Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Geschichte war nie mein Lieblingsfach. Unter Hitler waren wir überzeugt, dass unsere Geschichtsprofessoren uns belogen, weil die ganze Vergangenheit zugeschnitten werden musste auf ihre glorreiche Krönung durch das Dritte Reich. Jetzt aber reizte es mich, etwa die Grundidee der (allerdings dann völlig aufs falsche Gleis geratenen) Französischen Revolution mit frischen Augen zu überprüfen, und ich fand sie begeisternd.
«Liberté, Égalité, Fraternité» ‒ war darin nicht die Idee für eine Neuordnung enthalten, die damals schon dringend notwendig war, von der heute aber unser Überleben abhängen könnte?
Freiheit beginnt und endet mit Gewaltfreiheit, zu der ich mich verpflichte. Gewalt macht unfrei, denn sie ist die Perversion von Macht.
Die einzig schöpferische Anwendung von Macht ist die Ermächtigung anderer, und sie befreit den, der ermächtigt, nicht weniger als den, der sich ermächtigt weiß.
Gleichheit ist nicht Gleichmacherei, sondern Gleichberechtigung. Es wurde mir immer deutlicher, dass eine dynamische Ordnung auf diesem Grundrecht beruht. Wo wir die Furcht überwinden, da wird aus dem Konkurrenzkampf ein Zusammenspiel von Geben und Nehmen unter Gleichberechtigten ‒ aber auch Gleichverpflichteten.
Brüderlichkeit betont die Gleichheit, indem sie ihren Ursprung benennt, dass wir eben alle der einen Menschheitsfamilie angehören, und weist zugleich auf den schönsten Ausdruck des Familiensinns hin: aufs Teilen.[1]
Johannes Kaup: «Das dominante Denkmodell, in dem wir jetzt noch leben und das auch in den 90er-Jahren ganz erfolgreich propagiert wurde, ist das Wettbewerbsdenken: Wir stehen alle im Wettbewerb miteinander, das wurde bis ins Bildungssystem hinein implementiert. Die Vertreter dieses Modells argumentieren so: Der Wettbewerbsgedanke steckt schon von Anfang an in allen Menschen. Es geht nur darum, dass man ihn zum Wohl der Gesellschaft lenkt. Man kann das schon im Kindergarten beobachten: Die Kinder konkurrieren um das beste Spielzeug, um die Gunst der Erzieherinnen, in der Schule konkurrieren sie um die besten Noten, am Arbeitsplatz um die beste Position, um das Einkommen, im Kunst- und Kulturbetrieb um die meiste Anerkennung, die beste Position, in der Politik um Wählerstimmen.
Überall, wo wir hinschauen, ist Wettbewerb. Aber Wettbewerb bedeutet auch: Es gibt Gewinner und Verlierer.
Ganz tief in uns drin haben wir gelernt, dass es ohne Wettbewerb keinen Antrieb gäbe, uns anzustrengen und weiterzuentwickeln, etwas Großes zu schaffen. Es scheint also, dass Konkurrenz und Selektion die entscheidende Triebfeder für den Fortschritt sind. Stimmt das Ihrer Ansicht nach?»
Bruder David: «Nur halb. Im Konkurrenzgedanken, wie wir ihn kennen, ist zweierlei enthalten: einerseits das Bestreben zu übertreffen und andererseits das Bestreben, den anderen zu übertreffen. Das ist zweierlei und nur in unserem Denken so vermischt, dass wir es kaum unterscheiden können. Aber es lässt sich unterscheiden.»
Johannes Kaup: «Der Unterschied könnte sein, einerseits gut zu sein und andererseits besser als ein anderer zu sein.»
Bruder David: «Das Gut-sein-Wollen, das Sich-selbst-übertreffen-Wollen ist positiv. Aber wie gut ich bin, daran zu messen, wie weit ich den anderen herunterdrücken kann, das ist falsch, weil es lebenszerstörend ist. Auch das lässt sich an der Natur ablesen: Hier will jede Pflanze sich und ihr innerstes Leben verwirklichen, aber nicht die andere unterdrücken.»
Johannes Kaup: «Es gibt auch Unkrautpflanzen, die andere überwuchern, sich auf Kosten der anderen entfalten.»
Bruder David: «Das ist Interpretation. Nicht auf Kosten der anderen. Sie wollen sich entfalten und tun das auch, aber nicht im Kampf gegen die anderen. Das als Kampf anzusehen, ist die Interpretation, die wir dem Beobachteten überstülpen. Die andere Pflanze muss sich umso mehr entfalten in ihrer Art und das heißt vielleicht, dass sie sich verändern muss. Es geht um gegenseitige Beeinflussung.»
Johannes Kaup: «In der Pflanzenwelt gibt es aber auch Verdrängung: In den Alpen wurde beispielsweise vor einigen Jahren eine Himalaya-Pflanze eingeschleppt und sie verdrängt massiv heimische Arten, einfach deshalb, weil sie widerstandfähiger ist. Von daher ist das Bild vielleicht etwas schief.»
Bruder David: «Aber die Verdrängung anderer Pflanzen ist ein Nebenprodukt der Selbstentfaltung, nicht das Ziel. Darin liegt der Unterschied. Für uns Menschen ist das höchste Ziel Entfaltung und Zusammenspiel aller. Ich erinnere mich an einen Bericht über Indianerkinder, die einen Fußball bekommen haben. Sie haben begeistert mit dem Ball gespielt, aber dann wurden sie in Mannschaften aufgeteilt und mussten gegeneinander spielen. Auf einmal haben sie das Interesse völlig verloren. Ihre Freude kam vom Miteinander, nicht vom gegeneinander Spielen.»
Johannes Kaup: «Ich finde, auch das Gegeneinander hat einen Reiz, solange es ein Spiel ist und nicht Scham und Angst erzeugt.»
Bruder David: «Solange man sich freuen kann, wenn der andere gewinnt.»
Johannes Kaup: «Ich spiele ebenfalls Fußball zusammen mit anderen. Aber ich möchte auch ein Tor schießen. Wenn allerdings ein anderer aus meiner Mannschaft die Möglichkeit hat, dann freue ich mich mit ihm.»
Bruder David: «Kann ich mich nicht auch freuen, wenn die andere Mannschaft ein Tor schießt? Geht es um das Besiegen der Gegenpartei oder um ein begeisterndes gemeinsames Spiel? Je besser ich spiele, desto mehr treibe ich den anderen an, noch besser zu spielen. Das wäre Konkurrenz, wie sie sein sollte, nicht wie sie ist.»
Johannes Kaup: «Das ist sozusagen Qualitätskonkurrenz und nicht Verdrängungskonkurrenz.»
Bruder David: «Ja! Das sind hilfreiche Begriffe in diesem außerordentlich schwierigen Bereich. Der eine Aspekt von Konkurrenz, die höchstmögliche Selbstverwirklichung, ist positiv zu bewerten und ist auch mit die Triebfeder für Entwicklung und Entfaltung.»
Johannes Kaup: «Das andere Verständnis der Konkurrenz scheidet die Menschen in die Erfolgreichen, die Gewinner, und die Verlierer auf der anderen Seite. Wir sehen das im Weltmaßstab: Manche Volkswirtschaften sind darauf angelegt, die übrigen abzuhängen. Das hat soziale Konsequenzen, wenn andere Nationen im Verlauf abgehängt werden in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Vom System her betrachtet, kann das nicht gesund sein.»
Bruder David: «Das System ist das Wichtige. Man muss auf das Ganze schauen und sehen, wie der Erfolg des Einzelnen im Rahmen des Ganzen wirkt. Im Rahmen des Ganzen ist das Sich-selbst-Übertreffen positiv zu werten, aber eine Selbstverwirklichung auf Kosten des anderen, das scheint mir im Großen gesehen das System nicht zu fördern.»
Johannes Kaup: «Vor allem, weil es von einer falschen Selbsterfahrung ausgeht, denn eigentlich sind wir immer von anderen, durch andere und auf andere hin.»
Bruder David: «Richtig. Diese Sichtweise auf die Dinge stammt schon von einem isolierten und abgetrennten, abgesonderten und daher sündigen Ich, vom Ego und nicht vom Ich-Selbst, das sich mit allen anderen verbunden weiß.»[2]
(Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1f.)
[Ergänzend:
Audio Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription des Vortrages:
(16:39) Was meinen wir mit Ego im Zusammenhang mit Ich und Ich-Selbst?
(20:41) Das Ich ist einzigartig ‒ das Selbst ist Eines. ‒ Wenn das Ich das Selbst vergisst, wird es zum Ego: Das Ich auf der langen fließenden Skala zwischen dem weit offenen lebensfrohen Ich-Selbst und dem ganz in sich verschrumpften kleinen Ego.
(26:44) Das Ego und die Folgen: Furcht, Gewalttätigkeit, Konkurrenzkampf, Gier:
(26:44) «Warum ist das Ego aber schlecht, was ist das Problem, wenn man vergisst, dass wir alle eins sind? Darum geht’s ja: Wenn man das Selbst vergisst, hat man vergessen, dass wir alle eins sind. Warum ist das so problematisch?
In dem Augenblick beginnt alles schief zu gehen.
Und zwar das Erste, das immer passiert, ist: Wir bekommen Furcht. Wir fürchten uns. Wenn ich glaube, dass ich jetzt allein bin ‒ man braucht sich ja nur einen Augenblick in dieses Ich jetzt einlassen und ganz wirklich versuchen, das Selbst ein bisschen auszublenden und zu vergessen, dann muss ich mich ja fürchten. Da sind diese ganzen Millionen und Milliarden von anderen Ich rund und mich herum: Wir haben nichts gemeinsam oder sehr wenig und jedes Ich ist die Mitte seiner Handlungen und seines Lebens. Da muss ich mich ja fürchten, dass die Anderen mir was antun.
Also das erste, was immer der Furcht entspricht, ist Gewalttätigkeit.
Ich muss mich wehren. Das ist ganz instinktiv und notwendig. Sobald ich das Selbst vergesse, muss ich mich wehren. Ich muss mich wehren, die Anderen könnten ja mir vorankommen, auf mich steigen, höher klettern als ich. Da beginnt der Konkurrenzkampf.
Furcht führt zu Gewalttätigkeit, führt zu Konkurrenzkampf, ich muss mich wehren gegen die Anderen, ich muss ihnen zuvorkommen ‒ Konkurrenzkampf ist ja auch ein Kampf ‒, und dann kommt der Kampf ums tägliche Brot. Und das artet aus in Gier, weil ich wieder Angst habe, Furcht, dass da nicht genug ist für so viele; um Himmelswillen! ‒ ist ja nicht genug. Da muss ich mich bereichern. Da muss ich schauen, dass auch für mich genug da ist.
Also alles, was in unserer Welt zum Verderben führt: zunächst die Furcht, dann die Gewalttätigkeit, dann die Konkurrenz ‒ der Konkurrenzkampf ‒, und dann die Gier: Das entspringt alles dem Ego. Und das in unserem persönlichen Leben.]
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[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 156f.
[2] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 169-171