Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © -Arijana Somolanji Kurbanović

[Audio Vortrag(03:58-9:53)] «Ich möchte mit ein paar Zeilen eines Gedichtes aus Rilkes Stundenbuch beginnen, die unsere Situation recht gut kennzeichnen, die Situation aus der vielleicht viele von euch heute Abend hierhergekommen sind:

Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.›

Dieses Verrinnen, dieses sich Verlieren ist genau das Gegenteil von der Sammlung, die uns zu unserer Herzmitte führt.

Darum auch nicht nur die Beschreibung dieser Situation, die wir so gut aus unserer eigenen Erfahrung kennen, aus dem täglichen Leben:

‹Ich verrinne, ich verrinne›: ich verliere mich, ‹ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt›
,

sondern ich fühle den Schmerz dieses Verrinnens am meisten mitten im Herzen, am meisten dort, wo ich gesammelt sein sollte, aber nicht gesammelt bin.

‹Ich habe auf einmal so viele Sinne›: die Sinne, die einander widersprechen, die Sinne, die uns hinausziehen und uns hinauslocken, weil wir sie nicht zusammenbringen können in einen Sinn.

Die Frage des Sinnlichen ist ungeheuer wichtig im Zusammenhang mit dem Herzen: Es ist nur durch die Sinne, dass wir Sinn finden können. Aber unsere Sinne können einander widersprechen, wie das eben hier so schön heißt:

‹Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.›

Anstatt dankbar empfangend zu sein, sind sie durstig und widersprechen einander. Und die große Aufgabe, wenn wir das Herz finden wollen, ist, diese Sinne in unserer Sinnlichkeit zu sammeln und die Sinne in ein Sinnbild zu sammeln.

Und daher ein paar andere Zeilen auch aus dem Stundenbuch Rilkes:

‹Wer seines Lebens viele Widersinne (die einander widersprechenden Sinne)
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.

Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.›

Ein Gebet an Gott gerichtet:

‹Du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt›,

wenn es ihm gelingt, seines Lebens viele Widersinne zu versöhnen und dankbar in ein Sinnbild zu fassen.

Darum geht es uns und darum ist es auch so hilfreich, Bilder aus der Dichtersprache dazu zu verwenden, die uns helfen, unser eigenes Erleben zu fassen und in ein Sinnbild zu fassen.

Wir können Sinn letztlich nur durch die Sinne finden. Wie sollten wir ihn anders finden? Thomas von Aquin sagt schon, dass nichts in unserem Intellekt ist, was nicht durch die Sinne hereingekommen ist.

Wir wären leer ohne die Sinne. Die Sinne können auch einander widersprechen, können durstig uns zerreißen, wenn wir sie nicht zusammenführen und es ist das Sinnbild, durch das wir sie zusammenführen und in dem wir dann Sinn finden.

Sinn bedeutet in diesem Zusammenhang das, worin wir Ruhe finden. Das worin wir ausruhen können. Das womit wir das Leben feiern können.

Darum sagt Rilke auch: Wem dies gelingt, der ‹wird  a n d e r s  festlich›, anders festlich als unsere weltlichen Feste sind: Der hat die Mitte gefunden, für den wird das Göttliche zum ‹Zweiten seiner Einsamkeit›,

‹die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.›

Wir alle kennen ‒ und hier richte ich mich an ihr eigenes Erleben ‒, es kommt ja sehr viel darauf an, dass wir nicht Abstraktionen herumwerfen, sondern, dass wir vom Erlebten zum Erlebnis sprechen, dass wir in der Erinnerung unsere eigenen Erlebnisse hier hereinbringen:

Ich glaube, Sie erinnern sich alle an Augenblicke, in denen uns das Leben plötzlich in ein Sinnbild gefasst wird. Manchmal ist es ein visuelles Sinnbild, manchmal ist es Musik, manchmal ist es eine Begegnung: auf viele verschiedene Arten kann sich plötzlich alles für uns in ein Bild sammeln, in ein Wort sammeln.»[1]

Wenn wir unseres Lebens viele Widersinne versöhnen und dankbar in ein Sinnbild fassen: Was kann dieses Sinnbild sein?

Clemens Brentano nennt in einem wunderschönen Gedicht das Feldkreuz als dieses Sinnbild. Er hat dieses Gedicht an das Ende seines Buches gestellt und damit eigentlich an das Ende von allem, was er geschrieben hat.[2]

«Was reif in diesen Zeilen steht,
Was lächelnd winkt und sinnend fleht,
Das soll kein Kind betrüben,
Die Einfalt hat es ausgesäet,
Die Schwermut hat hindurchgeweht,
Die Sehnsucht hat's getrieben;
Und ist das Feld einst abgemäht,
Die Armut durch die Stoppeln geht,
Sucht Ähren, die geblieben,
Sucht Lieb', die für sie untergeht,
Sucht Lieb', die mit ihr aufersteht,
Sucht Lieb', die sie kann lieben,
Und hat sie einsam und verschmäht,
Die Nacht durch dankend in Gebet,
Die Körner ausgerieben,
Liest sie, als früh der Hahn gekräht,
Was Lieb' erhielt, was Leid verweht,
Ans Feldkreuz angeschrieben,
O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!»

Im Kreuz steht die Gegenwart, das Jetzt, senkrecht auf dem Fluss der Zeit: der gegebene Augenblick. Brentano findet ans Feldkreuz angeschrieben diese Worte. Und er findet den Gekreuzigten, der ihm zum Sinnbild wird.

«Oh Stern und Blume
Geist und Kleid
Lieb, Leid und
Zeit und Ewigkeit!»

In allem, was es gibt, drückt sich das Grenzenlose, Unbegrenzte und Unendliche aus. Es drückt sich in allen Formen aus. Der Stern etwa zeigt sich in der Blume. Kinder zeichnen das gerne, den Stern. Oder die Sonne oben und drunter die Sonnenblume, oder den Stern und die Sternblume.

«Oh Stern» ‒ das Unendliche ‒ und die Blume ‒ das ganz Kleine.

«Geist und Kleid»: Alles, was wir sehen, ist Kleid des Geistes. Alles, was es gibt, ist Gabe dieses unbegrenzten Es, das uns alles gibt.

Auch «Lieb und Leid». Im Leid drückt sich die Liebe völlig aus. Das Unbegrenzte ist die Liebe, das Leid ist die begrenzte Form, in der wir hier in diesem Leben die Liebe am tiefsten erfahren. Dieses Sinnbild ist am Feldkreuz angeschrieben.

Und schließlich: «Zeit und Ewigkeit». Am Feldkreuz wird es umgedreht: «Ewigkeit und Zeit». Die Ewigkeit drückt sich in der Zeit aus, in dem Augenblick. So wie der Stern in der Blume, wie der Geist in seinen vielen Kleidern, wie die Liebe sich im Leid ausdrückt. Zeit und Ewigkeit. Das ist das Sinnbild, scheint mir, in dem wir die vielen Widersinne unseres Lebens versöhnen und dankbar zusammenfassen ‒ das Kreuz.[3]

Johannes Kaup: «Das Geistige und das Emotionale, das Leibliche und Seelische, das Profane und das Heilige, das Zeitliche und das Ewige: Wie hängen diese Doppelbereiche zusammen bzw. wie existieren Sie in diesen Doppelbereichen so, dass Sie nicht an einer Gespaltenheit leiden?»

Bruder David: «Diese Gegensätze begegnen uns überall, und die wichtige Einsicht ist, dass wir sie zwar unterscheiden können, aber nicht trennen dürfen. Sie bleiben Gegensätze, gehören aber innig zueinander und bedingen einander. Sie polarisieren nicht das Leben, sondern sind Pole einer unteilbaren Einheit.

Clemens Brentano weist an einer wichtigen Stelle seiner Dichtung auf Pole jeder vollen Lebendigkeit hin:

‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.›

Rilke hat dafür den schönen Begriff Doppelbereich geprägt.

Wir können Polarisierung dadurch vermeiden, dass wir den einen Pol anschauen und in diesem Pol schon den anderen sehen. Ich schaue z. B. auf die Zeit und erfahre in der Zeit die Ewigkeit, eben das Jetzt, das über die Zeit hinausgeht. Oder ich schaue auf das Leid und sehe darin das irdische Antlitz der Liebe. Ich schaue auf den Stern und sehe darin die Blume oder ich schau die Blume und sehe darin den Stern. Der ganze Kosmos ist ein Doppelbereich.»[4]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1, 3f.]

[Ergänzend:

1. Die Crux gemmata:

Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
Gespräch:
(01:08:24) Die Crux gemmata, das mit Edelstein geschmückte kosmische Kreuz im Vergleich zum Isenheimer Altar

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut

2. Prophetischer Gehorsam im Sinnbild des Kreuzes:

Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 298; siehe auch Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›: Ergänzend: 2.:

«Das Ideal des Gehorsams ist der prophetische Gehorsam, das heißt, ein Gehorsam, der so tief horcht, dass er etwas hört, was die vorherrschende Meinung nicht hören will, und nicht umhin kann, es klar herauszusagen.

So wie der Prophet Jeremias, der es ja gar nicht sagen will. Er schreit: ‹Ich will meinen Mund verschließen, weil es mich in solche Unannehmlichkeiten bringt, aber es verbrennt mich von innen. Ich kann nicht anders, es stößt mir von innen den Mund auf› (Jer 20, 7-18).

Wenn wir sagen, denen geb ich es jetzt einmal, ich weiß schon, was Gott von denen will, dann sind wir höchstwahrscheinlich nicht gerade prophetisch. Wenn wir uns winden und wenden, aber nicht umhin können, es doch zu sagen, dann besteht eine gewisse Möglichkeit, Prophetisches zu äußern.

Aber es gehört noch etwas dazu. Das freie und tapfere Aussprechen genügt nicht, obwohl das schon schwer genug ist. Wenn wir es jetzt sagen und dann schnell hinausgehen, schnell verschwinden, dann sind wir nur noch Kritiker von außen, aber der Prophet ist kein Kritiker von außen. Der Prophet steht drinnen, mitten in der Gemeinschaft. ‹Kein Prophet kann außerhalb Jerusalems sterben› (Lk 13,33),[5] sagt Jesus, das heißt, er muss dort sein, wo es ums Wesentliche geht.

So müssen auch wir mitten drinstehen. Dieses Drinstehen in einer Gemeinschaft ist so schwierig, dass man glauben sollte, es genüge schon. Drinnen zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen, ist schwer genug. Darin, dass beides von uns verlangt wird, in der Gemeinschaft zu stehen  u n d  sie zugleich herausfordern, da liegt das Kreuz des Propheten.

Das Drinnenstehen ist der senkrechte Balken und das Herausfordern ist der horizontale Balken.

So endet jeder Prophet früher oder später am Kreuz. Versuchen Sie nur einmal bei irgendeiner Gelegenheit, wirklich aus dem tiefsten inneren Horchen, aus dem Herzen zu sprechen, besonders dann, wenn sich das, was Sie sagen wollen, mit der vorherrschenden Meinung nicht ganz verträgt. Sie werden auf die eine oder die andere Weise gekreuzigt werden.»]

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[1] Transkription des Vortrags (03:58-09:53) Mit dem Herzen horchen (1988):
(03:58) ‹Ich verrinne, ich verrinne›
/ (06:32) ‹Wer seines Lebens viele Widersinne (R. M. Rilke aus dem Stundenbuch) / (07:56) Die Sinne im Sinnbild zusammenführen, Sinn finden: Das worin wir Ruhe finden ‒ Augenblicke, in denen uns das Leben plötzlich in ein Sinnbild gefasst wird

[2] Mit diesem Gedicht enden die ‹Blätter aus dem Tagebuch der Ahnfrau›, die Fortsetzung des Märchens ‹Gockel, Hinkel und Gackeleia›. In den heutigen Ausgaben trägt das Gedicht die Überschrift ‹Eingang›.

[3] Fragen, die uns bewegen (2005):
(28:48)
‹Wer seines Lebens viele Widersinne› (Rilke, Das Stundenbuch) ‒ ‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit› (Clemens Brentano, ‹Eingang›); der Text dazu in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 121-123, und der Vortrag Fragen, die uns bewegen (2005), abgedruckt im kleinen Buch Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 29-32

[4] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 190f.; siehe auch Doppelbereich: Ergänzend: 2.

[5] Audio in Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt: Ergänzend: 3.2.



Quellenangaben

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