltung, ein Anstoß; dann: wir können nicht weiter ‒ Krise. Wenn wir diese Krise bestehen, eine neue Strecke höherer Lebendigkeit, bis zur nächsten Krise.»

4. Interreligiöser Dialog 20. September 2014
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag
(07:01) Br. David wird zu Glaubenskrisen in seinem eigenen Leben gefragt

Weitere Links zu Interview / Texten:
Interview: Weihnachten geht nicht nur uns Christen an (2016): Bruder David kommt am Schluss des Interviews auf die Krise der Kirche zu sprechen.
Die Krise in Syrien (2013)]




Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

kritik g stahl titelCopyright © - Georg Stahl

Mir fällt es nicht leicht, Kritik anzunehmen. Ich bin ständig so selbstkritisch, dass das kleinste bisschen Kritik aus dem Munde eines anderen leicht der Tropfen sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wenn ich also bei einer Kritik irgendwie direkt reagiere, verderbe ich meistens alles, und ich habe festgestellt, dass es dann am besten ist, wenn ich sage, ich würde darüber nachdenken. Das hilft mir, eine hastige Reaktion zu vermeiden, und gibt mir Zeit, es zu verdauen. [ST 82, Quelle: SW 200]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

licht g stahl titelCopyright © - Georg Stahl

Der Satz Jesu: «Ihr seid das Licht der Welt» wird oft in einem zu engen Sinn verstanden. Er bedeutet mehr als das Weitergeben einer Lehre, wie erhellend die Botschaft auch sein mag. Für mich heißt er: «Hört zu, dies ist eine dunkle Welt. Wenn ihr leuchtet, erhellt ihr sie ein wenig. Ihr könnt diese Welt ein wenig heller machen. Leuchtet!»

Das mönchische Erlebnis, den Sonnenaufgang mit Dankbarkeit zu begrüßen, wäre für uns alle zugänglich. Wenn die tiefe Dunkelheit des Nachthimmels sich nach und nach erhellt und die Sonne über dem Horizont aufstrahlt, steigt Staunen in uns auf und erfüllt uns mit Bewunderung. Für die meisten von uns ist das allerdings ein seltenes Erlebnis. Wenn wir nicht gerade früh zum Bergsteigen aufstehen oder aus dem Nachtleben heimkommen, oder an einer Osterfeier teilnehmen oder einen ganz frühen Flug erreichen müssen, dann versäumen wir meist dieses Wunder. Warum aber sollen wir uns ein solches Erlebnis entgehen lassen?

Sogar in der künstlichsten Umgebung können wir uns auf vielerlei Arten auf den natürlichen Rhythmus des Tages einstimmen. Für die Mönche ist das freilich nicht schwer, denn im Kloster stehen alle früh auf. Man kann sich sogar daran gewöhnen, früh aufzustehen ‒ und die Freude daran ist ein solcher Ansporn! Aber es gibt auch Menschen, die in Familien leben, die morgens gerne früh genug aufstehen, um sich bei Anbruch der Dämmerung ein wenig Zeit zum Meditieren oder zum Beten zu gönnen. Auch wenn es nur wenige Minuten sind, bevor der ganze Trubel beginnt, ist es die Mühe wert. Wenn wir das erst einmal versucht haben, dann merken wir, wie es unseren Tag bereichert, Manchmal geht es nicht einmal darum, früher aufzustehen, sondern nur darum, aufmerksam zu sein.

Wenn du morgens den Bus nimmst oder dich ins Auto setzt, während es noch dunkel ist, dann beginn gar nicht erst damit, dir Sorgen über den kommenden Tag zu machen, achte nur auf den Augenblick, wenn das Licht aus der Dunkelheit steigt: «Mir wird ein neuer Tag gegeben. Welche Haltung sollte ich diesem Tag entgegenbringen? Wofür ist es Zeit? Zeit, sich zu erheben und zu leuchten.» [ST 83f., Quelle: MS 5) 61f.]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

ehrfurcht b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Voll Staunen schaue ich auf Deine Schaffenskraft,
die sich in unerschöpflicher Fülle immer neu ausdrückt ‒
im Schriftzug des Schwalbenflugs am Abendhimmel,
in der Architektur des Schildkrötenpanzers,
im Formenreichtum der Vogelrufe und auch in uns Menschen.

Schon in der Linienführung von Lippen und Augenbrauen
und erst recht in unseren vielfältigen Begabungen ‒
zum Singen, Kochen, Gärtnern, Erfinden, Erforschen, Bauen, Umsorgen …

Deine geheimnisvolle Triebkraft, die Pfirsichen die Wangen rötet,
will ich heute bereitwillig durch mich durchströmen lassen,
damit sie auf traurigen Gesichtern ein Lächeln malt.

Amen.»[1]

In seinem Text «Mein Glaubensbekenntnis» sprach Albert Einstein (1879-1955) auch über seine Begegnung mit dem Geheimnis. Er schrieb diesen Text im September 1932 für die «Deutsche Liga der Menschenrechte»:

«Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es liegt der Religion sowie allem tieferen Streben in Kunst und Wissenschaft zugrunde. Wer dies nicht erlebt hat, erscheint mir, wenn nicht wie ein Toter, so doch wie ein Blinder zu empfinden, dass hinter dem Erlebbaren ein für unsren Geist Unerreichbares verborgen sei, dessen Schönheit und Erhabenheit uns nur mittelbar und in schwachem Widerschein erreicht, das ist Religiosität. In diesem Sinne bin ich religiös. Es ist mir genug, diese Geheimnisse staunend zu ahnen und zu versuchen, von der erhabenen Struktur des Seienden in Demut ein mattes Abbild geistig zu erfassen.»[2]

Religiosität im Sinne Einsteins macht unser Wesen als Menschen aus. Unsre Beziehung zur geheimnisvollen Wirklichkeit hinter allem, was wir erleben, ist die grundlegende Gegebenheit unsres Menschseins.

Einstein wusste es: «Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen.»

Als Menschen sind wir darauf angelegt, uns ins große Geheimnis zu versenken, es verstehen zu wollen, uns an ihm auszurichten. In dieser lebenslangen Auseinandersetzung mit der letzten Wirklichkeit besteht unsre angeborene Religiosität.

Das Wort Religiosität stammt wahrscheinlich vom lateinischen Wort «re-ligare», was «wieder verbinden» bedeutet.

Jedenfalls ist es das Wesen der Religiosität ‒ übrigens auch das höchste Ziel der Religion ‒ gebrochene Beziehungen wiederherzustellen: die Beziehung zu unsrem Selbst, zu unsrer Um- und Mitwelt und zur letzten Wirklichkeit.

Weil es dabei um die Verwirklichung unsres vollen Menschseins geht, sieht Einstein im Versagen, sich dieser Aufgabe zu stellen, eine so große Gefahr:

«Diejenigen, die diese Erfahrung nie gemacht haben, scheinen mir, wenn nicht tot, dann zumindest blind.»

Seine eigene Religiosität nennt er «das Gefühl des Geheimnisvollen» ‒ bewusste Begegnung mit dem Geheimnis.

Von seiner Religion, der jüdischen in ihrer «vorwissenschaftlichen» Gestalt, hat er sich distanziert, nennt sich aber klar und deutlich «religiös» in dem Sinne, dass er sich in seiner Religiosität vom großen Geheimnis angerufen fühlt.

Auf diesen Anruf zu antworten, stellt, wie Einstein wusste, unsre eigentliche menschliche Berufung dar.

Unser menschlicher Geist ist darauf angelegt, in das große Geheimnis einzutauchen, es zu verstehen, ohne es begreifen zu können, und unser Tun von diesem Verständnis leiten zu lassen.

In diesem beständigen Hinhorchen und Antworten durch alles, was wir tun, drückt sich also unsre Religiosität als eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Geheimnis aus.

Unsre Begegnung mit dem Geheimnis ‒ das wird besonders in sogenannten Gipfelerlebnissen deutlich ‒ löst in uns spontan das religiöse Ur-Gefühl der Ehrfurcht aus.

Ehrfurcht ist gekennzeichnet durch das Zusammentreffen von einem tiefen Angezogen-Sein und einer heiligen Scheu.

Die intime Beziehung zum Geheimnis als unsrem innersten DU zieht uns unwiderstehlich an.

Die überwältigende Fülle von allem, was Es gibt, und das «Mehr-und-immer-mehr», das unendlich darüber hinausgeht, lassen uns erbeben; und dieses zwiespältige innere Berührtsein will sich staunend ausdrücken ‒ in Rühmung, Anbetung und Dankbarkeit.

Wir finden uns also durch unsre Religiosität hineingestellt in die Tiefe, Weite und Dynamik des großen Geheimnisses ‒ in die Grundgegebenheiten, an denen wir uns im Leben orientieren können.

Rudolf Otto (1869-1937) hat die Begegnung mit dem Geheimnis unter dem Aspekt des «Heiligen» gründlich untersucht.[3] Er beschreibt die beiden Gefühle, die das Heilige in uns auslöst, als «tremendum» ‒ das heißt, es lässt uns ehrfürchtig erschaudern ‒ und «fascinans» ‒ das heißt, es löst begeistertes Entzücken aus.

Das Ruhen in einer stets schon unbewusst ersehnten Gegenwart zieht uns unwiderstehlich an; doch das schwindelerregende Anderssein dieser Gegenwart lässt uns erschaudernd zurückweichen.

Wir können das Widerspiel dieser beiden Gefühle an einem kleinen Kind am Strand beobachten: Sooft sich die Wellen zurückziehen, kräht das Kleinkind vor Freude und versucht, ihnen nachzulaufen, wenn aber die Wellen zurückkehren, schreit es erschreckt auf und krabbelt schleunigst auf trockenes Land.

Die erstaunliche Mischung dieser beiden Gefühle drückt sich bei Erwachsenen als Ehrfurcht aus.

Ehrfurcht erfahren wir besonders deutlich in Gipfelerlebnissen, dürfen sie aber keineswegs auf außergewöhnliche Erlebnisse beschränken.

Vor allem im Alltag ist Ehrfurcht der Kern der Religiosität. Spirituell wache Menschen erleben in ihren Beziehungen zu Menschen, Tieren, Pflanzen und auch zu leblosen Dingen das Heilige, weil eben jede Begegnung in ihrer innersten Tiefe Begegnung mit dem Geheimnis ist.

Wenn wir Gelegenheit haben, mit Menschen zusammenzuleben, die nie ihren Sinn für das Heilige verloren haben, staunen wir über den Reichtum ihrer Lebensqualität ‒ oft trotz bitterer Armut.

Im Vergleich dazu ist eine typische wohlhabende Gesellschaft verarmt.

Unsre angeborene Religiosität ist unser Sinn für die Heiligkeit von allem, was es gibt.

Sie drückt sich in Ehrfurcht aus.

Wenn wir Ehrfurcht vernachlässigen, verkümmert auch unsre Religiosität und «wir leben so dahin».

Wenn wir sie bewusst pflegen, blüht unser Leben auf ‒ «dann wird es werden wie ein Fest»[4], sagt Rilke.[5]

Es ist wieder Rilke:

«Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
dass sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.»
[6]

Schön gesagt, aber jetzt wundern wir uns: Wo kommt denn dann das Treiben unserer Welt her, das alles andere ist als Gebet?[7]

Das leere Treiben kommt aus dem Entwurzeltsein.

Solange wir im Mysterium verwurzelt bleiben, solange unser Bauen im Schauen verwurzelt bleiben und unsere Arbeit in der Dunkelheit des Schweigens, aus der wir stammen, im Mystischen, so lange ist alles Gebet. Wenn wir diese Verbindung abreißen lassen, dann sind wir nur Treibende.[8]

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

In Irland gibt es Orte, von denen die Leute sagen,
dass dort der Vorhang zwischen unserer Welt
und der unsichtbaren durchscheinender ist;
dünner als anderswo.
Auch in anderen Ländern gibt es solche Kraftorte.
Und zu gewissen Tageszeiten,
etwa in der Dämmerung, bemerke ich,
dass der geheimnisvolle Schleier durchlässiger wird,
wo ich auch bin.
Wann und wo immer ich etwas mit Ehrfurcht beachte,
beschenkt es mich mit namenloser Überraschung,
weil bei allem ‹mehr dahintersteckt›.
Heute will ich also ehrfürchtig auf alle Dinge schauen.

Amen.»[9]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-2, 5, 8-9]

[Ergänzend:

1. Ehrfurcht

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen:
(57:56) Die Dunkle Nacht bei Teresa von Avila und Johannes von Kreuz ‒ wach und lebendig auf das Wort aus der Dunkelheit, aus dem ‹Nichts› voller Möglichkeiten hinhorchen ‒ in der christlichen Tradition heißt dieser Ursprung Vater ‒ das göttliche Geheimnis als Vater bedeutete im Judentum soviel wie Mutter, wie wir im Gleichnis des verlorenen Sohnes (Lk 15,11-32) sehen ‒ die Weihnachtsantiphon (Weish 18,14f.), wo die Nacht in ihrem Lauf die Mitte erreicht hat, höchste Dunkelheit in Stille ‒ sich hineinwagen in dieses tiefste Dunkel ‒ ‹Fürchte dich nicht› mitten in der Angst: diese Angst, wenn sie am besten ist kann vielleicht auch Ehrfurcht genannt werden: Das Erschauern vor dem göttlichen Geheimnis

2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Demut ‒ der Weg zum Gipfel:
Die zwölf Stufen (1-12) der Demut in der Regel des hl. Benedikt (RB 7):
(34:17) (1) Gottesfurcht: Ehrfurcht vor dem ganz Anderen in einer überwältigenden Erfahrung am Beginn einer Freundschaft und zugleich: ‹Das bin ja ich›. Gott als himmlischer Herrscher und die Überbetonung von Sünde und Reinheit bei den Pharisäern und die Balance mit Güte, Barmherzigkeit, Vergebung bei Jesus

2.3. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie: Zwei Ergänzungen und Fragerunde:
(32:11) Bruder David schließt mit seiner deutschen Übersetzung des Gedichtes PAX von D. H. Lawrence und Ausklang mit Musik von Hannelore und Br. Thomas

Bruder David zu diesem Gedicht im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 161f., [bzw. Fülle und Nichts (2015), 161f.]:

«In einer von der Liebe erwärmten Welt gibt es keine Kluft zwischen Himmel und Erde. Das ‹Haus des Lebens› ist das ‹Haus des Gottes des Lebens›.

Gottes Gegenwart im Haushalt der Erde ist Gegenwart des Herrn, der am Tisch sitzt in seinem eigenen größeren Sein im Hause des Lebens.

Das Bild des ‹pater familias› gibt diesen Zellen Bedeutung und beschützt sie zugleich davor, pantheistisch missverstanden zu werden. Die Welt ist nicht mehr eins mit Gott, als der Haushalt eins ist ‹mit dem Herrn des Hauses, mit der Herrin›. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Es ist keine Frage des Einsseins, sondern des Zusammenseins, des Beieinanderseins durch jene Liebe, die nur die Vorstellung von pietas uns zu vermitteln beginnt. Und doch, mit welcher Ehrfurcht füllt uns das Bewusstsein dieser Zugehörigkeit?

Wenn wir uns den Erdhaushalt als unseres himmlischen Vaters ‹eigenes größeres Sein› vorstellen, dann wird uns das jedes Steinchen, jeden Grashalm, jeden Käfer mit Ehrfurcht betrachten ‒ und entsprechend behandeln lassen.

Dann wird Liebe ihre Zu- und Abneigungen ebenso leicht nehmen, wie wahrer Glaube seine Überzeugungen und wirkliche Hoffnung ihre Hoffnungen. Schließlich, welchen Unterschied machen Zu- und Abneigungen schon, wenn ‹alles, worauf es ankommt, ist, eins zu sein mit dem lebendigen Gott›? Jene, die wir mögen und die, die wir nicht mögen, sind gleichermaßen ‹daheim im Haus des Lebendigen›. Wir gehören alle zusammen. Wir können alle zusammen in Frieden leben, sobald wir unserem tiefsten Sehnen folgen und zu unserem Herzen nachhause kommen.»

2.4. 2020 Audio-Pfingst-Fokusse von David Steindl-Rast
Samstag vor Pfingsten:
Die Gaben des Hl. Geistes - Gottesfurcht – Ehrfurcht

3. Weitere Texte

3.1. Offenbar unergründlich (2019) aus dem Buch 99 Namen Gottes (2019): 75 «der Offenbare, auf den alles, was es gibt, klar hinweist», 156f.

3.2. Im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 131-133, [bzw. Fülle und Nichts (2015), 131-133]:

«Das biblische Wort für die polyphone Vielfalt der Hoffnungen in der einen Musik der Hoffnung lautet ‹Herrlichkeit›. Und wie häufig treten Hoffnung und Herrlichkeit gemeinsam im Neuen Testament auf! Der frühen Kirche bot das Konzept göttlicher ‹Herrlichkeit› das Verbindungsglied zwischen Schau und Verwirklichung der Hoffnung. Nichts weniger als die Macht zur Umwandlung der Welt beruht auf diesem entscheidenden Begriff von ‹Herrlichkeit›. Für uns ist ‹Herrlichkeit› heute ein missverstandenes Konzept, das irgendwo in der Dachkammer unseres religiösen Vokabulars verstaubt. Wie ‹Majestät› lässt es an nicht viel mehr denken als an Pomp und Zeremoniell.

Wir sollten hin und wieder ‹Schönheit› sagen, wenn wir ‹Herrlichkeit› in unseren Bibeln lesen. Das könnte uns zu einem tieferen Verständnis dieses Schlüsselbegriffs verhelfen.

Ein berühmtes Zitat aus Rilkes Duineser Elegien drückt in moderner Sprache jene Harmonie von Glanz und Macht aus, die Gottes Herrlichkeit in der Bibel kennzeichnet:

‹Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören …›[10]

Wenn wir uns Gottes Herrlichkeit als eine ehrfurchterregende Aura vorstellen, dann erretten wir sie vielleicht aus dem Reich pompöser Zeremonien und verbinden sie ‒ richtiger ‒ mit Schönheit.

Wir wollen aber nicht vergessen, dass wir Schönheit nicht nur im Sturm, im Erdbeben und im Feuer als ‹erschütternd› erfahren, sondern auch dann, wenn sie als ‹leises, sanftes Säuseln› (1 Könige 19,12) kommt ‒ beispielsweise als anmutiges Rehkitz. Wir entdecken es plötzlich, schlank und dunkel zeichnet es sich gegen den frischen Schnee ab, bewegungslos ‒ und wir sind ‹erledigt›. Die Erschütterung einer solchen Begegnung mit überwältigender Schönheit schwingt noch nach, wenn der heilige Johannes schreibt: ‹Wir haben seine Herrlichkeit geschaut, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater (Johannes 1,14).»

3.3. Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 4 «Mit Körper, Denken und Geist lebendig sein», 68f.:

«Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an die Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.

T. S. Eliot sagte: ‹Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit aushalten.›[11] Aber in verschiedenen Graden können wir die Wirklichkeit aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Wirklichkeit auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen, mit der ganzen Wirklichkeit, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen.»

3.4. Musik der Stille (2023), 26f.:

«Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.

Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.

Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.

Deshalb sagte Rilke: ‹Jeder Engel ist schrecklich.›

Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel? Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.

‹Denn das Schöne›, sagt Rilke, ‹ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.›

Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben. Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.

T. S. Eliot bemerkt: ‹Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.›[12]

Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen, Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug: ‹Tut Wirklichwerden weh?› Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort: ‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»

3.5. Wendezeit im Christentum (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 178:

Fritjof Capra: «In der Naturwissenschaft kennt man ein berühmtes Wort von Einstein. Er sagte einmal, es komme ihm wie ein Wunder vor, das unsere abstrakten mathematischen Formeln so genau der Wirklichkeit entsprechen, dass wir Dinge, die wir außerhalb beobachten, in Begriffen von Dingen beschreiben können, die wir selbst erschaffen haben. Das schien Einstein zutiefst geheimnisvoll.»

3.6. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 33-37:

«Und das Geheimnis ist das ‒ auf Lateinisch ‒ fascinosum et tremendum. Es fasziniert uns und es macht uns erschaudern. Das ist das Kennzeichen: Wenn uns etwas zugleich begeistert und anzieht und erschaudern macht, dann haben wir es mit dem Heiligen zu tun. Das Heilige ist das fascinosum tremendum.

Und wir haben das alle erlebt, bei einer wunderbaren Konzertaufführung zum Beispiel. Es begeistert uns alle und es lässt uns zugleich erschaudern. Wenn in Beethovens 9. Symphonie das Cello ganz leise das Thema von Freude, schöner Götterfunken, ganz leise, beginnt, dann rinnt es uns kalt über den Rücken. — Das Schreckliche ist ja in diesem Zusammenhang nicht das schrecklich Böse, sondern das schrecklich Gute, das Erschaudern machende Gute, Schöne, Wahre, Eine. So ist das gemeint.»]

_________________________

[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 85

[2] Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ergreift», 49

[3] Rudolf Otto in seinem bekanntesten theologischen und religionswissenschaftlichen Buch des 20. Jh. «Das Heilige», erstmals
    erschienen 1917

[4] «Du musst das Leben nicht verstehen
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.»

(Rilke, Mir zur Feier)

[5] Orientierung finden (2021): «Religiosität ‒ was uns verbindet und heilt», 61-64

[6] Rilke, Alle, die ihre Hände regen (Das Stunden-Buch)

[7] Bruder David fügt in diesem Zusammenhang jeweils das Sonett von Rilke ein: «Wir sind die Treibenden» (Die Sonette an Orpheus 1.
    Teil, XXII), zum Beispiel in Beten – mit dem Herzen horchen (1988)
    1. Vortrag in thematische Brennpunkte aufgeteilt:
    Audio «Wir sind die Treibenden» (Rilke)

[8] Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation im Buch Geist und Natur (1989), 295f.

[9] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 97

[10] Rilke, Duineser Elegien, Die Erste Elegie

[11] «Go, go go, said the bird: human kind
     Cannot bear much reality.

     Time past and time future
     What might have been and what has been
     Point to one end, which ist always present.»

     (T. S. Eliot, Four Quartets, Burnt Norton, I)

    Bernardin Schellenberger übersetzt «reality» mit «Realität». Aber es geht um die numinose Wirklichkeit im Unterschied zu Realität
    im gängigen Sprachgebrauch des Wortes. Siehe 3.4.

[12] Siehe Anm. 11


Quellenangaben

Text und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB

ehrfurcht b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Das Wort weckt in mir eine Assoziation mit Kokosnüssen. Dahinter steht eine Kindheitserinnerung. Eine Kokosnuss war eine Seltenheit in unserem Dorf. Von uns Kindern wurde dieser nasenlose Koboldskopf, der uns aus der Einkaufstasche der Mutter anguckte, fast mit der gleichen Begeisterung begrüßt wie das Murmeltier, von dem wir im Sommer auf der Alm manchmal einen kurzen Blick erhaschen konnten. Eines jedenfalls haben Kokosnüsse den Murmeltieren voraus: Sie gaben Milch. Und nicht wie die Kühe. Kokosnüsse melken hieß, ihnen den Kopf anbohren. Bei diesem Anzapfen erreichte unsere freudige Erregung stets ihren Höhepunkt. Diesmal ‒ an dem Tag, seit dem Ehrfurcht und Kokosnüsse in meiner Erinnerung untrennbar verbunden sind ‒, diesmal überraschte der Jüngste die ganze Familie gerade in dem Augenblick, als wir alle erwarteten, die Kokosmilch herausschießen zu sehen. «Wegschauen!» rief er plötzlich. «Wegschauen! ‒ Niemand darf hinschauen, nur ich.» Ihm zuliebe, der als Einziger von uns drei Brüdern noch nicht zur Schule ging, und weil die Kokosnuss eigentlich ein Geburtstagsgeschenk für ihn war, schauten wir wirklich weg oder taten zumindest so, als ob wir wegschauten. Es wurde ganz still. «Jetzt hab ich etwas gesehen», erklärte er fast feierlich, «was vor mir noch niemand gesehen hat, nur Gott.»

Dieses begeisterte Erschaudern, das wir schon als Kinder ‒ vielleicht besonders als Kinder ‒ erleben, drückt wohl das innerste Wesen der Ehrfurcht aus.

Von da her möchte ich versuchen, drei Fragen zu beantworten: Wo liegt der Ursprung der Ehrfurcht? Was ist ihr Sinn? Und: Wie können wir sie pflegen?

Auf einen zwiefältigen Ursprung der Ehrfurcht weist schon das zusammengesetzte Wort selbst hin. Die Furcht, um die es hier geht, ist achtungsvolle Scheu vor dem Erhabenen; mit ihr paart sich aber die Wertschätzung, Achtung, ja die Bewunderung, die der erste Teil des Wortes ausdrückt. Wir sollen hier nämlich nicht so sehr an die Ehre in ihrer heutigen Bedeutung denken, sondern an das ältere Zeitwort «ehren», das für liebendes Anstaunen steht. Ehrfurcht geht also aus der Spannung zwischen heiligem Schaudern und anbetender Verehrung hervor. Sie bezieht sich auf die beiden Elemente des Heiligen, die Rudolf Otto als «Tremendum» und «Fascinosum» identifiziert. Was das Gefühl der Ehrfurcht auslöst, ist das Heilige.

Wir haben es hier mit einem menschlichen Urgefühl zu tun. Gefühle steuern unser Verhalten. So löst Hunger Nahrungssuche aus und Müdigkeit Schlaf. Urgefühle zu den grundlegenden Welten, in die wir als Menschen gestellt sind: Überwelt, Mitwelt und Innenwelt. Ehrfurcht, Mitgefühl und Scham nennt sie Vladimir Solovjew. Er ordnet der Innenwelt die Scham zu, mit der wir die Heiligkeit unserer Intimsphäre hüten; Mitgefühl ehrt die heiligen Bande, die uns mit unserer Mitwelt verbinden; Ehrfurcht wird durch das Heilige selbst ausgelöst; durch jenes grenzenlose Mehr, das uns jenseits des durch Raum und Zeit Begrenzten entgegenwartet ‒ in der Musik, manchmal in Gipfelerlebnissen, unter dem Sternenhimmel vielleicht.

Weil das Heilige eine so entscheidende Rolle spielt für die rechte Einbettung in unsere drei menschlichen Grundbereiche, darum eben auch die Ehrfurcht als das Gefühl, das vom Heiligen ausgelöst wird.

Darin liegt auch schon die Antwort auf unsere zweite Frage, was der Sinn der Ehrfurcht sei. Ehrfurcht gibt unserem Leben Orientierung. Die berühmten Zeilen des mystischen Dichters Teerstegen verbinden Ehrfurcht mit dem letztgültigen Orientierungspunkt:

«Gott ist gegenwärtig; Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte; alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge!»
[1]

Auf die göttliche Mitte hin orientiert die Ehrfurcht das menschliche Leben. Kein Wunder, dass wir mit der Ehrfurcht in zunehmendem Maß auch die Orientierung verlieren und unsere Welt aus den Angeln fällt.

«Ehrfurcht ist der Angelpunkt der Welt», Goethe wusste das noch, und er meinte damit «Ehrfurcht gegenüber der Natur, den Mitmenschen und Gott».

Zur Ehrfurcht vor der Natur rief, wie kein anderer, Albert Schweitzer uns auf. Er sah das Grundprinzip aller Ethik darin, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen.»

Als Prophet der Ehrfurcht vor der Natur lebte er sie uns konkret vor. Der Ehrfürchtige, so sagte Schweitzer «reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat Acht, dass er kein Insekt zertritt».

Wenn die Ehrfurcht uns so das Herz weitet, dass wir in Blumen und Insekten dem Heiligen begegnen, werden wir auch für unsere Mitmenschen ein weites Herz haben.

«Die Ehrfurcht schafft eine Atmosphäre von Feingefühl, Zartheit und Lebensschutz», sagt Anselm Grün.[2] Sein «Engel der Ehrfurcht» schützt die Würde auch des geringsten Menschen nicht nur gegen Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung, sondern auch gegen zynische Neugier, etwa der Medien. Den Mitmenschen ernst nehmen heißt ja, an das Heilige rühren.

«Religion ist Ehrfurcht», sagt Thomas Mann, «die Ehrfurcht zuerst vor dem Geheimnis, das der Mensch ist.»

Das Menschliche ist eben, im Sinne Pascals, unendlich mehr als das Nur-Menschliche. Und das Natürliche ist unendlich mehr als das Nur-Natürliche.

Dafür legt Einstein als Naturwissenschaftler, aber auch als Mensch Zeugnis ab: «Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.» Ehrfurcht macht das Herz weit und lebendig.

Wie aber ‒ so lautete unsere dritte Frage ‒ wie können wir Ehrfurcht pflegen, zur Ehrfurcht erziehen?

Dazu gehören Stille und Gelassenheit. Ehrfurcht als menschliches Urgefühl klingt in uns an, wenn wir sie nur nicht mit Lärm und Ablenkung übertönen.

Zu «Gott ist in der Mitte» fügt Teerstegen gleich hinzu:

«Alles in uns schweige.»

Nur wenn wir den Kompass unseres Herzens stillhalten, kann die Kompassnadel sich auf den rechten Orientierungspol einspielen.

Stille schafft Raum, in dem Ehrfurcht sich entfalten kann. Ein Kind, dem nicht viel Stille geschenkt wurde, wird kaum ehrfürchtig auf Kokosmilch schauen. Die Indianer wussten das. Sie sagten:

«Ein richtig erzogenes Kind kann sitzen und schauen, wenn nichts zu sehen ist; es kann sitzen und horchen, wenn nichts zu hören ist.» Uns auf dieses Nichts immer wieder auszurichten ‒ auf das Nichts, aus dem alle Stille des Daseins entspringt ‒, das heißt Ehrfurcht pflegen.

Gibt es etwas, das besser geeignet wäre, unsere Welt zu erneuern?[3]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 3]

[Ergänzend:

1. Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht

2.1. EHRFURCHT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 133:

«Nach allem, was wir über Furcht und Angst geschrieben haben, verlangt der zweite Teil dieses Wortes nach einer Erklärung. Die Ehrfurcht weigert sich ‒ denn Weigerung ist die Haltung der Furcht ‒, Ehre anzutasten. Ehrfurcht ist ein Erkennungsmerkmal eines spirituell wachen Menschen. Dieses Wachsein ist verlangt, um die Gegenwart des Geheimnisses zu spüren. Da das Geheimnis in allem, was uns begegnet, gegenwärtig ist, ist Ehrfurcht eine Lebenshaltung spiritueller Menschen. Diese Ehrfurcht zeigt sich in der Begegnung mit allen Lebewesen als Anerkennung der Würde, die ihnen zukommt. Von größter Bedeutung ist heute Ehrfurcht vor der Menschenwürde.»

2.2. WÜRDE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164f.:

«‹Würde› ist mit dem Wort ‹Wert› wurzelverwandt. Dingen, die nur vereinzelt vorkommen, messen wir Seltenheitswert bei. Wer erkennt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen, jedes Ereignis nicht nur selten, sondern einzigartig ist, wird sich der Würde bewusst, die allem, was es gibt, zukommt, und wird ehrfürchtig durch das Leben gehen. Auch jedem Menschen steht diese Grundwürde zu. Wer dies erst einmal entdeckt, wird sich seiner eigenen Würde bewusst und weiß, dass sie nicht von der Anerkennung andrer abhängt. Ein solcher Mensch hat Rückgrat, geht aufrecht und weiß, was unter seiner Würde ist. Das ist die Innenansicht von Menschenwürde. Es gilt dieses Grundverständnis von Würde festzuhalten, zugleich aber oberflächlichere und doch sehr wichtige Wertunterschiede anzuerkennen. Nur so können wir öde Gleichmacherei vermeiden. Es gibt eine Hierarchie der Werte. Für diese in vielen Bereichen der Kultur feinfühlig zu werden, kann unser Leben nachhaltig vertiefen und bereichern.»

3. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 56-58:

«‹Nichts ist, was dich schrecken darf,
und du bist daheim.›[4]

Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf.

Darum blickten unsere Augen noch mit ‹hellem Mut›.

Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe.

Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick?

Wir fürchten, uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen.

Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen.

Gerhard Teerstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende der Ehrfurcht hingewiesen. Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.

‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte; alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge!›

Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht.

Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existenzieller Angst zum Opfer.

Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.

Ehrfurcht ist eine eigenartige Furcht, eine Furcht, zu der man Mut braucht, den Mut, der auch der Demut eigen ist; ‹Dien-Mut›, Mut zu dienen; Mut sich zu verschenken.

Nur was wir verschenken, wird so wirklich unser eigen.

Aber unsere größte Angst ist es, uns selbst zu verlieren.

Daher ist auch der Mut, der diese Angst überwindet, Groß-Mut. So groß ist der Mut der Ehrfurcht, dass er jede Furcht austreibt.

Die Ehrfurcht findet sich im Sichverschenken.

Und weil sie sich so gefunden hat, weiß sie, dass nichts uns schrecken darf; weiß, dass wir daheim sind, hier und dort und überall.»

4. Terroismus oder Humanisms (2015)
Der Verlust der Ehrfurcht:

«In der christlichen Jugendbewegung setzten wir uns Mitte der 1930er-Jahre sehr bewusst für gesunde Werte ein. Wir hatten offene Augen für die fortschreitende Zersetzung von Werten in der abendländischen Gesellschaft, teils von innen her, teils durch Einflüsse ‹von außen›. Der Nationalsozialismus spielte sich als Bollwerk gegen diese Dekadenz auf und es gelang ihm dadurch ‒ anfangs zumindest ‒ viele der besten jungen Menschen zu verführen, die bereit waren, für hohe Ideale sogar ihr Leben einzusetzen. Eine ähnliche Gefahr droht heute offenbar jungen Muslimen.

Was die Terroristen in Paris[5] aufstachelte, war nicht die Pressefreiheit, sondern ihr schamloser Missbrauch: ehrfurchtslose Verletzung religiöser Sensibilität. Wache junge Muslime haben ein gesundes Gefühl für traditionelle Werte ihrer Kultur. Sie sehen sich bedroht, weil unsere Gesellschaft Werte missachtet, die ihnen heilig sind ‒ etwa die Ehrfurcht. Unser Werteverlust muss ihnen dekadent erscheinen ‒ und ist es leider tatsächlich. So spielen wir selber, wenn auch unabsichtlich, eine entrüstete Jugend radikalen Elementen in die Hände.

Je höher ein Wert, umso höher ist auch der Grad der Verantwortung, die er uns auferlegt. Pressefreiheit ist ein hoher, ein in der Geschichte teuer erkaufter Wert. Wir schulden denen, die uns ein so kostbares Erbe hinterlassen haben, ein Doppeltes: diese Freiheit unversehrt zu erhalten, sie aber auch verantwortungsbewusst zu gebrauchen.

Die Menschenmassen, die nach dem Pariser Anschlag für Pressefreiheit demonstrierten, sich für den Anspruch der Ehrfurcht aber blind zeigten, übersahen offenbar eine Hälfte unserer Aufgabe. Sie übersahen den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung. Wie können wir Pressefreiheit verteidigen, wenn wir nicht zugleich die Ehrfurcht verteidigen?

Zum Glück gibt es aber Unzählige, denen grundlegende Werte wie Ehrfurcht auch heute noch Halt und Richtung geben. Solche Menschen finden sich auch in unserer Gesellschaft, hüben und drüben aller Grenzlinien ‒ der politischen, der kulturellen, der religiösen. Wenn diese wahren Humanisten erst einmal über die Grenzen hinweg einander zurufen, einander finden und zu gemeinsamer Tatkraft erwachen, dann haben wir endlich ein weltweit gemeinsames Fundament gefunden für Hoffnung auf eine friedliche Welt.»

5. Mit Ehrfurcht abwaschen (1968): Bericht über David Steindl-Rast OSB:

6. Interviews und Dialog

6.1. Vom mythischen Wasser kosten (2019): Interview von Josef Bruckmoser mit Bruder David:

«Was können Christen aus den 99 Namen Gottes im Islam erfahren?»

Bruder David: «Den Islam zeichnet eine große Ehrfurcht vor dem überwältigenden Geheimnis Gottes aus. Dieser Schauder vor dem Heiligen sollte auch uns Christen wieder ergreifen.»

«Geht es dabei auch um die Ehrfurcht vor unserer Mitwelt, um die Ehrfurcht vor dem Leben auf dieser Welt?»

Bruder David: «Selbstverständlich. Es geht um Ehrfurcht vor dem Leben – im anderen Menschen, in der Natur und in mir selbst. Könnten wir die Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes, das uns im gelebten Leben bewusst wird, wiedergewinnen, dann hätten wir auch Ehrfurcht voreinander, und wir würden mit unserer Welt anders umgehen.»

6.2. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:

«Sie haben eine lange Lebenserfahrung. Was, denken Sie, ist das Wichtigste im Leben?»

Bruder David: «Wach bleiben, bewusst und dankbar leben und den Menschen mit Ehrfurcht und Liebe begegnen.»

6.3. Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019)
Ehrfurcht lernen:

Bruder David: «Das bedeutet aber auch, dass wir eine neue Haltung innerhalb der Wissenschaft brauchen, wir brauchen eine Wissenschaft mit Ehrfurcht vor unserer Umwelt. All das, was Wissenschaft uns lehrt, kann Heranwachsenden auf solche Art vermittelt werden, dass es ihre Ehrfurcht stärkt. Das ist dann eine große Bereicherung. Es ist auch eine wundervolle Art, den Menschen, die keine Verbindung mehr zu einer Kirche haben, etwas zu vermitteln, was früher die Kirchen ihren Gläubigen zu geben vermochten: ein Gefühl von Ehrfurcht und Verantwortung.

Diese Ehrfurcht in der Wissenschaft ist auch ein Ausdruck des religiösen Impulses, wenn wir ihn aus mythisch-wörtlichen Interpretationen befreien. Die Ehrfurcht vor dem Geheimnis ist eine Ehrfurcht, die auch offen ist für einen Agnostiker oder Atheisten, denn wir müssen keinen religiösen Hintergrund haben, um Ehrfurcht zu empfinden.»]

 ________________________

[1] Gerhard Tersteegen im Kirchenlied: GOTT IST GEGENWÄRTIG. Lasset uns anbeten / und in Ehrfurcht vor ihn treten. (Zugriff: Juli 2022), siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I, 64

[2] Anselm Grün: «50 Engel für das Jahr: ein Inspirationsbuch», Freiburg / Basel / Wien, Herder 2006

[3] Ehrfurcht ‒ Kompass des Herzens in den Büchern Von Achtsamkeit bis Zuversicht (2015) und Mit einem weiten Herzen (2005)

[4] Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, Die Arche 1961: «Poeta Creator: ein Glückwunschgedicht», 158-162.
Siehe auch Audio: Mit allen Sinnen leben (1993):
(45:17) Wo wir uns vor nichts fürchten müssen: Bruder David schließt mit den letzten Zeilen des Gedichts «Poeta Creator» von Werner Bergengruen

[5] Bruder David bezieht sich in der Wochenzeitung Die FURCHE vom 5. Februar 2015 auf den Anschlag auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» in Paris am 7. Januar



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

familie b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Mit dem ganzen Herzen Gott zugewandt, erkennt die Liebe ihre Zugehörigkeit; mit den Händen der Arbeit zugewandt, handelt die Liebe dementsprechend.

Die Römer hatten ein Wort für Liebe, das genau diese Haltung ausdrückt. Es ist das lateinische Wort pietas. Wir könnten es als «Familiensinn» übersetzen, eine Haltung, die dem Wissen um Zusammengehörigkeit entspringt und es entsprechend zum Ausdruck bringt. Pietas ist vor allem die Haltung des pater familias. Die Familie gehört zum Vater, von dem sie ihren Namen bezieht. Pietas gibt dem pius pater Rechte und Pflichten. Aber pietas ist eine Haltung, die von allen Mitgliedern des Haushalts geteilt wird und alle miteinander verbindet. Ehemann und Gattin lieben sich vielleicht auch mit Leidenschaft und Verlangen, das Band aber, das sie am stärksten und tiefsten zusammenhält, ist pietas. Das gleiche Band hält Brüder und Schwestern, Kinder und Eltern zusammen. Aber pietas bezieht auch Diener und Sklaven mit ein, jeden, der zum Haushalt gehört. Als Haushalt sind sie den Vorfahren der Familie und den Schutzgöttern, den lares, verbunden durch die gleiche pietas, die selbst die Haustiere miteinbezieht, das Land, die Werkzeuge, den Hausrat und alles Ererbte. Unsere Sprache kennt keinen vergleichbaren Begriff. Könnten wir die Kraft des lateinischen Wortes pietas in unser Wort «Pietät» übertragen, das sich von ihm ableitet, dann würden unsere Vorstellungen von Mitgefühl und Hingabe sicherlich bereichert werden. Sie alle stehen im Zusammenhang mit der Vorstellung des Zusammengehörens. Ein Wort können wir nicht willkürlich wiederbeleben. Aber wir müssen das Gefühl des Zusammengehörens wiederentdecken, das das Wort pietas prägte.

Die entscheidende Frage lautet: Wie groß ist unsere Familie? Wie groß ist die Reichweite unseres Zusammengehörens? Erreichen wir die entferntesten Bereiche von Gottes Haushalt? Wird sich unsere Sorge und Betroffenheit weit genug ausdehnen, um alle Mitglieder dieses Haushalts der Erde zu umfassen ‒ Menschen, Tiere, Pflanzen, die wir immer noch als fremd betrachten? Unser aller Überleben könnte von der Antwort auf diese Frage abhängen. [ST 40f., Quelle: FN 1) 154f., 2-5) 158-160; 6) 157-159]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

gelegenheit b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten. Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. [ST 52, Quelle MS 5) 53]

Wir können nicht dankbar sein für Verletzungen, Krankheit, Ungerechtigkeit und andere Schwierigkeiten. Wir können nicht für alles dankbar sein, was ein gegebener Moment uns bringt; aber in jedem gegebenen Moment können wir für etwas dankbar sein ‒ für die Gelegenheit, die er uns bringt. Gelegenheit wofür? Nur in diesem bestimmten Moment kannst du die Antwort auf diese Frage hören, die zu deinen speziellen Bedürfnissen passt. Und du wirst sie hören, wenn du deine Ohren durch Dankbarkeit einstellst.

Unsere Schwierigkeiten erzeugen eine Menge Lärm. Inmitten dieses Lärms ist es nicht einfach, die sanfte Stimme der Gelegenheit zu hören. Wir brauchen geübte Ohren. Darum müssen wir unsere Ohren lange vorab trainieren, bevor Schwierigkeiten uns überfallen. [ST 52, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]

(Video-Film gelesen von Bettina Buchholz): Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung. Oft gehen wir wie im Schlaf durchs Leben, bis etwas kommt, an dem wir keine Freude haben: erst dann werden wir wachgerüttelt. Wenn wir lernen, die zahllosen Gelegenheiten wahrzunehmen, die uns Grund geben zur Freude am Geschenk des Lebendigseins, dann sind wir vorbereitet, wenn die Zeit kommt, die etwas Schwieriges von uns verlangt. Dann werden wir auch in dieser Herausforderung eine Gelegenheit erkennen und ihr dankbar gerecht werden. Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzige passende Antwort. Wenn uns die Tatsache dämmert, dass alles ein Geschenk ist, dann wird Dankbarkeit selbstverständlich. [ST 52f., Quelle: MS 5) 49f.]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

fehler b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Es ist sehr schmerzhaft mitanzusehen, wie auch kleine Unaufrichtigkeiten nach und nach unsere Seele vergiften. So gibt es Menschen, die in ihrem Leben keine großen Fehler begangen haben, vielleicht war da nur die eine oder andere kleine Lüge, in die sie sich mehr und mehr verstrickten, bis sich ihr Leben in einem schrecklichen Durcheinander befand, das genauso schlimm war, wie wenn sie eine furchtbare Untat begangen hätten. Unsere kleinen Verfehlungen ‒ die kleinen Augenblicke, in denen wir unseren Launen oder trägen Gewohnheiten nachgeben ‒ sammeln sich an und können mehr Schaden anrichten, als wir denken. Es geht hier nicht nur um eine Frage der Moral, unsere eigentliche Lebensfreude hängt davon ab. Wenn wir mit dem Augenblick nachlässig umgehen, hastig, unbehutsam, unbedacht in Wort und Tat, dann wird daraus ein vergeudetes Leben.

Und dennoch, ganz egal, in was wir uns hineinmanövriert haben, genau der jetzige Augenblick kann der Beginn eines neuen Lebens sein. Gott hat uns vergeben, bevor wir überhaupt je Fehler begingen. Wir brauchen nur diese Vergebung anzunehmen und uns selbst zu vergeben, um einen völlig neuen Anfang zu machen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung für die Qualität unseres Lebens, dass wir jeden Arbeitstag mit bewusster Klarheit und in der besten Absicht beginnen.
[ST 42, Quelle: MS 5) 71f.]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

freude b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Freude ist jene Art von Glück, das nicht davon abhängt, was uns zustößt. Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt. Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist? Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein. Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade Jetzt geschenkt ist. Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.

Diese dankbare Freude macht uns glücklich, was immer auch sonst noch geschehen mag. Manchmal verstehen wir das falsch. Wir denken, Menschen seien dankbar, weil sie glücklich sind. Aber stimmt das denn auch? Wenn wir genauer hinsehen, werden wir feststellen, dass Menschen glücklich sind, weil sie dankbar sind. Wenn wir für alles dankbar sind, was uns gegeben wird, gleichgültig, wie schwierig, gleichgültig, wie unwillkommen es auch sein mag, dann wird die Dankbarkeit selbst zur Quelle unseres Glücks. Die Heiligen lehren uns das: Sie sind voll des demütigen Dankes für alles, was ihnen das Leben bringt. Selbstverständlich ist es oft schwierig, diese Haltung einzunehmen, wenn wir uns plötzlich in einer unangenehmen oder gar tragischen Situation befinden. Wenn wir aber mit einfachen Dingen beginnen, dann wird uns die Haltung der Dankbarkeit nach und nach zur zweiten Natur. Haben wir nicht Augen, die wir im Morgenlicht öffnen können? Haben wir nicht Ohren, um auf Geräusche zu hören, und Füße, um zu gehen, und Lungen, um zu atmen? Was für Geschenke! Sollten wir nicht dankbar sein und uns an ihnen erfreuen?
[ST 44f., Quelle: MS 5) 50f.]



Quellenangaben

 

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

gipfelerlebnis b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Unser wahres Selbst ist nicht das kleine individualistische Selbst neben anderen. Dies entdecken wir in jenen Augenblicken, in denen wir zu unserer großen Überraschung eine tiefe Kommunion mit allen anderen Wesen erfahren. Diese Momente gibt es in unser aller Leben. Vielleicht erinnern wir sie als «Hochwassermarken» der Bewusstheit, der Lebendigkeit, als Momente unserer besten Verfassung, als jene Augenblicke, in denen wir am meisten wir selbst waren.

Vielleicht aber versuchen wir auch die Erinnerung an jene Momente zu verdrängen, denn jene Springflut der Kommunion ist eine Bedrohung der defensiven Isolation, in der wir uns geschützt vorkommen.

Die Mauern, hinter denen wir uns verstecken, mögen dem Ansturm des Lebens lange standhalten. Aber ganz plötzlich, an irgendeinem Tag, wird, wie in dem folgenden Bericht aus «The Protean Body» von Don Johnson, die große Überraschung über uns einbrechen:

«Ich ging hinaus auf eine Mole im Golf von Mexico. Ich hörte auf zu sein. Ich erfuhr mich als Teil des Windes, der von der See hereinkam, als Bestandteil der Bewegung von Wasser und Fischen, der Sonnenstrahlen, der Farben der Palmen und tropischen Blumen. Es gab keine Vorstellung mehr von Vergangenheit oder Zukunft. Und es war kein besonders seliges Erlebnis: es war furchterregend. Es war die Art ekstatischer Erfahrung, die ich mit einigem Aufwand an Energie zu vermeiden versucht hätte. Ich erlebte mich nicht als identisch mit Wasser, Wind und Licht, sondern als nähme ich teil am gleichen Bewegungssystem. Wir tanzten alle miteinander.»

In diesem großartigen Tanz sind Gebende und Empfangende eins.

Ganz plötzlich können wir erkennen, wie unwesentlich es ist, welche der beiden Rollen man in einem gegebenen Moment zu spielen hat.

Jenseits aller Zeit ruht unser wahres Selbst in vollkommener Stille in sich selbst.

Verwirklicht wird dies in der Zeit durch ein anmutiges Geben und Nehmen  im Tanz des Lebens.

Wie bei einem sich schnell drehenden Kreisel sind Stille und Tanz eins.

Nur in jenem Einssein  von Geben und Nehmen findet sich wahre Selbständigkeit. Jede andere Selbständigkeit ist Illusion. Das Wirkliche aber erweist sich am Ende immer als jeder Illusion überlegen.

Früher oder später wird es durchscheinen wie die Sonne durch den Nebel.

Das Leben, unser Lehrer, wird das besorgen. [FN 1) 24f.; 2-5) 24f.; 6) 27f.; ebenso: Geben und Empfangen (2008), in: Das Inspirationsbuch 2009]

Wer kennt nicht diesen Wendepunkt von denken zu danken aus eigener Erfahrung? Wir müssen nur an einen jener Augenblicke denken, die wir alle manchmal erleben, obwohl wir sie nur den Mystikern zutrauen.

Ganz unerwartet werden wir da plötzlich wach, fallen aus Zeit und Raum in eine unauslotbare Stille hinein und fühlen überwältigende Dankbarkeit in uns aufsteigen.

Ganz gleich wo uns das widerfährt ‒ auf einem Berggipfel, in einer Kathedrale, oder mitten im Verkehrsstau ‒ das ist ein mystisches Erlebnis.

Abraham Maslow erforschte solche «peak experiences», wie er sie nannte, vom Standpunkt der Psychologie.

Er fand, dass solche Erfahrungen bei ganz gewöhnlichen Menschen häufig sind und sich in keiner Weise von denen der Mystiker unterscheiden.

Ein Unterschied liegt vielmehr darin, dass die meisten von uns weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, und bald wieder «das Zufällige und Ungefähre» laut werden lassen, während die Mystiker aus der Stille  leben.

Es steht auch uns frei das zu tun, und so unser Leben im Bleibenden zu verankern. Der Schlüssel dazu ist dankbares Leben. [Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille (1982), 182 und AH 3-5) 156]

Denken Sie einmal an eine Erfahrung zurück, von der Sie sagen können: «So etwas macht das Leben lebenswert.»

Oder denken Sie an den Begriff «Gipfelerfahrung», ein ausgezeichneter Begriff, der unter anderem andeutet, dass es sich um etwas handelt, das aus Ihren normalen Erfahrungen herausragt, darüber steht.

Es ist ein Augenblick, in dem Sie sich irgendwie erhaben fühlen, oder wenigstens erhabener als sonst.

Und es ist nur ein Augenblick, auch wenn er lange dauern kann, vielleicht sogar eine Stunde; selbst dann erscheint so eine Erfahrung wie ein Augenblick. Immer wird sie als ein Punkt innerhalb der Zeit empfunden, so wie auch ein Berggipfel immer ein Punkt ist.

Es kann ein hoher oder ein niedriger Gipfel sein; worauf es jedoch ankommt, ist, dass ein Gipfel erreicht wird.

Wenn Sie nun Ihren Tag oder Ihr Leben oder irgendeine Zeitspanne überblicken, dann sehen Sie diese Gipfel herausragen, und es sind Punkte einer erhabenen Erfahrung, Punkte einer Erfahrung des Schauens, einer Erkenntnis, wenn Sie so wollen.

Das ist auch ein wichtiger Aspekt bei dieser Vorstellung vom Gipfel:

Wenn Sie sich auf einem Gipfel befinden, dann haben Sie eine bessere Sicht. Sie können nach allen Seiten sehen. Solange Sie noch aufsteigen, wird ein Teil Ihrer Sicht, ein Teil des Horizonts, von dem Gipfel verdeckt, den Sie ersteigen. Aber einmal auf dem Gipfel angekommen, erhalten Sie einen Einblick in den Sinn, in die Bedeutung.

Es ist ein Augenblick, in dem Sie vom Sinn wirklich berührt werden. Das ist die Art des Erkennens, von der jetzt die Rede sein soll.

Es bedeutet nicht, die Lösung für ein Bündel konkreter Probleme zu finden; es ist vielmehr ein Augenblick uneingeschränkten Erkennens. Sie setzen Ihrem Erkennen keine Grenzen.

Versuchen Sie nun einmal, an solch einen Augenblick zu denken und ihn sich zu vergegenwärtigen, und zwar sehr präzise und fest umrissen. Verallgemeinerungen werden uns hier nichts nützen.

Es braucht kein riesiger Gipfel zu sein, das ist sowieso sehr selten im Leben. Ein Ameisenhügel ist auch ein Gipfel, also genügt uns alles, was einen Gipfel darstellt.

Versuchen Sie es einfach, erinnern Sie sich ganz konkret an eine Erfahrung, in der Sie etwas sehr tief berührt hat, eine Erfahrung, in der Sie auf irgendeine Weise über die normale Ebene erhoben wurden. [Der Mönch in uns (1978); siehe auch Auf dem Weg der Stille (2016), 49f.]

[Ergänzend:

1. GIPFELERLEBNIS, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 140f.:

«Peak Experience» nannte Abraham Maslow (1908-1970) Höhepunkte, also ‹Gipfel› menschlicher Erfahrung, Augenblicke bewussten All-Einsseins, wie wir sie aus Berichten der großen Mystiker kennen. Maslows Forschung konnte aber zeigen, dass jeder psychisch gesunde Mensch gelegentlich Gipfelerlebnisse hat, oft unbeachtet oder sogar aus dem Bewusstsein verdrängt. Was hingegen die großen Mystiker auszeichnet, ist, dass sie ihren Alltag dem All-Einheitsbewusstsein gemäß gestaltet haben. Maslow zeigte, dass uns in Gipfelerlebnissen alle großen Werte ‒ wie etwa das Schöne, Wahre, Gute ‒ gegenwärtige Wirklichkeit sind. Es gilt nun, diese Werte, dem Beispiel der Mystiker folgend, in unser tägliches Leben einfließen zu lassen. Gipfelerlebnisse sind immer ein überraschendes Geschenk. Wir können uns nur auf sie vorbereiten, sie aber nicht erzwingen. Aufreizenden psychischen Erfahrungen nachzujagen, das stellt immer wieder eine Gefahr für spirituell suchende Menschen dar. Die große Aufgabe ist es, uns genügsam für das Empfangene dankbar zu erweisen. Dies tun wir dadurch, dass wir alle Energie darauf verwenden, unser Leben dem uns bereits Geschenkten gemäß zu gestalten.»

2. GIPFELERLEBNIS in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 170f.; 2-5) 174; 6) 173):

«Abraham Maslow, der den Begriff Gipfelerlebnis in die Psychologie einführte, bestand darauf, dass es keine Möglichkeit gäbe, es von der mystischen Erfahrung, wie sie die Mystiker beschreiben, zu unterscheiden. Und doch haben die meisten (wenn nicht alle) von uns Gipfelerlebnisse, Momente, in denen wir überwältigt sind von einem Bewusstsein der Zugehörigkeit, universellen Heil- und Heiligseins, Augenblicke, in denen das Leben Sinn hat. Annehmen ist ein Wort, das häufig bei der Beschreibung von Gipfelerlebnissen benutzt wird. Einen Moment lang, der jenseits von Zeit zu sein scheint, fühlen wir uns ganz und gar angenommen und können alles, was ist, voll und ganz akzeptieren, annehmen. Dankbarkeit durchdringt jeden Aspekt dieser Gipfelerlebnisse. Das Religiöse an jeder Religion wird durch diese Momente überwältigender Dankbarkeit genährt. Wenn wir unsere eigene Religion als gültig betrachten, so können wir jenes Urteil nur auf jene Erfahrungen gesteigerter Bewusstheit gründen. Jede Religion wird gemessen an Standards, die man von jenen Gipfeln dankbaren Annehmens erspähte. Und darum können wir Dankbarkeit die Wurzel aller Religion nennen.»

3. Mehr als alles (2010): Toni Zimmermann zitiert David Steindl-Rast.

4. Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Ein Jahrzehnt später zeigte Abraham Maslow von der Psychologie her, dass Gipfelerlebnisse (‹Peak Experiences›) praktisch im Leben jedes Menschen vorkommen, und von klassischen mystischen Erlebnissen in keiner Weise unterscheidbar sind. Welche Tragweite Maslows Pionierarbeit für die Geistesgeschichte besitzt, wird auch heute noch nicht voll gewürdigt.»

5. Die Begebenheit auf einer Mole im Golf von Mexiko findet sich nicht nur im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 28 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 25], sondern auch im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 114f.:

Bruder David: «Es handelt sich um die Schilderung eines Freundes von mir, Don Johnson, in seinem Buch ‹The Protean Body›.»

Hinweis: Kapitel 8 «Auf heiligem Grund stehen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 112-119, übersetzt von Bernardin Schellenberger, ist inhaltlich identisch mit Sakramentales Leben ‒ «Zieh' deine Schuhe aus! (1979), übersetzt von Eve Landis.

6. Audios:

Wie uns dankbar leben heil und gesund macht (2011): Audio und Transkription:
(09:36) «Jeder Mensch ist ein besonderer Mystiker» (Abraham Maslow): Gipfelerfahrungen im Alltag

Das Gottesbild des modernen Menschen (2009):
Teil 1:
(10:16) Abraham Maslow nennt die mystischen Erlebnisse des All-Einsseins Gipfelerlebnisse / (13:18) Der Mystiker ist nicht ein besonderer Mensch, jeder Mensch ist ein besonderer Mystiker. Die großen Mystiker lassen diese Erlebnisse in den Alltag einfließen ‒ Thomas Mertons Gipfelerlebnis und Beispiele in unserem Alltag

Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Audio und Mitschrift: Spiritualität, volle Lebendigkeit, Peak Experience (Maslow) und Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 02-03

Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Audio: Mystische Erfahrung ‒ Anstoß zur Praxis dankbaren Lebens und Audio: Wir alle haben diese Gipfelerlebnisse]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

gehorsam b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Mönche geloben Gehorsam. Gehorsam im klösterlichen Rahmen heißt mehr als zu tun, was einem befohlen wird; das wäre die Art des Gehorsams, die ein Hund in der Dressurschule lernt. Wahrer Gehorsam ist vielmehr ein liebendes Hinhören, ein Hinhorchen auf Gottes Wort, das uns jeden Augenblick erreicht, ein Lauschen auf die Botschaft des Engels, der Stunde um Stunde zu uns spricht.

lm Wort «Gehorsam» selbst steckt die Bedeutung des intensiven Hörens. Das Gegenteil dieses Gehorsams ist Absurdität, vom lateinischen surdus, taub. Wir haben die Wahl zwischen liebevollem Zuhören oder einem Leben, in dem wir alles absurd, widersinnig finden. Diese Absurdität ist nicht außerhalb von uns, sie ist in uns. Wir sind nur taub, wenn wir nicht gehorsame Zuhörer sind. Wenn wir uns also das nächste Mal bei der Bemerkung ertappen: «Das ist absurd, so könnten wir uns die hilfreichere Frage stellen: «Wem oder was gegenüber bin ich hier taub?»

Ungehorsam ist weniger ein Unterlassen dessen, was wir nach besserem Wissen tun sollten, als vielmehr, nicht einmal auf das zu hören, was die Situation erfordert und wozu sie uns aufruft. Ein sturer Gehorsam kann ein Nicht-Hinhören sein. Einfach nur die Regeln einzuhalten verdient nicht, wahrer Gehorsam genannt zu werden. Alles, was geschieht, jede Situation, in der wir uns befinden, ob sie uns nun gefällt oder nicht, will uns etwas sagen. Wenn wir richtig darauf antworten, wird es lebensbejahend und lebensspendend für uns und andere sein. Solche Augenblicke sind entscheidend für unseren Charakter. Genau da findet eigentliche Moral statt. In jedem Augenblick haben wir die Wahl, aus ganzem Herzen und echt zu antworten oder uns zu drücken und unser wahres Selbst zu verraten. [ST 50f., Quelle: MS 5) 70f.]

[Ergänzend:

1. Der Mönch in uns (1981):

«Gehorsam heißt wörtlich «aufmerksames Horchen»; es kommt vom lateinischen ‹ob-audire›, aufmerksam horchen, oder wie es in der jüdischen Tradition heißt ‹sein Ohr entblößen›: Die Schläfenlocken müssen zurückgestrichen sein, um wirklich aufmerksam hören zu können. Das bedeutet Gehorsam im Alten Testament.

In vielen Formen, in vielen Sprachen ist das Wort für Gehorsam eine intensive Form des Wortes horchen, gehorchen, ‹audire›, ‹ob-audire›.

Anders ausgedrückt kann Gehorsam: ‹tun-was-einem-gesagt-wird› ein streng mönchisches Mittel sein, diesen Eigensinn zu überwinden, diese eigenen Ideen und eigenen kleinen Pläne. Dies ist eine Möglichkeit, all dies loszulassen und das Ganze anzuschauen und das Ganze zu lobpreisen, wie Augustinus sagt.

Aber das Entscheidende ist, das Horchen zu lernen.

Dabei kann es ein Hindernis sein, oft ‹den Willen eines andern zu tun›; dadurch wird man nur eine an Fäden gezogene Marionette. Im Hinblick auf Sinnfindung ist der Zusammenhang, in welchem wir die mystische Erfahrung sehen, sehr wichtig.

Wenn du etwas sinnlos findest, sagst du, es sei ‹absurd›. Aber wenn du ‹absurd› sagst, hast du dich verraten, denn der Ausdruck ‹absurdus› ist das genaue Gegenteil von ‹ob-audiens›.

‹Absurdus› bedeutet ‹absolut taub›.

Wenn du also sagst, dass etwas absurd ist, sagst du schlechthin ‹ich bin absolut taub für das, was mir dadurch gesagt werden will. Das Absolute spricht zu mir und ich bin völlig taub›.

Dabei ist hier gar nichts taub; Taubheit lässt sich nicht auf die Quelle des Klangs zurückführen. Du bist taub. Du kannst nicht hören.

Die einzige Alternative zu dem, was alle von uns in irgendeiner Lebensform haben, ist deshalb eine taube Haltung durch eine aufmerksam Horchende zu ersetzen. Um dabei ein wenig weiterzukommen, braucht es ein ganzes Leben.»

2. AH 1-2) 15; 3-5) 15 und Auf dem Weg der Stille (2016), 58f.]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

glaube b kraemer titelCopyright © - Barbara Krähmer

«Ich glaube»: Was heißt das eigentlich?

Nur in der Zusammensetzung «Ich glaube» enthüllt jedes dieser beiden Wörter seine volle Bedeutung: Glauben ist für das Ich, um das es hier geht, unendlich mehr als ein Für-wahr-halten; und nur das Ich, das in diesem Vollsinn glaubt, ist unser wahres menschliches Selbst.

Das kleine Ich ‒ unser Ego, das letztlich aus einer Täuschung entspringt ‒ kann bestenfalls etwas als tatsächlich anerkennen; glauben kann es nicht.

Und warum nicht? Weil der Glaube nicht eine Ansammlung von Behauptungen ist, die ein gläubiger Mensch für wahr hält; der Glaube ist vielmehr tiefstes, wagemutiges Vertrauen.

Sein Gegenteil ist nicht Zweifel, sondern Furchtsamkeit.

Angst und Furchtsamkeit aber sind das Lebenselement des Ego, das der Selbsttäuschung des Abgetrenntseins vom Ganzen sein Scheindasein verdankt. Kein Wunder, dass es in seiner Vereinzelung den Rest der Welt als drohend und beängstigend erlebt.

Unser wahres Ich ist im Ganzen des Seins eingebettet ‒ wovor soll es da Angst haben?

Wenn wir also sagen «Ich glaube» und beiden Wörtern ihre volle Bedeutung geben, treten wir damit in die Größe und Tiefe wahren Menschseins ein.

Das Glaubensbekenntnis, das mit den schwerwiegenden Worten «Ich glaube» beginnt, spricht zwar in der Formensprache der christlichen Tradition, jedoch mit der Stimme einer Spiritualität, die Gemeingut aller Menschen ist.

Jede der unterschiedlichen spirituellen Traditionen eröffnet uns ihren je eigenen Zugang zum wahren Menschsein.

Je mehr wir den Weg dahin finden, umso freier werden wir durch die verschiedenen Zugänge ein- und ausgehen, ohne uns an Fremdartigen zu stoßen oder an Vertrautes zu klammern.

Wenn wir in uns gehen und uns fragen, was uns auf dieser Ebene des An-etwas-Glaubens am schwersten fällt, dann werden wohl viele von uns zugeben müssen:

Das Schwierigste ist es, an die Liebe eines anderen Menschen wirklich zu glauben. Ja, es gibt Liebesbeweise und Proben, an denen sich die Liebe eines Anderen zeigt, aber letztlich müssen wir uns doch darauf verlassen. Es kommt alles auf dieses Sich-verlassen an.

Und damit weist die Sprache schon hin auf den entscheidenden Punkt:

Was wir verlassen müssen, ist unser kleines Ich, das sich in die Illusion des Abgetrenntseins verkapselt; und wir verlassen uns auf etwas ‒ bewegen uns auf etwas anderes hin ‒, nämlich auf unser großes Selbst, in dem DU und ICH eins sind, obwohl sie unterschieden bleiben.

«Ich bin durch dich so ich» (E. E. Cummings.)

Nur einem DU gegenüber hat es überhaupt Sinn, Ich zu sagen.

Dass ein DU mir vertraut, macht mein Selbstvertrauen erst möglich.

Die Begegnung von ICH und DU ist der Quellgrund, aus dem gläubiges Vertrauen entspringt.

Ich werde ich, indem ich dir vertraue.

Das ICH, das diesem Vertrauten entstammt, glaubt eben; es ist unser wahres Selbst, das Ich, das im Credo sagt: Ich glaube.

Und du, Leserin oder Leser? Wann und wie bist du diesem Paradoxon begegnet? Krame nicht in deinen Erinnerungen nach äußerlich auffallenden Erlebnissen. Unter denen wirst du kaum finden, worum es hier geht. Vielleicht hat auch dich ein spielerischer Augenblick in deinerer Kindheit jenen tiefen Glauben erleben lassen, den man nie vergisst, oft vernachlässigt, aber doch jederzeit neu erwecken kann. [CG 1-2) [18-24]

[Ergänzend:

1. Orientierung finden (2021), 73-75:

«Das Wesentliche an Religiosität ‒ und daher auch das Herzstück jeder Religion ‒ ist der Glaube.

Glauben ist aber ein häufig missverstandenes Schlüsselwort. Das kommt davon, dass dieses Wort im alltäglichen Sprachgebrauch zwei ganz verschiedene Bedeutungen haben kann.

Einerseits drückt es meine Meinung aus, etwa in dem Satz «Ich glaube, dass es morgen regnen wird.»

Es kann aber auch mein Vertrauen ausdrücken, z. B. wenn ich sage ‹Ich glaube an das Gute im Menschen.›

Im religiösen Sprachgebrauch drückt ‹glauben› nicht meine Meinung aus, sondern mein Vertrauen.

Glauben ‒ im spirituellen Sinn ‒ heißt nicht ‹etwas für wahr halten›, sondern sich vertrauend ‹auf etwas oder jemanden verlassen.›

Diese Unterscheidung wird gewöhnlich übersehen, wenn jemand die Frage ‹Glaubst du an Gott?› nicht anders stellt als etwa die Frage ‹Glaubst du an Gespenster?› Gibt es sie oder nicht? Es geht hier um bloße Meinung. Der Glaube an Gott jedoch ist nicht Behauptung einer Meinung, sondern Ausdruck von tiefstem Vertrauen.

Wie wir gesehen haben, drückt das Wort ‹Gott› unsre persönliche Beziehung zum großen Geheimnis aus.

Dass wir mit unsrem ganzen Sein auf das Geheimnis bezogen sind, ist aber nicht Ansichtssache. Als ‹das, was wir nicht erfassen, aber doch verstehen können, wenn es uns ergreift› ‒ das ist ja unsre Definition von Geheimnis ‒, ist das Geheimnis eine Erfahrungstatsache.

Wie könnte also jemand fragen, ob es das Geheimnis ‹gibt›, wenn doch alles, ‹was es gibt›, auf das Geheimnis verweist?

Das Wort ‹Es› im Satz ‹Es gibt ...› steht ja für das Geheimnis, aus dem uns alles zufließt.

Das braucht man nur einzusehen. Aber man kann einen Schritt darüber hinauswagen und sich voll Vertrauen auf das Geheimnis verlassen.

‹Glaubst du an Gott?› heißt: ‹Schenkst du dem Leben und dem Geheimnis des Lebens Vertrauen?›

Diese beiden Fragen bedeuten genau das Gleiche. Aber die zweite Form der Fragestellung macht deutlich, dass es hier nicht um Meinung geht, sondern um Vertrauen.

Wir können dem Leben Vertrauen schenken oder uns fürchten.

Die Wahl zwischen diesen beiden Grundhaltungen steht uns frei.

Zu welcher Option wir neigen, erweist sich ganz praktisch an unsrem Lebensmut im Alltag.

Das Gegenteil von Glauben ist ja nicht Zweifel oder Unglaube, sondern Furchtsamkeit.

Letztendlich läuft alles darauf hinaus, entweder darauf zu bestehen, dass das Leben so sein müsste, wie wir es uns wünschen, oder uns der Strömung des Lebens, wie es ist, anzuvertrauen ‒ nicht aber willenlos wie Treibholz, sondern wie Fische, die mit jeder Bewegung hellwach der Strömung antworten. So wach antwortet der Glaube dem Geheimnis des Lebens.

Um dem Geheimnis des Lebens zu antworten, ist es nicht einmal nötig darüber nachzudenken, dass es da ist und uns trägt. Schließlich antworten wir ja auch mit jeder unsrer Bewegungen auf die Schwerkraft, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Wir können aber lernen, immer achtsamer zu werden für die Schwerkraft und uns immer mehr auf sie zu verlassen. Darin liegt der Unterschied zwischen unbeholfenem Stolpern und Tanzen.

So wie das Gleichgewicht ist auch das Vertrauen entwicklungsfähig.

Glauben im spirituellen Sinn heißt also letztlich, sich im alltäglichen Tun mutig zu verlassen auf das unergründliche, unerschöpfliche und unaufhaltsam dynamische Geheimnis des Lebens, das alles durchwirkt.

Es heißt also, sich mit radikalem Vertrauen auf das Abenteuer der Wirklichkeit einzulassen ‒ und zwar der ganzen ‒ sowohl der inneren als auch der äußeren Wirklichkeit. [Orientierung finden (2021), 73-75]

2. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 82, 88, [bzw. Fülle und Nichts (2015), 81, 86f.:

«Es mag überraschend sein, aber gerade diese Bedeutung von Glaube wird von der authentischen christlichen Tradition bezeugt. In den Evangelien, so sagen uns die Sprachgelehrten, gibt es keine einzige Stelle, in der das griechische Wort für ‹Glaube› Überzeugungen bedeutet.

Wenn Jesus beispielsweise den ‹Glauben› des römischen Beamten bewundert, dann heißt das, dass er beeindruckt ist von dem tiefen Vertrauen des Mannes, und nicht etwa von dessen religiösen Überzeugungen. Und als Jesus die Jünger für ihren ‹Mangel an Glauben› tadelt, da meint er ihren Mangel an mutigem Vertrauen; es war keine Rüge für den Abfall von einem oder dem anderen Glaubenssatz.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: ein Glaubensbekenntnis existierte noch gar nicht. Glaube bedeutete das mutige Vertrauen auf Jesus und die frohe Botschaft, die er lebte und predigte. Später zwar sollte sich dieses Vertrauen zu expliziten Glaubenssätzen kristallisieren. Der Ausgangspunkt aber ist vertrauender Mut, nicht ein für wahr halten, sondern Glaube schlechthin.»

«Jener ursprüngliche Herzensmut, den wir aus Momenten aufrichtiger Dankbarkeit kennen, kommt vollendetem Glauben im biblischen Sinne näher, als wir erhofft hätten. Es ist jedoch eine Sache, jenen Glauben in einem enthusiastischen Augenblick zu erleben, eine ganz andere aber, unseren Mut im Wellengang des täglichen Lebens ‹seetüchtig› zu erhalten. Dies ist der Punkt, an dem unsere Glaubensüberzeugungen ins Spiel kommen. Sie sollen helfen, unseren Glauben über Wasser zu halten, sollen unseren Mut erneuern. Bedauerlicherweise erfüllen unsere Überzeugungen diese Funktion häufig nicht. Anstatt unseren Glauben wieder aufzurichten, ziehen sie ihn oft in die Tiefe.»

3. Audio-Vorträge:

3.1. Audio-Vorträge Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010): Im Oktober 2010 stellte Bruder David sein neues Buch «Credo: Ein Glaube, der alle verbindet» in Vorträgen in Freiburg im Breisgau, München und Wien vor. In jedem Vortrag geht es um den einen tiefen, existenziellen Glauben der uns alle verbindet.

Bruder David im Vortrag in Wien am 27. Oktober 2010:

(11:31) «Credo: Das lateinische Wort kommt von zwei Wurzeln her; das eine ist Cor ‒ das Herz ‒, und das andere do, dare ‒ ‹ich gebe› ‒ ‹ich schenke mein Herz.› Wer also Credo sagt, der sagt nicht: ‹Ich glaube an etwas, was man glauben kann oder nicht glauben kann.›

Es heißt: ‹Ich drücke mein tiefstes Vertrauen aus. Ich setzte mein Herz auf das, was ich jetzt da aussprechen werde. Ich verlasse mich vollkommen darauf. Ich verlasse mich.›

Worauf kann ich mich denn wirklich letztlich verlassen? Das ist die Grundfrage, wenn es um den Glauben geht.»

«Wir müssen lernen, unsere Überzeugungen weniger wichtig zu nehmen als die Urgebärde gläubigen Vertrauens. Glaubensüberzeugungen haben die Kraft, uns zu entzweien, Glaube aber hat die noch größere Kraft, uns zu einen (CG 1-2) 31)»

3.2. Audio-Vortrag Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (Mitschrift) (2010), 9:

(43:06) «Die Glaubenssätze sind Sätze, in denen sich der Glaube ausdrückt, im Laufe der Tradition, zu verschiedenen Zeiten, ganz verschieden; die vertragen sich nicht miteinander, da sie sich ganz verschieden voneinander verhalten.

Wir können aber durch diese (Glaubenssätze), weil sie eben Ausdrücke des Urglaubens sind, zu diesem Urglauben durchstoßen.

Und dieser Urglaube ist das Vertrauen auf das Leben.

Das ist uns eingegeben. Das haben wir als Menschen.

Wir vertrauen dem Leben. Ob wir jetzt Buddhisten, Christen, Hindus, Atheisten, Agnostiker sind, alle ‒ jeder Mensch ‒ hat dieses tiefe Vertrauen auf das Leben, als Mitgift.

Und dieses Lebensvertrauen, das ist der Urglaube.

Manchmal wird dieser sehr schwach, wenn wir enttäuscht sind, wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, im Laufe des Lebens. Das kann große Schmerzen und Verhärtungen geben.

Aber tief im Innersten haben wir alle diesen Glauben. Und dieser Glaube hat Kraft und Wärme genug, um das Eis der ‹–ismen› (Dogmatismus, Ritualismus, Moralismus) zu schmelzen.»

3.3. Audio-Vortrag Glaube und Glaubenszweifel (2003)
Vortrag:
(38:29) «Unsere Angst und der Zweifel zeigt uns nur, wie hoch wir schon im Glauben gekommen sind, unser Glaube erzeugt den Zweifel wie ein Radfahrer den Gegenwind: Solange der Glaube noch eine Nasenlänge voraus ist, kann der Zweifel gar nicht groß genug sein.»

3.4. Im Eröffnungsvortrag ‚Stärke unsern Glauben‘ (Lk 17,5) im Retreat-Woche in Assisi: weist Bruder David hin, wie glauben innigst verbunden ist mit loben, geloben, bezeugen, tragen und getragen werden ‒ die Wahr-Empfangende Seite des Glaubens. Wir müssen diese Seite des Glaubens wieder entdecken und leben. Sie ist uns verloren gegangen durch die Überbetonung der Seite, die begreifen, wahr-nehmen, besprechen, versprechen, wahr-halten will.]


Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

gott barbara kraemer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn wir Probleme mit den Begriffen «Erfahrung» und «gemeinschaftliche Verbundenheit haben», so werden sie sich am ehesten einstellen, wenn wir auf die «letzte Wirklichkeit», das Göttliche oder Gott, zu sprechen kommen.[1]

Wir können Missverständnisse vermeiden, wenn wir von der letzten Wirklichkeit statt von Gott sprechen.

Alle diejenigen, die mit dem Wort Gott etwas verbinden können, werden mir sicherlich zustimmen, dass Gott die letzte Wirklichkeit ist.

Es gibt aber viele, denen das Wort Gott Unbehagen bereitet, und häufig aus gutem Grund.

Wenn wir aber über christliche Mystik sprechen, dann müssen wir uns früher oder später mit dem Gottesbegriff auseinandersetzen, also warum nicht jetzt gleich?

Wir dürfen dabei nicht von dem ausgehen, was ein anderer uns über Gott erzählt hat. Wir müssen Gott von innen wiederentdecken.

Dort entdecken wir Gott als den, zu dem wir gehören. Das ist alles.

Noch ehe wir etwas über Gott wissen, kennen wir ihn.

Dies gilt für jeden von uns. Wir kennen Gott als denjenigen, zu dem wir gehören. Jeder, der das Wort «Gott» richtig benutzt, benutzt es in diesem Sinn.

Würde es in irgendeinem anderen Sinn benutzt, so können Sie selbst darüber urteilen, wie es benutzt wird, denn Sie kennen Gott aus Erfahrung. Jeder von uns kennt Gott aus seiner Erfahrung.

Das Wort «Gott» ist lediglich so etwas wie ein Etikett, wir brauchen es eigentlich nicht. Wir könnten unentwegt über Religion sprechen, ohne jemals das Wort Gott zu benutzen.

Es kann aber hilfreich sein.

Es verbindet unsere eigene Erfahrung mit all den theistischen Traditionen.

Wir müssen aber bei unserer eigenen Erfahrung ansetzen, und da hilft es, diese Erfahrung mit dem zu verknüpfen, was Millionen von Menschen auf dieser Welt in den theistischen Traditionen erfahren und worüber sie gesprochen haben. So können wir von dem profitieren, was andere erfahren haben.

Sie können Ihre eigene Erfahrung mit der Erfahrung anderer vergleichen, wenn Sie im Besitz dieses Schlüsselwortes sind.

Lassen Sie aber nicht zu, dass Ihnen jemand diesen Begriff Gott mit allerlei Bedeutung befrachtet näherbringen will.

Entdecken Sie den Inhalt dieses Begriffs selbst!

Ich möchte Ihnen nun gerne die kurze Schilderung einer dieser Entdeckungen Gottes vorlesen. Sie steht in der Autobiografie von Mary Austin.

Es ist erstaunlich, wie oft man eine solche Erfahrung am Beginn einer Autobiografie findet, und es ist wichtig, dass Sie selbst sie in Ihrer eigenen Autobiografie finden.

Mary Austin erzählt: «Ich muss zwischen fünf und sechs Jahre alt gewesen sein, als mir dieses Erlebnis widerfuhr. Es war an einem Sommermorgen, und das Kind, das ich damals war, spazierte allein hinunter durch den Obstgarten, bis es schließlich an den oberen Rand eines Hügelabhangs kam, wo das Gras wuchs, der Wind wehte und ein großer Baum sich in das unendliche Blau emporreckte.

Dann ganz plötzlich, nach einem Augenblick der Ruhe, bildeten Erde, Himmel, Baum, windzerzaustes Gras und das Kind inmitten von all dem in einem pulsierenden Bewusstseinsstrahl eine lebendige Einheit.

Bis zum heutigen Tag kann ich mich an dieses schwerelose Bewusstsein erinnern, das alles für das Ganze empfand ‒ ich in all dem und all das in mir und wir alle zusammen in einer warmen, leuchtenden Hülle von Lebendigkeit.»

Jetzt kommt aber die Stelle, derentwegen ich Ihnen das Ganze vorlese. Mary Austin beschreibt nämlich auf wunderbare Weise die Entdeckung Gottes.

«Ich erinnere mich, wie sich das Kind überall nach dem Ursprung dieses glücklichen Wunders umsah und zuletzt fragend sagte: ‹Gott?›, denn dies war das einzige Ehrfurcht gebietende Wort, das es kannte.»

Wir haben hier also zwei Augenblicke. Zunächst die Entdeckung Gottes ‒ und dann seine Benennung.

Die Erfahrung ist die wahre Entdeckung. Dann ist da dieses ehrfurchtgebietende Wort, das nirgends sonst passt.

Versuchen Sie nun selbst, dieses Wort auf Ihre eigene Erfahrung anzuwenden. Sie fragen sich selbst ‒ und das ist das erste Stadium ‒ «Gott?»

Könnte diese Erfahrung irgendetwas mit Gott zu tun haben?

Und dann: «Tief in seinem Inneren hörte es wie fernes Glockengeläute die Antwort ‹Gott, Gott›.»

Das bedeutet schlicht «Okay, es passt.» Versuchen wir es mit diesem Wort.

«Wie lange dieser unbeschreibliche Augenblick anhielt, habe ich nie gewusst. Er platzte wie eine Seifenblase, als ein Vogel plötzlich zu singen anfing. Und der Wind wehte und die Welt war dieselbe wie immer ‒ nur nie mehr ganz dieselbe.»[2]

Dies ist eine Entdeckung, das Überschreiten einer Bewusstseinsgrenze.

Von hier gibt es kein Zurück.

Sie haben etwas entdeckt, das Sie von nun an für immer erforschen können.

Die Mystik ist «die Erforschung Gottes».

Christopher Fry hat diesen Ausdruck geprägt. In seinem Theaterstück «A Sleep of Prisoners» sagt er:

«Affairs are now soul-sized,
the enterprise is exploration into God.»

«Alles dreht sich jetzt um die Seele,
das Ziel der Unternehmungen ist die Erforschung Gottes.»

Das ist es, worum alles im Leben geht: die Erforschung Gottes.

Es ist wie das Öffnen der Augen.

Da ist es, das Land, zu dem ich gehöre, da bin ich zu Hause.

Und nun kann ich den Rest der Ewigkeit damit verbringen, dieses Territorium zu erforschen.

Dies ist der Punkt, in dem die religiösen Traditionen zusammenlaufen.

Sie gehen alle von der mystischen Erfahrung  aus.

Es gibt keine einzige religiöse Tradition auf dieser Welt, die einen anderen Ausgangspunkt hat. [Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 174-176]

Soweit ich zurückdenken kann, hatte ich gelernt, mir Gott nicht als weit entfernt, sondern als näher als nah vorzustellen. Ich muss vier oder fünf gewesen sein, als ich einmal völlig außer Atem vom Garten in die Küche gerannt kam und verkündete, dass ich gerade den Heiligen Geist gesehen habe, wie er etwas in den Himmel geschrieben habe. Es stellte sich dann als Werbung für ein Seifenpulver heraus, die ein Flugzeug so hoch droben in den Himmel geschrieben hatte, dass es genauso aussah wie die weiße Taube im Fresko der Heiligen Dreifaltigkeit, das auf unserer Kirchendecke gemalt war. Etwa zur gleichen Zeit, kurz vor Weihnachten, wenn österreichische Kinder darauf warten, dass das Christkind ihnen Geschenke bringt, erspähte ich eines Morgens einen winzigen Faden goldenen Lamettas auf dem Teppich, und nichts hätte mich davon überzeugen können, dass das nicht ein goldenes Haar war, das das Christkind verloren hatte. Die Schauer von Ehrfurcht und inniger Zuneigung, die mich durchliefen, sind in meiner Erinnerung immer noch lebendig.

Diese kindlichen Missverständnisse waren nichts desto weniger wahrhaftige religiöse Erfahrungen. Was für sie entscheidend war, bleibt:

Ein Gefühl der Nähe Gottes, Es blieb nicht nur, sondern es nahm an Weite und Tiefe immer mehr zu. Nähe ist dafür ein viel zu geringes Wort.» [ST 60, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]

[Ergänzend:

1. GOTT, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 141:

«Gott ist eine Bezeichnung für das Große Geheimnis. Da das Wort ‹Gott› von einer Wortwurzel herstammt, die ‹rufen› bedeutet, verwenden wir es, wo unsere Beziehung zum Großen Geheimnis ‒ als dem Angerufenen oder dem uns Anrufenden ‒ betont werden soll.»

2. GOTT in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 171f.; 2-5) 175; 6) 174):

«Da dieses Buch Erfahrung voraussetzt und an Erfahrung appelliert, ist Gott hier nur insofern von Bedeutung, als das Göttliche erfahrbar ist.

‹Ruhelos ist unser Herz›: dies ist eine grundsätzliche menschliche Erfahrung. Augustinus fährt mit dem Satz fort: ‹Ruhelos, bis wir in Gott Ruhe finden›.

Dies setzt aber nicht voraus, dass wir Gott unabhängig von dem Durst unseres Herzens schon kennen. Vielmehr erfahren wir Gott gerade in der Ruhelosigkeit unseres Herzens.

Und der Richtung unserer ruhelosen Sehnsucht geben wir den Namen Gott.

Indem unser Herz auf dem Weg Eindrücke der göttlichen Landschaft sammelt, können wir langsam ein bisschen über Gott erkennen, besonders dann, wenn wir auch den großen Erforschern Gottes zuhören.

Worauf es jedoch ankommt, sind niemals Erkenntnisse über Gott, sondern Erkenntnis Gottes ‒ als dem magnetischen Norden des menschlichen Herzens unterwegs.»

3. Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004):

Themen dieses Audios mit weiterführenden Links:

3.1. (25:11) «Dieses Gottesbild, das jedem Menschen zugänglich ist, ist nicht theistisch»:
In Von Eis zu Wasser zu Dampf: im Wandel der Gottesvorstellungen: Was schätze ich am Christentum? (2003) schreibt Bruder David über seinen eigenen Erfahrungsweg, die christliche Gottesidee in ganz neuem Licht zu sehen und zu würdigen:

«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach: Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig. Dass er von Gott als ‹Vater› spricht, schafft Raum für liebende Beziehung, trennt aber nicht; für semitisches Empfinden sind Vater und Sohn eins. ‒ So unausrottbar war jedoch der Theismus, dass der geistige Durchbruch Jesu wie ein Leck im Boot verstopft wurde, um so schnell wie möglich den Status quo wiederherzustellen. Die Lehre Jesu musste uminterpretiert und dem theistischen Weltbild eingefügt werden. Wir dürfen, was sich da ereignete, als geistesgeschichtliche Katastrophe betrachten, es steht uns aber auch frei, es positiv zu sehen, dass in den Dogmen, die uns die Kirchenväter hinterließen, wirklich die bahnbrechende Gotteserfahrung Jesu enthalten ist, wenn auch in beinahe unkenntlicher Form.»

3.2.: (28:40) «So wurde es uns dargestellt»:
In An welchen Gott können wir noch glauben (2008) schreibt Bruder David:

«Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen. Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht: Wort, Schweigen und Verstehen.»

3.3.: (42:04) «Jesus war ja nicht göttlich, trotzdem er Mensch war ‒ er war göttlich, weil er Mensch war»:
Im Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel (2003) hören wir:

«Wir sind uns selbst so abgründig, dass die tiefste Tiefe unseres eigenen Lebens göttlich ist.
Sehen sie den Umschwung von einem Gottesbild, in dem Gott da draußen ist, und dann der Sohn Gottes irgendwie in unsere Welt, die ganz von Gott getrennt ist, hereinkommt, und nur er ist natürlich Gott und wir müssen uns dann irgendwie damit auseinandersetzen?»

Der Vortrag schließt mit: «Der Zweifel gehört zu dem Glauben, in dem man sich auf Gott verlässt: Ich mich verlasse auf Gott hin. Zweifel im Sinne von Angst zum Beispiel: Zweifel ist eine Form von Angst. Und dieser Zweifel soll uns nicht stören, er gehört zum Glauben dazu; … wenn ich auf eine hohe Leiter hinaufklettere, wird die Angst immer größer: Unsere Angst und unser Zweifel zeigt uns nur, wie hoch wir schon im Glauben gekommen sind.»]

______________________

[1] Bruder David bezieht sich auf seine Arbeitsdefinition in Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 171f.: «Mystik im weitesten Sinn ist definiert als ‹Erfahrung der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit der letzten Wirklichkeit›.» und geht nach den beiden Bestandteilen der Definition «Erfahrung» und «gemeinschaftliche Verbundenheit», auf die «letzte Wirklichkeit» ein.

[2] Aus Michael Paffard: «The unattended Moment», SCM Press Ltd., London 1976



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

grosszuegigkeit b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

In fast jeder Situation haben wir die Wahl: geizig oder großzügig zu sein. Das habe ich selbst oft beim Trinkgeldgeben erlebt. Nie hat es mich gereut, etwas zu viel Trinkgeld gegeben zu haben, auch wenn die Bedienung zu wünschen übrigließ. Vielleicht war sie nicht so gut, weil der überforderte Kellner oder die Kellnerin eine Aufmunterung brauchte. Der Gedanke, dass ein Trinkgeld den Tag eines anderen aufhellen und ihn vielleicht sogar zum Guten wenden kann, hat mir immer gefallen. Großzügigkeit kann auf gesunde Art anstecken. Derjenige, der etwas bekommt, spürt auch, dass es dabei nicht um ein bloßes quid pro quo Tauschgeschäft geht. Großzügigsein schafft eine heiligere Atmosphäre, ein Gefühl, dass die Welt uns unerwartet segnet, oft auf eine Weise, die wir offensichtlich nicht verdienen. Und das trifft natürlich auf unser ganzes Leben zu. Wir können auch großzügig sein mit unserem Mitgefühl. Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen übermittelt werden kann. Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet. Das schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein Gefühl, dass wir Schwestern und Brüder sind in dieser Welt, in unserem gemeinsamen Zuhause.
[ST 61, Quelle: MS 5) 60f.]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

herz titel b kraehmerCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn Liebende einander sagen: «Mein Herz gehört dir», dann meinen sie nicht: «Dir gehört ein Teil von mir.» Nicht einmal der beste Teil reicht dann aus. Was sie ausdrücken möchten ist, dass sie bereit sind, sich selbst zu geben, sich ganz zu geben, ihr ganzes Wesen. Mehr noch: das Herz ist kein statisches Symbol. Es ist dynamisch, lebendig. Das Herz ist der pulsierende Kern unserer Lebendigkeit in mehr als einem bloß körperlichen Sinn. «Mein Herz gehört dir» zu sagen, heißt «mein Leben gehört dir». Dankbarkeit ist volle Lebendigkeit, und eben diese Lebendigkeit wird im Symbol des Herzens zusammengefasst. All meine Vergangenheit, meine zukünftigen Möglichkeiten ‒ dieser Herzschlag in eben diesem Moment hält all das zusammen.

Wenn wir vom Herzen sprechen, lautet das Schlüsselwort «eins». Herz bedeutet jene Mitte unseres Seins, in der Intellekt und Wille und Gefühle, Geist und Körper, Vergangenheit und Zukunft eins werden. Wenn wir den Punkt entdecken, an dem unser Leben eins wird, dann entdecken wir das Herz. [ST 64, Quelle: FN 1) 27; 2-5) 29; 6) 31f.]

Finden wir unser Herz wirklich, dann finden wir jenen Bereich, in dem wir auf das Engste mit uns selbst, mit allen anderen und mit Gott eins sind. Und die erstaunlichste Entdeckung ist die, dass in der Tiefe meines Herzens, um es mit den Worten Augustinus' zu sagen, «Gott mir näher ist als ich mir selbst».

Wenn die Bibel uns erzählt, wie Gott uns Menschen erschafft, indem er uns Leben einatmet, dann wird diese intime Kommunion mit Gott als der Kern unseres Menschseins betrachtet. Es ist das Herz, wo wir Gott treffen. Gott zu treffen aber bedeutet Gebet. Und somit wissen wir jetzt ein weiteres über das Herz: Es ist unser Treffpunkt mit Gott im Gebet. Das Gebet aber ist das Herz der Religion.
[ST 64f., Quelle: FN 1) 31; 2-5) 33; 6) 35]

Staunen bedeutet, mit den Augen des Herzens zu sehen. Und durch Konzentration im Gebet sammeln wir uns in jener Herzensmitte, aus der jede echte Antwort entspringt. Das Herz ist hier wieder von zentraler Bedeutung. Aus unserer Sicht verbindet das Herz Gebet und Dankbarkeit. Das Herz sieht voller Staunen, dass diese gegebene Welt und alles, was wir in ihr finden, letztlich Geschenk ist. Auf diesen Geschenkcharakter aller Dinge antwortet das Herz mit Danken, Preisen und Segnen. [ST 65, Quelle: FN 1) 68; 2-5) 71; 6) 72]



Quellenangaben

 

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

mystische erfahrung titelCopyright © - Georg Stahl

Vergegenwärtigen Sie sich einen Augenblick, in dem Sie, wie sonst kaum, das Leben als sinnvoll empfanden, einen Augenblick, von dem Sie sagen würden:

«Für diese Erfahrung lohnt es sich zu leben.»

Das wäre eine Art kleinster gemeinsamer Nenner. Sie müssten sich sagen können:

«In diesem Augenblick hatte das Leben einen Sinn.»

Selbst wenn Sie sich sagen sollten: «Die meiste Zeit kommt mir das Leben sinnlos vor», so gab es sicherlich einen Augenblick, in dem es Ihnen sinnvoll erschien. Das ist der Augenblick, an den wir anknüpfen wollen.

Für manche ist ein solcher Augenblick etwas sehr Seltenes. Ein anderer bzw. eine andere wird sich vielleicht sagen: «Ich weiß gar nicht, welchen Augenblick ich mir aussuchen soll, ich habe diese Art von Erfahrung sehr häufig, ja ich werde von solchen Erfahrungen geradezu überschüttet, vielleicht fünfzehnmal am Tag.»

Nun, das ist für unsere weitere Betrachtung egal. Wichtig ist, dass Sie sich an einen Augenblick erinnern, in dem Ihnen das Leben sinnvoll erschienen ist. Dieser Augenblick soll uns als Ausgangspunkt dienen.

Um den Erinnerungsprozess anzukurbeln, werde ich Ihnen jetzt eine kurze Textstelle vorlesen, mit der viele von Ihnen vertraut sein dürften. Sie stammt aus Eugene O'Neills bekanntem Theaterstück «Eines langen Tages Reise in die Nacht.»

Man braucht das Stück oder die Handlung nicht zu kennen, um diese Stelle richtig zu verstehen. Einer der Hauptakteure, Edmund Tyrone, erzählt seinem Vater James von einem Erlebnis, das die oben angesprochene Erfahrung veranschaulicht. Edmund ist zu diesem Zeitpunkt leicht angetrunken, was ihm das Reden darüber erleichtert.

Stellen Sie fest, ob das, was Edmund sagt, nicht etwas in Ihnen wachruft.

«Du hast mir da ein paar Höhepunkte aus deinen Memoiren erzählt. Willst du meine hören? Sie haben alle mit dem Meer zu tun. Ich will dir erzählen. Von damals, als ich auf der Squarehead, die nach Buenos Aires auslief, Matrose war.

Vollmond! Der alte Kahn macht vierzehn Knoten. Ich liege vorne am Bugspriet, schau achtern aus, das Wasser schäumt unter mir, und die Maste über mir türmen sich hoch auf mit ihren weißen Segeln im Mondlicht. Ich war wie trunken von all der Schönheit und dem singenden Rhythmus des Ganzen.

Für einen kurzen Augenblick verlor ich mich selbst ‒ wirklich, ich verlor mein Leben. Ich war befreit, war frei! Ich löste mich auf in Meer, wurde weißes Segel und fliegende Gischt, wurde Schönheit und Rhythmus, Mondlicht und das Schiff und der hohe mit Sternen übersäte, verschwimmende Himmel. Ich gehörte, ohne Gegenwart und ohne Zukunft, mit hinein in den Frieden und die Einheit und in eine wilde Freude, in etwas, das größer war als mein eigenes Leben, größer als das Menschenleben überhaupt, ich gehörte zum Leben selbst! Zu Gott, wenn du willst ...

Und dann noch ein paarmal sonst in meinem Leben, wenn ich weit ins Meer hinausgeschwommen war oder allein an einem Strand lag, habe ich dasselbe Erlebnis gehabt.

Ich wurde die Sonne, wurde der heiße Sand, der grüne Seetang am Fels verankert, auf- und abschwingend mit Ebbe und Flut. Wie die Vision eines Heiligen vom Glück kam es über mich. Wie wenn eine unsichtbare Hand den Schleier weggezogen hätte von den Dingen. Für eine Sekunde sieht man ‒ und wenn man das Geheimnis erkennt, ist man selbst das Geheimnis.

Für einen Moment ist Sinn! Dann lässt die Hand den Schleier fallen, und man ist wieder allein, verloren im Nebel und stolpert weiter, irgendwohin, ohne zu wissen warum.»

Bei manchen Worten müsste es in unserem Inneren klingeln.

Das ist das Großartige daran, wenn ein Dichter spricht:

Die Schlüsselworte sind alle da: «Ich verlor mich selbst.»

Vielleicht ist dies die einzige Stelle, bei der Sie sagen können: «Ich weiß, wovon er spricht. In diesem Augenblick verlor ich mich selbst.»

Oder, wie es T. S. Eliot ausdrückt:

«Verloren in einem Strahl von Sonnenlicht.»[1]

Sie sehen diesen Strahl von Sonnenlicht hinter einer Wolke hervorkommen, und während Sie dies sehen, verlieren Sie sich selbst.

Sie blicken in die Augen einen anderen Menschen, und Sie versinken darin, verlieren sich in ihnen.

«Ich verlor mich selbst.»

Oder eine andere Stelle: «Ich war befreit.»

Für einen Augenblick war ich befreit. Es war, als käme ich aus einem Käfig. Die meiste Zeit befinde ich mich in einem Käfig, in meinem eigenen Käfig. Ich selber bin es, der mich einsperrt. Aber einen Augenblick lang trete ich aus diesem Käfig heraus, bin ich frei. Aus irgendeinem unbekannten Grund gehe ich wieder in den Käfig hinein. Vielleicht fühle ich mich darin sicherer.

Wir alle aber haben Augenblicke, in denen wir aus dem Käfig heraustreten. «Ich war befreit.»

Oder nehmen wir eine andere Schlüsselstelle: «Ich löste mich auf in Meer, wurde weißes Segel.»

Ich löste mich auf in das, was ich sah. Ich wurde eins mit allem, was ich sah. Dies ist ein häufiger Aspekt unserer mystischen Erfahrung.

«Ich gehörte zu dem Ganzen dazu.»

Dies mag für das Beschreiben einer mystischen Erfahrung mit am bedeutendsten sein.

Die meiste Zeit haben wir das Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören, außerhalb zu sein. Da ist diese wunderbare Welt, dieses wunderbare Leben, und wir sind dem allen irgendwie entfremdet, sozusagen Außenstehende.

Doch einen Augenblick lang gehören wir dazu. Wir sind Teil dieses großen Tanzes. Jeder, alles heißt uns willkommen.

«Ich gehörte, ohne Gegenwart und ohne Zukunft, mit hinein.»

Dies ist ein weiterer Aspekt unserer mystischen Augenblicke: Die Zeit scheint nicht mehr zu existieren. Sie steht still.

Es ist das, was Eliot «einen Augenblick in und außerhalb der Zeit» nennt. Wir befinden uns in der Zeit und gleichzeitig auch außerhalb von ihr.

«Ich gehörte ... mit hinein in den Frieden und die Einheit und in eine wilde Freude, in etwas, das größer war als mein eigenes Leben, größer als das Menschenleben überhaupt ... Zu Gott, wenn du willst.»

[Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution  (1988), 169-171]

[Ergänzend:

1. MYSTISCHE ERFAHRUNG in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]:
Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 170f.; 2-5) 174; 6) 173):

«Wenn wir darunter eine Erfahrung des Einsseins mit der Höchsten Wirklichkeit verstehen, dann haben wir eine brauchbare Arbeitsdefinition von mystischer Erfahrung. Wir tun recht daran, wenn wir den Terminus ‹Gott› nicht mit einbeziehen. Nicht alle Menschen fühlen sich wohl dabei, die Höchste Wirklichkeit ‹Gott› zu nennen. Aber gleich welche Terminologie, alle von uns können Momente überwältigender, grenzenloser Zugehörigkeit, Augenblicke universellen Eins-seins  erfahren. Das sind unsere eigenen mystischen Momente. Die Männer und Frauen, die wir Mystiker nennen, unterscheiden sich vom Rest von uns lediglich dadurch, dass sie jenen Erfahrungen den Raum geben, der ihnen in unser aller Leben zusteht. Was zählt, ist nicht die Häufigkeit oder Intensität mystischer Erfahrungen, sondern der Einfluss, den wir ihnen auf unser Leben einräumen. Indem wir unsere mystischen Momente mit allem, was sie bieten und verlangen, zulassen, werden wir die Mystiker, die wir sein sollen. Schließlich ist der Mystiker keine besondere Art Mensch, sondern jeder Mensch eine besondere Art Mystiker.»

2. Fortsetzung des Textes Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 171-176:

Bruder David definiert darin Mystik im weitesten Sinn als die «Erfahrung der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit der letzten Wirklichkeit» und geht auf die Hauptbestandteile dieser Definition ein: «Erfahrung», «gemeinschaftliche Verbundenheit», «letzte Wirklichkeit». Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Wort «Gott»  im Zusammenhang mit der «letzten Wirklichkeit».

3. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis  ‒ jede mystische Erfahrung ‒ paradox wahrnehmen und ausdrücken:

«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins»: Allein ‒ All-Eins
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben»: Ja-sagen

Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger.

4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Audio: Mystische Erfahrung ‒ Anstoß zur Praxis dankbaren Lebens und Audio: Wir alle haben diese Gipfelerlebnisse
]

 _______________________

[1] «For most of us, there is only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
                                            sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.»

«Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
                                          Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.»

_______________________

T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]



Quellenangaben

Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

angst b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

(Video-Film 00:00) Geburt gilt überall in der Welt als ein freudiger Anlass; und sie ist es auch. Aber wir wollen nicht vergessen, um welchen Preis diese Freude erkauft werden muss, was beide, die Mutter und auch das Neugeborene, da durchleiden müssen.

Nachdem meine arme Mutter mit mir als Erstgeborenem mehr als 24 Stunden lang in Wehen lag, bis ich dann (nicht mit dem Kopf, sondern mit der rechten Hand zuerst) ans Tageslicht kam, hat das sicher auch mich allerhand gekostet und hat mein Lebensgefühl wohl entscheidend geprägt. Aber wir haben’s geschafft.

Ja, alle von uns dürfen rückschauend sagen: «Wir haben’s geschafft!» – rückschauend nicht nur auf unsere Geburt, sondern auf jede Lebenslage, die uns in die Enge trieb und uns Angst machte.

Angst und Enge sind ja im Deutschen wurzelverwandte Wörter und sicher nicht zufällig; unser menschliches Urerlebnis von Angst ist ja die Enge des Geburtskanals. Durch diese Enge gehen wir aber noch mit instinktiver Bereitschaft hindurch; erst später müssen wir mühsam erlernen, uns auf jede Angst so furchtlos einzulassen, wie uns das bei unserer ersten Angst spontan gelang.

Furchtlos ist da das entscheidende Wort.

Angst ist im Leben unvermeidlich; zwischen Furcht und Mut aber können wir wählen:

Furcht sträubt sich gegen die Angst (und bleibt so in der Enge stecken); Mut lässt sich voll Vertrauen auf die Angst ein (und findet so den Weg ins Weite). Mut nimmt dabei die Angst nicht weg; im Gegenteil: Wer nicht Angst hat braucht ja keinen Mut und hat auch keinen.

Wer aber mitten in der Angst aufs Leben vertraut, den führt das Leben durch jede Angst zu einer neuen Geburt. Zum Beweis genügt es, wenn wir zurückblicken auf die Engpässe unseres Lebens: Je drückender die Beängstigung, umso strahlender das überraschend Neue, das daraus hervorgeht. Es hilft mir, mich immer wieder daran zu erinnern.

Erinnerung an diese Lebenserfahrung kann uns allen helfen, besonders in Zeiten einer «großen Bedrängnis, wie sie nicht war vom Anfang der Welt bis jetzt.» (Mt 24,21).

Ja, Ängste bedrängen uns von allen Seiten und sie zu leugnen, wäre selbst Ausdruck eines furchtsamen Sträubens gegen nüchternes Hinschauen auf die gegebene Welt.

Was wir dennoch feiern dürfen ist unser Lebensvertrauen und den Lebensmut, der daraus aufblüht «mitten im kalten Winter.»

Das Kind, mit dem unsere Welt in Wehen liegt, ist eine ganze Menschheit mit neuem, höherem Bewusstsein. Diese Neugeburt verantwortungsbewusst und bereitwillig durchzustehen, darum geht es.

In großer Hoffnung auf das überraschend Neue, das nicht ohne unsere äußerste Anstrengung geboren werden kann und doch reines Geschenk ist, grüße ich Euch, Herz zu Herz, Euer Bruder David.

[Adventsbrief 2015; nachgesprochen auch als Video-Film (2020)]

[Ergänzend:

1. ANGST, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 129f.:

«Angst und Furcht sind zwei Wörter, die im sorgfältigen Sprachgebrauch nicht verwechselt werden sollten.

Angst lässt sich im Leben nicht vermeiden. Sie ist die unwillkürliche Reaktion auf Bedrohliches und löst körperliche Veränderungen aus. Dazu gehört ein Gefühl der Enge und Beengung in Brustkorb und Kehle. Diese Enge ‒ im Lateinischen «angustia» ‒ gibt der Angst ihren Namen.

Wir können nun durch die Bedrohung, die Angst auslöst, mutig hindurchgehen; wir können aber auch innerlich Widerstand leisten und uns innerlich sträuben.

Das Sträuben gegen die Angst heißt Furcht.

Was den Unterschied zwischen den beiden ausmacht, ist das Lebensvertrauen, auf das der Mut sich stützt.

Denn der Furcht fehlt Vertrauen.

Das Urerlebnis von Angst ist die Geburt. Die Ur-Enge, durch die wir hindurchmüssen, ist der Geburtskanal. Was wir als Embryo bei der Geburt instinktiv tun, das verlangt das Leben von uns immer wieder: dass wir uns dem Fließweg des Lebens anvertrauen. Sooft wir das tun, führt uns die Angst zu einer neuen Geburt. Wir dürfen dies selbst von der Todesangst erhoffen.»

2. Filme

2.1. Im Filminterview (Transkription) (2017) mit Ramon Pachernegg spricht Bruder David über den Zusammenhang von Ich und Selbst / Ich und Ego und den Unterschied von Angst und Furcht:

(21.45) «Angst ist unvermeidlich im Leben. Jeder Mensch hat immer wieder Angst.

Das heißt: Angst hängt zusammen mit dem Wort Enge:

Wir kommen immer wieder in die Enge, wir kommen sogar schon in die Welt durch die Enge des Geburtskanals ‒ das ist unsere Urangst ‒, aber wir kommen furchtlos, denn wir haben den Instinkt, uns aufs Leben zu verlassen und durchzugehen. So kommen wir ins Leben.

Und immer wieder, wenn wir in die Enge kommen und furchtlos durch diese Angst durchgehen ‒ ‹ja, ich habe Angst, aber ich fürchte mich nicht› ‒, dann kommt eine neue Geburt.»

2.2. Im Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (Mitschrift) (2019) spricht Bruder David ebenfalls über Angst und Furcht im Zusammenhang mit Lebensvertrauen:

(08:37) «Wodurch wird Euer Lebensvertrauen herausgefordert? Durch Angst. ‒ Durch Angst.»

3. Audios

3.1. Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün und Johannes Kaup
Teil 2: Wer bin ich? ‒ Die Entdeckung des Selbst über Kontemplation:
(16:58) Hilfreich ist, Angst und Furcht zu unterscheiden

3.2. Fülle und Nichts (1996):

(19:17) Das Gegenteil von Glaube ist nicht Unglaube, sondern Misstrauen, Angst / (20:09) Vertrauender Glaube hält Überzeugungen fest, aber doch leicht / (21:14) Aber nichts verbessert sich, wenn wir uns jetzt noch vor der Angst ängstigen. Warum betrachten wir nicht stattdessen Angst als notwendige Voraussetzung für Mut? / (22:12) Wie den Hanserl unterweisen? / (24:05) Angst, unvollkommen zu sein / (24:34) Angst treibt uns immer tiefer genau in das hinein, was wir fürchten – Unterschied von Angst und Furcht / (25:37) Angstbesetzte Idealvorstellungen von Vollkommenheit, Gott, Vollendung und das Wagnis des Glaubens / (28:17) Die Angst, unnütz zu sein / (33:00) Angst vor Misserfolg – Gelassenheit üben / (34:35) Angst, nichts Besonderes zu sein / (36:25) Angst, nicht genug zu wissen – Sich ergreifen lassen (Bernhard von Clairvaux) / (38:50) Die Angst, nicht anerkannt zu werden / (40:33) Die Angst vor Enttäuschung – Mut, durch jede Enttäuschung zur Wahrheit zu gehen / (41:56) Angst, schwach zu sein / (43:19) Angst vor dem Neuen

3.3. Die Kraft der Visionen (1991): Bruder David im Gespräch mit Baker Roshi:

(39:37) «Die Angst ist heute die stärkste Waffe derer, die die Welt zerstören»]



Quellenangaben

Text, Filme und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

furcht b kraehmer titel neuCopyright © - Barbara Krähmer

Wir können dem Leben Vertrauen schenken oder uns fürchten. Die Wahl zwischen diesen beiden Grundhaltungen steht uns frei.

Zu welcher Option wir neigen, erweist sich ganz praktisch an unsrem Lebensmut im Alltag.

Das Gegenteil von Glauben ist ja nicht Zweifel oder Unglaube, sondern Furchtsamkeit.

Hier müssen wir wieder eine wichtige Unterscheidung beachten - nämlich zwischen Angst und Furcht.

Angst  ist im Leben unvermeidlich, Furcht wählen wir selbst.

Das Wort «Angst» hat die Grundbedeutung «würgen» und ist mit dem lateinischen Wort «angustia» verwandt, das «Enge» bedeutet.

Das Leben treibt uns immer wieder einmal in die Enge. Dann können wir würgende Angst empfinden und stehen vor der Wahl zwischen Vertrauen und Furcht.

Das Vertrauen sagt, «Auch dies gehört zum Leben», erkennt die Gefahr und geht so ruhig wie möglich mit ihr um.

Im Gegensatz dazu gerät die Furcht in Panik und verschwendet ihre Energie daran, sich gegen die Angst zu sträuben: aus Furcht stellen wir unsre Widerstandsborsten auf ‒ und bleiben dadurch in der Enge stecken.

Wir dürfen aber dem Leben vertrauen; es wird uns schon irgendwie durch den Engpass durchbringen.

Wir sind ja auch durch einen engen Geburtskanal in diese Welt gekommen. Und jede noch so beängstigende Enge unsres Lebensweges kann zu einer neuen Geburt führen.

Im Rückspiegel unsres Lebens können wir sehen, dass aus Schicksalsschlägen, die uns erst große Angst bereiteten, dann doch ganz unerwartet gutes Neues geboren wurde.

Wir können, rückblickend auf solche Erfahrungen, Mut schöpfen, wenn unser Blick nach vorne keinen Ausweg erspähen kann.

Letztendlich läuft alles darauf hinaus, entweder darauf zu bestehen, dass das Leben so sein müsste, wie wir es uns wünschen, oder uns der Strömung des Lebens, wie es ist, anzuvertrauen ‒ nicht aber willenlos wie Treibholz, sondern wie Fische, die mit jeder Bewegung hellwach der Strömung antworten. [Orientierung finden (2021), 74f.]

(Film 39:31) Frage: «Wie erkenne ich, ob ich jetzt in Angst bin oder in Furcht?»

Bruder David: «Furcht sagt ‹Nein›, Furcht sagt immer ‹Nein›!‹Nein, Nein, Nein, das will ich nicht›!

Angst sagt ein oft sehr zaghaftes ‹Ja›, aber doch ‹Ja ‒ es wird schon gehen ‒ es wird schon gehen› ‒ mindestens: Es ist ein Ausdruck des Vertrauens.

Den Unterschied fühlt man schon selber:

Sage ich jetzt mehr ‹Ja›, oder mehr ‹Nein› in diesem Augenblick?

Und wenn ich finde, dass ich mehr ‹Nein› als ‹Ja› sage, dann ist es Zeit zu sagen:

‹Erinnere dich doch! Du warst schon in so ähnlichen Situationen. Sträuben hilft nichts. Vertrauen bringt dich durch und kommt was Besseres heraus›.

Sich daran zu erinnern ist wichtig.» [Bruder David im Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019); Mitschrift des Vortrages]

(Filminterview 26:47)    «An dem Beispiel der Flüchtlinge und der Flüchtlingskrise, in der wir leben, zeigt sich eigentlich recht schön, wie das im Praktischen ausschaut:

Aus der Furcht ‒ Furcht vor den Andern: Fremdenfurcht und Furcht, wir können es nicht bewältigen ‒ das ist ja auch eine Furcht ‒, sträubt man sich.

Die Angst ‒ ‹Wie sollen wir mit so Vielen auskommen, wie können wir das lösen?› ‒ diese Angst ist ganz verständlich, die sollten wir auch anerkennen.

Und zu behaupten: ‹Ich habe keine Angst: Das ist auch nur eine Form, sich gegen die Angst zu sträuben, das ist auch Furcht.

Aber zuzugeben: ‹Ja, das ist wirklich beängstigend›, und dann zu sagen:

‹Aber das Leben hat uns in diese Situation gebracht, das Leben wird uns auch schöpferische Wege zeigen, mit dieser Situation umzugehen›:

Das ist schon der Ansatzpunkt, das ist schon ein ganz anderer Ansatzpunkt, der Kreativität erlaubt.

Es heißt noch nicht: ‹Ich weiß schon, was man da machen muss ‒, ich habe schon alles ausgedacht›

‹Keine Ahnung, ich habe sogar Angst, dass mir gar nichts einfallen wird. Aber ich vertraue, ich sträube mich nicht. Diese Situation ist gegeben. Ich baue keine Zäune, das ist das Sträuben. Ich setze mich damit auseinander und gemeinsam werden wir irgendeine Lösung finden.›

Man braucht noch nicht das Rezept zu haben, man muss nur die Haltung haben, aus der früher oder später die Lösung sich entwickelt.

Vielleicht ganz ohne Rezept sich einfach entwickelt, weil man gewisse Grundsätze, zum Beispiel Ehrfurcht vor dem Andern: Das ist ja nicht nur Nummer 50364 von den Flüchtlingen, das ist ein Mensch mit einem ganz eigenen Schicksal ‒, dem trete ich ehrfürchtig entgegen und versuche gemeinsam:

‹Was können wir da machen?›

Und wenn genügend Leute fragen: ‹Was können wir da machen?› ‒ das ist schon ein Weg auf eine Lösung hin, wenn genügend Leute fragen.

… Aber das Gegenteil ist, zu sagen: ‹Abschließen, Mauern, Zäune, niemanden mehr hereinlassen› …» [Filminterview mit Bruder David von Ramon Pachernegg (2017), siehe auch Transkription]

[Ergänzend:

1. FURCHT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 138:

«Furcht ist unser willkürliches Sträuben gegen unwillkürliche Angst. Auf den ersten Blick erscheint uns dieses Sträuben so selbstverständlich, dass wir es als unwillkürlich einschätzen.

Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass Angst unumgänglich ist, Furcht uns aber freisteht.

Zwar stimmt es, dass Angst spontane Körperveränderungen auslöst, die Lebewesen zu Kampf- oder Fluchtreaktionen bereitmachen. Kampf bezieht sich hier aber auf die Abwehr der Gefahr, nicht auf den Kampf gegen Angst, wie die Furcht es ist.

Durch Übung unsres Lebensvertrauens können wir lernen, Furcht gar nicht erst aufkommen zu lassen, wenn uns Angst ergreift.

Furcht bleibt in der Angst stecken und kann leicht zu Panikreaktionen führen. Eine furchtlose Lebenshaltung hingegen ermöglicht uns besonnenes und nüchternes Verhalten in beängstigenden Lagen und trägt viel dazu bei, diese zu bewältigen.»

2. Audio Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün und Johannes Kaup
Teil 2: Wer bin ich? ‒ Die Entdeckung des Selbst über Kontemplation:
(16:58) Hilfreich ist, Angst und Furcht zu unterscheiden

3. Weitere Texte

3.1. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview mit Bruder David von Evelin Gander:

«Die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht, die ich bei Ihrer Frage über Angst vor dem Tod angesprochen habe, kann jungen Menschen helfen. Die Lebensangst der Jungen entspricht der Todesangst der Alten.

Für beide gilt: Furcht sträubt sich gegen die Angst, stellt die Borsten auf, und bleibt so in der beängstigenden Enge stecken.

Wenn wir aber mutig auf die Angst zugehen und sie durchstehen, dann führt uns das Leben in ungeahnte, neue Weiten.

Dieses Erlebnis stärkt, wie kaum sonst etwas, unseren Lebensmut, aber in der Jugend haben wir vielleicht noch nicht bewusst diese Erfahrung gemacht. Wir brauchen Ältere, die uns darauf hinweisen – Lehrer.»

3.2. Von Augenblick zu Augenblick (2019): Interview mit Bruder David von Ester Platzer:

«Furcht ist das Gegenteil von Vertrauen und Glauben. Sie wird oft mit Angst verwechselt. Angst ist aber im Leben unvermeidlich. Wenn wir Angst haben, fühlen wir uns beengt. Es gibt jedoch die Möglichkeit, sich vor der Enge nicht zu fürchten und vertrauensvoll in diese hineinzugehen. Furcht fühlt sich an, als würde man Widerstand leisten, da stellt man die Borsten auf und bleibt stecken. Wenn man jedoch vertrauensvoll in eine beängstigende Situation hineingeht, kommt man auf der anderen Seite mit neuer Stärke hinaus.»

«Spiritualität ist Vertrauen ins Leben und damit das genaue Gegenteil von Lebensfurcht. Denn sich vor dem Leben zu fürchten, bedeutet auch, sich gegen das Leben zu sträuben. Der Dialog mit dem Leben ist letztlich also immer ein Dialog mit Gott.»

«Wenn wir ins Leben vertrauen, dann haben wir auch keine Furcht vor dem Tod oder dem Sterben. Der Tod gehört zum Leben dazu. Heutzutage ist das Sterben meistens verbunden mit Dingen, für die wir nicht dankbar sein können. Oft findet eine Entpersonalisierung statt, man wird einfach zu einer Nummer in einem Spital. Sterben gehört aber einfach zum Leben dazu, auch der letzte Augenblick wird nur ein Augenblick.»]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

engel klaudia titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

«Man weiß nicht genau, wo Engel wohnen», stellte Voltaire zynisch fest. Da es keine genaue Adresse für sie gibt, zweifelte er überhaupt an ihrer Existenz. Unsere Zeit hat ein aufgeklärteres Verständnis von Engeln, das wir allerdings auf Umwegen nicht zuletzt wieder Voltaire und der Aufklärung verdanken. Dankbar befreit vom Wörtlichnehmen mythischer Bildersprache, fragen wir heute nicht mehr nach dem genauen Ausmaß der Flügelspanne von Engeln, oder danach, wie viele von ihnen auf einer Nadelspitze Platz hätten. Für uns ist ihr Name das Entscheidende, und der bedeutet «Bote».

Als Boten verstanden, sind Engel so wirklich wie eh und je, und es ist gar nicht nötig zu wissen, wo sie wohnen. Worauf es ankommt, ist, dass sie auftauchen wann und wo wir sie am wenigsten erwarten. Was auch immer zum tiefsten Herzen eines Menschen spricht, ist Engelsbotschaft. In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug' in Auge mit einem Tier, können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen. Das Einzige, was wir von Engeln mit Sicherheit aussagen können, ist, dass sie völlig unberechenbar sind ‒ wie alles wirklich Lebendige...

All diese Begegnungen mit Engeln finden nicht in weltfremder Abgeschlossenheit statt, sondern im ganz normalen Alltag. Das ist das Beste daran. Wir müssen keineswegs herauswaten aus dem Fluss unseres täglichen Lebens. Seine Stromschnellen und Wirbel können uns nicht niederreißen, solange wir mit festem Blick auf den Grund schauen. Das will geübt sein, aber es lässt sich erlernen. [ST 35f., Quelle: MS 5) 8 und 11]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

dreifaltigkeit barbara kraemer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Mehr als achttausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. Mit dem ersten Parlament der Weltreligionen 1893 war Chicago zum Geburtsort des weltweiten interreligiösen Dialogs geworden, der damals etwas Unerhörtes war. Seitdem hatte dieser Austausch nach und nach Schwung gewonnen, aber erst jetzt, hundert Jahre später, war die Zeit reif für ein zweites solches Treffen. Jetzt war dieser historische Augenblick gekommen. Und da war ich nur ganz überwältigt von der Ehre, zu diesem Ereignis beitragen zu dürfen. Spannung lag in der Luft. Die Frage, worüber ich vor einer so achtunggebietenden Zuhörerschaft sprechen sollte, ließ mich in dieser Nacht nicht schlafen.

Zweierlei war mir klar: Was ich sagen würde, musste meine eigene christlich-katholische Tradition getreu darstellen und musste zugleich für die Vertreter anderer Traditionen verständlich sein.

Ich hatte also vom Herzen meiner Tradition zum Herzen aller anderen zu sprechen.

Das Herzstück der christlichen Tradition ist ohne Zweifel die Dreieinigkeit Gottes ‒ Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Wie konnte ich aber hoffen, diese tiefgründigste Lehre der christlichen Tradition den anderen nahezubringen?

War gegenseitiges Verständnis im interreligiösen Dialog überhaupt möglich, wenn es um den kennzeichnenden Glaubensinhalt weit auseinanderliegender Traditionen ging?

Diese Fragen waren entscheidend und sie plagten mich in dieser schlaflosen Nacht.

Zwei Begriffe schoben sich langsam immer mehr in den Vordergrund meines Denkens ‒ Glaube und Lehre.

Glauben haben wir alle, aber unsere Lehren gehen weit auseinander.

Unsere Herzen verstehen die innere Haltung des Sich Verlassens, die glauben heißt, aber unsere Vernunft ringt mit den so unterschiedlichen Lehren, in denen der Glaube sich ausdrückt; sie scheinen unüberbrückbar.

Glaube vereint, Lehren trennen uns.

Es wurde mir klar, dass ich tiefer gehen müsste und fragen: Wie stehen Glaube und Lehre eigentlich zueinander?

In welchem Verhältnis steht mein eigener Glaube zu den Lehren, die ich gläubig bekenne?

Da war die Antwort leicht: Die Lehren sind Ausdruck meines Glaubens. Sobald mir das klar war, hatte ich den Ansatz für gegenseitiges Verständnis:

Ich würde appellieren müssen an den Glauben, der uns eint, trotz der Lehren, die uns trennen.

Was aber ist dieser uns allen gemeinsamer Glaube, bevor er sich in dieser oder jener Lehre ausdrückt? Wie erleben wir ihn?

Hier muss ich meine Leser einladen, diese Frage selber zu beantworten. Wie und in welchem Zusammenhang wird dir dein tiefstes Vertrauen auf die Vertrauenswürdigkeit des Lebens bewusst?

Meine eigene Antwort begann sich abzuzeichnen, als ich die größte Herausforderung an meinen Glauben ins Auge fasste:

Hat überhaupt irgendetwas Sinn?

In meinen dunkelsten Stunden bezweifle ich das. Nur mutiges Vertrauen ‒ und das ist ja die Essenz des Ur-Glaubens ‒ kann universellen Zweifel überwinden.

Der allen Menschen gemeinsame Glaube ist also das tapfere Vertrauen, das wir beweisen durch unsere nie endende Suche nach letztem Sinn.

Sinnsuche ist die Triebkraft, die alle Menschenherzen bewegt. Das haben wir alle gemeinsam.

Sobald mir das bewusst wurde, war mir klar, worüber ich vor dem Parlament der Weltreligionen sprechen müsste: Über unsere Aufgabe, die uns gemeinsame Sinnsuche besser zu verstehen; und es würde meine Aufgabe sein, gemeinsam mit meinen Zuhörern damit zu beginnen.

Jetzt begann sich auch eine klare Struktur für meinen Ansatz herauszukristallisieren.

Sinn hat immer drei Aspekte: Wort , Schweigen und Verstehen.

Wenn eines von den dreien fehlt, fehlt auch Sinn.

Das müsste ich erklären im Hinblick auf die allgemeinmenschliche Erfahrung der Sinnsuche, und zwar unter den drei Gesichtspunkten von Wort, Schweigen und Verstehen.

Dass Wort und Sinn zusammengehören, leuchtet vielleicht am schnellsten ein.

Wenn wir etwas sinnvoll finden, dann sagen wir, dass es uns etwas sagt. Es ist also Wort in der weitesten Bedeutung ‒ nicht ein Wort aus einem Wörterbuch, aber doch Wort, dadurch, dass es Sinn vermittelt.

Jedes Wort aber, das wirklich sinnträchtig ist, kommt aus dem Schweigen ‒ aus dem Herzen der Stille; nur so kann es zur Stille des Herzens sprechen. (Alles andere ist nur Geschwätz.)

Weder Wort noch Schweigen können aber das «Aha!» der Sinnfindung auslösen, wenn Verstehen fehlt.

Verstehen ist ein dynamischer Vorgang.

Wenn wir so tief hinhorchen auf ein Wort, dass es uns in das Schweigen führen kann, aus dem es kommt, dann ereignet sich Verstehen.

Schweigen kommt zu Wort und das Wort kehrt durch Verstehen heim ins Schweigen.

Die Delegierten in Chicago waren eine buntgemischte Schar und boten einen farbenreichen Anblick ‒ von den safranfarbenen Roben der buddhistischen zu den schwarzen Soutanen der orthodoxen Mönche; von den hohen Kopfbedeckungen der ostkirchlichen Archimandriten zu den Gebetskäppchen der Rabbiner, den Turbanen der Derwische und dem Federschmuck der Indianerhäuptlinge.

Während sich meine Augen an dieser großen Vielfalt weideten, wusste ich, dass unter all diesen Hüllen ein und dieselbe Sehnsucht diese Menschen hier zusammengeführt hatte und in ihren Herzen brannte: Sehnsucht nach Sinn.

Wenn jede spirituelle Tradition Ausdruck der unstillbaren Sinnsuche des Menschenherzens ist, dann müssen die drei charakteristischen Aspekte von Sinn ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ jede Religion auf eigene Art kennzeichnen.

Freilich sollten wir Unterschiede in der Betonung des ein oder anderen Aspektes erwarten, und die finden wir auch tatsächlich.

In den uralten ursprünglichen Religionen ‒ z. B. in Australien, Afrika und Amerika ‒ sind die drei noch gleichbetont und eng miteinander verwoben in Mythos, Ritual und Gemeinschaftsleben.

Als aber Hinduismus, Buddhismus und die Amen-Traditionen des Westens aus der gemeinsamen ur-religiösen Matrix herauswuchsen, begann der Nachdruck immer stärker auf einen oder den anderen Bereich zu fallen, obwohl alle drei ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ in keiner Tradition ganz verloren gehen können.

Hier beim Parlament der Weltreligionen zeigte sich mir aber etwas Wichtiges:

Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn.

Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam.

Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes drängte sich mir dabei auf, und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.

Schon im 4. Jahrhundert verwendeten die griechischen Kirchenväter das Bild des Reigens oder Rundtanzes ‒ so wie Kinder ihn tanzen, einander bei den Händen haltend und «Ringa ringa reia» singend ‒, um tiefe theologische Einsichten über Gottes Dreieinigkeit auszusprechen:

Der Sohn ‒ Christus als «Choryphaeos», als Anführer des Tanzes ‒ kommt aus der Verborgenheit des Vaters hervor und kehrt im Schwung des Heiligen Geistes zum Vater zurück.

Wenn mein christlicher Glaube an Gott als dreieinig ‒ nicht eins und nicht drei, sondern eins in drei und drei in eins ‒ wirklich Ausdruck des Ur-Glaubens ist, dann musste selbst eine so spezifische Lehre wie die von Gottes Dreifaltigkeit keimhaft in dem Glauben enthalten sein, den ich mit allen Menschen gemein habe.

Andersgläubige sind eben auch gläubig Sinnsuchende.

Und dieser keimhafte Ansatz liegt tatsächlich in der Bedeutung, die Wort, Schweigen und Verstehen bei der Sinnsuche zukommt.

Aus dieser Sicht ist menschlicher Ur-Glaube zumindest implizit trinitarisch.

Es begann mir zu dämmern, dass die «Offenbarung» der Trinität, die ich immer für ausschließlich christlich gehalten hatte, das Herzstück des Glaubens schlechthin war.

So konnte ich also hoffen, andersgläubige Schwestern und Brüder zu erreichen, wenn ich von dieser Trinität aus meiner christlichen Perspektive sprach.

Das entschied ich mich also zu tun. Ich würde über das menschliche Streben nach Sinn sprechen und das Bild eines festlichen Reigens ausmalen, bei dem die vom Wort Lebenden Hand in Hand mit denen, die ins Schweigen tauchen, und mit denen, die den Pfad des Verstehens gehen, tanzen.

Ein Rundtanz hat etwas Faszinierendes an sich. (Wir müssen da unsere Vorstellungskraft zu Hilfe rufen.)

Solange wir außerhalb des Kreises stehen, wird es uns immer so vorkommen, als ob die uns am nächsten Tanzenden in die eine Richtung gingen, die uns am fernsten aber in die Entgegengesetzte.

Solange wir von außen zuschauen, bleiben wir in dieser Illusion gefangen; wir können es nicht anders sehen, selbst wenn wir wissen, dass es nur eine Illusion ist.

Im Augenblick aber, in dem wir selber in den Kreis eintreten und die Hände unserer Mittänzer halten, ist es klar, dass alle in die gleiche Richtung gehen.

Kaum hatte ich dieses Bild verwendet, konnte ich das «Aha!» der Anwesenden beinahe hören. Jetzt war, was ich zu sagen hatte, angekommen.

Es war einer der großen Augenblicke meines Lebens ‒ ein Höhepunkt, Gipfel-Erlebnis, Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit und weltweiter Gemeinschaft, Vorgeschmack des ewigen Jetzt.

Ich schaute über die Versammlung hin und konnte innerlich aus vielen Herzen ein Amen aufsteigen hören.

Gott ist die Treue im Herzen aller Dinge,[1] unser Glaube ist das Vertrauen darauf, und das Wort, das all das zusammenfasst, ist Amen.

Unser innerstes Wesen (die Christuswirklichkeit in uns) sagt Amen zur Treue (des verborgenen Gottes), und dieses Amen-Sagen ist die Dynamik des Glaubens (Werk des Heiligen Geistes).

So schwingen im Wort Amen selbst Obertöne des Glaubens an den dreieinigen Gott mit, wie auch von der heiligen Silbe Om gesagt wird, dass in ihr Einheit in Dreiheit und Dreiheit in Einheit anklinge.

Was sollten die Tänzer im großen Reigen der Religionen singen? «Amen, Amen und nochmals Amen!»

[Aus dem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 232-235, 237-239]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(27:13) Der Rund- oder Reigentanz der Trinität

1.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Vertiefungsseminar:
(42:49) Darbringung, Opfer und der Reigentanz der Trinität: der Reigentanz der Dankbarkeit

Spiritualität und Ökumene:
(01:06:48) Trinitarische Erfahrung: Das Gebet der Stille ‒ ‹Von jedem Worte Gottes leben›: Brot heißt Leben und Stein heißt Tod: Die Versuchung Jesu in der Wüste und im Garten Gethsemane ‒ ‹Contemplatio in actione›: Gott im liebenden Tun erfahren / (01:12:38) Der römische Brunnen (C.F. Meyer)

1.3. Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
Fragerunde nach dem Vortrag in der evangelischen Ludwigskirche in Freiburg (DE):
(13:39) Der dreifaltige Gott – ein Kreislauf von Beziehungen

1.4. Audio-Vortrag Das Gottesbild der modernen Menschen (2009):
(33:17) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens. Unsere Gottesbeziehung im statischen Bild eines mit Wasser gefüllten Gefäßes, eingetaucht ins Meer, und im dynamischen Bild des Reigentanzes der Trinität.

1.5. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Fragen im anschließenden Gespräch an Bruder David in den folgenden 9 Audios:
Kirchliche Lehre über die Dreifaltigkeit
Kirchliche Lehre und Dreifaltigkeit als Archetyp

1.6 Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(30:12) Sich der Dreiheit von Wort – Schweigen – Verstehen hingeben ist dreifaltige Gotteserfahrung: Erfahrung des Mysteriums des dreifaltigen Gottes und zugleich Erfahrung jedes Menschen. Bruder David spricht mit Gerhard Tersteegen und C.F. Lewis vom Abgrund Gottes, von Gott, der mir näher ist als ich mir selber bin (hl. Augustinus) und bezieht sich auf den hl. Paulus in 1 Kor 2,10-12, sowie auf den biblischen Schöpfungsbericht: Wir verstehen Gott mit seinem eigenen Selbstverständnis – Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem
(51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind

1.7. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(49:55) «Was könnte sich mehr unterscheiden als Wort, Schweigen und Verständnis, drei Begriffe, für die wir überhaupt keinen Oberbegriff haben. Wir können es kaum ‹drei› nennen, und das ist ja auch sehr passend, denn auch in der Trinität soll man ja eigentlich letztlich nicht von ‹drei› sprechen. Der hl. Augustinus sagt schön: ‹Wenn du anfängst zu zählen, bist du schon in Häresie gefallen. Zu zählen ist da nichts. Aber es handelt sich um drei Grunderlebnisse.»

2. Texte

2.1. Tanz ‒ der Sinn des Ganzen, Texte im Buch Orientierung finden (2021): Teil 1 und Teil 2: Das ABC der Schlüsselworte:
Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun

2.2. Stille leben, Text aus: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159:

«Uns vom Wort führen lassen, heißt verantwortlich handeln.

Im Alltag bedeutet das, dass alle, die ‹durch den Geist Gottes geführt werden›, mit kindlicher Unbefangenheit in jeder Lage die rechte Antwort finden können in Wort und Tat.

In der weitesten Sicht bedeutet es Teilnahme an dem göttlichen Reigentanz, den die christliche Vorstellungskraft aus Johannes 16,28 herausliest, wo der Logos spricht:

‹Ausgegangen bin ich vom Vater und gekommen bin ich in die Welt; ich verlasse wieder die Welt und gehe zum Vater.›

Aus dem Schweigen kommend, kehrt das Wort durch liebendes Verstehen ins Schweigen zurück.

Mitzutanzen in diesem Reigen ist die höchste Erfüllung dessen, was wir ‹Leben aus der Stille› nennen.

Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.

Im trinitarischen Rundtanz dürfen wir den Kreislauf der Dankbarkeit sehen. Wir erleben den Urgrund der Wirklichkeit als den Ursprung all dessen, was «es gibt».

Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, zeigt sich uns immer als Gegebenheit ‒ also als Gabe. Unser eigenes Leben ist uns zugleich gegeben und aufgegeben. Die Aufgabe, die in dieser Gabe liegt, heißt Leben in Dankbarkeit. Und worin besteht das? Einfach darin, dass wir uns dem Leben stellen.» (157f.)

2.3. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):

«Unser Verständnis benediktinischen Gehorsams in seinem Dreischritt ist also zutiefst trinitarisch:

Durch lnnehalten und Horchen lassen wir uns hinab in das Schweigen des Vaters, aus dem das Wort seinen Ursprung nimmt.

lm lnnewerden und Hören stellen wir uns durch Christus und mit ihm und in ihm dem Willen des Vaters.

Den Anspruch, den wir da hören, verstehen wir aber erst wirklich durch gehorsames Tun im Heiligen Geist.

Sooft wir die Doxologie beten – und immer wieder will sie der heilige Benedikt (aus Ehrfurcht stehend) wiederholt wissen (RB 9,6f) – sooft werden wir an die tiefste Bedeutung gehorsamen Lebens erinnert: Leben im Gehorsam ist Ausdruck unseres Lebens im dreieinigen Gott.

Das drückte die ursprüngliche, weitaus dynamischere Form der Doxologie besser aus, als die heute übliche. Sie lautete:

Ehre sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geiste.»

2.4. Den großen Tanz beten (1998) [derselbe Text aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, in: Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 «Der Mystiker in uns», 18-21]:

«Eines der Geschenke, für das ich in meinem Leben sehr dankbar bin ist die Art, wie ich von der Heiligen Dreifaltigkeit erfuhr. Andere erzählten mir, dass sie, als sie erfuhren, dass wir die Dreifaltigkeit nie verstehen könnten, schon früh entschieden hätten: ‹was soll’s!› Wenn man mir von diesem Geheimnis erzählte, war es immer in einem Ton, der mich einlud, dieses Geheimnis zu erkunden – eine Aufgabe nicht nur für ein ganzes Leben, sondern für die Ewigkeit, des Lebens jenseits von Zeit. Mein Gebetsleben war genau diese Entdeckungsfahrt und ist es immer noch. Mittlerweile bereits in den Siebzigern habe ich tatsächlich das Gefühl, noch kaum begonnen zu haben.

In einer Predigt unseres Studentenkaplans, des Dominikaners P. Diego, erlebte ich einen Höhenflug, außer mir durch die Erkenntnis, dass wir Gott als dreifaltig erkennen können, gerade weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Hl. Geist hineingezogen sind.

Für Wiener Studenten ist es keineswegs frivol, von Gott als tanzend zu sprechen. Tanzen ist etwas Ernsthaftes, natürlich nicht todernst, aber lebens-ernst. Viel später lernte ich den Hymnus der Shaker über Christus als ‹Herr des Tanzes› kennen.[2]

Ich lernte auch, dass weit zurück im 4. Jahrhundert der hl. Gregor von Nyssa vom ‹Kreistanz der Hl. Dreifaltigkeit› gesprochen hatte: der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns mit der ganzen Schöpfung im Hl. Geist zum Vater zurück.

Wir können auch von diesem Großen Tanz in den Begriffen Wort, Schweigen und Tun sprechen: der Logos, das Wort Gottes kommt aus Gottes unergründlichem Schweigen hervor und kehrt zu Gott zurück, reich an Ernte im Hl. Geist, der zu liebendem Tun inspiriert.

Mein höchstes Ziel beim Gebet ist es, in diesen Tanz einzugehen durch alles, was ich tu oder denke oder leide oder sage. Nach diesem Ende-ohne-Ende sehne ich mich, wann immer ich bete:

Ehre sei dem Vater,
durch den Sohn,
im Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit,
von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Amen.»

2.5. Bruder David im Gespräch mit Fritjof Capra in: Wendezeit im Christentum (2015): TEIL 3, 152f. [und 168, siehe auch: TEIL I, 92-95]:

«Warum spricht man von Gott als Dreifaltigkeit?

Jetzt legen Sie den Finger auf die Entscheidende Stelle, wenn Sie sagen, Gott steht nicht zu irgendetwas anderem in Beziehung.

In unserem tiefsten Verhältnis zu Gott steht Gott letztendIich zu Gottes eigenem Selbst in Beziehung.

Dessen werden wir in unseren mystischen Augenblicken gewahr.

Unser wahres Selbst, das Beziehung zu Gott hat, ist einfach Gott-in-uns.

Diese Erfahrung impliziert, dass man von Gott als Dreifaltigkeit sprechen kann: Gott-in-uns, der unser tiefinnerstes Selbst darstellt; Gott als Horizont, zu dem wir letztendlich in Beziehung stehen; und Gott als lebendige Beziehung zwischen diesen beiden Polen unseres eigenen Lebens.

Das sind natürlich nicht drei, sondern ein Gott.

Alles Nachdenken über die Dreifaltigkeit beruht letzten Endes auf mystischer Erfahrung. Weniger begabte Theologen mögen allein mit Worten spielen; die großen Theologen haben jedoch stets gewusst, dass wir an Gottes eigenem Leben teilhaben.

Was wir nicht sagen können, ist, dass wir ein Teil Gottes sind. Denn was wir Gott nennen, ist zu einfach, um Teile zu haben. Deshalb sprechen wir von den vielen Dingen, Pflanzen, Tieren, Menschen nicht als Teilen von Gott, sondern sie sind ebenso viele Worte Gottes. Das meint die Bibel, wenn sie vom ganzen Universum sagt: ‹Gott sprach, und es entstand.›

Tatsächlich ist Gott auch zu einfach, um viele Worte zu sprechen. Es ist vielmehr so, als habe die Liebe, die Gott darstellt, sich von jeher in einem einzigen Wort so vollkommen ausgedrückt, dass man es auf zahllose Weise immer wieder neu aussprechen muss.

In diesem Sinne ist jeder von uns eine neue Art des Aussprechens von Gottes einem Wort. Hier jedoch machen wir die erregende Entdeckung, dass wir nicht nur ausgesprochen, sondern von Gott auch angesprochen werden.

So wird also Shūnyatā, Gott, ‹kein Ding›, das Große Schweigen durch ein Wort ausgedrückt, das so vollkommen ist, dass es alles aussagt und in jeder neuen Bedeutung von Gottes eigenem Selbstverständnis verstanden werden kann ‒ in unserem Innern, wie wir vorhin sagten.

Auf diese Weise sind wir selbst tief in diese Beziehung eingebunden ‒ durch uns Menschen nimmt diese Welt bewusst am dreifaltigen Leben Gottes teil.

Schweigen, Wort und Verstehen sind ‹Personen› des einen Gottes, jedoch eindeutig nicht in dem Sinne, in dem wir normalerweise von Personen sprechen.»

2.6. Interview Gelebte Dankbarkeit (2014) von Ingeborg Szöllösi mit Bruder David:

«Im Buch ‹Wendezeit im Christentum›, das ein Gespräch zwischen Ihnen und Fritjof Capra dokumentiert, beschreiben Sie die christliche Idee der Dreifaltigkeit sehr anschaulich: Gott ist Schweigen, Jesus ist Wort und der Heilige Geist Verstehen – oder wie Sie es vorhin ausdrückten: Fluss …»

«Ja, genau. Und was wir in der christlichen Tradition ‹Vater› nennen, ist die Quelle von allem, was es gibt. Es gibt, heißt: Gott gibt – demnach ist alles, was es gibt, gegeben – ein Geschenk. Wir selbst sind uns in diesem Sinne eine ‹Gegebenheit›: Wir haben uns nicht gemacht oder gekauft oder verdient, wir sind uns ‹gegeben› – daher ist ein Leben in Dankbarkeit ein göttliches Leben, ein Leben, das tagtäglich ‹Göttliches› wirkt und webt.

Und in Dankbarkeit gibt das Gegebene, der Sohn, sich selbst dem Geber, dem Vater.»

«Das, was im Zen als ‹Leere› bezeichnet wird, wäre das dann die Entsprechung von dem Gott, den Sie als das Schweigen begreifen?»

«Ja, das Schweigen oder die Quelle – das ist Gott. Die Quelle ist ‹Nichts› – und diese ‹Gottheit› jenseits des Vaters, von der auch Meister Eckhart und viele andere Mystiker sprechen, dieses Nichts als Fülle zu erfahren, dazu hat mir Zen verholfen.»

«Also muss man selbst seinen eigenen Gottesbegriff loslassen, um ihn mit neuer Kraft zu beleben?!»

«Selbstverständlich. Man erlebt das Durchdrungensein von Gott – und dann spürt man, dass man keinen erstarrten Gottesbegriff braucht. Wenn man an etwas klammert, dann ist man schon jetzt im Leben tot. Man kann dann nicht mehr im Fluss sein.»

2.7. Vortrag: An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):

«… Die drei großen Traditionen drücken das aus. Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen.

Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht. Wort, Schweigen und Verstehen.

Das Wort, das haben schon die griechischen Väter so gesehen, das Wort kommt aus dem Schweigen und geht durch das Verstehen ins Schweigen zurück.

Sie haben das den großen ‹Reigentanz der Trinität› genannt. Und wir sind in diesem Reigen und können teilnehmen an diesem Tanz. Das Wort ist der Anführer des Tanzes, der Koryphaios in diesem trinitarischen Tanz.»

2.8. Religionen und heiles Gottesbild, Text aus: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis, im Buch: MYSTIK ‒ Spiritulität der Zukunft: Erfahrung des Ewigen (2005), 80-83:

«Die Trinität Gottes ist ja kein christliches Monopol, sondern vielmehr ein Modell, das der Mystik aller Traditionen vertraut ist.»

2.9. Der theologische und religionswissenschaftliche Schlüsseltext von Bruder David zum Thema Dreifaltigkeit (Dreieinigkeit, Trinität) ist sein Beitrag in der Zeitschrift «Christ in der Gegenwart» (CIG) Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):

«Die anfangs gestellte Frage: ‹Was schätze ich am Christentum› spitzt sich also für mich auf folgende zu: Was bewegt mich dazu, mich zur christlichen Lehre von Gottes Dreieinigkeit mit Überzeugung zu bekennen?

Die Kurzantwort lautet: persönliche Erfahrung - eine Erfahrung, die so tief wurzelt, dass sie über individuelles Erleben hinausreicht und Allgemeingültigkeit beansprucht. Meine längere Antwort wird zu zeigen haben, auf welchem Erfahrungswege ich zu dieser Überzeugung gekommen bin, was sie beinhaltet, und was sie für die Zukunft verspricht.»

«In vielen Gesprächen sagten mir nicht nur Christen, sondern auch Menschen, die dem Christentum fernstehen, dass die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ihrer eigenen mystischen Erfahrung entspricht. Hier haben wir es mit Allgemeingut der Menschheit zu tun, weil es um mystische Einsichten geht, die allen Menschen zugänglich sind. Hindus, Buddhisten, ja Menschen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, haben mir das bestätigt.»

2.10. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit[3]. Wir werden dadurch sehen, wie alles das hinzielt auf das innerste Geheimnis des Christentums, nämlich das Geheimnis der Trinität. Und erst von dort, von unserem eigensten Zentralgeheimnis aus können wir hoffen, irgendwie zu verstehen, dass andere Traditionen der Menschheitsgeschichte ebenso sehr im Schweigen das Zentrum ihrer Sinnsuche finden oder in der Ergriffenheit, wie wir es im Wort finden.» (16f)

«Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen.

Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens.

Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz.

Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)

Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]

____________________

[1] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]

[2] Die Shaker («Schüttler») waren eine im 18. Jahrhundert aus den Quäkern hervorgegangene Freikirche in den USA, in der man ekstatische Schütteltänze pflegte.

[3] Ergriffenheit im Unterschied zum Begreifen ist Verstehen in Ergriffenheit, liebendes Verstehen im Tun: «Was geschieht denn eigentlich, wenn wir verstehen? Wir hören ein Wort, öffnen uns dem Wort, stellen uns diesem Wort; das Wort ergreift uns, ergreift uns bis zur Sprachlosigkeit, wenn es uns wirklich zutiefst ergreift, und führt uns dadurch in das Schweigen. Verstehen ist also ein dynamischer Vorgang, der Wort und Schweigen miteinander verbindet.» (49f.)



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

einssein b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn unser dankendes Empfangen sich der gegebenen Welt völlig öffnet, dann sind wir plötzlich eins. Wir antworten vom Herzen her, von jener Mitte, wo Einheit und Einigkeit walten.

In der Erinnerung an solche Höhepunkte der Herzenserfahrung können wir leicht erkennen, dass es dabei um das Einswerden geht. Das Erlebnis lässt uns im Tiefsten eins werden. Darüber hinaus wird uns die Erinnerung an diese Erfahrung erkennen helfen, dass das Wort «eins» in diesem Zusammenhang weitaus mehr bedeutet, als wir vielleicht annahmen. Im Herzen unseres Herzens sind wir in einem tiefen, vollen und umfassenden Sinne eins mit uns selbst, und das so umfassend und so tief, dass es gleichzeitig darauf hinausläuft, dass wir mit allen anderen Menschen im Herzen eins sind.

Im Innersten unseres Herzens finden wir uns in einem Bereich, in dem wir nicht nur auf das Innigste mit uns selbst, sondern ebenso mit anderen vereint sind, mit allen anderen. Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen. Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen: «Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin»? Oder: «Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Person, die ich liebe, und doch bin ich mir selbst entfremdet»? Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins. Dann haben wir die Entfremdung überwunden. Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte. [ST 33f., Quelle: FN 1) 28f.; 2-5) 31; 6) 33]



Quellenangaben

Interviews und Texte von Br. David Steindl-Rast OSB

buddhismus b kraehmer titelCopyright © - Georg Stahl

«Der Zen-Meister Zentatsu Richard Baker Roshi nennt mich im Spaß einen ‹Zenediktiner› und ich sehe das als ein Kompliment an. Zen ist zwar innerhalb des Buddhismus entstanden, ist aber eine Form der Spiritualität, die mit jeder religiösen Tradition vereinbar ist. Es geht beim Zen nicht um eine Lehre, sondern um eine Weise die Welt zu erleben.

Sie haben vielleicht beim Tanzen Augenblicke erlebt, in denen Sie einfach zum Tanz werden; oder beim Joggen sind Sie plötzlich weg und ‹es joggt› nur noch. Beim Klettern in den Bergen gibt es solche Augenblicke und wir können sie bei den verschiedensten Tätigkeiten erleben. Das sind Zen Erlebnisse.

Wir können sie auch durch noch so große Mühe nicht zustande bringen, sie sind immer reines Geschenk des Lebens. Aber wir können uns darauf vorbereiten, dieses Geschenk zu empfangen, und wir können das Bewusstsein der Verschmelzung von dem, was wir sind, und dem, was wir tun, in unseren Alltag einfließen lassen. Darin besteht Zen Training.

Weil es beim Zen nicht um Glaubenssätze geht, sondern um Erfahrung, so werden Fragen, wie die, bezüglich Tod, Auferstehung und Reinkarnation, als Ablenkungen vom Wesentlichen angesehen.

Wenn ich mein Jausenbrot dankbar und mit voller Aufmerksamkeit esse und mich darin übe, hellwach gegenwärtig zu sein für alles, was das Leben mir schenkt, dann werde ich das auch in meinem letzten Augenblick tun, und das genügt für den Herzensfrieden, den wir Menschen uns ersehnen.» [Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Bruder David im Interview von Evelin Gander]

«Mir persönlich hat Zen geholfen, mein christliches Gottesverständnis zu vertiefen. Die entscheidende Schwelle war für mich die zu erleben, dass für mich selbst, aber auch für die Mehrzahl der aufgeweckten Menschen das alte Gottesbild oder die überlieferte Gottesvorstellung nicht mehr greift. Sie entspricht unserem heutigen Erleben nicht mehr.

Wir leben heute in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, und zwar in allen Lebensbereichen, ob das nun Biologie oder Physik, Politik oder Wirtschaft ist. Alles hängt mit allem zusammen ‒ das ist unsere Erfahrung tagtäglich. Wie sollen wir uns da mit einem Gott abfinden, der von der Welt und von uns getrennt sein soll? Der von uns getrennte Gott ‒ das geht nicht mehr! Doch das war schon in der echten lebendigen christlichen Tradition nicht anders ‒ kein Mystiker hätte das anders gesehen: Gott ist mit jedem von uns ganz intim verbunden, er ist nicht jenseits, er ist meine lebendige Gegenwart!»

«Das, was im Zen als ‹Leere› bezeichnet wird, wäre das dann die Entsprechung von dem Gott, den Sie als das Schweigen begreifen?»

«Ja, das Schweigen oder die Quelle – das ist Gott. Die Quelle ist ‹Nichts› – und diese ‹Gottheit› jenseits des Vaters, von der auch Meister Eckhart und viele andere Mystiker sprechen, dieses Nichts als Fülle zu erfahren, dazu hat mir Zen verholfen.»

«Also muss man selbst seinen eigenen Gottesbegriff loslassen, um ihn mit neuer Kraft zu beleben?!»

«Selbstverständlich. Man erlebt das Durchdrungensein von Gott – und dann spürt man, dass man keinen erstarrten Gottesbegriff braucht. Wenn man an etwas klammert, dann ist man schon jetzt im Leben tot. Man kann dann nicht mehr im Fluss sein.» [Gelebte Dankbarkeit (2014): Bruder David im Interview von Ingeborg Szöllösi]

[Ergänzend:

1. «Wohin geht der Mensch?» (2022): Im überarbeiteten und ins Deutsche übersetzten Vorwort der Neuausgabe dieses Buches von Hugo M. Enomiya Lassalle, das Bruder David 1988 erstmals für die englische Ausgabe des Buches verfasste, schreibt er:

«Buddhisten wie Christen finden, dass Zen eine hilfreiche Methode ist, um die innere Quelle rein zu halten. Bei dieser Herzensarbeit machen sie eine erstaunliche Entdeckung. Diejenigen, deren Leben von diesem Urquell genährt wird, werden nach christlichen Maßstäben zu besseren Christen und nach buddhistischen Maßstäben zu besseren Buddhisten. (Dann nehmen sie solche Etiketten freilich nicht mehr wichtig.) Sie erkennen, dass der buddhistische wie der christliche Weg das gleiche Ziel hat: Den völlig wachen, völlig lebendigen Menschen. Sie erkennen auch dies: In dem Maße, wie wir lebendig werden, werden wir auch lebendig und wach für die Bedürfnisse anderer. Völlig lebendig werden ist eine Aufgabe, die wir nicht als Einzelgänger, sondern nur mit anderen gemeinsam verwirklichen können.»

2. Dankbarkeit macht eine Fütterung zum Mahl (2011): Interview mit Bruder David von Marietta Schürholz:

«… Thich Nhah Hanh führte aus, dass die Jünger Christus an der Art erkannten, wie er das Brot brach. Mir wurde da klar, wie in der Präsenz das Göttliche wohnt, wie Gegenwärtigkeit im Tun zu Gott führt.»

Bruder David: «Dieses Tun kommt aus einem Fühlen. Und dieses Fühlen ist ein Verstehen, das ganz tiefe körperliche Wurzeln hat, ein verkörpertes Verstehen. Das Fühlen ist ein verkörpertes Verstehen.

Das Denken ist ein entkörpertes Verstehen. Es wird umso besser, je mehr man vom Körper wegkommt. Das kann man natürlich nie ganz, aber man kann versuchen vom Körper weg zu kommen. Während im Gefühl versucht man vom Körper mehr und mehr in das Verstehen hineinzunehmen.»

3. Erinnerungen an die letzten Tage von Thomas Merton im Westen (1968):

«Es gab so viele Kontaktpunkte zum Zen Buddhismus, dass ich ihn einfach fragen musste, ob er auch zu diesen Einsichten gekommen wäre, wenn er Zen nie begegnet wäre. ‹Ich bin nicht sicher›, antwortete er nachdenklich ‹aber ich denke nicht. Ich sehe keinen Gegensatz zwischen Buddhismus und Christentum. Die Zukunft des Zen ist im Westen. Ich habe die Absicht, Buddhist zu werden so gut ich kann.›»

4. Askese und Zen:

«In spirituellen Überlieferungen wie etwa dem Zen lernen wir, dass Askese eine Disziplinierung der Sinne bezeichnet, durch die man die Fähigkeit entwickelt, jede Daseinsdimension mit gesteigerter Sensibilität zu erleben. Das wurde in Blütezeiten seit jeher vom Mönchstum in jeder Tradition betont. Für einen wahrhaft aufnahmebereiten Gaumen ist Quellwasser sehr wohlschmeckend.»

5. Konvertieren:

«Natürlich passiert es sehr oft, dass Leute, die einen christlichen Hintergrund haben, viele Jahre damit verbringen, beispielsweise Zen zu praktizieren, oder Yoga ‒ und dadurch letzten Endes ihren christlichen Hintergrund wiederentdecken.»]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

askese titelCopyright © - Georg Stahl

Man verbindet Mönchstum und Mönchsein oft mit Askese, und das ist auch richtig. Aber oft glaubt man, Askese bedeute, dass man die Sinne verleugnet, und das ist ein Irrtum. In spirituellen Überlieferungen wie etwa dem Zen lernen wir, dass Askese eine Disziplinierung der Sinne bezeichnet, durch die man die Fähigkeit entwickelt, jede Daseinsdimension mit gesteigerter Sensibilität zu erleben. Das wurde in Blütezeiten seit jeher vom Mönchstum in jeder Tradition betont. Für einen wahrhaft aufnahmebereiten Gaumen ist Quellwasser sehr wohlschmeckend.

Richtig verstanden bedeutet Askese üben. Das Wort kommt vom griechischen askesis, dem Üben der Athleten. Wenn wir Lebensqualität suchen, dann üben wir, entwickeln Methoden, verfeinern unsere Sprache, achten auf unsere Bewegungen und ernähren uns sorgfältiger. So geschieht es auch mit unserem spirituellen Wachstum. Wer sich beispielsweise besser ernähren will, muss vielleicht auf Dinge verzichten, die gut schmecken oder sonst verlockend sind. Wem aber etwas am Gesundsein liegt, wird daran arbeiten, wird seine Ernährung verbessern, wird vielleicht sogar seinen Geschmack verändern und bald feststellen, dass man dabei auf nichts verzichten muss, was man wirklich braucht. So geht es auch bei der Askese. Der erfahrene Läufer, der gesunde Feinschmecker, der Musikvirtuose, der meisterhafte Gärtner ‒ jeder, der aus Leidenschaft für Spitzenleistungen auf irgendeinem Gebiet eine disziplinierte Kunst daraus macht ‒ verzichtet gern auf einiges, um durch Übung eine Vollkommenheit zu erlangen, die eine außerordentliche Vitalität und Freude zur Folge hat. [ST 20f., Quelle: MS 5) 56-58]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

besinnung b kraemer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Mittags einen Augenblick lang zur Besinnung innezuhalten ist ein spontanes Bedürfnis des menschlichen Bewusstseins. Da erinnere ich mich an die Weihe von Tetsugen Glassman Sensei zum Abt des Riverside Zendo in New York. Es war eine großartige Feier; aus dem ganzen Land waren Zenlehrer zusammengekommen, um diesen Anlass zu würdigen, und der Raum war voll von Kerzen und Weihrauch, weißen Chrysanthemen und schwarz-goldenen Brokatgewändern. Mitten in den Feierlichkeiten ertönte plötzlich das Piepsen einer Armbanduhr. Alle sahen sich verstohlen um, um festzustellen, welchem Pechvogel das passiert sein mochte, denn eigentlich sollte man im Zendo überhaupt keine Armbanduhr tragen. Zum allseitigen Erstaunen unterbrach der neue Abt selbst die Zeremonie und sagte: «Das war meine Armbanduhr, und es war kein Versehen. Ich habe ein Gelübde abgelegt, am Mittag innezuhalten, ganz gleich womit ich auch beschäftigt sein möge, um Gedanken des Friedens in die Welt zu senden.» Dann lud er alle Anwesenden ein, dies mit ihm gemeinsam zu tun.

Dieser Zwischenfall erinnerte mich daran, dass die Angelusglocken eigentlich ursprünglich dazu vorgesehen waren, zum Gebet für den Frieden einzuladen. lm Kloster waren es die Glocken, die zur Sext riefen, aber sie luden auch alle Dorfbewohner ein, für den Frieden zu beten. Wo immer sich Menschen aufhielten, in den Feldern oder bei ihrer Arbeit, in ihren Geschäften oder zu Hause, wenn sie die Glocken zum Angelus hörten, unterbrachen sie ihre Arbeit und beteten. Das war auch bei den Morgen- und Abendglocken der Fall, aber die Mittagsglocken waren eine spezielle Einladung, für den Frieden zu beten und sich zu verpflichten, andere liebevoll zu behandeln. Ich habe diese Geschichte der Abteinsetzung oft erzählt und immer festgestellt, dass viele gerne mithelfen wollen, diesen Brauch wieder aufleben zu lassen. Schon jetzt beten Menschen auf der ganzen Welt zur Mittagszeit für den Frieden, wie wir es im Kloster seit Jahrhunderten getan haben. Wie schön wäre es, wenn mittags im Radio und Fernsehen Glocken und Geläute von Heiligtümern zu hören wären, die allerorts den Frieden verkünden. [ST 22f., Quelle: MS 5) 95f.]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

buddhismus b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Ich hatte bemerkt, dass für meine buddhistischen Lehrer Schweigen die Zentralstellung einnahm, die der des Wortes in den Amen-Traditionen entsprach.

Nirgends wird das offensichtlicher als in der berühmten wortlosen Predigt des Buddha. Wie kann jemand ohne Worte predigen?

Der Buddha hielt einfach eine Blume hoch. Nur ein einziger seiner Jünger verstand, heißt es. Wie konnte er aber ohne Worte beweisen, dass er verstand? (Und wenn er redet, hat er ja das Wesentliche nicht verstanden.) Er lächelte, wird uns berichtet. Der Buddha lächelte zurück, und in diesem gemeinsamen Schweigen wird die Tradition Buddhas weitergegeben an seinen ersten Nachfolger, an Mahakashypa, den Mönch der verständnisvoll schweigend gelächelt hatte.

Seither, sagt man, wird die buddhistische Tradition schweigend weitergegeben. Oder genauer gesagt, was weitergegeben wird ‒ die Tradition selbst ‒, ist Schweigen.

Das erklärt, was ich mit Eido Shimano Roshi erlebte. Wenn ich meinte, einen Punkt des Zen Buddhismus verstanden zu haben und ihn so genau wie möglich formulierte, um ihn danach zu fragen, lachte er aus vollem Hals und sagte: «Absolut richtig aber wie schade, dass du es in Worte fassen musst».

Und wenn er selber sich in unseren Gesprächen manchmal vergaß und begann, einen Punkt zu erläutern, erwischte er sich früher oder später dabei und lachte: «Ich mache schon wieder viele Worte. Jetzt bin ich schon ein halber Christ». [CG 1-2) 235f.]

Mir scheint, man könnte die buddhistische Metaphysik die fehlende Theologie Gottes nennen, die Theologie der Stille. Darin, wie die Buddhisten mit der Stille umgehen und sich innerhalb des Wortes auf die Stille konzentrieren, liegt etwas außerordentlich Wertvolles. Das Wort ist Stille, die zu Wort gekommen ist. Wenn man vergisst, dass das wahre Wort aus der Sille kommt und uns in die Stille zurückführt, wird das Gespräch zu einer Plauderei und ‒ allgemeiner betrachtet ‒ wird das Leben oberflächlich. Darum erscheint mir das buddhistische Augenmerk auf dem Schweigen innerhalb des Wortes außerordentlich wertvoll. Der Buddhismus enträtselt die Stille um die Stille. [ST 24, Quelle: SW 65f.]

[Ergänzend:

1. BUDDHISMUS, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 131f.:

«Von den unzähligen Aspekten der vielen Formen des Buddhismus steht für uns in diesem Buch vor allem einer im Mittelpunkt: das Schweigen.

Schweigen ist von Anfang an so grundlegend für den Buddhismus wie das Wort für die Amen-Traditionen [Judentum, Christentum, Islam] und das Verstehen-durch-Tun für den Hinduismus.

Das gilt nicht nur vom ‹vornehmen Schweigen› des Buddha, von seiner Weigerung, auf große spekulative Fragen zu antworten, die sich nicht direkt auf die zentrale Praxis beziehen. Dazu gehören sogar die Fragen nach Gott und nach dem Jenseits.

Schweigen hat vor allem eine positive Bedeutung, so wenn die große Predigt des Buddha, der Bergpredigt vergleichbar, wortlos ist. Er hält nur schweigend eine Blume hoch. Nur einer unter allen Anwesenden verstand diese berühmte ‹Blumenpredigt› und bewies, dass er verstanden hatte, indem er schweigend lächelte. In diesem Augenblick, so heißt es, ging die Tradition von Buddha auf seine lächelnden Nachfolger über.

Das Schweigen ist die Tradition. Die Amen-Traditionen vertrauen auf Gottes Wort; der Buddhismus lässt sich hinunter in das Schweigen, aus dem das Wort aufsteigt.»

2. «Wohin geht der Mensch?» (2022): Im überarbeiteten und ins Deutsche übersetzten Vorwort der Neuausgabe dieses Buches von Hugo M. Enomiya Lassalle, das Bruder David 1988 erstmals für die englische Ausgabe des Buches verfasste, schreibt er:

«Christen erfassen die Letzte Wirklichkeit in theistischen, Buddhisten in nichttheistischen Begriffen; für Zen spielt diese Unterscheidung keine Rolle. Was zählt, ist, dass im Herzen des Buddhismus als auch des Christentums die Erfahrung steht. Und diese Erfahrung ist, im Vollsinn, mystisch.»

3. Dankbarkeit macht eine Fütterung zum Mahl (2011): Interview von Marietta Schürholz mit Bruder David:

«Sie stehen gleichsam für die Verbindung von unterschiedlichen religiösen Traditionen, sind Benediktiner Mönch und haben sich zugleich intensiv mit dem Zen Buddhismus beschäftigt. Was hat die Begegnung mit dem Buddhismus für Sie bedeutet?»

«Eine ziemlich ähnliche Frage habe ich einmal Thomas Merton gestellt: ‹Glaubst Du, dass Du über das Christentum sagen könntest, was Du sagst, wenn es nicht im Licht des Buddhismus wäre?›

Und Merton hat geantwortet: ‹Ich glaube, dass ich das Christentum nicht so verstehen könnte, wie ich es verstehe, wenn es nicht im Licht des Buddhismus wäre.›

Merton ging es nicht um theologische Aspekte. Für ihn war die Einsicht zentral, dass es auf eine persönliche Beziehung zu ‹den letzten Dingen› ankommt. Es kommt nicht auf eine Lehre an, auf etwas, das man glaubt oder nicht glaubt. Es kommt nicht auf äußere Formen an. Es kommt eine persönliche Beziehung zum Grund an.

Das ist zugleich sehr buddhistisch und auch sehr christlich, urchristlich.

Alan Watts, der den Buddhismus in Amerika bekannt machte, sah die Tatsache, dass sich das Christentum und der Buddhismus getroffen haben, als die wichtigste historische Entwicklung des 20igsten Jahrhunderts an.

Ich sehe das genauso. Diese Begegnung ist ein ganz wichtiger Auslöser für einen Bewusstseinssprung, den wir machen müssen.»

4. Audio TAO der Hoffnung (1994):
Vortrag:
(24:30) Im echten Schweigen kommt das Schweigen zu Wort: Unterschied von Gespräch und Wortwechsel / (26:56) Der Tanz, die Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort: Das Verstehen – Verstehen und Tun gehören engstens zusammen / (29:11) Wort – Schweigen – Verstehen in den Primärreligionen und die unterschiedliche Betonung in den westlichen und östlichen Religionen / (31:06) Die Blumenpredigt des Buddha – Zerreisset die Bücher – Wie schade, dass du es sagen musst]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

depression b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Was mir (ein bisschen) hilft, wenn mich Depression überkommt:

An meinem üblichen Ablaufplan festhalten.

Spaziergänge machen (auch wenn ich mich nicht danach fühle).

Nicht Gefühle von Dankbarkeit erzwingen (das würde nicht funktionieren).

Mich daran erinnern, dass «auch das vorbeigehen wird».

Mich selbst freundlich behandeln, so wie ich es mit einem leidenden Freund tun würde.

Etwas für jemand anderen tun ‒ egal wie wenig das sein mag (bereits ein Lächeln oder ein freundlicher Gruß wird helfen, die Gefängnisgitter der Depression zu lockern).

Es ist die Gelegenheit, etwas Neues zu lernen, wofür man dankbar sein kann. Ich leide sehr unter Depressionen, also weiß ich, wie es sich anfühlt, nicht für Depressionen dankbar sein zu können. Du kannst kaum etwas tun, aber wenn du spirituell geübt bist, kannst du wenigstens denken, dass dies eine Gelegenheit ist, um Geduld zu lernen. Du vertraust darauf, dass auch dieses vorübergehen wird. [ST 29, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]



Quellenangaben

Text, Filme, Audios, Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB

dankbarkeit titelCopyright © - Barbara Krähmer

Was verstehen wir eigentlich unter Dankbarkeit?

Tägliche Erfahrung zeigt uns, dass das Gefühl der Dankbarkeit spontan in uns aufsteigt, wenn wir etwas Wünschenswertes als reines Geschenk erhalten.

Diese beiden Elemente müssen zusammenkommen: Was wir empfangen, muss uns wünschenswert, also wertvoll erscheinen, und zugleich unverdient.

Je mehr wir das Geschenk schätzen und je klarer uns bewusst ist, dass wir keinen Anspruch darauf haben, desto größere Dankbarkeit löst es aus.

Wir gehen oft wie Schlafwandler durch unsre Tage, nehmen, was das Schicksal uns schenkt, als gegeben hin, solange es uns angenehm ist, oder meinen gar, ein Anrecht darauf zu haben, und beklagen uns über alles Unangenehme und Schwierige.

Wenn wir aber aus diesem stumpfen Dahindösen aufwachen, wird uns bewusst, dass das Leben selbst das wertvollste Geschenk ist, ein Geschenk, das uns völlig unverdient täglich neu und verschwenderisch zuteilwird.

Dieses Aufwachen löst eine Dankbarkeit aus, die unsre Lebenshaltung von Grund auf verändern kann. Dann wird Dankbarkeit weit mehr als ein gelegentliches Gefühl. Sie kann zu unsrer Grundhaltung werden, so dass wir das ganze Leben dankbar feiern. In diese Richtung, das spüren wir jetzt, führt der Weg zu erfülltem Leben. Von nun an kennen wir unser Ziel: dankbar leben.

Aber schauen wir dabei nicht durch eine rosarote Brille? Können wir wirklich dankbar sein für alles, was uns das Schicksal schenkt?

Die Antwort lautet eindeutig: Nein! Es gibt vieles, wofür niemand dankbar sein kann. Das bezieht sich aber nur auf die Verpackung. Das Geschenk selbst ‒ ganz gleich, wie die Verpackung aussieht ‒ ist immer die wertvolle Gelegenheit, die das Leben uns dadurch bietet.

Beide Arten von Geschenken ‒ solche, für deren Verpackung wir dankbar sein können, aber auch solche, bei denen das nicht möglich ist ‒ enthalten das eigentliche Geschenk: Gelegenheit.

Meist ist dies die Gelegenheit, uns einfach dran zu freuen.

Das merken wir aber erst, wenn wir anfangen, Dankbarkeit zu üben.

Dabei wird uns nach und nach bewusst, welch kostbare Geschenke wir bisher unbeachtet als selbstverständlich hingenommen haben.

Jetzt erwachen unsre Sinne und bemerken mit Staunen und Freude die unzähligen Gelegenheiten, aus Freudenquellen zu trinken: Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, betasten ‒ Gelegenheiten, uns zu freuen, auf die wir bisher kaum geachtet haben. Unsre Sinne erwachen. Wir entdecken zunehmend mehr von der Fülle unsrer Lebendigkeit.

Selbst wenn uns etwas zustößt, wofür wir nicht dankbar sein können ‒ etwa Mobbing, Betrug oder Untreue im Privatleben, oder im öffentlichen Leben Gewalttätigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung ‒ auch in dieser «Verpackung» bietet uns das Leben zugleich das Geschenk der Gelegenheit.

Es kann die Gelegenheit sein, innerlich zu wachsen, Geduld und Mitgefühl zu lernen, zu vergeben, aber auch zu protestieren, sich zu verteidigen, Unterschriftslisten zu unterzeichnen, bei Demonstrationen mitzumachen ‒ friedlich, aber entschlossen und tatkräftig.

Für all diese Gelegenheiten können wir in der Tat dankbar sein. Freilich kann es anfangs schwierig sein, die Gelegenheit überhaupt zu bemerken, und selbst wenn uns das gelingt, kann es uns immer noch schwerfallen, uns dankbar zu erweisen, indem wir diese Gelegenheit auch nutzen.

Aber selbst wenn wir uns dankbar erweisen für die Gelegenheit, können wir uns dabei wirklich dankbar fühlen?

Können wir Freude empfinden, mitten in einer schlimmen Lage?

Ja, das können wir!

Freude ist mehr als Glück. Freude ist das Glück, das nicht davon abhängt, ob uns etwas glückt oder nicht. Freude ist die Art von Glück, nach der sich unser Herz sehnt: dauerhaftes Glück.

Gesundheit kann zu Krankheit werden, Wohlstand zu Elend, Glück zu Unglück.

Aber mitten in diesem Auf und Ab erfüllt Dankbarkeit unser Herz mit einer stetigen, stillen Freude.

Wir können nicht darüber glücklich sein, dass wir an einer schweren Krankheit leiden. Aber wir können auch diesem Unglück kreativ begegnen: Wir können darin überraschende Gelegenheiten entdecken und sie nutzen. Das wird uns, trotz allem, eine tiefe Freudigkeit schenken.

Jede Gelegenheit, für die wir dankbar sind, löst Freude in uns aus, selbst mitten im Unglück.

Durch eine außerordentlich schwere Krebserkrankung kam eine junge Frau in Verbindung mit einer Organisation, die solchen schwerkranken Menschen hilft, sich auf gesunde Ernährung umzustellen, gesundes Atmen, Meditieren, Spielen und Tanzen zu erlernen und ihre schiefgelaufenen Beziehungen zu heilen und in vielen andren Bereichen ihr Leben in Ordnung zu bringen.

Zuerst skeptisch sagte die Frau nach einigen Wochen, sie sei jeden Tag voll Dankbarkeit, dass die Krankheit ihr die Gelegenheit geschenkt habe, eine ganz neue Lebendigkeit zu entdecken.

Wir meinen, dass Glück uns dankbar macht. Aber schauen wir doch genauer hin.

Es ist umgekehrt: Dankbarkeit macht uns glücklich - mit dem bleibenden Glück, das wir Freude nennen.

Wir alle kennen wohl Menschen, die reichlich besitzen, was glücklich machen könnte, und die dennoch keineswegs glücklich sind.

Andre dagegen strahlen mitten in den schwierigsten Lebenslagen Freude aus. Warum? Weil sie mitten im Unglück Gelegenheiten dankbar nutzen, während die andren ihr Glück als selbstverständlich betrachten, noch weitere Ansprüche ans Leben stellen und immer unzufrieden bleiben.

Dass wir mit Recht Ansprüche ans Leben stellen können, ist eine weit verbreitete Täuschung und führt zwangsläufig zu Enttäuschung.

Genau das Gegenteil von Anspruchsverhalten ist dankbares ‒ und dadurch erfülltes ‒ Leben. Zu erfülltem Leben gehört freilich auch, dass wir Menschenrechte und -pflichten in der Gesellschaft klar ins Auge fassen und uns für ihre Verwirklichung einsetzen.

Es kommt oft vor, dass Touristen aus wirtschaftlich privilegierten Ländern die strahlende Freude der Menschen in Ländern, wo es selbst am Nötigsten mangelt, einfach nicht fassen können. Diese Freude hat einen Grund. Hast du jemals beachtet, wie die Freude der Dankbarkeit in deinem eigenen Herzen entsteht?

Zuerst fühlst du, wie die Wertschätzung für das Geschenk ‒ auch wenn es nur das Gänseblümchen ist, das ein Kind dir entgegenhält ‒ in dir aufsteigt und in aller Stille dein Inneres füllt ‒ füllt bis zum Überfließen.

Das ist der entscheidende Augenblick ‒ ähnlich dem Augenblick, in dem das Wasser, das lautlos in einem Brunnbecken aufsteigt, plötzlich den Rand übersteigt, laut plätschernd, sprudelnd und im Sonnenlicht glitzernd.

In einer wohlhabenden Gesellschaft kommen Gefühle dieses herrlichen Überströmens nie zustande.

Gerade im Augenblick, wenn Wertschätzung in Freude übergehen will, meldet sich laut die Reklame. Sie brüllt uns in die Ohren, dass es ja ein neueres, größeres, besseres Modell gibt, das wir unbedingt haben sollten. Genau dann also, gerade im springenden Augenblick, machen wir das Becken größer ‒ und wieder größer, so dass es nie zur Freude des Überfließens kommt.

Anspruchslose Menschen haben sehr kleine Becken; ein Tropfen reicht aus, um es freudig plätschernd überlaufen zu lassen. Und dann strahlen sie. Weshalb sollte diese Freude nicht auch uns zuteilwerden?

Der Armut müssen wir ein Ende machen ‒ und so rasch wie möglich. Aber die Kunst einfachen Lebens können wir erlernen. Es ist die Kunst, sich an Qualität statt Quantität zu freuen.

Diese Freude kann uns niemand nehmen. Aber auch geben kann sie uns niemand. Sie entspringt der Dankbarkeit.

Nun müssen wir aber zugeben, dass unsre Gesellschaft alles andre ist als dankbar.

Wir werden immer anspruchsvoller und nehmen als gegeben hin, was unsren Großeltern noch als ganz unglaublicher Luxus erschienen wäre.

Der Volkswirtschaftler Mario Quintana zeigt auf, dass die Wirtschaft ihre Aufgabe völlig umgekehrt hat. Statt den Bedarf zu decken, bemüht sie sich, ihn zu wecken. Von Werbung aufgestachelt, wollen wir mehr und mehr und nehmen es zunehmend einfach als gegeben hin, ohne uns wirklich daran zu freuen.

Nur Dankbarkeit löst Freude aus.

Wir verschlafen unsre Freuden. Wer wach ist, erkennt in allem, was es gibt, letztlich ein Geschenk des großen Geheimnisses, das alles gibt. Dankbarkeit dem großen DU gegenüber gab dem Leben in allen traditionellen Kulturen Sinn und Mitte.
[Orientierung finden (2021): Dankbarkeit ‒ ein Weg zur Fülle, 116-121

[Ergänzend:

1. Filme:

1.1. Persönliche Botschaft von Bruder David im Filminterview (Transkription) (2017) mit Ramon Pachernegg ab (12:09):

«Aber letztlich ist es doch die Aufgabe jedes Menschen, dankbar zu leben. Und das heißt, im Jetzt zu leben, und das heißt, sein Selbst zu finden.»

1.2. Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (Mitschrift) (2019):
(19:57) die Methode Stop ‒ Look ‒ Go und (38:10) Furcht ist das Gegenteil von dem dankbaren Leben

2. Audios:

2.1. Im Vortrag Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (Transkription) (2014) klärt Bruder David die Begriffe Achtsamkeit ‒ Spiritualität ‒ Dankbarkeit ‒ dankbar leben im Unterschied zu gelegentlicher Dankbarkeit. Im Gespräch (48:36) fasst er im Zusammenhang mit Mitgefühl und Meditation noch einmal zusammen, was mit Dankbarkeit und dankbar leben gemeint ist. Siehe auch Einleitung auf Dankbar leben.org

2.2 Der Vortrag von Bruder David in der Hochgratklinik in Stiefenhofen, Allgäu (DE) Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (Transkription) (2011):
(21:56) Einführung in die spirituelle Praxis «dankbar leben» mit Fragen: Wann und wie sind wir dankbar? Wie können wir dankbar leben in Situationen, für die wir nicht dankbar sein können? / (28:23) Wie Dankbarkeit uns schöpferisch macht ‒ Das Leben feiern / (30:12) Der wissenschaftliche Beitrag von Robert Emmons / (31:24) Wie dankbar leben uns genügsam macht

«Dankbar sein kann man immer nur im Jetzt.»

3. Interviews und weitere Texte:

Im Interview Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020) von Evelin Gander spricht Bruder David wie im Achtsamkeitstraining oft unabsichtlich eine gute Portion Selbstsucht mitspielt:

«Deswegen kann es dabei nicht klappen, denn Leben braucht Vernetzung gegenseitiger Beziehungen, um aufzublühen. In diesem Zusammenhang muss ich auf Dankbarkeit zurückkommen. Da steht das Geben-und-Nehmen im Mittelpunkt, also eine Beziehung. Dankbare Menschen haben gelernt, darauf zu achten, was das Leben jeden Augenblick schenkt und was es erwartet. Es schenkt uns eine Gelegenheit und erwartet, dass wir etwas aus ihr machen. Dadurch nehmen wir an einem weiten Netzwerk lebendiger Beziehungen teil. Kein Wunder, dass Menschen, die Dankbarkeit üben, eine Steigerung ihrer Lebendigkeit spüren.»

«Dabei ist das Training in Dankbarkeit einfach und kostenlos. Ein merklicher Erfolg stellt sich viel früher ein als bei anderen Arten von Training. Sie müssen, zum Beispiel, nur einige Zeit lang jeden Abend drei Erlebnisse niederschreiben, die Sie am vergangenen Tag hatten und für die Sie dankbar sind, und schon steigt ihr allgemeines Wohlbefinden. Oder Sie planen jeden Morgen im Voraus, am kommenden Tag jemandem eine kleine Freundlichkeit zu erweisen, für die Sie selber dankbar wären. Sie müssen es genau planen und dann freilich auch tun. Ob die so Beschenkten sich dankbar zeigen, ist unwichtig. Ihre eigene Lebensfreude wird wachsen.»

Dankbarkeit ist kein Gefühl (2014):

«Zeiten, die uns physisch, emotional und spirituell herausfordern, können es uns fast unmöglich machen, uns dankbar zu fühlen. Doch wir können uns entscheiden, dankbar zu leben, mit Mut offen zu sein für das Leben in seiner ganzen Fülle. Indem wir die Dankbarkeit leben, die wir nicht spüren, beginnen wir die Dankbarkeit zu spüren, die wir leben. Dies ist kein schnelles und einfaches Rezept, aber Sie werden sehen, es wirkt.»

Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude (2014): Interview von Andrea Huttegger mit Bruder David:

«Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude, die nicht davon abhängt, was uns zustößt. Menschen, die Freude ausstrahlen, haben nicht unbedingt viel Glück. Jedoch sind sie dankbar. Umgekehrt gibt es Leute, die scheinbar alles haben, um glücklich zu sein. Sie sind es aber nicht, weil sie nicht dankbar sind.»

«Halten Sie einmal inne, um sich bewusst zu werden, wie erstaunlich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Es gibt mich! Darüber zu Staunen, ist der Schlüssel zur Dankbarkeit.»

Glück aus Dankbarkeit (2013):

«Ich habe auch nicht gesagt, dass wir für Alles dankbar sein können. Ich habe gesagt, wir können in jedem gegebenen Moment dankbar sein für die Gelegenheit. Und sogar, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, das furchtbar schwierig ist, können wir uns dieser Situation gewachsen zeigen und auf die Gelegenheit reagieren, die uns gegeben ist.»

Dankbarkeit: Alles ist Gelegenheit: Das von Rudolf Walter redigierte Interview mit Bruder David zeigt den Weg auf von gelegentlich geübter Dankbarkeit zur Haltung dankbaren Lebens im Zusammenhang mit dem Kreislauf göttlichen Lebens. Der Beitrag erschien im Buch Einfach leben − wie geht das? Das Buch der Antworten (2013)

Das Wir wächst aus der Dankbarkeit (2013): Interview von Christoph Quarch mit Bruder David

Begegnungen ‒ Dankbarkeit (2011): Interview von Rudolf Walter mit Bruder David

Wach ‒ bewusst ‒ achtsam (2011): Wach auf! ‒ sich der Gelegenheit bewusstwerden ‒ achtsam antworten und: Anhalten ‒ Schauen ‒ Gehen

Spiritualität und Verantwortung (2009): Christa Spannbauer im Gespräch mit Bruder David:

«Du lehrst und lebst die Dankbarkeit als spirituellen Weg. Kannst du die Grundzüge dieser spirituellen Praxis erläutern?»

An welchen Gott können wir noch glauben (2008):

«Dankbarkeit: Das war hier im Westen die Spiritualität, die unsere Vorfahren geübt haben, bevor sie überhaupt noch das Wort Spiritualität gekannt haben. Sie waren dankbare Menschen und durch ihre Dankbarkeit haben sie Freude gefunden. Und diese Dankbarkeit taucht uns ein in dieses Geheimnis der Trinität. Denn es setzt den Geber aller Gaben voraus, diesen Urquell, aus dem alles hervorquillt, das Nichts, das alles gibt. Es setzt voraus, uns selbst als Gabe zu empfangen: Wir haben uns nicht gekauft, wir sind uns gegeben, wir finden uns als gegeben vor, wir finden die Welt als gegeben vor. Jeder Augenblick ist ein gegebener Augenblick, alles ist Gabe. Und wir sind ‒ weil wir in einer gegebenen Welt leben ‒ aufgefordert, dankbar zu sein und durch Danksagung alles zurückfließen zu lassen zum Ursprung. Und dadurch sind wir völlig eingebettet in das Wort, das aus dem Schweigen kommt und durch Verstehen, im dankbaren Verstehen zurückfließt zu seiner Quelle.»

Begegnung mit Bruder David Steindl-Rast: Christa Spannbauer und Bruder David 2007 im Stift Melk (siehe den letzten Abschnitt des Interviews)

Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille: Geleitwort und Epilog, in: Michael Fischer (Hrsg.): Buch der Ruhe und der Stille: Inspirationen aus dem Geist der Klöster (2003), 183f.:

«Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.»

Ein neuer Grund für Dankbarkeit, der Beitrag von Bruder David im Buch Der Tag an dem die Türme fielen: Symbolik und Bedeutung des Anschlags (2002)

Dankbar leben in drei Schritten (1991): Vertraue dem Leben ‒ Sei offen für Überraschung ‒ Ja zum Zusammengehören]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

spiritualitaet titelCopyright © - Barbara Krähmer

Nicht nur unsere innere Gesundheit, auch unser körperliches Wohlbefinden wird weit mehr von unserer Spiritualität beeinflusst, als wir zu denken gewohnt waren.

Das erklärt sich schon aus dem Wort Spiritualität selbst. Da spiritus im Lateinischen Lebensatem heißt, ist Spiritualität unsere Lebendigkeit, die höchste Schwingungsfrequenz unseres Lebens sozusagen. Die ganze Bandbreite des Lebens in all seinen Formen und Graden ist ein Schwingungsganzes. Wenn wir bei diesem Bilde bleiben, können wir uns unsere Beziehung zum tiefsten Daseinsgrund ‒ zu Gott, wenn wir das Wort verwenden wollen ‒ als Erdung des Lebensstromes vorstellen.

Das Bild der elektrischen Erdung kann uns auch helfen, die Kluft zwischen Spiritualität und Religion verstandesmäßig zu überbrücken. Das Wort Religion kommt wohl von dem lateinischen Wort re-ligare her, weist also auf ein Wiederverbinden hin von etwas, das auseinander gerissen wurde. In diesem Sinne dürfen wir Religion als die Wiederherstellung abgebrochener Verbindungen verstehen ‒ Verbindungen zu unserem eigenen innersten Selbst, zu unserer Mitwelt in Gesellschaft und Natur und zu dem tiefsten Grund des Seins. So gesehen ist Religion die spirituelle Erdung in unserer eigenen Tiefe, die zugleich die unauslotbare Tiefe ist, aus der das ganze Universum entspringt. Religion reicht also tiefer als die einzelnen Religionen; sie ist die gemeinsame mystische Matrix, der spirituelle Humus, worin sie alle trotz ihrer Verschiedenheit gemeinsam wurzeln.

Leider betont das in unserer Kultur vorherrschende Gottesbild nicht die «Erdung» im göttlichen Grund, sondern vielmehr die Trennung. Gott wird als der übergroße Jemand gesehen, als völlig anderer und von uns absolut getrennter. Er ‒ und die Idee eines männlichen Gottes herrscht selbst unter jenen vor, die sich dagegen wehren ‒ er ist irgendwo «da oben» und wir sind hier. Eine unüberbrückbare Kluft liegt zwischen Gott und uns Menschen, zwischen Gott und allem, was es gibt. Die Vorstellung, dass Gott der absolut Andere und von uns Getrennte sei, macht uns entwurzelt. Nicht geerdet hängen die Drähte unserer Spiritualität in der Luft.
[ST 125f., Quelle: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis 76f.]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn wir geschichtlich eines wissen über Jesus Christus, so ist es, dass er die tiefe Intimität mit Gott hatte, diese kindliche Intimität und Gott als Abba ansprach, einem Wort, das zu der Zeit nicht geläufig war und als ein bisschen zu intim angesehen wurde. Das spricht ganz klar aus, dass wir Jesus Christus zuerst und zutiefst als Mystiker verstehen müssen.

Unser heutiges Verständnis von Jesus Christus, aus unserer heutigen Perspektive heraus, setzt voraus, dass wir mit Jesus Christus als Mystiker anfangen. Und zwar Mystik im ganz einfachen Sinn verstanden als die Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit zu Gott.

Zumindest im biblischen Bereich können wir den Begriff Gott hier einführen, sonst müsste man sagen, im Allgemeinen sei Mystik die Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit zum Urgrund des Seins. Wir kennen die Mystik auch in Traditionen, die den Gottesbegriff nicht so ausdrücklich kennen, in nicht theistische Traditionen.

Jesus ist also zuerst, an wichtigster Stelle, Mystiker. Und da bleibt er nicht stehen. Er ist Mystiker, der diese Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit übersetzt in Sozialreform. Und das ist das Reich Gottes. Das Reich Gottes ist eine Gesellschaftsordnung, die er ja nicht nur predigt, sondern auch lebt mit seinen Jüngern, mit den Ausgestoßenen, Verachteten und den «Sündern» ‒ alle sind hineinbezogen in diese Familie Gottes, wie man sagen könnte.

Und das ist die neue Gesellschaftsordnung aus der Zugehörigkeit heraus, eine Gemeinschaft aller ‒ aus der Vereinzelung heraus ein Daheimsein in Gottes Familie, aus der Entfremdung heraus eine Zugehörigkeit zum Erdhaushalt, wie man das nennen könnte.

Das ist Bekehrung: dieser Umschwung von der konventionellen Gesellschaft zur Gesellschaftsordnung, die dem Zugehören entspricht. Das ist die Bekehrung zum Reich Gottes. Darum geht die Botschaft Jesu Hand in Hand mit dem Ruf nach Bekehrung:[1]

Von der Ausbeutung Anderer bekehrte man sich zu diesem Haushalt Gottes, zu diesem «Oikos». Daher ist das Reich Gottes «ökumenisch» ‒ das Wort kommt von dem Wort «oikos», dem Haushalt, es ist «ökologisch», denn es beschränkt sich nicht nur auf die Menschen: die ganze Familie Gottes gehört zu diesem Erdhaushalt Gottes, und es hat sogar ganz entschiedene ökonomische Auswirkungen, denn auch das gehört zum Haushalt. Daher auch politische.[2]

Und da liegt schon ein weiterer, ganz besonders wichtiger Zusammenhang zwischen der Zeit Jesu und unserer Zeit, dass beide gekennzeichnet sind als Krisenzeiten, und dass sich alle die Krisen[3] unserer Zeit und auch seiner Zeit zurückführen lassen auf eine Krise, die wir Autoritätskrise nennen könnten.

Wir stehen in einer Krisenzeit, und wenn wir lang genug hinschauen, sehen wir, dass alle Schwierigkeiten, und also auch die Schwierigkeiten des multikulturellen Zusammenlebens und die Schwierigkeiten der Spannungen zwischen uns und unserer Erde, die Spannungen zwischen Männern und Frauen, die Spannungen, die sich in Kriegen auslösen, alle diese Spannungen letztlich auf Autoritätskrisen, auf die Autoritätskrise zurückzuführen sind.

Es fragt sich eben: Wo wird Autorität  lokalisiert? Wo wird sie gesehen?

Und Jesus Christus weist hin auf die Autorität Gottes, nicht wie bisher außerhalb irgendwo, sondern in den Herzen seiner Hörer.

Das ist das Entscheidende: Gegen die Autorität der Unterdrückung und der Entmächtigung spricht er für die authentische Ermächtigung jedes einzelnen Menschen, denn wenn wir alle Söhne und Töchter Gottes sind, dann gehören wir alle der Familie Gottes an, dann leben wir, wie es schon auf der ersten Seite der Bibel heißt, mit Gottes eigenem Leben.

Das war schon immer in der jüdischen Tradition. Jesus war aber der erste, der das so hervorgeholt hat.

Er war daher nicht Prophet ‒ man liest das ja noch in den Evangelien, dass man anfänglich versucht hat, ihn einzuordnen und einer dieser Einordnungsversuche war, ihn Prophet zu nennen, «ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden» (Lk 7,16), aber es hat einfach nicht gepasst. Und zwar deshalb nicht, weil der Prophet typisch die Autorität Gottes hinter sich weiß. Der Prophet kommt und sagt: «So spricht Gott der Herr.» Der Prophet ist Sprachrohr Gottes. Und Jesus sagt nicht ein einziges Mal: «So spricht Gott der Herr» oder irgendetwas, was so ähnlich klingen könnte. Sondern ‒ was sagt er?

Er lehrt in Gleichnissen. Und das ist wieder einer der wenigen Punkte, die wir ganz sicher historisch über Jesus wissen, dass er in Gleichnissen lehrt. Und das heißt?

Sein typisches Gleichnis beginnt mit der Frage: «Wer von euch weiß das nicht schon?» ‒ «Wer von euch, der Saat sät oder Brot backt oder fischen geht oder Kinder hat oder Gäste empfängt, weiß das nicht schon?»

Und die Hörer sagen einstimmend: «Das weiß ja jeder.»

«Ah, wenn ihr es alle wisst, warum handelt ihr dann nicht darnach?»

So wirkt das Gleichnis: Wir schlucken diesen Fischhaken und schon hat er uns und zieht uns.

Die Voraussetzung für das typische Gleichnis Jesu ist: Dass wir alle in unserem Herzen ‒ und zwar alle Menschen: Ausgestoßene ‒ «Sünder» ‒, dass wir alle in unserem Herzen alles wissen, was notwendig ist von Gott:

Dass Gott zu uns in unserem eigenen Herzen spricht, dass wir, wie es Paulus ja noch vor dem Niederschreiben der Evangelien, wie wir sie jetzt haben, schon sagen wird:

«Wir haben den Geist Gottes empfangen, so dass wir die Tiefen Gottes ausloten können, dass wir Gott mit Gottes eigenem Selbstverständnis verstehen können» (1 Kor 2,10-12).[4]

Das entspricht vollkommen der Lehre Jesu.

Und das erklärt nun, warum einerseits seine Hörer ‒ und zwar besonders die einfachen Leute, die armen Leute, die Entmächtigten ‒ sagen: «D e r  Mensch spricht mit Autorität» ‒ das steht schon ganz am Anfang des Markusevangeliums (Mk 1,21).

Und dann kommt gleich der Satz: «Nicht wie unsere Autoritäten.»

Und mit dieser ganz einfachen Feststellung ist schon der ganze Lebenslauf Jesu vorgezeichnet. Von dem Augenblick an wissen wir schon, er wird am Kreuz enden.

Wer spricht mit Autorität? Jeder, der die göttliche Autorität in unsern eigenen Herzen zum Mitschwingen bringt. Und das ermächtigt uns.

Und die autoritären Autoritäten ‒ Autoritäten haben gewöhnlich die Tendenz, autoritär zu werden ‒ sind nur daran interessiert, uns zu entmächtigen, denn sonst können sich die autoritären Autoritäten nicht in ihrer Position halten.

Wer aber wirklich Autorität hat und mit Autorität spricht, der kann es sich leisten, die andern zu ermächtigen.

Und so ermächtigt Jesus seine Hörer und sie können plötzlich stehen, wenn sie lahm waren und sehen, wenn sie blind waren. Wir kennen ähnliche Ereignisse aus unserer eigenen Zeit, wunderbar bleiben sie, aber es ist verständlich, dass sich dieses geistige «auf seinen eigenen Füßen stehen», auch physisch ausdrücken kann.

Und damit ist aber auch schon gesagt, dass sich sowohl die autoritären politischen Autoritäten wie die autoritären religiösen Autoritäten früher oder später zusammentun werden, um ihn wegzuräumen.

Und wir sehen das heute noch, dass wenn jemand in dem Geist Jesu lebt und lehrt, dass das immer wieder geschieht.

Wer die Entmächtigten und Entmündigten ermächtigt und ermündigt ‒ sei nun in Lateinamerika oder in Südafrika, oder sonst wo in der Welt ‒, der wird von den autoritären Autoritäten früher oder später ans Kreuz genagelt.

Und so geht es uns selber ja auch. Wenn wir aus diesem Geist Jesu leben und sprechen, werden wir ja auch gekreuzigt ‒ nicht so dramatisch ‒, aber halt am Konferenztisch oder im Familientreffen oder sonst irgendwo ganz privat. Aber man kann dem nicht entgehen.

Und so kann Jesus dem auch nicht entgehen, und zwar schon deshalb nicht, weil die Ermächtigten ‒ und das ist der entscheidende Punkt ‒, plötzlich sehen, dass sie damit eine Verantwortung übernehmen müssen.[5]

Im innersten Herzen wissen wir, dass Gottes Autorität in uns ist, nicht nur außer uns.

Die gerechte Autorität, die es immer geben muss, zeigt sich darin, dass sie andere ermächtigen kann, weil sie selber in Ordnung ist. Autorität, die in Ordnung ist, ist eine feste Grundlage für das Gemeinschaftsleben. Sie ist im Frieden, sie ist befriedet.

Aber Autorität, die sich nur in Machtposition halten kann, wenn sie andere unterdrückt: das ist autoritäre Autorität und das finden wir sehr häufig. Und die hinterfragt er. Darauf räumen ihn sowohl die politischen wie die religiösen Autoritäten schließlich aus dem Weg; hätten das aber nicht tun können, wenn alle die einfachen Leute, die armen Leute, die er da ermächtigt hat, hinter ihm gestanden wären.

Warum stehen sie nicht hinter ihm?

Und die Antwort ist ganz einfach und die ist auch angedeutet in den Evangelien an einer ganz entscheidenden Stelle:

«Von nun an gingen die Vielen ‒ diese Massen, die ihm zugelaufen sind, weil sie sich eben ermächtigt fühlten ‒, nicht mehr mit ihm» (Joh 6,66).

Warum gehen sie nicht mehr mit ihm?

Sie haben plötzlich erkannt, das mit dieser Autorität, die in uns verlegt wird, mit dieser Bürde, die uns auf unsern eigenen Füßen stehen lässt, auch Verantwortung kommt. Und die wollen wir nicht. Und das wissen wir alle selber: Wir wollen zwar Autorität, aber wir wollen nicht Verantwortung. Wir schieben die lieber ab. Wir wollen sie so wenig, dass wir sie lieber abschieben an diese religiösen Autoritäten und an die politischen Autoritäten, und uns dann beklagen: Ja, ja, die sind schuld, und nicht unsere Verantwortung selber auf uns nehmen.

Lieber geben wir die Autorität auf, als dass wir die Verantwortung übernehmen, die mit der Autorität geht.

Die Bekehrung, die Umkehr, der Eintritt in diesen Gotteshaushalt würde voraussetzen, dass wir die Autorität als Kinder Gottes auf uns nehmen mit der Verantwortung, die damit kommt.

Darum sagt Jesus auch an einer andern ganz entscheidenden Stelle über Autorität:

«Die Autoritäten in der Welt ‒ in der weltlichen Welt, die wir geschaffen haben ‒, die drücken die Andern nieder, die beuten die Andern aus: Mit euch soll es anders sein, der Größte unter euch soll der Diener aller sein» (Mt 20,25f.).

Autorität soll nur dazu verwendet werden, die Andern auf ihre Füße zu stellen, die Andern zu ermächtigen, zu ermündigen. Und darum wäscht er ihnen auch zu der Stunde die Füße, macht sich zum Diener aller ‒ es ist kein Zufall, dass er ihnen die Füße wäscht: «Ihr könnt auf euren eigenen Füßen stehen.»[6]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5f.)

[Ergänzend:

1. Kreuz und Auferstehung

2. Credo: ‹gekreuzigt› (2015), 111f.:

«Nichts ist revolutionärer als die Vorrangstellung, die Jesus in seinen Gleichnissen dem gesunden Menschenverstand einräumt. Dieser stellt geradezu den Gegenpol dar zum konventionellen Denken.

Durch ihn spricht ja der Heilige Geist im Menschenherzen.

Jesus beruft sich also nicht darauf, sozusagen Sprachrohr der göttlichen Autorität zu sein; darin unterscheidet er sich von den Propheten vor ihm.

Er maßt sich auch nicht selber höchste Autorität an, sondern ‒ und das ist etwas völlig Neues in der Religionsgeschichte ‒ er appelliert an die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer:

Gott spricht zu uns durch unseren gesunden Menschenverstand ‒ das ist es, was jedes Gleichnis voraussetzt, und es ist zentral für das Gottesverständnis Jesu.

Dadurch löste seine Lehre eine gewaltige Autoritätskrise aus, deren Erschütterungen wir bis heute fühlen.

Jesus ermächtigte seine Zuhörer, für sich selber zu denken.

Das hat ungeheure politische Konsequenzen. Es war damals, und ist heute noch, bedrohlich für alle autoritären Strukturen; Jesus wird daher ‒ vom Standpunkt der Machthaber aus mit Recht ‒ als subversiv gebrandmarkt und gekreuzigt.

Von den einfachen Menschen aber, die Jesu zuhörten heißt es:

‹Sie waren außer sich über seine Lehre, denn er lehrte wie einer, der Vollmacht hat.›

Und dann fügten sie vergleichend hinzu, ‹nicht wie die Schriftgelehrten› (Mk 1,22 / Mt 7,28f.).

Mit diesem Vergleich ist sein Schicksal besiegelt. Die Schriftgelehrten werden ihm das nie verzeihen. Sie machten ihre Zuhörer klein; Jesus hob sie über sich selbst hinaus.

Dadurch war der verhängnisvolle Ausgang seiner Karriere praktisch unausweichlich. Gegen alle autoritären Machtansprüche einzutreten, hat nicht nur religiöse, sondern auch politische Konsequenzen. Das wissen wir. Die letzte Konsequenz für Jesus war seine Kreuzigung.»

3. Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis (2005): Die Gotteserfahrung Jesu und sein Heilen, 77-80:

«Wir wissen nicht so viel über Jesus, wie manchmal behauptet wurde, aber doch mehr als manchmal zugegeben wird. Ich beschränke mich hier auf vier Tatsachen, die heute kein Wissenschaftler bestreitet, der sich mit Jesus als geschichtlicher Gestalt befasst. Er war Heiler, er nannte Gott ‹Abba›, er verkündete eine neue Gesellschaftsordnung, die er ‹Reich Gottes› nannte, und er lehrte in Gleichnissen. Diese nackten geschichtlichen Tatsachen, die allen Interpretationen vorausgehen, genügen um zu zeigen, dass Jesu Heilungen untrennbar damit verbunden sind, dass er aus mystischer Sicht seine Gesellschaft reformierte und die von ihm ererbte Religion umgestaltete. Sein Gottesbild entsprang seiner mystischen Erfahrung, floss über in seine Vision einer heilen Gesellschaft und erreichte deren einzelne Mitglieder mit psychischer und physischer Heilkraft.

Vor Jesus war ‹Abba› als Anrede Gottes selten. Es drückt sich darin eine Vertrautheit zu Gott aus, die unserem deutschen Wort ‹Vater› fehlt. ‹Papa› kommt da schon näher. Eigentlich umfasst ‹Abba› den vollen Gefühlsgehalt, der für uns heute anklingt, wenn wir von ‹Mütterlichkeit› sprechen.

Dies stand im Gegensatz zu der im Alten Testament vorherrschenden Vorstellung von Gott als kosmischem Monarchen, die in der religiösen Haltung von Jesu Zeitgenossen, den Pharisäern, Ausdruck fand. Sie stellten sich Gott als von uns durch Heiligkeit getrennt vor. Daher ihre Bemühung, sich zu heiligen, indem sie sich von allen trennten, die als ‹unrein› galten. ‹Heiligkeit durch Reinheit› war ihr Ziel.

Jesus dagegen steht in einer mystischen Tradition des Alten Testamentes, in welcher die Nähe Gottes das Gottesbild bestimmt. Verbundenheit durch Mitgefühl und Barmherzigkeit, nicht Reinheit durch Trennung ist hier Ziel des spirituellen Weges.

Die Bemühung der Pharisäer um Reinheit führte zu gesellschaftlicher Spaltung. Nur die Wohlhabenden konnten es sich leisten, die peinlich genauen Reinheitsvorschriften zu befolgen. Die ungewaschene Menge der Armen war ausgeschlossen von der Gemeinschaft der Reinen, Gottgefälligen.

Jesus ersetzte diese Gesellschaftsordnung der Exklusivität durch eine solche allumfassende Barmherzigkeit. Das fand Ausdruck in seinem schockierenden Umgang mit ‹schlechter Gesellschaft›. Er setzte sich mit allen an den Tisch, auch mit Unreinen und Ausgestoßenen.

Das ‹Reich Gottes› war in den Augen Jesu eine von allen Ausgrenzungen geheilte Gesellschaft: rein und unrein, arm und reich, ‹Gerechte› und ‹Sünder› ‒ alle sind sie von Gottes bedingungsloser Liebe umarmt. Und nicht nur Menschen: die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes ‒ die ganze Natur ist in dieser neuen Ordnung eingeschlossen.

Das ganze Universum ist die Gottes-Familie, in der jeder Zuhause ist, weil alle Gottes Kinder sind. Von solchem Zugehörigkeitsbewusstsein fließt eine heilende Kraft aus. Daher auch die enge Verbindung zwischen Heilung und Sündenvergebung.

Sein Gottesbild, das auf mystischer Erfahrung gründet, erlaubt Jesus, den Ausgestoßenen zu verkünden, dass Gottes Barmherzigkeit ihre ‹Sünden› vergeben hat, obwohl religiöse Autoritäten sie ihnen vorwerfen.

Es sollte uns nicht erstaunen, dass Vertrauen in diese neue Weltsicht Blinde sehend machte, und dass der Glaube an diese Frohbotschaft Taube wieder hören ließ. Noch öfter berichten die Evangelien, dass Jesus Lahme heilte; sie konnten wieder auf ihren eigenen Füssen stehen und das entsprang einem ganz neuen Selbstbewusstsein. Die Gleichnisse Jesu sind Grundlage eines vorher nie da gewesenen menschlichen Selbstbewusstseins durch Verinnerlichung göttlicher Autorität.

Das typische Gleichnis Jesu beginnt mit einer Frage, die sich an den gesunden Menschenverstand richtet. Wer von euch weiß nicht, wie selbst ein widerspenstiges Kind den Eltern am Herzen liegt? Wer von euch weiß nicht, wie wichtig und teuer ein Ding wird, im Augenblick wo wir es verlieren? Wer von euch weiß nicht, dass man beim Unkrautjäten leicht auch den Weizen ausreißen könnte.

Indem Jesus so den gesunden Menschenverstand seiner Hörer herausfordert, bringt er sie dazu, diesen auch auf ihre Weltsicht, ja auf ihr Gottesbild anzuwenden.

Was dahinter steht ist verblüffend: Jesus beruft sich auf die Stimme der göttlichen Autorität, nicht in heiligen Texten und Lehren, sondern in den Herzen seiner Hörer.

Er stellt sie sozusagen auf ihre eigenen Füße. Nichts können verunsicherte Obrigkeiten weniger dulden als das; und das gilt für religiöse sowohl wie für politische Autoritäten. Damit ist das Schicksal Jesu besiegelt: er muss eliminiert werden. Obrigkeiten sind zu jeder Zeit an dem Bild Gottes als kosmischem Monarchen interessiert. Dieses stellt ja die Spitze einer Machtpyramide dar, in der sie sich um die nächsthöhere Position streiten.

Jesus ersetzt diese vertikale Machtstruktur durch horizontale Vernetzung.

‹Die weltlichen Könige herrschen, und die Gewaltigen heißt man gnädige Herren. Ihr aber nicht also! Sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste und der Vornehmste wie ein Diener› (Mt 20,25f. / Lk 22,25f.).

Das verlangt ein völliges Umdenken, nicht nur politisch, sondern auch theologisch: der Gott hierarchischer Ferne wird von Jesus als Gott mystischen Nahseins erlebt und verstanden ‒ als Vater, mit dem er als Sohn im heiligen Geist liebender Lebendigkeit verbunden ist.

Die Heilung, die jene erfahren, die Jesus folgen, hat ihre Wurzeln in der Gemeinschaft mit Gott im eigenen Herzen.

Wer sich darauf einlassen will, kann jederzeit selber erfahren, dass uns die göttliche Wirklichkeit ‒ das alles übersteigende Mehr ‒ auf dreifache Weise bewusst wird: als der unauslotbare Seinsgrund, aus dem wir kommen und auf den wir bezogen bleiben; als das abgründige Geheimnis, das wir uns selber sind; und als das Leben, die Liebe, und das Verstehen, die uns durchpulsen und doch unendlich über uns hinausgehen.

Erst später projizierten die Theologen diese persönliche Erfahrung von dem Gott, in dem wir ‹leben, weben und sind› (Apg. 17,28) ‒ auf einen ganz andersartigen, von uns getrennten, theistischen Gott im Jenseits.

Hier stoßen wir auf den entscheidenden Unterschied zwischen der Gottesvorstellung, die auf Jesus zurückgeht, und ihrer theistischen Uminterpretation.[7]

Der Schritt vorwärts auf ein lebensförderndes Gottesverständnis hin verlangt von Christen heute eine Rückbesinnung auf das Gottesverständnis Jesu.»

4. Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): «Wo stehen wir?»:

«Und wenn wir uns dieser Botschaft unvoreingenommen öffnen, so werden wir finden, dass Jesus von Nazareth kein Religionsstifter war, sondern dass in ihm ein menschheitsgeschichtlicher Durchbruch stattgefunden hat: In ihm finden wir menschlichen Universalismus erstmals umfassend verwirklicht.

Dieses wird allerdings nur verständlich, wenn wir Jesus von Nazareth als Mystiker sehen. Nur als Mystiker können wir ihn verstehen. Und der Grund dafür liegt darin, dass wir selber Mystiker sind.

Auch wir kennen eben jenes mystische Erleben des Aufgehobenseins in der Gegenwart, aus der heraus Jesus ausdrücklich spricht ‒ jenes mystische Aufgehobensein, das sich bei ihm ausdrückt als tiefste Intimität mit Gott.

Aus diesem Erleben heraus spricht Jesus Gott als ‹Abba› an, und aus ihm heraus versteht er sich als Gotteskind. Und auch wir erfahren ja dieses Gotteskind in uns, auch wir fühlen uns in diesen besten Augenblicken als Kind dessen, der uns ent-gegenwartet. Wir fühlen uns aufgehoben, wie man bei einer Mutter aufgehoben ist ‒ und tatsächlich schwingt ja in ‹Abba› sehr viel Mütterliches mit im Gegensatz zu unserem Wort ‹Vater›.

Aus diesem auch uns bekannten mystischen Erleben heraus also spricht Jesus, und was er sagt, begreifen wir dann erst richtig, wenn uns klar wird, auf welche Autorität sich Jesus beruft.

Wir scheinen uns diese Frage noch nicht so genau überlegt zu haben. Wen immer wir fragen, auch unter gebildeten Christen, wird sagen, Jesus spricht mit der Autorität Gottes, die sozusagen hinter ihm steht. Tatsächlich aber erlaubt kein einziger Satz in den Evangelien, das so zu sehen. Jesus beruft sich vielmehr auf die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer. Schauen Sie sich doch die Evangelien ‒ vor allem die synoptischen ‒ einmal genau daraufhin an. Sie werden feststellen, dass Jesus sich immer wieder auf die Autorität Gottes in den Hörern beruft. Und die typische Form, in der dies geschieht, ist die Gleichnisrede.

Sogar auf die ausdrückliche Frage ‹Mit welcher Vollmacht tust du dies? Wer hat dir diese Autorität gegeben›? (Mt 21,23-27) antwortet Jesus nicht, mit der göttlichen Autorität in mir, sondern auch hier richtet er sich an den Geist Gottes in den Herzen derer, die ihn fragen, indem er zurückfragt: mit welcher Autorität hat Johannes der Täufer gesprochen und gehandelt, mit göttlicher oder menschlicher Autorität? Und es heißt, da getrauten sie sich nicht, ihm zu antworten. Denn sie dachten sich, wenn wir sagen, mit göttlicher, dann sind wir überführt; wenn nämlich Johannes mit göttlicher Vollmacht sprach, warum dann nicht er? Wenn wir aber sagen, mit rein menschlicher Autorität, dann fallen die einfachen Leute über uns her:

Die einfachen Leute, das sind die, die viel unkomplizierter nach dem Hausverstand leben, weil sie nicht so viel zu verlieren haben. Als Professor an einer Universität hat man viel zu verlieren, dann lebt man lieber nach den Spielregeln der Universität. Und als Angehöriger einer Korporation lebt man nach den Spielregeln der Korporation. Auf diese Weise stecken wir alle in irgendeiner Gemeinschaft mit eigenen Spielregeln und lassen uns daran hindern, die Wahrheit zu sagen und nach der Wahrheit zu leben.

So lassen wir uns alle tyrannisieren von gesellschaftlichen Zwängen und davon abhalten, wirklich lebendig zu werden.

Es fällt uns offensichtlich nicht schwer, unter solchen Zwängen zu leben.

Nichts fällt uns schwerer, als auf eigenen Füßen zu stehen. Wir wollen keine Verantwortung tragen. Wir beruhigen uns, in dem wir sagen: wir tun ja nur, was jeder tut. ‒ Ist es aber deshalb richtig? Sehen Sie, hier liegt die wirkliche Krise, und die Herausforderung des Christentums.

Und das führt uns nur zu dem frühzeitigen und furchtbaren Ende der Geschichte Jesu: Jeder, der das Kind in sich, das göttliche Kind, sprechen lässt, kommt unausweichlich mit den Autoritäten um uns in Konflikt.

Wir leben in einer Welt autoritärer Macht, die alles unterdrückt. Die wahre Autorität des Geistes unterdrückt nie, sie  b a u t  auf.

Dieser Vollmacht aber steht eben die Autoritätsordnung unserer Welt gegenüber, von der sich sogar die Apostel nicht so ganz freizumachen vermochten. So wehrt sich beispielsweise Petrus (Joh 13,8): ‹Nie sollst Du mir die Füße waschen›! Damit meint er doch, dass es eine Ordnung gibt in der Welt, ein Oben und Unten, und dass danach Jesus ‹über ihm steht›. Aber dahinter steht wohl ein bisschen die Haltung: früher oder später werde ja ich oben stehen, und dann will ich eben auch nicht anderen die Füße waschen müssen.

Mit anderen Worten: Jesus bringt uns in eine  t o t a l e A u t o r i t ä t s k r i s e , die wir bis heute, 2000 Jahre später, noch nicht bewältigt haben. Er sagt uns: In der Welt, da lassen sich die Mächtigen gnädige Herren nennen und unterdrücken alle. ‹Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Sklave sein› (Mt 20,25f.).

Nicht dass wir nicht gern einander dienen würden; aber so zu sprechen und handeln, wie es der Geist eingibt, das führt eben unweigerlich zum Konflikt mit den führenden religiösen und politischen Mächten, die, sofern sie autoritär sind, alles unterdrücken wollen.»

Und so kam es ja dann auch zu jener eigenartigen Mischung von religiöser und politscher Todesstrafe. Jesus wurde von den religiösen Autoritäten den politischen Machthabern ausgehändigt; das Kreuz war eindeutig eine Strafe für politische Verbrecher. Das Wirken des Geistes hat eben unausweichlich auch politische Implikationen. Er ist allumfassend.

Doch das Kreuz darf ja nicht isoliert gesehen werden. Es ist unlöslich verknüpft mit der Auferstehung, mit Ostern, mit Leben. Und Pfingsten bedeutet den Durchbruch dieses Lebens.

Ja, er ist gestorben; er wurde aufgehoben, ausgelöscht.

Aber zugleich wurde er hinaufgehoben – Himmelfahrt ist der symbolische Ausdruck für diese Aufhebung.

Und zugleich ist er auch aufgehoben in seinem ureigensten Sein – so aufgehoben, dass dieses Sein niemals wieder verloren gehen kann. – Und aus diesem Geist leben nun die Gläubigen, das heißt diejenigen, die sich vertrauend auf dieses Geschehen verlassen. ‹Sich darauf verlassen› – wie wunderschön – und  w o r a u f  verlassen sie sich? Auf den Geist, der uns alle gemeinsam erfüllt, auf diesen Geist-Atem, über den wir, wie wir sahen, mit allem verbunden sind.»

5. Weitere Audios

5.1. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004):
(04:22) Die Evangelien sind Bekenntnis zu Jesus, aber sie haben einen ganz wesentlichen geschichtlichen Kern und dieser bescheidene, aber äußerst schwerwiegende Kern ist völlig ausreichend für unser Verständnis für das ungeheure Gewicht seiner Persönlichkeit:
(05:50) Jesus ist Mystiker und hat Gott mit dem Kosenamen Abba, Vater angesprochen.
(12:41) Jesus spricht vom Reich Gottes
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen
Themen des Vortrags mit Link zu weiterführenden Texten und Audios von Bruder David:
(25:11) ‹Dieses Gottesbild, das jedem Menschen zugänglich ist, ist nicht theistisch›

(28:40) ‹So wurde es uns dargestellt›
(42:04) ‹Jesus war ja nicht göttlich, trotzdem er Mensch war ‒ er war göttlich, weil er Mensch war›

5.2. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen; siehe auch Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 1.1.
Vortrag:
(29:00) Wie Jesus auf die Frage der Hohenpriester und Ältesten antwortet auf ihre Frage: ‹Mit welcher Vollmacht tust du das›? (Mt 21, 23-27) – Viele wandten sich von ihm ab (Joh 6,66)

5.3. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Wie Jesus die Auffassung von Autorität revolutioniert

5.4. Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3:

(29:09) Wie Jesus uns ermächtigt ‒ er traut uns etwas zu: ‹Du kannst das doch›! ‒ einander etwas zutrauen

5.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn:
(12:11) ‹Abba›: Wie Jesus seinen himmlischen Vater anspricht im Unterschied zum Begriff Gott Vater in der Religionsgeschichte

(15:00) Jesus als Mystiker verstehen
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(00:00) Die Kernaussage: ‹Jesus Christus ist Kyrios› zielt für uns heute auf den entscheidenden Punkt im Autoritätsanspruch Jesu: Er verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer.
(10:23) Mit Jesus bricht durch,
[8] was in Israel angelegt war: Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem. Jesus ist nicht in erster Linie Verkünder, sondern erinnert uns, dass wir in unserem eigenen Herzen mit dem innersten Gesetz unseres Lebens, in eins mit dem Baugesetz ‒ dem Hologramm ‒ des Kosmos, vertraut sind.]

 _____________________

[1] Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 2.2.:

«Das Neue, das mit Jesus anbricht, fasst Markus (1,15) ganz klar zusammen: ‹Die Zeit ist erfüllt› (jetzt), ‹Das Reich Gottes ist herbeigekommen› (hier). Ihr seid also erlöst. ‹Tut Buße und glaubt die Botschaft›

Nun hängt alles daran, was wir darunter verstehen: ‹Tut Buße›! ‒ Es gibt eine weltliche Auffassung von Buße, und es gibt eine christliche Auffassung.

Buße tun heißt umdenken. Dass wir das mit ‹Buße tun› übersetzen, ist etwas gefährlich, etwas zu weltlich. Die weltliche Auffassung von Buße ist alt: Wir haben etwas falsch gemacht, und wir müssen es jetzt so schnell wie möglich gutmachen. Das Beste, was dabei herausschauen kann, ist Flickwerk, und auch das gelingt uns selten, wie wir wissen.

Das Neue ist: Gott hat es getan! Es ist bereits geschehen. Wir sind erlöst. Wir müssen nur umdenken, neu denken. Es heißt nicht: Tut zuerst Buße, und glaubt danach! Sondern: Tut Buße, indem ihr umdenkt und glaubt, was zu gut scheint, um wahr zu sein.»

[2] Ausführlich in Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011  und im Buch Erkenntnis (2023)

[3] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 164:

«Wenn wir aus dem Bewusstsein der Fülle leben, was viel realistischer ist als die Vorstellung von Mangel, dann stehen wir auch ganz anders zu einer Krise. Dann ist die Krise nicht das Ende von allem.

‹Krise› stammt von der selben Sprachwurzel wie das Wort ‹Sieb›. Krise bedeutet ein Aussieben. In jeder Krise scheidet sich das, was lebensfähig ist, vom dem, was nicht mehr überlebensfähig ist. Das ist ein ähnlicher Prozess wie in der Natur: wenn sie die ausgetrockneten Hüllen abstreift, damit die jungen Blätter sich frei entfalten können.»

[4] Heiliger Geist ‒ Lebensatem Gottes;   Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium: Anm. 9; Dreifaltigkeit: Ergänzend: 1.6.;
TAO der Hoffnung (1994): Diskussion nach dem Vortrag:
(08:23) Den dreifaltigen Gott von innen her verstehen (1 Kor 2,10-12)

[5] Audio Löwe Lamm und Kind (1992): Vortrag, transkribiert (25:21-36:05)

[6] Audio TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen ‒
Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben, transkribiert (30:59-34:25); siehe auch Reich Gottes ‒ die Vision leben: Ergänzend: 7.

[7] Siehe auch Gott: Ergänzend: 3.1., Auszug aus: Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)

[8] Reich Gottes - erlösende Kraft: Ergänzend: 1.2.:
(48:20) ‹Und das war nichts Neues, das war nur ein Durchbruch des Ältesten, so wie immer das Neuste der Durchbruch des Ältesten ist, auch heute›, denn schon in der ersten Seite der Bibel, im Schöpfungsmythos steht, dass wir Menschen ‒ Adam, der Mensch ‒ wir alle ‒ lebendig sind mit Gottes eigenem Lebensatem: Wir leben mit Gottes eigenem Leben.›



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

fragen titelCopyright © - Barbara Krähmer

Ist es nicht höchst unwahrscheinlich, dass wir jemals ein Gottesverständnis finden könnten, das die Konfessionen übersteigt und verbindet? Dieses Gottesverständnis gibt es schon und wir können es jederzeit entdecken, indem wir auf unsere innere Erfahrung achten und auf das Mehr, das unserem Leben Sinn gibt. Wir stoßen auf dieses Mehr, wenn wir die drei großen Fragen stellen, die uns als Menschen kennzeichnen.

Menschen aller Zeiten und Zonen fragen: «Was ist wirklich wirklich?» und begegnen dabei einem Geheimnis, das wirklicher ist als alles, was es gibt ‒ dem unerschöpflichen «Es», das wir aus der Wendung «es gibt» kennen.

Menschen fragen immer und überall: «Wer bin ich?» und stoßen auf das Mehr in der Tiefe ihres eigenen Herzens, ein Mehr, das Gedanken nicht ausloten und Worte nicht ausdrücken können.

Die dritte Frage lautet: «Worum geht es im Leben?» Wir finden die Antwort in einem unerschöpflichen Mehr an Liebe und Leben, an dem unser eigenes Lieben und Leben teilnimmt.

Unser geistiges sowie unser physisches Gesundsein hängt davon ab, dass wir uns auf die Antworten zu diesen letzten Fragen einlassen ‒ Antworten, die wir nicht in Worte fassen können. [ST 43, Quelle: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis 81]



Quellenangaben

Interview, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

eins mit dem goettlichenCopyright © - Barbara Krähmer

Mir persönlich hat Zen geholfen, mein christliches Gottesverständnis zu vertiefen. Die entscheidende Schwelle war für mich die: Zu erleben, dass für mich selbst, aber auch für die Mehrzahl der aufgeweckten Menschen das alte Gottesbild oder die überlieferte Gottesvorstellung nicht mehr greift. Sie entspricht unserem heutigen Erleben nicht mehr. Wir leben heute in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, und zwar in allen Lebensbereichen, ob das nun Biologie oder Physik, Politik oder Wirtschaft ist.

Alles hängt mit allem zusammen ‒ das ist unsere Erfahrung tagtäglich. Wie sollen wir uns da mit einem Gott abfinden, der von der Welt und von uns getrennt sein soll? Der von uns getrennte Gott ‒ das geht nicht mehr! Doch das war schon in der echten lebendigen christlichen Tradition nicht anders ‒ kein Mystiker hätte das anders gesehen: Gott ist mit jedem von uns ganz intim verbunden, er ist nicht jenseits, er ist meine lebendige Gegenwart!

Im mystischen Erleben Gottes erfahren wir uns nicht als Wesen, die von Gott getrennt sind, sondern als Wesen, die mit dem Göttlichen eins sind. Das wird von allen Menschen ‒ ganz gleich, wie sie religiös eingestellt sind ‒ in einer innigen Weise erlebt. Da gibt es keine Glaubenssätze mehr, und der Mensch erlebt, dass sein innerstes Geheimnis eine göttliche Wirklichkeit ist: Ich kann mein Tiefstes nicht ausloten, denn diese tiefste Wirklichkeit ist meine göttliche Wirklichkeit.

Das ist schon in der Bibel gut ausgedrückt: Der Mensch ist Gottes Ebenbild ‒ Gott ist es, der durch uns hindurch atmet, wir sind durch Gottes eigenes Leben lebendig und genauso unauslotbar wie er. (archiviertes Interview 2014: Gelebte Dankbarkeit)

Wie ist es im biblischen Schöpfungsbericht dargestellt, dass der Mensch in Gottes Seinsweise versetzt sei? Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt.

Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht.

Es gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.
(aus dem Buch Die Frage nach Jesus (1973), Textauszug Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972)

Siehe auch Audio-Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel (2003)

(28:51) Das mystische Gottesbild einer Welt, in der alles uns anspricht als Wort Gottes, denn ‚das Wort ist Fleisch geworden‘, und das ist das ewige Wort Gottes: Wir sind uns selbst so abgründig, dass die tiefste Tiefe unseres eigenen Lebens göttlich ist.

Ebenso Audio Vortrag Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)

(40:33) Br. David schließt mit unserer Aufgabe: Mensch werden: Mensch sein ist nicht Privatsache, wir hängen alle zusammen. Wir sind das Missing Link zum vollen Menschen Jesus. Die Evolution ist von Anbeginn Menschwerdung Gottes und nach der ersten Seite der Bibel leben wir vom ureigensten Leben Gottes: Wir sind Gottmenschliche Wesen

Ebenso Audio-Vortrag: Retreat Woche in Assisi (1989): «Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn»

(13:16) Der Mensch lebt nach der biblischen Anthropologie vom ureigensten Leben Gottes



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

sonnenedelstein titelCopyright © - Georg Stahl

Es gibt Tausende von Schöpfungsmythen, die den Anthropologen bekannt sind. Aber alle haben eine ganz ähnliche innere Struktur, wenigstens dort, wo sie uns noch voll erhalten sind, wo sie gesund sind. Es ist gut, diese Struktur des Mythos zu verstehen, denn nur wenn wir die kennen, werden wir den Mythos auch dort erkennen, wo das Kind diesen Mythos selber dichterisch schafft. Ich werde Ihnen später ein Beispiel dafür geben.

Der uns bekannteste Schöpfungsmythos ist gewiss der Schöpfungsbericht aus dem Buch Genesis. An ihm sieht man die typische Form ganz deutlich. Der erste Bestandteil jedes Schöpfungsmythos ist selbstverständlich der Schöpfer, dessen Existenz nicht weiter hinterfragt wird.

Der Mythos beginnt also mit unserem ewigen Gegenüber, das wirklich ist. Der Mythendichter bemüht sich um immer neue Namen, um dieses absolute Dasein dichterisch auszudrücken: Vater, Großvater, der Uralte. Oder der Mythos nennt den Schöpfer: Vater im Himmel. Mit Himmel ist hier das Firmament gemeint, der blaue Himmel, der immer da ist. Dann ist der Schöpfer ein Vater, der so ist wie der Himmel, über alle Veränderungen erhaben. Mutter oder Großmutter wird der Schöpfer auch manchmal genannt, aber das ist selten in unseren Mythen, weil diese schon durch Jahrtausende patriarchalischer Kultur gefiltert wurden; da können wir uns im Augenblick nicht helfen, wir müssen einfach darauf schauen, was dahintersteht.

Dahinter steht nicht Vater oder Mutter, sondern jenes Gegenüber, das ganz anders als wir sagen kann:

«Ich bin».

Der Schöpfungsmythos muss jetzt eine Antwort geben auf die Frage:

«Wie bin ich»?

‒ bezogen auf dieses wahre «Ich bin» des Ewigen.

Da kommt nun der zweite Bestandteil jedes Schöpfungsmythos ins Spiel, nämlich das Material, aus dem alles geschaffen wird, auch ich. Hier geht nun die Bemühung des Mythendichters dahin, das Material so nichtig, so bedingt, so gegenstandslos wie möglich darzustellen.

Beim ersten Bestandteil des Mythos zeigte sich das Bemühen, das, was ist, so absolut und bleibend wie nur möglich darzustellen. Darum erhebt sich auch niemals die Frage: «Ja, woher kommt denn der Schöpfer her»? Das ist keine Frage. Der Schöpfer ist einfach da. Damit beginnt der Mythos. ‒ Jetzt aber, wenn das Geschöpf in den Blick kommt, da zeigt sich in der mythischen Erzählung das Bemühen, das Material so gering wie möglich zu machen, so nahe wie möglich an nur potentielles Sein heranzukommen.

In dichterischen Bildern lässt sich reine Möglichkeit freilich nur schwer ausdrücken, daher spricht der Genesismythos etwa von Erde, vom Ackerboden ‒ Möglichkeit des Wachsens. Oder er spricht von Lehm, aus dem etwas geformt wird: reine Möglichkeit der Formgebung.

Auch in anderen Schöpfungsmythen, die gar nichts mit dem biblischen Mythos zu tun haben, finden sich ähnliche Bilder. Das menschliche Herz erfindet diese Mythen ja immer wieder neu, unabhängig. Es sind im Grunde immer wieder die gleichen Antworten auf die gleichen Urfragen.

Aber es kommt noch ein dritter Bestandteil dazu. Dieses dritte Element in jedem Schöpfungsmythos ist die innige Verbindung zwischen dem, der ist, und uns, die wir reine Möglichkeit sind; die eigentlich nicht sind, aber auf dem Weg sind, göttlich zu werden, auf dem Weg sind, wirklich zu sein. Die dadurch auf dem Weg sind, dass sich das Göttliche in uns entfaltet. Das ist die tiefste Erfahrung unseres Herzens. Und das Herz drückt diese Erfahrung dann dichterisch aus.

Das sind also die drei Bestandteile des Schöpfungsmythos: Der, der ist; wir, die ‒ als Material ‒ reine Möglichkeit sind; und die innigste Verbindung dieser beiden Faktoren, die man jetzt irgendwie in einer Geschichte ausdrücken muss.

Wir kennen das vom Genesismythos.

Der beginnt mit: «Am Anfang Gott.» Das will sagen: nichts vorher. Der Schöpfer kann nicht hinterfragt werden. Das wird schon sehr früh so ausgedrückt: Nichts vorher, nichts darüber, nichts darunter, hier ist der Beginn. Am Anfang Gott.

Dann: Das Material, die Erde vom Ackerboden oder der Lehm, aus dem der Töpfer etwas macht, das aber noch nicht lebendig ist.

Und schließlich diese innige Verbundenheit: Lebensatem. Unserem Leben wird das göttliche Leben zuteil.

Das wird ganzbildkräftig im Genesismythos ausgedrückt. Der Schöpfer bläst diesem Lehmklotz, dieser Lehmfigur, durch die Nasenlöcher den Lebensatem ein. Eine innigere Verbindung zwischen uns, die wir reine Möglichkeit sind, und dem, was wirklich ist, lässt sich dichterisch kaum ausdrücken.

Wir sind die, die mit dem Lebensatem Gott lebendig sind.

Und nun, wie ich versprochen habe, ein Beispiel der mythenschöpferischen Kraft der Kinder, ein besonders schönes Beispiel. Ein Kind zeigt auf in der Rechenstunde, ein achtjähriger Bub, und er fragt den Lehrer: «Wie entstehen eigentlich Edelsteine?»

Das passt natürlich nicht zum Einmaleins und darum sagt der Lehrer: «Das erzähle ich dir dann später.» Wenn aber Kinder solche Fragen stellen, dann muss man immer tief hinhorchen und warten. So etwas zu fragen ist eine Form, die große Frage des Herzens auszudrücken:

«Wer bin ich eigentlich?»

Diese Frage wird vom Kind nie so abstrakt ausgedrückt. Sie wird dadurch ausgedrückt, dass wir fragen: «Was ist denn das? Wie entsteht es denn?» Und wir identifizieren uns mit dem Ding ‒ hier mit dem Edelstein. Der Lehrer vergisst, wie wir das so oft tun, nach der Stunde auf die Edelsteine zurückzukommen.

Das Kind kommt am nächsten Tag in die Schule und sagt: «Erinnern Sie sich an meine Frage nach dem Edelstein? Ich hab die Antwort selber gefunden; hier ist ein Gedicht, das ich gemacht hab.»

Was dem Kind eingefallen ist, das hat es jetzt in einem Gedicht ausgedrückt. So etwas muss ja in einem Gedicht ausgedrückt sein, denn anders lässt sich eine so tiefe Einsicht gar nicht ausdrücken.

Wie lautet nun das Gedicht? Es ist in der ersten Person Einzahl geschrieben und beginnt gleich mit «Ich» (es handelt eben vom Kinde selber) und es heißt

«Der Edelstein»

Ich liege tief, im Abgrund tief
und strahle alles an.
Die gute Sonne, die mich rief,
die sagt, ich bin ein Edelstein.
Die Schlangen kriechen um mich her,
die dunkle Erde drückt mich schwer.
Doch glänz ich wie der Sonnenschein.
Ich bin ein Sonnenedelstein.

Ich liege tief, im Abgrund tief
und strahle alles an.

(Das Ich ist reine Möglichkeit, ein Stein, fast nichts, wertlos, und noch dazu tief im Abgrund.)

Die gute Sonne,

(Sonne ist ‹Schöpfer›, immer da, so wie ‹Himmel›; sehr häufig ein Symbol für das, was ist und das Leben spendet.)

die mich rief,

(Das ‹rief› zeigt jetzt die intime Beziehung als Angerufensein.)

die sagt,

(Sie gibt mir einen Namen, sie macht mich erst zu dem, was ich bin.)

ich bin ein Edelstein.

(Das ist grammatisch nicht richtig, aber so drückt es das Kind aus.)

Die Schlangen kriechen um mich her,

(Ich liege ja da tief im Abgrund.)

die dunkle Erde drückt mich schwer.
Doch glänz ich wie der Sonnenschein.
Ich bin ein Sonnenedelstein.

In diesem einen Wort «Sonnenedelstein» ist der ganze Schöpfungsmythos zusammengefasst.

Sonne: für das Kind die, die da ist; Stein: reine Möglichkeit, fast nichts.

Die innigste Verbindung zwischen Sonne und Stein: der strahlende Edelstein.

Wenn wir darauf vertrauen, dass Kinder aus dem tiefsten Herzen so etwas hervorbringen können, dass sie das wirklich können, dann können sie es auch. Denn mit diesem Vertrauen schaffen wir Raum, in dem sie sich entfalten können.

Sie kennen wohl alle einen anderen Schöpfungsmythos des Kindes: in der frühen, oft vorsprachlichen Zeit ist eine der ersten typischen Zeichnungen des Kindes: die Sonne, meist oben, immer wichtig; das ist der Schöpfer. Das Bild ist zutiefst verankert in unserem Unterbewusstsein, das Schöpfersymbol, die lebenspendende Sonne.

Darunter eine Blume, die meist ähnlich wie die Sonne aussieht, und oft sogar ein Gesicht zeigt. Da bin ich, reine Möglichkeit, das, was durch die Sonne aus der Erde hervorgebracht wird und selber zu einer kleinen Sonne wird.

Da ist der ganze Schöpfungsmythos auf einem Blatt abgebildet. Das was reine Möglichkeit ist und die intimste Verbindung der beiden.

Die Sonnenblume ist Ebenbild der Sonne, ist eine neue Sonne.

Ich bin ein Sonnenedelstein.

Ich bin eine Sonnenblume, sagt das Kind, bevor es noch sprechen kann.

[Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch: Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 63-67, anlässlich der 38. Internationalen Werktagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989), siehe auch: Ergänzend 2.]

[Ergänzend:

1. Film Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010) und
Audio des Vortrags Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden
Vortrag
(31:58) Wer bin ich? – der Schöpfungsmythos antwortet mit drei Bestandteilen, die allen Schöpfungsberichten gemeinsam sind / (37:38) Ein Schöpfungsmythos der Apachen / (40:59) Ein Schulkind: ‹Ich bin ein Sonnenedelstein›

2. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren:
(17:09) Die Antwort des Schöpfungsmythos / (18:38) Die drei Bestandteile des Schöpfungsmythos / (25:47) Der Genesismythos / (27:12) Ein Apachen Schöpfungsmythos / (31:58) Ich bin ein Sonnenedelstein' (achtjähriger Bub)

3. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Demut ‒ der Mut zum Gipfel:
(01:14:52) Das Gänseblümchen ‒ eine kleine Sonne]


Quellenangaben

schluesselbegriffe titelCopyright © - Wilfried F. Noisternig

Anlässlich Bruder Davids  96. Geburtstag entsteht hier eine Online-Anthologie zu Texten, Audios und Filmen von und mit David Steindl-Rast OSB.
                «Wir horchen hin auf das Wort, das uns jeder Augenblick des Lebens zuspricht. Es gibt uns. Es gibt.»       (David Steindl-Rast OSB)

Gerne laden wir die Besucher dieser Rubrik dazu ein, die aus ihrer Sicht noch nicht aufgeführten Wunsch-Schlüsselbegriffe   hier   einzureichen.
Diese Anthologie ist Copyright-geschützt  ©BibliothekDSR

  Schlüsselbegriffe
A Achtsamkeit,             Achtsamkeit üben,           Altern,         Allein ‒ All-Eins,         Andacht,          Anfängergeist,         Angst,      
Arbeit, Spiel, Muße,       Arbeit – Gebet,        Askese,       Augenblicke dankbar leben,       Augenblicke wach im Jetzt,     
Autorität und Autoritäten
B Berufung,           Besinnung,           Buddhismus 
C Common sense,        Christuswirklichkeit
D dankbar leben,           Dankbarkeit,            Dankbarkeit und Opferritus,           Danken, preisen und segnen,           Dankesspirale,
Depression,         Doppelbereich Ich-Selbst,        Dreifaltigkeit,           Dunkelstunden
E Ehrfurcht,      Eins mit dem Göttlichen,      Einssein,      Engel,       Erlösende Kraft,      Erlösung ‒ Sünde und Heil,       Eucharistie
F Familie,     Fehler,     Fließweg,    Fließweg und Entscheidung,     Fragen,      Fragen des Lebens,       Freude,      Friede,       Furcht,      Fürchte Dich nicht
G Geben und Nehmen,        Gebet - drei Innenwelten,        Geheimnis,        Gehorsam,         Gelegenheit,
Gipfelerlebnis,        Glaube,         Gleichnisse Jesu,        
Gott,          Gott ‒ ‹mein Gott›,          Gottvertrauen im Leiden und Sterben,         Gottvertrauen in Entbehrung und Unglück,       Großzügigkeit
H Hausverstand,             Heiliger Geist – Lebensatem Gottes,            Heiliger Geist – Vernetzung,
Heldenmytos, Opfer, Dankbarkeit,      Herz,        Herzensgebet,           Hoffnung,          Horchen und Gehorchen
I Ich-Selbst,       Ich-Selbst und Ego,     Ich-Selbst werden
J Ja-sagen,     Jesus,       Jesus, der Christus       Jesus-Gebet,    
Jetzt im Doppelbereich,    Jetzt im Stundengebet,      Jetzt in diesem Augenblick,    Jetzt und ewiges Leben
K Konkurrenz / Wettbewerb / Rivalität,       Kontemplation,      Kontemplation im Handeln,       Kontrolle und Hingabe,
Konvertieren,       Kosmische Intelligenz,
Kreuz – Sinnbild,     Kreuz und Auferstehung,    Kreuz  und Erlösung,     Kreuz – Zeichen der Hoffnung,
Krise,     Kritik 
L Lebendigkeit,        Lebensvertrauen,
Leiden als Mitleiden,         Leiden in schwerer Krankheit,         Leiden – Kreuz tragen,       Leiden und das Leidige,
Leidenschaft für das Mögliche,       Licht,       Liebe,        Losgelöstheit
M Machtpyramide und Netzwerke,           Mich-Verlieren ‒ Finden,         Mitgefühl,         Muße,
Mystik – Mystiker,           Mystische Erfahrung 
N Nächstenliebe
O Ordnung
P Pilgerfahrt,            Prophetischer Gehorsam
R Reich Gottes,          Reich Gottes ‒ die Vision leben,          Reich Gottes ‒ erlösende Kraft,           Reich Gottes ‒ ‹auferstanden›, Reich Gottes ‹gekreuzigt›,      Reifen,
Religionen ‒ drei Ausdrucksformen,          Religionen – drei Innenwelten,          Religionen und heiles Gottesbild,
Religiosität – ethische Urquelle,           Religiosität – Staunen und Ehrfurcht,           Religiosität – Urquelle aller Religionen,
Riechen, Düfte, Erinnerung,        Rühmen, Er-innern, Aufheben
S Sakramentales Leben,       Schmecken, Ahnen, Weisheit,      Schuldgefühle      Schönheit,       Seele,      Segnen und Segen,
Sehen ‒ schöpferisches Schauen,       Singen,     
Sinn – dreifaltiges Mysterium,          Sinn und Feier,         Sinn und Zweck,         Sinne und Kind werden,        Sinne und Sinn,     Sinnenfreudiges Morgenlob,            Sinnlichkeit,            Sinnorgan Herz,          Sonnenedelstein,          Spiritualität,    
Sterben,           Sterben lernen,          Sterben und Angst,          Sterben und Tod,          Sterben und Wandlung,
Stille leben,          Stille zulassen,            Stillehalten,           Stop – Look – Go
T Tanz ‒ der Sinn des Ganzen,     Tasten, berühren, behüten      Tod,   Tod ‒ ‹memento mori›,    Tod und Auferstehung,    Treue
U Überraschung
V Vergebung,           Verhaltensmuster,           Vertrauen
W Wachstumsprozess,           Wiedergeburt
Z Zen,         Zeit der großen Glocken,              Zugehörigkeit
 
 

 Quellenangaben

quellenangabenCopyright © - Wilfried F. Noisternig

Bücher von David Steindl-Rast OSB
Abkürzung Quelle
AH 1) Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens: Ein Leben in Kontemplation, aus dem Englischen übertragen von Vanja Palmers. Einführung mit einem Wort von William Blakes. Deutsche Erstveröffentlichung, München, Goldmann Verlag 1988
AH 2) Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens: Ein Leben in Kontemplation, aus dem Amerikanischen von Vanja Palmers; Einführung mit einem Wort von William Blakes. Vollständige Taschenbuchausgabe bereits erschienen als Goldmann Taschenbuch; Nr. 12398, München, Goldmann Verlag 1997
AH 3) Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens [Achtsamkeit des Herzens], aus dem Englischen von Vanja Palmers; mit einem Vorwort von Anselm Grün; ergänzt mit «Leben aus der Stille» (S. 152-159) [siehe auch: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille] und «Ein Wunsch: Weihnachtsgruß zum Jahreswechsel 2004/2005» (S. 160) (= Herder Spektrum, Bd. 5604), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2005 (ST zitiert aus dieser Ausgabe)
AH 4) Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens [Achtsamkeit des Herzens], aus dem Englischen von Vanja Palmers; mit einem Vorwort von Anselm Grün; ergänzt mit «Leben aus der Stille» (S. 152-159) [siehe auch: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille] und «Ein Wunsch: Weihnachtsgruß zum Jahreswechsel 2004/2005» (S. 160) (= Herder Spektrum, Bd. 6610), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2013
AH 5) Steindl-Rast, David: Die Achtsamkeit des Herzens, aus dem Englischen von Vanja Palmers; mit einem Vorwort von Anselm Grün; ergänzt mit «Leben aus der Stille» (S. 152-159) [siehe auch: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille] und «Ein Wunsch: Weihnachtsgruß zum Jahreswechsel 2004/2005» (S. 160). Taschenbuchausgabe, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2021
  Steindl-Rast, David: Auf dem Weg der Stille: Das Heilige im Alltag leben; aus dem Amerikanischen von Bernardin Schellenberger, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2016
  Steindl-Rast, David: Auf dem Weg der Stille: Das Heilige im Alltag leben; aus dem Amerikanischen von Bernardin Schellenberger. Neuausgabe als Taschenbuch, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2023
  Steindl-Rast, David: Common sense: Die Weisheit, die alle verbindet: Sprichwörter der Völker; aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, München, Claudius Verlag 2009 [22014]
CG 1) Steindl-Rast, David: Credo: Ein Glaube, der alle verbindet; mit einem Vorwort des Dalai Lama, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2010 [42011]
CG 2) Steindl-Rast, David: Credo: Ein Glaube, der alle verbindet; mit einem Vorwort des Dalai Lama. Taschenbuch (= Herder Spektrum, Bd. 7116), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2012 [22015]
  Steindl-Rast, David: Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen, Münsterschwarzach, Vier-Türme-Verlag 2019 [22020]
  Steindl-Rast, David: Erwachende Worte: Meditative Gebete; illustriert mit Vignetten aus der Feder des Autors, Ostfildern, Patmos Verlag 2023
  Steindl-Rast, David / Nill, Balts: Der Fließweg: Gedanken zum Daodejing des Laozi, Innsbruck / Wien, Tyrolia-Verlag 2024
FN 1) Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts: Die Wiedergeburt christlicher Mystik, ins Deutsche übertragen von Knut Pflughaupt und Vanja Palmers, München, Dianus-Trikont Verlag 1985
FN 2) Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts : Die Wiedergeburt christlicher Mystik, ins Deutsche übertragen von Knut Pflughaupt und Vanja Palmers (= Goldmann-Taschenbuch, Bd. 12001), München, Goldmann, 1986 [31988]
FN 3) Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Neuausgabe (= Herder Spektrum, Bd. 5026), Freiburg / Basel / Wien, Herder 1999. (ST zitiert aus dieser Ausgabe)
FN 4) Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Neuausgabe mit einem Vorwort von Willigis Jäger (= Herder Spektrum, Bd. 5653), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2005
FN 5) Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Neuausgabe mit einem Vorwort von Willigis Jäger, Freiburg, Kreuz Verlag 2015
FN 6) Steindl-Rast, David: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. Bisheriger Titel: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen. Neuausgabe mit einem Vorwort von Fernand Braun, Freiburg, Herder Verlag 2018
  Steindl-Rast, David: Die Kraft des Staunens: Der Schönheit der Welt begegnen - 99 Blessings, Wien, Kneipp Verlag 2022
MS 1) Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: Musik der Stille: Mit Gregorianischen Gesängen zu sich selbst finden, aus dem Amerikanischen von Franchita Cattani. Deutsche Erstausgabe (= Knaur-Taschenbücher, Bd. 86116), München, Droemersche Varlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 1995
MS 2) Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: Musik der Stille: Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens. Von David Steindl-Rast unter Mitwirkung von Rosemarie Primault, völlig neu bearbeitete Ausgabe, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2008. (ST zitiert aus dieser Ausgabe) 
MS 3) Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: Musik der Stille: Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens. Vollständig überarbeitete Neuausgabe; mit einem Vorwort von Anselm Grün (= Herder Spektrum, Bd. 6278), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2010
MS 4) Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: Musik der Stille: Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens. Neuausgabe; mit einem Vorwort von Anselm Grün, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2015
MS 5) Steindl-Rast, David / Lebell, Sharon: MUSIK DER STILLE: Die Gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens. Mit QR-Code zu den Gregorianischen Gesängen. Taschenbuch; mit einem Vorwort von Anselm Grün, Darmstadt, Sprachlichter Verlag 12023
  Steindl-Rast, David: 99 Namen Gottes: Betrachtungen; mit Kalligraphien von Shams Anwari-Alhosseyni, Innsbruck/ Wien, Tyrolia-Verlag 2019
  Steindl-Rast, David: Orientierung finden: Schlüsselworte für ein erfülltes Leben; in zwei aufeinander bezogenen Teilen:
Teil 1: Orientierungsschritte ‒ anhand von 21 Schlüsselworten, 12-125;
Teil 2: Orientierungspunkte: Leseprobe «Das ABC der Schlüsselworte», 128-166, Innsbruck, Wien, Tyrolia-Verlag 2021
SD Steindl-Rast, David, in: Werner Binder (Hg.): Staunen und Dankbarkeit: Der Weg zum spirituellen Erwachen; mit einem Eingeständnis des Autors (= Herder Spektrum, Bd. 4424), Freiburg / Basel / Wien, Herder 1996
ST Steindl-Rast, David, in: Bohn, Ulla (Hg.): Die schönsten Texte von David Steindl-Rast (= Perlen der Weisheit) (= Herder Spektrum, Bd. 6211), Freiburg / Basel / Wien, Herder 2010 (enthält 77 Texte, siehe: Inhalt, Quellen und Abkürzungen)
SW Aitken, Robert / Steindl-Rast, David: Der Spirituelle Weg: Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben: Ein Dialog, München, Droemer Knaur Verlag 1996
  Steindl-Rast, David: Und ich mag mich nicht bewahren: Vom Älterwerden und Reifen, Innsbruck, Verlagsanstalt Tyrolia 2012
Dieses Buch ist nach einem Vortrag entstanden, den Bruder David im September 2005 in der Propstei St. Gerold im Großen Walsertal (Vorarlberg) zum Thema Fragen, die uns bewegen  gehalten hat.
Der Vortrag von Bruder David ist im Tyrolia-Verlag auch als CD erschienen: Und ich mag mich nicht bewahren (Audio-CD) (2012)
  Steindl-Rast, David / Kwizda-Gredler, Brigitte: Das Vaterunser: Ein Gebet für alle, Innsbruck / Wien, Tyrolia-Verlag 2022
  Steindl-Rast, David: Vernetzungen: Eine Begegnung mit Thomas Merton. Taschenbuch; Übersetzung aus dem Amerikanischen: Eve Landis, Darmstadt, Sprachlichter Verlag 12024
WZ 1) Capra, Fritjof / Steindl-Rast, David / Mann, Thomas: Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie; aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher, Bern / München / Wien, Scherz Verlag 1991. (ST zitiert aus dieser Ausgabe)
WZ 2) Capra, Fritjof / Steindl-Rast, David / Mann: Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie; aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher. Taschenbuch (= dtv Sachbuch, Bd. 30371), München, Deutscher Taschenbuch Verlag 1993
WZ 3) Capra, Fritjof / Steindl-Rast, David / Mann: Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie; aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher. Taschenbuch, (= dtv Sachbuch, Bd. 30371), München, Deutscher Taschenbuch Verlag 21994
WZ 4) Capra, Fritjof / Steindl-Rast, David / Mann: Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie; aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher. Taschenbuch, Berlin, Verlag Fischer 2015
SD Steindl-Rast, David, in: Werner Binder (Hg.): Staunen und Dankbarkeit: Der Weg zum spirituellen Erwachen; mit einem Eingeständnis des Autors (= Herder Spektrum, Bd. 4424), Freiburg / Basel / Wien, Herder 1996
 
Bücher mit Beitrag von David Steindl-Rast OSB
                  
Steindl-Rast, David: Arbeit und Schweigen - Handeln und Kontemplation, in: Hans-Petzer Dürr, Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.): Geist und Natur: Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Bern / München / Wien, Scherz Verlag 31990, 289-301
                       
Steindl-Rast, David: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis, in: Peter Lengsfeld (Hrsg.): Mystik - Spiritualität der Zukunft, Freiburg / Basel / Wien: Herder 2005, 76-83
                     Steindl-Rast, David: Im Paradoxen Sinn erfahren: Vortrag und Dialog, in: Aufwachsen in Widersprüchen, Tagungsbericht der 38. Werktagung 1989, hrsg. von Franz Wust … [et al.] (= Veröffentlichung der Salzburger Internationalen Pädagogischen Werktagungen; Bd. 44), Salzburg, Otto Müller Verlag 1990, 59-71
(siehe auch den Audio-Vortrag: Aufwachsen in Widersprüchen (1989): «Im Paradoxen Sinn erfahren: Vortrag und Dialog»
                      Steindl-Rast, David: Jesus als Wort Gottes  in vergleichender religionspsychologischer Sicht, in: Ansgar Paus (Hrsg.): Die Frage nach Jesus, Graz / Wien / Köln: Verlag Styria 1973, 9-67
                      Steindl-Rast, David: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille: Geleitwort und Epilog, in: Michael Fischer (Hg.): Buch der Ruhe und der Stille: Inspirationen aus dem Geist der Klöster, Freiburg / Basel / Wien, Herder 2003, 179-184
  Steindl-Rast, David: Der Mönch in uns, in: Richard Baker-roshi (Hg.): Antwort der Erde: Wegweiser zu einer planetaren Kultur. Mit Beiträgen von: Russell Schweickart u.a.; Übersetzung: Richard Illig u.a., München, Verlag Ahorn 1978, 22-38
  Steindl-Rast, David: Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution: Eine Betrachtung; Vortrag anlässlich des von Christina und Stanislav Grof koordinierten einmonatigen Seminars über das Thema Grenzen der Bewusstseinsforschung, abgehalten im Esalen-Institut im Mai 1985, in: Stanislav Grof (Hg.): Die Chance der Menschheit: Bewusstseinsentwicklung ‒ der Ausweg aus der globalen Krise. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Wolfgang Stifter, München: Kösel-Verlag 1988, 168-194
  Steindl-Rast, David: Vom Rhythmus des Lebens: Eröffnungsvortrag, in: Aufwachsen in Widersprüchen, Tagungsbericht der 38. Werktagung 1989, hrsg. von Franz Wust … [et al.] (= Veröffentlichung der Salzburger Internationalen Pädagogischen Werktagungen; Bd. 44), Salzburg, Otto Müller Verlag 1990, 13-22
(siehe auch den Audio-Vortrag: Aufwachsen in Widersprüchen (1989): «Vom Rhythmus des Lebens: Eröffnungsreferat und Dialog»)
  Enomiya-Lassalle, Hugo Makabi: «Wohin geht der Mensch?» Taschenbuch;  mit einem von David Steindl-Rast ursprünglich für die englische Ausgabe des Buches [Living in the New Consciousness, Shambhala, Boston 1988] verfassten und für diese Neuausgabe überarbeiteten und von Eve Landis übersetzten Vorwort, Sprachlichter Verlag, Darmstadt 2022, 7-12
Texte in  grateful.org
GR              
ausgewählt, aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Ulla Bohn in
ST
unter dem Titel:
Titel in ST Titel in www.gratefulness.org
Depression Practicing Gratitude
Furcht Overcoming Fear
Gelegenheit Listening for Opportunity
Gott Praying the Great Dance
Jesius-Gebet Heroic Virtue
Ordnung Become what You Are
Reich Gottes The Treasure Within (gelöscht)
Rosenkranz Rosary Prayer as Christian Mantra
Sexualität Heroic Virtue
Wege The Heart of Prayer
Wiedergeburt Learning to Die

xxx

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

achtsamkeitCopyright © - Barbara Krähmer

Vergegenwärtigen Sie sich achtsame Menschen: Sie sind fest in ihren Körpern verwurzelt. Sie sind in ihrem Körper lebendig. Aber es ist bezeichnend, dass wir dafür kein Wort haben und es einfach nur als achtsam im Sinn von geistig wach sein bezeichnen. Das weist darauf hin, dass etwas fehlt. Wenn in unserer Sprache ein Wort fehlt, dann fehlt damit auch eine Einsicht, nämlich in diesem Fall die Einsicht, dass volles Lebendigsein volles geistiges und auch körperliches Wachsein umfasst, und dass hier von diesem vollen Lebendigsein die Rede sein soll.

Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an der Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.

T. S. Eliot sagte: «Der Mensch kann nicht viel Realität aushalten.» Aber in verschiedenen Graden können wir die Realität aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Realität auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Realität zu kommen, mit der ganzen Realität, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen. [Auf dem Weg der Stille (2016) 68f.]

Im Kloster wird Zeit und Raum so eingeteilt, dass die Achtsamkeit gefördert wird; mit Bewusstsein und im Gefühl des Segens. Nahrung zuzubereiten und zu essen ist eine grundlegende Tätigkeit, um die Achtsamkeit in unseren Alltag einzufügen. Unsere Brüder in buddhistischen Klöstern singen: «Unzählige Arbeiten waren nötig, um uns dieses Essen zu bescheren; wir sollten wissen, wodurch es uns geschenkt wurde.» Und sie fahren fort: «Wir wollen uns fragen, ob unsere Tugend und Übung diese Nahrung verdienen.» Wir essen, um dienen zu können; wir ernähren uns, um anderen zu Diensten sein und in irgendeiner Form weiterzugeben, was wir bekommen haben.

Wenn wir den Segen des Lebendigseins erkennen, entspringt daraus ganz spontan eine demütige Haltung, ein nützlicher, praktischer Dienst und Sorgfalt in Einzelheiten. Das ist auch etwas, was wir in jeder Lebenslage üben können. Das eine bedingt und fördert das andere: Wenn wir uns liebevoll um Einzelheiten kümmern, die uns so leicht entfallen, während wir uns auf die scheinbar großen Dinge konzentrieren, dann entsteht eine Haltung der Sorgsamkeit und Zärtlichkeit. Wir müssen ohnehin kochen und putzen, also können wir es genauso gut liebevoll und sorgsam tun.
[ST 12, Quelle: MS 5) 85f.]

Jeder wirklich achtsame Mensch erkennt, dass alles ein Geschenk ist. Niemand schuldet es uns, wir haben es nicht gekauft und haben nicht dafür bezahlt. Es ist kostenlos, und wir reagieren mit Dankbarkeit auf diese kostenlose Wirklichkeit.

Es hilft, täglich wenigstens eine Überraschung wahrzunehmen, irgend etwas, was überraschend und unvorhergesehen ist. Vielleicht ist es das Wetter, vielleicht ein Anblick, auf den wir aufmerksam werden. Es kann ein angenehmes oder ein unangenehmes Ereignis sein. Wenn wir unser Herz öffnen, um etwas Überraschendes hineinzulassen, wird es uns immer klarer, wie viele Überraschungen jeder Tag enthält, und mit der Zeit erkennen wir, dass wir in einem Universum leben, das irgendwie zu uns spricht. Wenn wir das erst einmal erkannt haben, hören wir ganz selbstverständlich hin, weil wir die Botschaft hören wollen.
[ST 13, Quelle: SW 102]

[Ergänzend:

1. ACHTSAMKEIT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 128:

«Achtsamkeit ist das Gegenteil von Zerstreutheit, bedeutet eine Haltung erhöhter Aufmerksamkeit und aufgeweckter, aber entspannter Konzentration. Während jedoch Konzentration typisch unsre Aufmerksamkeit auf einen Brennpunkt verengt, erweitert die Achtsamkeit ihren Bereich ins Grenzenlose.

Der Dichter T. S. Eliot kennzeichnet dieses Paradox als ‹Konzentration ohne Ausblendung›.[1]

Es ist aber nicht genug, nichts auszublenden, sondern wir müssen bewusst unser Gegenüber einblenden, sonst zeigt sich nämlich in der Praxis, dass wir dazu neigen, uns auf uns selbst zu konzentrieren.

Achtsamkeitsübungen, so wichtig und hilfreich sie sein können, sind nicht selten überwiegend selbstbezogen. Dadurch gleitet manches, was sich fälschlich Achtsamkeit nennt, in Selbstbespiegelung ab.

Echte Achtsamkeit zeigt sich uns in Menschen, die für ihr jeweiliges Gegenüber wach und zum Dialog bereit sind.»

2. Im Vortrag Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014) klärt Br. David gleich zu Beginn die Begriffe Achtsamkeit ‒ Spiritualität ‒ Dankbarkeit und Dankbar leben. Er beobachtet ‒ seit «Achtsamkeit» in aller Munde ist ‒ eine Bedeutungsverschiebung dieses Begriffs in Richtung auf «meine» Wünsche und Bewertungen und nicht mehr auf: «Wovon werde ich jetzt beeindruckt?» «Welche Gelegenheit bietet mir jetzt das Leben?»]

 _______________________

[1] «Concentration without elimination …»

T. S. Eliot: «Four Quartets»: «Burnt Norton», II, ebenfalls zitiert in: Auf dem Weg der Stille (2016), 60f. und in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 44 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 42]: «Konzentration, die nichts ausgrenzt.»



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

andacht titelCopyright © - Ronja Forster

Welche Tätigkeiten lösen in dir regelmäßig spontane Andacht aus, so dass dein Herz ganz ohne Mühe dabei ist? Vielleicht ist es die erste Tasse Kaffee am Morgen, die Art und Weise, in der sie dich wärmt und wach macht, oder der Spaziergang mit deinem Hund, oder die Huckepack-Tour mit einem kleinen Kind. Dein Herz ist voll dabei, und so findest du auch Sinn darin ‒ keinen Sinn, den du in Worte fassen könntest, sondern Sinnfülle, in der du Ruhe finden kannst. Das sind Momente gesammelter Andacht, auch wenn wir sie nie als Gebet betrachtet haben. Sie zeigen uns die enge Verbindung von Gebet und Spiel. Diese Augenblicke, in denen unser Herz ‒ ganz gleichwie kurz ‒ in Gott Ruhe findet, sind Beispiele dafür, was Gebet eigentlich ist. Könnten wir diese innere Haltung aufrechterhalten, dann würde unser ganzes Leben zum Gebet werden.

Zugegeben, es ist keine leichte Aufgabe, die Sammlung, Dankbarkeit und Andacht jener Augenblicke, in denen das Herz voll ist, aufrechtzuerhalten. Aber jetzt wissen wir wenigstens, worauf wir hinauswollen. Es ist, als wollten wir lernen, einen Bleistift auf einer Fingerspitze zu balancieren. Darüber zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Haben wir es aber ein einziges Mal geschafft, dann wissen wir wenigstens, dass wir es können und wie es gemacht wird. Der Rest ist eine Frage der Übung und des Immer-wieder-Probierens, bis es zur zweiten Natur geworden ist. Auf das Gebet angewandt könnte dies bedeuten, jeden Mundvoll genauso aufmerksam zu essen und zu trinken, wie wir jene erste Tasse Kaffee trinken. Und bald schon entdecken wir, dass Essen und Trinken Gebet sein kann. Wenn wir «ohne Unterlass beten» sollen, wie könnten wir da beim Essen und Trinken mit dem Beten aufhören?
[ST 16f., Quelle: FN 1) 42f.; 2-3) 45]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

achtsamkeit uebenCopyright © - Barbara Krähmer

Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht es ist, die Aufmerksamkeit zu verlieren. Die Übersättigung unserer Sinne führt dazu, dass unsere Wachsamkeit eingeschläfert wird. Eine Flut von Sinneseindrücken neigt dazu, unser Herz von der konzentrierten Achtsamkeit abzulenken. Das schenkt mir eine neue Wertschätzung der Eremitage und ein neues Verständnis dafür, worum es in der Einsamkeit geht. Der Eremit ‒ der Eremit in jedem von uns ‒ läuft nicht vor der Welt davon, sondern sucht nach dem stillen Punkt im Inneren, worin man den Herzschlag der Welt vernehmen kann. Wir alle ‒ jede und jeder in anderem Maß ‒ bedürfen des Alleinseins, weil wir uns unbedingt in die Achtsamkeit einüben müssen.

Wie soll das praktisch aussehen? Gibt es für die Kultivierung der Achtsamkeit eine Methode?

Ja, dafür gibt es sogar viele Methoden. Diejenige, die ich gewählt habe, ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit kann man praktizieren, kultivieren, lernen. Je stärker unsere Dankbarkeit wächst, desto stärker wird auch unsere Achtsamkeit.

Ehe ich morgens die Augen aufschlage, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe, jedoch Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind, und zwar die Mehrzahl von ihnen aufgrund von Bedingungen, die sich verbessern ließen, wenn nur unsere Menschheitsfamilie zu Verstand kommen und ihre Ressourcen vernünftig und gerecht einsetzen würde. Wenn ich mit diesen Gedanken die Augen aufschlage, sind die Chancen groß, dass ich für das Geschenk, sehen zu können, dankbarer bin und aufmerksamer für die Bedürfnisse derer, denen dieses Geschenk fehlt.

Bevor ich abends das Licht ausschalte, vermerke ich in meinem Taschenkalender immer eine Sache, für die ich noch nie dankbar war. Das übe ich schon jahrelang, und der Vorrat an Themen kommt mir immer noch unerschöpflich vor.
[Auf dem Weg der Stille (2016) 88f.]



Quellenangaben

Interviews, Film, Text, und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

fuerchte dich nichtCopyright © - Ronja Forster

«Eine der wichtigsten Unterscheidungen, auf die ich immer wieder hinweisen muss, ist die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht.

Angst ist unvermeidlich, besonders wenn wir es mit großen Gefahren wie dem Virus zu tun haben.

Sich fürchten heißt, sich gegen die Angst zu sträuben.

Das ist nutzlose Verschwendung von unserer Energie. Das können wir uns nicht leisten. Wir benötigen gerade bei hoher Gefährdung all unsere Energie, um konstruktiv mit der Gefahr umgehen zu können. 

Wenn man mir sagt: ‹Hab‘ keine Angst!›, dann bemerke ich oft erst, dass reichlich Grund für Angst vorhanden ist.

‹Fürchte dich nicht!› ist etwas ganz anderes.

Je grösser die Angst, umso grösser der Mut, der sie furchtlos durchzustehen wagt.

Jede Gefahr fordert uns heraus, furchtlos durch die Enge unserer Angst hindurchzugehen, wie wir ja schon bei unserer Geburt die Enge des Geburtskanals überstehen müssen.

Durch Mut werden wir zwar die Angst nicht los, aber die Furcht bleibt uns erspart. Wir vertrauen auf etwas, das sich durch Lebenserfahrung immer wieder bewahrheitet:

Angst ist ein Tunnel, an dessen Ausgang uns eine neue Geburt bevorsteht.

Wenn wir heute mutig mit der Gefahr der Pandemie umgehen, dann ist noch gar nicht abzusehen, wieviel gutes Neues wir gemeinsam daraus machen können.

Der dringende Rat also, den ich Menschen mitgeben möchte, die sich vor dem Virus fürchten ist dieser:

‹Fürchte dich nicht!›

In der Bibel soll dieser Aufruf 365mal vorkommen. Ich hab’s nicht nachgezählt, aber es kann nicht schaden, uns an jedem Tag des Jahres mindestens einmal zuzurufen:

‹Fürchte dich nicht!›»

[Worum sich letzlich alles dreht: Bruder David im Interview vom Tyrolia Verlag kurz vor seinem 95. Geburtstag am 12. Juli 2021]

(Filminterview 34:44)     «Mein innigster persönlicher Wunsch ist eigentlich, inmitten aller Angst die Furcht in mir selber zu überwinden und andern Menschen zu helfen, sich nicht zu fürchten.

Denn alles, was schief geht, entspringt dieser Furcht. Und wenn man zu Menschen freundlich ist – richtig freundlich sein –, dann nimmt man ihnen irgendwie die Furcht weg.

Die Angst kann man niemandem wegnehmen, nur die Furcht:

‹Sträube dich nicht!›

Und darum kommt es mir sehr viel drauf an, freundlich zu sein.

Ich hoffe immer, wenn ich in der Früh die Augen aufschlage, dass ich heute einmal Gelegenheit habe, wirklich jemandem was recht Liebes zu tun, was sie freut.

Und wenn wir uns freuen, bricht dieser Sträube-Mechanismus irgendwie zusammen und dann fürchten wir uns nicht.

Das ist schon der wichtigste Satz:

‹Fürchte dich nicht!›

Und den möchte ich selber verwirklichen und Andern dazu helfen.» [Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription]

[Ergänzend:

1. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Interview mit Bruder David von Evelin Gander:

«Sterben gehört ebenso zum Leben, wie Geborenwerden. Deshalb habe ich keine Angst vor dem Tod als solchem. Wenn der Apfel reif ist, fällt er ab vom Baum. Ausreifen zu dürfen ist ein großes Geschenk. Ich bin dankbar für die Gelegenheit, auch jetzt noch dazulernen zu dürfen im hohen Alter.

Was mir Angst macht, ist das Drum und Dran beim Sterben – das Kranksein, das ja meist dazugehört, vielleicht Schmerzen und jedenfalls der zunehmende Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten, der schon jetzt beginnt.

Aber ich weiß aus Erfahrung, dass wir uns nicht fürchten müssen vor den Engpässen, durch die das Leben uns führt. Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt dadurch in der Enge stecken.

Wenn wir aber unsere Angst zulassen und vertrauensvoll auf sie zugehen, dann führt das Leben uns hindurch, wie durch einen engen Geburtskanal. Wir können uns in diesem Vertrauen üben. Das ist eine gute Vorbereitung auf den Tod.»

2.1. Musik der Stille (2023): 129, 131, 136f.

«Wir haben Schwierigkeiten, uns die Angst vor der Nacht vorzustellen, unter der Menschen früherer Jahrhunderte litten. Wir machen einfach Licht, und die Dunkelheit ist weg. Aber wir wissen, wie Kinder unwillkürlich Angst vor der Dunkelheit haben, und manchmal überkommt auch uns die Angst, von der Schwärze verschluckt zu werden, wenn etwa der Strom ausfällt oder uns die Dunkelheit bei einer Wanderung in einer unwegsamen Gegend überrascht.

Im Wesentlichen ist unsere Furcht vor der Dunkelheit die Furcht vor dem Unbekannten. Und genauso, wie wir die äußere Dunkelheit fürchten, fürchten wir auch die Dunkelheit in den verborgenen Winkeln unserer Seele.

Die Furcht ist der Maßstab des Glaubens.

Furcht an sich ist nichts, solange ihr der Glaube um eine Nasenlänge voraus ist.

Je größer die Furcht, desto herrlicher der Mut des Glaubens, der sie überwindet.

Wenn wir die Höhen des Glaubens erklimmen wollen, müssen wir unsere Ängste geradewegs anschauen und sie auf die einfache, aber direkte Frage zurückführen:

‹Was macht mir eigentlich Angst›?

Wenn wir diese Frage stellen, geben wir unseren Ängsten Gestalt und definieren sie, und das nimmt ihnen die Macht. Alpträume üben nur so lange Macht über uns aus, wie sie undefiniert bleiben.»

2.2. Musik der Stille (2015): 134-136

«Das zentrale biblische Thema vom Reich Gottes ist ein Archetyp für die Welt, wie Gott sie wollte: ein Ort, an dem wir daheim sind und uns als Mitschöpfer betätigen. Wenn wir uns diesem Zugehörigkeitsgefühl zum Universum anvertrauen, geht alles gut, und wenn uns das Schlimmste zustößt, können wir sogar darin einen Sinn sehen.

Wenn wir jedoch dieses Vertrauen nicht haben und unserer Ängstlichkeit nachgeben, dann ist das Schlimmste bereits geschehen. Dann machen wir uns zu existentiellen Waisen in einer fremden Welt.

Letztlich haben wir die Wahl, im Universum zu leben und das Universum als das Zuhause anzusehen, das Gott für uns geschaffen hat, oder in Angst und Misstrauen zu leben.

Wir müssen uns entscheiden.

Das ist die wichtigste Entscheidung, die wir jeden Tag, den wir verleben, zu treffen haben. Wenn wir vertrauen, sind wir in Frieden; wenn nicht, werden wir es nie sein.

Eines jeden Herz stellt der Nacht diese Frage: Bin ich sicher und geliebt?

Wir müssen sie jedem, vor allem unsern Kindern vermitteln.

Wenn wir aufwachen, ohne dass irgendjemand uns diese Sicherheit vermittelt, dann ist es schwierig, überhaupt je in dieser Welt heimisch zu werden.

Jeder kennt solche unglücklichen Menschen, die nie Sicherheit und Liebe erfahren haben. Wenn uns niemand hilft, das Universum als unser göttliches Zuhause zu erfahren, dann sind wir alle, um eine eindrucksvolle Wendung Robert Heinleins zu gebrauchen, ‹Fremde in einem fremden Land.›»

3.1. Audios Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010): Im Oktober 2010 stellte Bruder David sein neues Buch «Credo: Ein Glaube, der alle verbindet» vor in Vorträgen in Freiburg im Breisgau, München und Wien. In diesen Vorträgen spricht Bruder David davon, dass unsere Vorurteile schwinden, je furchtloser wir uns Andern nähern:

Audio-Fokus aus dem Vortrag in München / (27:27) «‹Fürchte dich nicht› ‒ mein liebstes Bibelwort»

3.2. Audio-Fokus aus dem Vortrag 2010 ‒ Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden ‒ Fragerunde / (37:41) «‹Fürchte dich nicht› ‒ auch vor der Hölle nicht»]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

eucharistie titelCopyright © - Ronja Forster

Der Kampf zwischen Furcht und Glaube kristallisiert sich im Bild von Jesus in seinem Seelenkampf. Am Ölberg wird er zum «Pionier unseres Glaubens». Aber dieser Vorausmarsch kostet Ihn blutigen Schweiß. Am Ende nimmt er den Kelch entgegen, wie er zuvor die Steine anstelle von Brot entgegengenommen hatte. Besteht da nicht ein Zusammenhang zwischen diesem Brot und Kelch und dem Brot und Kelch des Abendmahls?

Wann immer Christen das Abendmahl feiern,

das Bort brechen und den Kelch teilen, feiern sie Leben in Fülle. Ja, aber im Hinblick auf den Tod, auf den blutigen Seelenkampf, in dem der Glaube die Angst überwindet. So oft wir das Abendmahl feiern, werden wir aufgerufen, mit Christus von unseren Ängsten zum Glauben überzugehen.

Selbst die Symbole des Abendmahls sind doppeldeutige Symbole. Brot ist ein Symbol des Lebens. Das Brechen des Brotes bezeichnet das gemeinsame Leben, das in der Gemeinsamkeit wächst. Und doch bezeichnet das Brechen auch Zerstörung, es erinnert an den im Tod gebrochenen Leib. Der Kelch des Blutes verweist auf den Tod. Aber es ist auch der Kelch, der in festlichen Versammlungen von Freunden zur Feier des Lebens die Runde macht. Es verlangt Mut, sich dieser doppelten Bedeutung zu stellen. Nur gemeinsam können die beiden Aspekte die ganze Fülle ausdrücken.

Den Mut, dessen es bedarf, das Leben unter dem Bild des Todes zu empfangen ‒ das ist der Mut des Glaubens,

der Mut der Dankbarkeit: Vertrauen auf den Geber.

Treten wir zum Altar, um Brot und Kelch zu empfangen, dann verlang das Mut Es ist eine Geste, durch die wir sagen: «Ich vertraue gläubig, dass ich von jedem Wort leben kann, das aus dem Munde Gottes kommt, selbst dann, wenn es Tod bedeutet.»

Was bleibt, ist diesen Akt des Glaubens ins tägliche Leben zu tragen. Und dies geschieht durch Dankbarkeit. Die christliche Abendmahlsfeier heißt schließlich Eucharistie, Danksagung. Indem wir lernen, für Leben und Tod, für diese ganze gegebene Welt zu danken, finden wir wahre Freude. Es ist die Freude mutigen Glaubens, die Freude, die wir finden, wenn wir uns auf die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge verlassen. Es ist die Freude der Dankbarkeit umarmt von der Fülle des Lebens. [FN 1) 104f.; 2-5) 106f.; 6) 107f.]

[Auszug aus: Vom Worte Gottes leben  –  Die Versuchung Jesu im Garten (2021)]

Was bleibt, ist diesen Akt des Glaubens ins tägliche Leben zu tragen. Und dies geschieht durch Dankbarkeit. Die christliche Abendmahlsfeier heißt schließlich Eucharistie, Danksagung. Indem wir lernen, für Leben und Tod, für diese ganze gegebene Welt zu danken, finden wir wahre Freude. …



Quellenangaben

logo bibliothek

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.