Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Hören, DU großes Geheimnis, ist Dein Geschenk. Dich hören zu können, ist deine große Gabe an mich; auf dich zu horchen ist meine große Aufgabe vor dir. Öffne DU die Ohren meines Herzens. Mach mich ganz Ohr.
In den Singenden singst DU; in den Weinenden weinst DU; in den Schweigenden schweigst DU ‒ mit beredtem Schweigen. Lass mich so still werden, dass auch deine Stille deutlich zu mir redet. In deinem Schweigen darf ich schweigend ruhen.
Lass mich so hellhörig werden, dass am Wendepunkt, an dem deine Gegenwart mir entgegenwartet, mein Horchen zum Gehorchen wird und mein Hören zum dir Angehören. Amen.»[1]
Das Schlüsselwort für meinen Zugang zum geistlichen Leben heißt Horchen.
Damit ist eine besondere Art des Horchens gemeint, ein Hinhorchen des Herzens.
So zu horchen, ist das Rückgrat der mönchischen Tradition, in der ich stehe.
Das allererste Wort der Regel des heiligen Benedikt lautet: «Horch!» ‒ «Ausculta!»[2] ‒, und aus dieser ersten Geste des Horchens aus ganzem Herzen erwächst die gesamte Disziplin der Benediktiner, wie eine Sonnenblume aus ihrem Samen wächst.[3]
Die Spiritualität der Benediktiner geht ihrerseits auf die umfassendere und ältere Disziplin der Bibel zurück.
Aber hier ist der Begriff des Horchens von grundlegender Bedeutung. Aus biblischer Sicht kommen alle Dinge durch Gottes schöpferisches Wort in die Welt; die gesamte Geschichte ist ein Dialog mit Gott, der zum Herzen der Menschen spricht.
Die Bibel verkündet mit großer Klarheit, dass Gott eins ist und transzendent.
Bewundernswert ist die Einsicht des religiösen Geistes, der in der biblischen Literatur seinen Ausdruck gefunden hat, dass Gott zu uns spricht.
Der transzendente Gott spricht in Natur und Geschichte. Das menschliche Herz ist dazu aufgerufen, zu horchen und zu antworten.
Horchen und Antworten ‒ das ist die Form, welche die Bibel unserem grundlegenden religiösen Streben als menschliche Wesen vorzeichnet: dem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, dem Streben nach Sinn.
Unser Glücklichsein gründet sich nicht auf Glücksgefühle, sondern auf inneren Frieden, den Frieden des Herzens.
Selbst inmitten einer sogenannten Pechsträhne, inmitten von Leid und Schmerz können wir unseren inneren Frieden finden, wenn wir aus all dem Sinn heraushören.
Die biblische Überlieferung zeigt uns den Weg, indem sie verkündet, dass Gott selbst in der schlimmsten Notlage und durch sie zu uns spricht.
Indem ich mich der Botschaft des Augenblicks ganz öffne, kann ich zur Quelle der Sinnhaftigkeit vorstoßen und den Sinn des Lebens erkennen.
So zu horchen heißt, mit dem Herzen horchen, mit dem ganzen Wesen.
Herz bedeutet das Zentrum unseres Wesens, in dem wir wahrhaftig eins sind. Eins mit uns selbst, nicht aufgespalten in Verstand, Wille, Gefühle, Körper und Geist, eins mit allen anderen Geschöpfen.
Denn das Herz ist der Bereich, in dem wir nicht nur mit unserem innersten Selbst in Berührung sind, sondern gleichzeitig mit dem ganzen Dasein innigst vereint sind.
Hier sind wir auch vereint mit Gott, der Quelle des Lebens, welche im Herzen entspringt. Um mit dem Herzen zu horchen, müssen wir immer wieder zu unserem Herzen zurückkehren, indem wir uns die Dinge zu Herzen nehmen.
Wenn wir mit dem Herzen horchen, werden wir Sinn finden, denn so wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Geräusche, ist das Herz das Organ für Sinn.
Die Disziplin des täglichen Horchens und Antwortens auf den Sinn wird Gehorsam genannt
Dieser Begriff von Gehorsam ist viel umfassender als die beschränkte Vorstellung von Gehorsam als Tun-was-einem-gesagt-wird.
Gehorsam, im umfassendsten Sinn, heißt, sein Herz auf den einfachen Ruf einstimmen, der in der Vielfalt und Vielschichtigkeit einer gegebenen Situation enthalten ist.
Die einzige Alternative dazu ist Absurdität, Ab-surdus bedeutet wörtlich «absolut taub».
Wenn ich eine Situation absurd nenne, gebe ich zu, dass ich taub für ihren Sinn bin. Ich gestehe indirekt ein, dass ich ob-audiens werden muss ‒ aufmerksam horchend, gehorsam.
Ich muss mein Ohr, mich selbst, so völlig dem Wort, das mich erreicht, hingeben, dass es mir zum Auftrag wird.
Vom Wort gesandt, werde ich meiner Sendung gehorchen und so, durch liebevolles und wahrhaftiges Handeln, nicht durch eine Analyse der Wahrheit, fange ich an zu verstehen.
Was aus all dem für mein Handeln folgt, liegt auf der Hand.
Umso wichtiger ist es, im Auge zu behalten, dass es uns hier nicht vornehmlich um ethische, sondern um religiöse Erwägungen geht, nicht um Zweckbestimmung ‒ selbst dann nicht, wenn es sich um die edelsten Zwecke handelt ‒, sondern um jene religiöse Dimension, aus der jeder Zweck seinen Sinn ableiten muss.
Die Bibel nennt das Horchen und Antworten des Gehorsams «vom Wort Gottes leben», und das bedeutet viel mehr, als nur Gottes Willen tun.
Es bedeutet, sich vom Wort Gottes zu nähren wie von Speis und Trank ‒ vom Wort Gottes in jedem Menschen, jedem Ding, jedem Ereignis, dem wir begegnen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin. Ihre Beschaffenheit, ihr Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist. Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?
Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht. Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft. Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.
Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.
Aber auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. Im Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen.
Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebenspendendes Wort?
Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.
Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt.
Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit.
Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.
Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube.
Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebers nicht offenbar ist, heißt, den Weg zum Herzensfrieden finden.
Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.
Übung im Horchen mit dem Herzen lehrt uns in einem lebenslangen Prozess, unterschiedslos nach jedem Wort zu leben, das aus dem Munde Gottes kommt.[4]
Wir lernen es, indem wir in allen Dingen unsere Dankbarkeit bezeugen.
Die klösterliche Umgebung soll genau dies erleichtern. Die Methode ist Losgelöstheit.[5]
Ich kenne zwei alte Schwestern, die ihre eigene Methode haben: Jedes Mal, wenn die Pendeluhr schlägt, sagt eine von den beiden:
«Denk an Gottes Gegenwart!»,
und die andere antwortet:
«Und sei allzeit dankbar!»[6]
Das mag manchen ein bisschen verschroben anmuten. Man braucht es aber nur selbst zu versuchen, um zu entdecken, was sich da ereignet:
Kronos verwandelt sich in Kairos,
Uhrzeit in einmalige Gelegenheit,
ein unpersönlicher Zeitpunkt
in tief persönliche Begegnung
mit dem Geber aller Gaben.
Wenn wir nur einmal anfangen, wach zu sein für die Gelegenheit, die ein gegebener Augenblick uns bietet, dann ist es nur ein kleiner Schritt von sinnenfroher Aufgewecktheit zur wachen Antwort ernster Verantwortlichkeit.
Meistens, ja fast immer, ist die Gelegenheit, die uns geboten wird, Gelegenheit zu sinnlicher Freude.
In dem Maß, in dem wir lernen, diese Gelegenheiten dankbar freudig zu ergreifen, werden wir auch ganz da sein, wenn ein gegebener Augenblick Schwieriges von uns verlangt ‒ etwa für unsere Überzeugung einzutreten.
So gesehen, zeigen sich traditionelle Elemente christlicher Askese von einer neuen Seite. Wenn der Heilige Bernhard zum Beispiel von der Nützlichkeit des Fastens spricht, erwähnt er an erster Stelle, dass Hunger uns lehrt, den Geschmack der Speisen erst so recht zu würdigen.
Auch die «lectio divina» der Benediktinermönche gehört hierher. Es handelt sich dabei ja keineswegs nur um «geistliche Lesung» im engen Sinn, sondern um ein waches «Lesen» der Botschaft, die jeder Augenblick bringt. Nur so ist die zentrale Stellung von «lectio» in der benediktinischen Askese zu verstehen.
Einmal liest der Mönch mit gesammelter Aufmerksamkeit die Worte der Heiligen Schrift, ein andermal mit derselben Konzentration die Zeichen der Maserung im Holz, mit dem er arbeitet, oder die Zeichen der Zeit in der er lebt.
Ein und dieselbe innere Haltung kennzeichnen das «Lesen» in all diesen Bereichen. Wer die Zeichen der Zeit nicht lesen kann oder die Schrift der Eisblumen an den Fensterscheiben, der liest vielleicht die Buchstaben in der Bibel, bleibt aber doch geistlicher Analphabet.
Um Botschaft und Antwort dreht sich alles in der christlichen Askese, um Gelegenheit und Bereitschaft, um Horchen und Gehorchen.[7]
«Gehorchen will ich letztlich nur DIR, DU ‹sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen›.[8]
Wie Jakob eine ganze Nacht lang rang mit deiner dunklen Gegenwart, so rang und ringt die Menschheit in der Nacht der Zeit mit dir schon von Anbeginn.[9]
Mein Ringen ist mein Nicht-horchen-Wollen, obwohl ich dich hören kann tief im Herzen.
Siege DU über mich ‒ in mir.
Nicht nur horchen will ich dann, sondern so hingegeben horchen, dass mein Horchen zum Gehorchen wird ‒ und zum Überschreiten: zum Überschreiten meiner eigenen begrenzten Einsichten und Absichten; zum Überschreiten aller Hindernisse durch gehorsames Tun; zum Überschreiten auch ‒ im Vertrauen auf dich ‒ von allem, was ich mir selber je zugetraut hätte.
Als ‹sanftestes Gesetz› lass mich dich erkennen.
In wahrhaft wachen Augenblicken ist mir ja klar, dass DU die Freiheit bist, nach der ich mich sehne. Amen.»[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5, 7, 10]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(06.45) «Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
(10:01) Dieses Horchen mit dem Herzen ist keineswegs etwas Abstraktes, sondern ist ganz konkret mit dem Horchen mit den Ohren verbunden. Es beginnt mit einem intensiven Horchen lernen. Wie können wir uns denn einbilden, mit dem Herzen horchen zu können, wenn wir nicht einmal mit den Ohren eingeblendet sind auf die vielen wundervollen Geräusche, die uns ständig umgeben.
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(32:33) Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten (Rilke, Die erste Elegie) – Die Gestalt des Orpheus – Da schufst du ihnen Tempel im Gehör (Die Sonette 1. Teil, I) – Jeden Morgen weckt er mein Ohr (Jes 50,4)
(41:22) Eine Linie zum völlig offenen Horchen über das Hören ‒ Horchen ‒ Hinhorchen ‒ Gehorchen. Unterschied von Gehorchen und Dressur. Das erste Wort der Benediktinerregel: Horche! Ausculta! – Ohr und inneres Gleichgewicht in den Forschungen von Alfred A. Tomatis
2.2. Horchen ‒ die Kunst des Betens (2002): Interview von Johannes Kaup mit Bruder David:
(06:37) Wir horchen auf das Wort, das uns jeder Augenblick zuspricht. Dieses ES, das alles gibt, darauf horchen wir hin. Jede Gelegenheit, jeder Augenblick, jedes Ding, jede Begegnung, jede Situation ist Wort und hat Sinn, will uns etwas sagen. Und wenn wir uns darauf einlassen und darauf hinhorchen, dann hören wir auch etwas, und was wir hören, ist, dass wir zu einer Entscheidung aufgerufen werden. Jeder Augenblick ist in gewissem Sinn Entscheidung.
(10:42) Im Kloster gehört zur ‹lectio divina›, zur heiligen Lesung, nicht nur die Schriftlesung. Eine meiner liebsten Formen der heiligen Lesung ist Biologiebücher zu lesen: die Evolution der Pflanzen, der Tiere; die Komplexität dieser Vorgänge, die Schönheit der Blüten usw.. Das ist für mich sehr erhebend und kann ebenso spirituelle Lesung sein.
2.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25.11) Öffne die Ohren ‒ ‹neige Dein Ohr› ‒ Gott spricht in jedem Augenblick
2.4. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(00:00) Mit dem Herzen horchen fällt uns nicht leicht ‒ Erlauben wir uns eine halbe Minute der Stille (02:04) Wie können wir von Herz zu Herz sprechen? Die Dichtung gibt uns eine helfende Hand
2.5. Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
Gesammelt horchen
Gelassen horchen
Gläubig horchen
Verantwortlich horchen
Dankbar horchen
3. Weitere Texte
3.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 265: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 18f.:
«Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist›, wie T. S. Eliot es ausdrückt.[11]
In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist› zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒
‹jetzt und in der Stunde unseres Todes.›
‹Und die Todesstunde ist jeder Augenblick›, sagt T. S. Eliot, denn der Augenblick, in dem wir wirklich hinhorchen, ist ‹Augenblick in und außer der Zeit.›[12]
Eine Methode, mit deren Hilfe man Augenblick für Augenblick in dieses Mysterium eindringen kann, ist die Disziplin des Jesus-Gebetes, Training im Herzensgebet, wie es auch heißt.»
3.2. Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 23f. [derselbe Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille : Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein» (2016), 103]:
«Um im Rhythmus zu bleiben, muss man hinhorchen. Um den Weg zu sehen, muss man hinschauen. Das Kloster ist deshalb ein Ort, an dem man lernt, Augen und Ohren offen zu halten. ‹Höre!› ist das erste Wort der Klosterregel des Heiligen Benedikt. Ein weiteres Schlüsselwort lautet: ‹Betrachte!› (lateinisch: considera, von sidus = das Sternbild/Gestirn, also wörtlich: seinen Kurs nach den Sternen bestimmen).
Der Heilige Benedikt, Vater des abendländischen Mönchtums, will, dass die Mönche ‹apertis oculis› und ‹attonitis auribus› leben, d. h. mit so offenen Augen und so horchenden Ohren, dass die Stille göttlicher Gegenwart sie wie Donner trifft.
Deshalb ist ein Benediktinerkloster ‹schola Dominici servitii›, eine Schule, in der man lernt, sich auf die höchste Ordnung einzustimmen.»
3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:
Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)
3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben›. Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben.» (38)]
_________________
[1] Leseprobe aus dem Buch Erwachende Worte (2023), 19
[2] Für Bruder David ist der Ausdruck «Ausculta» ‒ von «auscultare: horchen, lauschen, gehorchen» ‒ geläufig, obwohl in den lateinischen Ausgaben der RB «Obsculta» ‒ «Höre» steht.
[3] Bruder David übersetzt RB Prol 8f. in Sinne und Sinnlichkeit (1996), 280, dem Auszug aus Die Achtsamkeit des Herzens: Der Dreischritt des horchenden Herzens (2021), 51:
«Auf also endlich!» ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:
«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:
‹Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.›
Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:
‹Heute, wenn ihr seine Stimme hört,
verhärtet nicht eure Herzen!›»
Siehe auch Sinnenfreudiges Morgenlob: Haupttext und Ergänzend: 2.2
[4] Siehe das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Gebet ‒ drei Innenwelten
[5] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 261-264: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 13-17
[6] In Musik der Stille (2023), 89:
«Ich habe zwei Schwestern gekannt, deren Standuhr jede Viertelstunde schlug. Jedes Mal, wenn die Uhr schlug, sagte die eine: ‹Denk an Gottes Gegenwart› und die andere antwortete: ‹und sei allzeit dankbar›.
Es ist so einfach, sich ein paar Mal am Tag oder jeweils zur vollen Stunde daran zu erinnern, dass wir in Gottes Gegenwart stehen. Der heilige Benedikt betonte, dass eben dies das Wesen des Gebets ausmacht. Drum freue ich mich immer, wenn ich in Europa die Kirchenglocken höre. Sie tauchen die ganze Landschaft in klösterliche Schwingungen.»
[7] Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 84-86
[8] R. M. Rilke: ‹Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz› (Das Stunden-Buch: ‹Vom mönchischen Leben›)
[9] Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 94f.
[10] Erwachende Worte (2023), 27
[11] Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(25:01) «T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.»
[12] Siehe Auszüge aus T. S. Eliot: Four Quartets in Stillehalten