Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Barbara Krähmer

DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Ich staune in die große Stille Deines Abgrunds hinein; ich horche bewundernd hin auf ein Wort, das aus der Stille aufsteigt, und versuche, im Alltag danach zu leben.

… Je mehr ich mich bemühe, still zu werden, umso geschwätziger schnattern meine Gedanken. Ich sollte mich wohl gar nicht bemühen, sondern mich mühelos tiefer sinken lassen ‒ von der lauten Oberfläche in die Stille tief in meinem Inneren.

Mein Herzensabgrund bist ja DU.

Wie Wasser danach strebt, sich wieder tief unten zu sammeln, von wo es herkommt, so sehne ich mich nach Sammlung in dir.

Schenk DU mir heute Augenblicke spontaner Sammlung.

Wenn ich etwa selbstvergessen, gedankenlos Wolken nachträume ‒ in dich versunken, DU großes Geheimnis. Amen.

[aus: «DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 40, 61]

Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.

Er findet Gott «die Stelle welche heilt»[1], während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.

Könnten wir nur all diese Aufregung in uns und um uns, den Lärm, der uns ablenkt, beruhigen.

In der Stille könnten tausend verstreute Gedanken in einem einzigen zusammengefasst werden.
[FN 1) 30; 2-5) 32; 6) 34 im Kp. «Herz und Sinn»]

«Mein Herz wird mir so stille und wird nicht untergehn.» (Joseph von Eichendorff)

Je mehr der nervzerrüttende Lärm unserer Städte in unseren Ohren gellt, umso mehr spüren wir die Lebensnotwendigkeit der Stille.

Früher oder später dämmert uns, dass es nicht nur äußere, sondern vor allem innere Stille ist, nach der wir uns sehnen.

Mönche des Ostens wie des Westens haben sich seit Jahrhunderten als Gärtner der Stille bewährt ‒ haben ihren Alltag zu einem Garten der Stille gemacht, und uns in ihren Schriften beides hinterlassen, Früchte der Stille und Anleitungen zum Stillwerden.

Während die Zahl der Mönche in vielen Klöstern heute abnimmt, nimmt die Zahl der Menschen, die ihr Innenleben vom mönchischen Geist befruchten lassen, beständig zu. Gottsuche ist die treibende Kraft im Menschenherzen ‒ nicht weniger bei denen, die das Wort «Gott» (oft aus guten Gründen) vermeiden. Und wer in sich die göttliche Lebensmitte aufspürt, findet Stillung.

Gerhard Teerstegen, ein Dichter, der inmitten des weltlichen Alltags mönchische Stille verwirklichte, fasste das Herzensanliegen aller, die sich gleich ihm darum bemühen, in eine einzige Zeile zusammen:

«Gott ist in der Mitte! Alles in uns schweige.»[2]

Über Stille darf zuletzt nur Dichtung reden. Nur die Worte der Dichter brechen das Schweigen nicht, sondern lassen es vielmehr zu Wort kommen.

Unsere westliche Kultur wird vom Wort beherrscht. Wir können uns in eine Kultur des Schweigens und der Stille kaum hineindenken.

Oft sind wir wie vom Wort besessen, voller Angst vor all dem, was sich nicht in Worte fassen lässt.

Und doch ahnen wir, dass das «erlösende Wort» aus dem Schweigen kommen muss.

Ja, wir ahnen sogar, dass Wort und Schweigen untrennbar zusammengehören, dass an echten Worten die Stille das Wesentliche ist.

Wir haben keine Schwierigkeit, zwischen einem bloßen Wortwechsel und einem Gespräch zu unterscheiden.

Was an einem echten Gespräch wichtiger ist als die Worte, ist die Bereitschaft, uns von den Worten in jene Stille führen zu lassen, aus der sie auf uns zukommen.

Darum münden die tiefsten Gespräche in gemeinsames Schweigen.

Auch jedem guten Gedicht merkt man es an, dass es aus der Stille stammt und in die Stille zurückführen will.

Wenn auch die deutsche Dichtung eindeutig Dichtung des Wortes ist, so hat sie doch Höhepunkte gerade dort erreicht, wo Worte noch sanft am Unsagbaren ausgehen und wo dann nur noch Stille übrigbleibt.

So wenn Eichendorff singt:

«Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.»

Oder Ricarda Huch:

«Tief in den Himmel verklingt
traurig der letzte Stern.
Noch eine Nachtigall singt
fern ‒ fern.»

Und wer denkt da nicht auch an Goethes «Über allen Gipfeln ist Ruh' ...»?

Es ist kein Zufall, dass wir eines der gelungensten Gedichte zum Thema Stille im ersten Teil von Rilkes «Stunden-Buch» finden, im Buch «Vom mönchischen Leben».

Ist nicht Stille der Lebensatem mönchischen Lebens?

Und wetterleuchtet nicht in jedem Menschenherzen manchmal die Sehnsucht nach tiefem Atemholen in Stille. Diese Sehnsucht wird in Rilkes Gedicht zum Gebet.

«Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte
und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.»

Die erste Strophe gipfelt in dem Wort «Wachen».

Nur Stille ermöglicht uns ein solches Wachen, das weit mehr ist als bloßes Wachsein.

Wachen ist Hellhörigkeit, ein Hinhorchen, für das die Stille nicht nur Voraussetzung ist, sondern Inhalt.

Wer wirklich wacht, horcht auf die Stille selbst ‒ und schaudert.

«Wir hören’s nicht, wenn Gottes Weise summt.
Wir schaudern erst, wenn sie verstummt»,

sagt Hans Carossa.

Wir schaudern, weil alle, die auf Stille horchen, Gott hören. Wir schaudern, weil alle, die in Stille eintauchen, Gott angehören.

Da solches Angehören immer gegenseitig ist, kann Rilke sich danach sehnen, in der Stille Gott zu «besitzen», wenn auch «nur ein Lächeln lang».

Wie aber sollen wir das überschwängliche Bild verstehen vom «tausendfachen Gedanken», mit dem der Dichter das göttliche DU «bis an den Rand» denken möchte?

In der Glut eines so tausendfach übersteigerten Gedankens schmilzt das Begreifen und wird zu Ergriffenheit.

«Wachen» war das Endwort der ersten Strophe; die zweite Strophe steigert sich zum Wort «Dank»:

Vollwaches Denken wird zum Danken.

Wer kennt nicht diesen Wendepunkt von denken zu danken aus eigener Erfahrung?

Wir müssen nur an einen jener Augenblicke denken, die wir alle manchmal erleben, obwohl wir sie nur den Mystikern zutrauen. Ganz unerwartet werden wir da plötzlich «wach», fallen aus Zeit und Raum in eine unauslotbare Stille hinein und fühlen überwältigende Dankbarkeit in uns aufsteigen.

Ganz gleich wo uns das widerfährt ‒ auf einem Berggipfel, in einer Kathedrale, oder mitten im Verkehrsstau ‒ das ist ein mystisches Erlebnis.

Abraham Maslow erforschte solche «peak experiences», wie er sie nannte, vom Standpunkt der Psychologie. Er fand, dass solche Erfahrungen bei «ganz gewöhnlichen Menschen» häufig sind und sich in keiner Weise von denen der «Mystiker» unterscheiden.

Ein Unterschied liegt vielmehr darin, dass die meisten von uns weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, und bald wieder «das Zufällige und Ungefähre» laut werden lassen, während die Mystiker aus der Stille leben.

Es steht auch uns frei das zu tun, und so unser Leben im Bleibenden zu verankern.

Der Schlüssel dazu ist dankbares Leben.

Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten oder sonst auf sinnliche Weise wahrnehmen, ist in diesem Sinne Wort, das uns aus der Stille des göttlichen Urgrundes zugesprochen wird.

Wir selber sind in diesem Sinne Wort ‒ «ausgesprochen und zugleich angesprochen» (worin Ferdinand Ebner tiefsinnig unsere menschliche Sonderstellung sieht).

All die Vielfalt rund um uns und in uns ist letztlich ein einziges Wort, das auf immer neue Weise «Ja» sagt, und so allem Dasein Wirklichkeit gibt.

Wenn wir wach darauf hinhorchen, führt uns dieses Wort zurück in die Stille, aus der es stammt. Uns dahin führen zu lassen, heißt verstehen.

Es geht bei diesem Verstehen um weit mehr als intellektuelles Begreifen; es geht um ein Einstehen für das, worauf wir uns verstehend einlassen.

Uns vom Wort führen lassen, heißt verantwortlich handeln.

Im Alltag bedeutet das, dass alle, die «durch den Geist Gottes geführt werden», mit kindlicher Unbefangenheit in jeder Lage die rechte Antwort finden können in Wort und Tat.

In der weitesten Sicht bedeutet es Teilnahme an dem göttlichen Reigentanz, den die christliche Vorstellungskraft aus Johannes 16,28 herausliest, wo der Logos spricht:

«Ausgegangen bin ich vom Vater und gekommen bin ich in die Welt; ich verlasse wieder die Welt und gehe zum Vater.»

Aus dem Schweigen kommend, kehrt das Wort durch liebendes Verstehen ins Schweigen zurück.

Mitzutanzen in diesem Reigen ist die höchste Erfüllung dessen, was wir «Leben aus der Stille» nennen.

Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.

Wir können «mitten in der Welt» all das, was wir tun, bestimmen lassen von jener Stille, die in der monastischen Tradition zu Hause ist.

Dazu bedarf es nicht einmal der äußeren Stille, obwohl diese eine große Hilfe sein kann. Wir müssen nur dankbar leben lernen.

Im trinitarischen Rundtanz dürfen wir den Kreislauf der Dankbarkeit sehen. Wir erleben den Urgrund der Wirklichkeit als den Ursprung all dessen, was «es gibt».

Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, zeigt sich uns immer als Gegebenheit ‒ also als Gabe.

Unser eigenes Leben ist uns zugleich gegeben und aufgegeben.

Die Aufgabe, die in dieser Gabe liegt, heißt Leben in Dankbarkeit.

Und worin besteht das?

Einfach darin, dass wir uns dem Leben stellen.

Dankbarkeit ist still und einfallsreich; sie macht etwas aus jeder Gegebenheit. Meistens ist uns Gelegenheit gegeben, uns an etwas zu freuen. Leider sind wir oft nicht wach genug, das wahrzunehmen.

Aber in jeder gegebenen Lage, sei sie noch so schwierig, wird uns Gelegenheit geschenkt, uns schöpferisch ‒ und dadurch dankbar ‒ zu erweisen. Wir müssen uns nur etwas einfallen lassen. Und jeder Einfall ist selber wieder Geschenk.

Indem wir so Schritt für Schritt, aus unserem Leben etwas machen, steigt es zum Ursprung zurück als Dank.

In dieser gegebenen Welt dankbar leben, heißt Sinn finden.

Und in dem Maß, in dem wir Sinn finden, werden wir still. Dann fallen wir nicht mehr, wie Hölderlins leidende Menschen

«blindlings von einer
Stunde zur andern,
wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen,
jahrlang ins Ungewisse hinab.»
[3]

Der Kreislauf in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen:

«… und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.»
[4]

[«Leben aus der Stille», in: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159; Text entnommen dem Geleitwort und Epilog von Bruder David: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille im Buch: Buch der Ruhe und der Stille (2005), 7-8, 179-184, siehe auch: Alles in uns schweige (2013) und Finde die Stille (2010)]

[Ergänzend:

1.1. Im Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) kommt das Schweigen zu Wort und führt uns wieder zum Schweigen, dem «stillen Punkt der kreisenden Welt.» (T. S. Eliot, Four Quartets: Burnt Norton, II):

(24:38-27:51) «Die Zeit, um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.»

1.2. Im Film Wort und Stille (2019) spricht Bruder David über die Weitergabe des Schweigens im Buddhismus.

2. Audios zu Gedichten:

           «Immer wieder von uns aufgerissen» (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XVI), in:

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen Goldegger Dialoge (1992):
(00:28) Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg

           «Wenn es nur einmal so ganz stille wäre» (Rilke, Das Stundenbuch), in:

Fragen, die uns bewegen (2005):
(37:46) Vortrag

Wie das Göttliche in uns wächst (2005):
(05:14) Audio: «Was fördert gesundes spirituelles Wachstum» (siehe auch Mitschrift)

           «… und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.» (Conrad Ferdinand Meyer, Der römische Brunnen), in:

Lebendige Spiritualität (2015)
(55:30) Verstehen durch Tun

Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag

3. STILLE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 157f.:

«Stille hängt nicht davon ab, ob die Umgebung ruhig oder lärmerfüllt ist. Das wird verständlicher, wenn wir die Vorstellung von Lärm und Ruhe durch den Gegensatz Tumult und Gelassenheit ersetzen. Stille ist eine heiter gelöste, gelassene Haltung des Herzens.

Innere Stille, und um die geht es hier, kann sich auf zweifache Weise bekunden: durch Schweigen und Wort ‒ durch ein Wort, das nicht das Schweigen bricht, sondern ein Wort, in welchem das Schweigen zu Wort kommt.

In unsrem ganzen Alltag sollte unser Schweigen sowie alles, was wir sagen, aus der Stille kommen. Dies lässt sich üben und Menschen, denen es im täglichen Leben gelingt, strahlen Frieden aus.

Bisher haben wir von Wort und Schweigen gesprochen, die aus unsrer eigenen Stille aufsteigen. Aber auch unsre Antwort auf ein Wort, das wir hören, wird nur dann durch gehorsames Tun zum Verstehen führen, wenn sie aus der Stille kommt.»

4. STILLE, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe am Ende des Buches:

«Es gibt eine negative und eine positive Bedeutung von Stille. Negativ aufgefasst bedeutet Stille die Abwesenheit von Geräusch oder Wort. Auf diesen Seiten beschäftigen wir uns mit der positiven Bedeutung. Stille ist die Matrix, aus der heraus ein Wort geboren wird, das Heim, zu dem es über das Verstehen zurückkehrt.

Ein Wort (im Gegensatz zur Unterhaltung) bricht die Stille nicht.

Im echten Wort kommt die Stille zu Wort.

Im wirklichen Verstehen kehrt das Wort heim in die Stille.

Für jene, die lediglich die Welt der Worte kennen, ist Stille bloße Leere.

Unser stilles Herz aber kennt das Paradox: Die Leere der Stille ist unerschöpflich reich; alle Worte dieser Welt sind nur ein Tropfen ihrer Fülle.»

5. SCHWEIGEN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155

«Schweigen ist eine der beiden Weisen, auf welche Stille sich bekundet. Die zweite Weise ist das Wort. Im Wort drückt sich die Stille ‒ sie drückt sich aus, geht aus sich heraus, indem sie ‹zu Wort kommt›. Im Schweigen bleibt die Stille bei sich selbst. Ein Bild kann das veranschaulichen. Ein Gong, den wir betrachten, bleibt bei sich; ein Gong, den wir anschlagen, ‹äußert sich› ‒ sein innerstes Wesen wird äußerlich offenbar. Um Stille in ihrem Wesen zu erfahren, müssen wir mit ihr einswerden, dadurch, dass wir uns ins Schweigen versenken, uns ins Schweigen hinablassen. Schweigen kann zu einem wirkungsvollen Mittel werden, um im Tumult des Alltags immer wieder stille Gelassenheit zu finden, indem wir Schweigepausen in unsren Tagesablauf einbauen.»

6. Uns wehrlos der Stille aussetzen - COVID 19 (2020):

«Nur was in der Stille wurzelt kann Frucht tragen.»

7. Führung aus der Stille ‒ Wissen und Weisheit für eine Welt im Wandel: Waldzell Dialog (2010)

«Wie man einem Weg nachgeht, wenn man sich führen lässt. So müssen wir der Stille nach-denken. Denn wenn man der Sprache nach-denkt, führt sie immer in die Stille.»

8. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Schweigen und Wort gehören im tiefsten Sinn zusammen. Das kann man auf vielen verschiedenen Ebenen zeigen. Die beiden gehören zunächst einmal zusammen, so wie Licht und Dunkelheit zusammengehören. Ohne Dunkelheit ist das Licht nicht Licht, und ohne Schweigen ist das Wort nicht Wort. Ohne Schweigen ist das Wort schon deshalb nicht Wort, weil man gar nicht sagen könnte, wo ein Wort beginnt und das andere Wort endet. Aber das ist noch eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise.

Es geht schon etwas tiefer, wenn wir bedenken, dass wir in der Musik zum Beispiel nicht nur die Töne hören, sondern auch die Pausen. (Musik gehört ja auch zu dem, was wir hier Wort nennen in diesem umfassenden Sinn.)

Wir bedenken es nur meistens nicht, aber wenn alle Pfeifen einer Orgel zugleich tönen, dann gibt das ebenso wenig Musik, wie wenn sie alle zugleich still sind. Die Musik besteht eben darin, dass jetzt einige Pfeifen spielen und dann einige andere. Und so hören wir nicht nur die Pfeifen, die spielen, sondern auch die, die still sind. Wir hören die Stille.» (40f.)

«Auch in unserer eigenen Tradition gehen wir ja über das Wort hinaus, zum Beispiel im Gebet der Stille. Für uns Christen ist das Gebet der Stille unsere eigene Buddhistische Form des Gebetes.» (43)

«Alle Zen-Geschichten wollen uns dorthin führen, wo das Wort aufhört und das Schweigen beginnt. Und so ist auch die Pointe dieser Geschichten nur ein Hinweis auf das Schweigen, aus dem das Wort entspringt und in das es mündet. In diesem Fall ist die Antwort, mit der der Novize dann kommt und dem Meister zeigt, dass er eingesehen hat:

‹Ich habe das Schweigen gehört.›

Paradox ‒ aber die Antwort lässt sich eben nur in einem Paradox ausdrücken, sonst würden wir uns ja noch im Bereich der Logik bewegen. Was aber über den Bereich der Logik hinausgeht, können wir im Bereich des Wortes nur in einem Paradox ausdrücken:

‹Ich habe das Schweigen gehört.›» (44)]

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[1] «Immer wieder von uns aufgerissen,
ist der Gott die Stelle, welche heilt.
Wir sind Scharfe, denn wir wollen wissen,
aber er ist heiter und verteilt.

Selbst die reine, die geweihte Spende
nimmt er anders nicht in seine Welt,
als indem er sich dem freien Ende
unbewegt entgegenstellt.

Nur der Tote trinkt
aus der hier von uns gehörten Quelle,
wenn der Gott ihm schweigend winkt, dem Toten.

Uns wird nur das Lärmen angeboten.
Und das Lamm erbittet seine Schelle
aus dem stilleren Instinkt.»

(Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI)

[2] Gerhard Tersteegen im Kirchenlied: «Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.»; siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS  TEIL I,, 64

[3] Friedrich Hölderlin: «Hyperions Schicksalslied»

[4] Conrad Ferdinand Meyer: «Der römische Brunnen»

 

Quellenangaben

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