Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[1]
Pfingsten steht in der christlichen Tradition für die Feier des Geistes, und Geist ist Atem, göttlicher Atem, der uns lebendig macht und uns alle verbindet. Und in der Lesung zu Pfingsten heißt es von diesem Geist-Atem Gottes: er füllt das All; er hält alles zusammen; und er spricht und kennt alle Sprachen. Dem sollten wir nachgehen.
Zunächst einmal: Er erfüllt das All. Das «All» steht hier für Kosmos, für Universum und für die ganze Geschichte, von Anfang bis Ende aller Zeit. Der Geist-Atem Gottes, so wird uns gesagt, erfüllt dies alles; und da auch wir atmen ‒ so können wir folgern ‒ sind auch wir mit alledem verbunden.
Und tatsächlich sagt uns die Wissenschaft, dass wir mit jedem Atemzug ganz kleine Spuren von Edelgas einatmen. Zum Beispiel macht das Argon 1% unserer Atemluft aus. Da es keine Verbindung eingeht, ist es von allem Anfang an in der Luft gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach atmen wir daher mit jedem Atemzug Argonatome ein, die Buddha eingeatmet hat, und Jesus und Moses. Auch in diesem Augenblick hat jeder von uns Atome in sich, die jeder große Mann und jede große Frau der Geschichte, an die Sie denken mögen, nach wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit einmal ebenfalls in sich hatten. So sind wir bereits physisch mit der ganzen Geschichte von Anfang bis Ende und mit jedem Ort der Erde verbunden.
Wir wissen darüberhinaus, dass unser Körper aus Sternenstaub gemacht ist, aus demselben Stoff also wie die Himmelskörper, die wir nur mit den stärksten Teleskopen überhaupt sehen können, die Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt von uns sind. ‒ Die Materie war ursprünglich eins. Und so hängen wir schon über Raum und Zeit mit allem zusammen.
Aber viel mehr noch hängen wir zusammen durch den Geist. Was meinen wir damit?
Albert Einstein sagte einmal, dass die Fülle der Natur, die uns umgibt, die Fülle dessen, was wir erforschen können, erstaunlich sei, dass aber noch erstaunlicher sei, dass wir diese Fülle verstehen können.
Wie können wir diese Fülle, wie das Universum verstehen? Wir können sie nur verstehen, weil wir nicht nur physisch eins sind mit dem Universum, sondern weil wir auch den Geist, den Geist-Atem in uns haben, der alles er-füllt.
Wir können «Fülle» hier auch durch das Wort «Sinn» ersetzen. Da wir also den Sinn, der alles erfüllt, in uns haben, vermögen wir in uns auch den Sinn dessen zu verstehen, was uns umgibt; wir sind ihm verbunden.
Wir könnten aber genauso sagen, Sinn sei «Nichts». Wenn nämlich etwas Sinn hat, fügt der Sinn dem ja nichts hinzu. Es ist somit «Nichts», nicht aber ein leeres Nichts, sondern jenes Nichts, das für uns weit bedeutender ist als alles, was besteht. Wenn wir auch alles besäßen und es hätte keinen Sinn für uns, dann wäre dieses alles völlig belanglos. Der Sinn ist jenes Nichts, das das All wertvoll macht, es zum Leben bringt. Daher sprechen wir auch, wenn wir diesen Sinn meinen, von Geist, von Atem, weil Atem Leben bedeutet. Und wenn es heißt, dass wir Menschen erst durch Gottes Lebensatem lebendig werden, dann bedeutet dies, dass wir das Leben Gottes teilen.
Was meinen wir jedoch mit diesem so oft missverstandenen Begriff «Gott»? Hat das Vorgetragene Bedeutung aus Ihrem persönlichen Erleben heraus, auf das es bei Sinnfragen ja letztlich ankommt? Ich will versuchen, aus meinem Erleben eine Brücke zu schlagen. Vielleicht erinnert Sie das an Ähnliches, was Sie selbst erlebt haben.
Wenn wir fragen, wann wir diesen Geist, diesen Sinn-schaffenden Lebensatem erleben, so scheint mir die Antwort aus der gemeinsamen Erfahrung zu sein: Wir erleben ihn dann, wenn wir einmal wirklich in der Gegenwart stehen.
Meistens befinden wir uns ja doch nicht in der Gegenwart, sondern haften noch halb an der Vergangenheit und sind schon halb ausgestreckt auf die Zukunft.
Hie und da aber erleben wir einen Augenblick, in dem wir ganz geistes-gegenwärtig sind, wie es das schöne Wort ausdrückt. Und Gott, richtig verstanden, ist dann das, was uns ent-gegenwartet, wenn wir wirklich in der Gegenwart sind. Oder man kann es auch so sagen: das Göttliche ist die Gegenwart, in der wir aufgehoben sind.
Erinnern Sie sich an diese besten, lebendigsten Augenblicke Ihres Lebens? Augenblicke, in denen Sie ganz in der Gegenwart aufgehoben waren?
Nicht wahr, wir erleben uns aufgehoben in dreifacher Hinsicht.
Zunächst im Sinn von ausgelöscht: Was uns da ent-gegenwartet, das löscht uns aus, aber nicht in negativer Weise, sondern wie die Sterne ausgelöscht werden, wenn die Sonne aufgeht.
Wir erfahren uns aber auch aufgehoben in dem Sinn, dass wir auf eine höhere Ebene hinaufgehoben werden. Die Gegenwart, wenn wir uns ihr wirklich stellen, hebt uns über uns selbst hinaus. Von solchen Augenblicken pflegen wir zu sagen, «in diesem Moment bin ich über mich selbst hinausgewachsen».
Und schließlich ‒ und dies ist das Wichtigste ‒ sind wir auch aufgehoben im Sinn von geborgen. Wir wissen in unseren besten und lebendigsten Augenblicken, dass wir in dem, das uns entgegenwartet, zuhause sind, völlig aufgehoben und wohl geborgen.
Weil Gottes Geist das All und uns erfüllt ‒ so haben wir gesehen ‒ deshalb können wir das All verstehen. Und da er alles zusammenhält, sind wir in der Einheit aufgehoben; und auch dies in dreifachem Sinn.
Wir sind in einer Einheit aufgehoben, in der unser kleines Ich ausgelöscht ist ‒ dies ist die negative Seite.
Wir erleben uns in ihr aber auch hinaufgehoben in Gemeinschaft und Bezogenheit.
Und wir erfahren uns schließlich geborgen in Gemeinschaft, zugehörig zum großen Haushalt der Erde.
Ich erinnere Sie nur an etwas, was gewiss auch Sie erfahren haben: In solchen Augenblicken, in denen wir, wie wir sagen, uns selbst verlieren, finden wir uns, da sind wir wirklich ganz die wir sind.
In Zeiten dagegen, in denen wir uns anklammern an das, was wir zu sein glauben, da verlieren und zerstreuen wir uns.
Wenn wir uns über uns selbst hinaus in eine Einheit hineingehoben erleben, die gleichzeitig grenzenlose Gemeinschaft bedeutet, dann finden wir uns, aber wir finden uns nicht in unserem kleinen Ich, sondern in unserer Einzigartigkeit, in unserem höchsten, umfassendsten Selbst als Person, und wir erleben uns verbunden mit der ganzen Schöpfung und dem ganzen All.
Und darum heißt es auch vom Geist Gottes, dass er nicht nur das All erfüllt, nicht nur alles in Einheit zusammenhält, sondern dass er jede Sprache kennt. Wenn wir eine solche Geisterfahrung hatten, wie ich sie geschildert habe, dann sind wir versucht zu denken, unsere Sprache ‒ oder genauer gesagt, die Sprache unsrer religiösen Tradition ‒ sei die einzige, in der wir diese Geisterfahrung ausdrücken können.
Aber der Geist Gottes kennt und spricht alle Sprachen, nicht nur die der Menschen, sondern die der ganzen Schöpfung. Jedes Tier ist ja eine eigene Sprache, die der Geist spricht, jede Pflanze, jeder Kristall, jeder Stein, jeder Stern, jedes Meer, ‒ das Weltall ist ein Sprechchor von verschiedenen Sprachen, die alle der eine Geist spricht.
Und das Pfingstwunder wird gerade so beschrieben, dass alle die vielen Völkerschaften, die das Brausen des Geistes vernahmen, sich wunderten, dass jeder einzelne von ihnen die eigene Sprache vernahm!
Es ist die Einheit in der Vielfalt, die hier erfahren wurde ‒ ein ganz und gar ökumenisches Ereignis! Daher bedeutet das Pfingstfest auch geschichtlich den Durchbruch aus der Enge einer Religion (die hier, mehr oder weniger zufällig, das Judentum war), in den Universalismus!
Was sich aber im Laufe der Zeit aus diesem Pfingstereignis heraus entwickelt hat, das ist ‒ jedenfalls bis heute noch ‒ kein solcher Ausbruch aus der Enge, sondern nur die Entstehung einer anderen Religion, nämlich des Christentums.
Wir können bedauern, wir können es aber ebenso begrüßen. Denn diese Religion hat doch im Wesentlichen nur die eine Aufgabe: Mit jeder neuen Generation erneut über sich selbst hinauszuführen in den Universalismus, auch wenn sie noch so oft in sich selbst steckenbleibt.
Das Gleiche aber gilt ja auch für jeden einzelnen von uns. Auch wir haben doch eigentlich die Aufgabe, aus jenem tiefsten Erleben unserer All-Einheit heraus zu leben, und dennoch bleiben wir täglich wieder in uns selber stecken. Wie können wir dieses dann den Religionen verübeln, die doch nur die Konglomerate sind aus den vielen einzelnen von uns.
Besinnen wir uns also darauf, dass auch heute noch, 2000 Jahre nach dem Pfingstereignis, unverändert die Herausforderung an uns besteht, aus Religion im engeren Sinn ‒ ob das nun die jüdische, die christliche, die buddhistische oder eine andere Religion ist ‒ in den Universalismus auszubrechen, ohne die Religion zurückzulassen.
Wir lassen uns ja auch selbst nicht zurück, wenn wir über uns hinauswachsen, im Gegenteil. Genauso die Religion. Und auch sie wird erst wirklich sie selbst, wenn sie universalistisch wird.
Sie wird aufgehoben in dreifachem Sinn: Ausgelöscht, soweit sie in der Vereinzelung, im Gegensatz zu den anderen, steht; hinaufgehoben auf eine höhere Stufe und in eine umfassendere Ordnung; und aufgehoben im Sinn von Bewahrung, bei der ihr Bestes zum Vorschein kommt.[2]
Der Heilige Geist ist der göttliche Lebensatem in uns. Geist und Fleisch stehen einander im biblischen Sprachgebrauch als Pole gegenüber. Fleisch bezeichnet alles, was unvermeidlich dem Tod verfallen ist. Fleisch muss ja verwesen, wenn es nicht mehr vom Lebensatem lebendig erhalten wird. Geist ist dieser Lebensatem, zunächst ganz konkret biologisch, dann in alle Grade des Lebendigseins übertragen, bis zur höchsten spirituellen Wirklichkeit, unserer Teilnahme am göttlichen Leben.
In dieser letzten Bedeutung sprechen wir vom Geist als Heilig im Sinne höchster Transzendenz. An den Heiligen Geist zu glauben heißt, auf unsere innerste Verbundenheit mit dem lebendigen Gott zu vertrauen und entsprechend zu leben.
Wir können uns bewusstwerden, dass «leben» nicht etwas ist, was wir «tun», wie kochen, laufen oder Schach spielen. Leben ist vielmehr ein Vorgang, an dem wir teilnehmen durch alles, was wir tun und erleiden ‒ ein Vorgang, der sich in uns abspielt, der aber weit über uns hinausgeht.
Es ist etwas, was wir nicht durch Analysieren verstehen können, sondern nur im Durchleben.
Wir können uns auch verschiedener Intensitätsgrade der Lebendigkeit bewusst werden.
Deine Lieblingsspeise wird Deine Lebendigkeit um einige Grade erhöhen.
Gute Musik wird sie noch etwas höher schrauben.
Das Lebensgefühl, wenn du dein erstgeborenes Kind in deinen Armen hältst, liegt auf einer noch weit höheren Ebene.
Anderseits kann es auch vorkommen, dass deine physische Lebendigkeit, sagen wir durch Krankheit oder Altersbeschwerden, hinuntergedrückt ist. Auch emotional fühlst du dich niedergeschlagen und deine Denkschärfe ist geschwächt; und trotzdem kannst du gerade in einer solchen Lage einer unerwarteten Lebensintensität gewahr werden; trotz erschlaffter Vitalität brennt tief in dir die Lebensflamme stetig, still und stark.
Solange wir uns gesund und kräftig fühlen, achten wir meist kaum auf dieses innerste Lebensfeuer.
Wenn in ihm unsere Sehnsucht nach der letzten Wirklichkeit glüht, wenn es uns wärmt und wach hält und uns Kraft gibt unserer Umwelt in Liebe als Mitwelt zu begegnen ‒ mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben ‒, dann nennt die christliche Tradition diese Lebendigkeit den Heiligen Geist.
Jeder Mensch kann diese uns unendlich übersteigende und zugleich einbeziehende Lebenskraft in sich erfahren, ganz gleich welchen Namen wir ihr geben.
«Ich glaube an den Heiligen Geist»
Worum es in diesem Glaubenssatz geht, ist nicht ein Fürwahrhalten, dass es «eine göttliche Person» gibt, die Heiliger Geist heißt.
Es geht vielmehr um ein gläubiges Sich-verlassen auf das Leben in uns, das letztlich Anteilnahme an der göttlichen Lebendigkeit ist.
So dem Leben zu vertrauen heißt: fest damit rechnen, dass jeder Tag uns genau das bringen wird, was wir brauchen ‒ wenn es auch nicht immer das ist, was wir uns wünschen.
Für mich persönlich war es eine folgenreiche Fügung, dass ich eingeladen wurde, im Sommer 1969, fünfzehn kleinen Klöstern-auf-Zeit im Staat Michigan beim Start zu helfen und sie zu betreuen; über die ganzen USA verstreut gab es Hunderte. Aus den stillen Gebetsgemeinschaften nahmen viele regelmäßig an den sprudelnden sprühenden charismatischen Gebetsabenden teil.[3]
Etliche von uns bereiteten sich in diesem Sommer auf die Geisttaufe vor, eine Erneuerung der Verpflichtungen, die man in der Taufe auf sich nahm, jetzt aber mit besonderer Offenheit für ein Leben im Heiligen Geist und für seine Gaben.
Als Tag für diese Feier hatte ich für mich den 20. Juli ausgewählt, weil das der 43. Jahrestag meiner Taufe war. Freilich konnte ich noch nicht voraussehen, welche spektakuläre zusätzliche Bedeutung dieser Tag in jenem Jahr erhalten sollte. Als wir am Abend des 20. Juli noch ganz glühend von Begeisterung aus dem Schulraum kamen, in dem wir gebetet und die Geisttaufe empfangen hatten, fiel mein Blick auf den Vollmond, der von hoch oben durch eines der Fenster herunterschaute. Eine kleine Menschengruppe stand da in der Eingangshalle vor einem Fernsehgerät. Warum waren sie alle so still? Als ich näher kam, bemerkte ich, dass sie atemlos zuschauten, wie der erste Mensch seinen Fuß auf die Mondoberfläche setzte.
«Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit», konnten wir aus 380.000 Kilometer Entfernung Neil Armstrong sagen hören und zugleich zum Mond aufblicken.
Bis heute kann ich kaum glauben, wie alles für mich zusammenstimmte, um eine Einsicht zu unterstreichen, die ich wohl nie vergessen werde:
Ja, der Heilige Geist ergreift und verändert uns durch tiefe innere Erfahrungen, aber derselbe Heilige Geist ergreift und verändert auch unsere äußere Welt.
Die leidenschaftliche, geduldige Forschungsarbeit von Wissenschaftlern, die Schöpferkraft von Technikern, Künstlern, Musikern, Dichtern und Schriftstellern, und der Einfallsreichtum von Frauen und Männern, die sich auf unzähligen anderen Gebieten im Dienst an der Menschheit um eine bessere Welt mühen, sie alle sind von ein und demselben Heiligen Geist inspiriert.
Jede Saite einer Windharfe antwortet mit einem anderen Ton auf denselben Wind. Welche Tätigkeit lässt dich selber am stärksten mitschwingen, wenn der Wind des Heiligen Geistes dich anrührt, der «weht, wo er will» (Joh 3,8)?
Die Turbulenz der Charismatischen Erneuerung in den Sechziger- und Siebzigerjahren hat sich gelegt, aber die Kirchen werden nie mehr zum alten Trott zurückkehren können. Ungezählte Christen hatten da tief spirituelle Erlebnisse und werden nie mehr ihre persönliche Erfahrung offizieller Lehre unkritisch unterwerfen.
Was hältst du persönlich von dieser Einstellung? Hat sie Grenzen, die respektiert werden wollen? Wie siehst du die Rolle des Heiligen Geistes in dieser Hinsicht? Wo siehst du den Heiligen Geist heute die Welt bewegen?[4]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 4)
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 3:
(23:08) Unser innerstes Leben ist göttliches Leben, der Lebensatem Gottes: ‒ Einatmen und ausatmen, geben und nehmen
1.2. «Vom Rhythmus des Lebens»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989) (06:02-15:47); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 13-15:
«Leben ist zu breit, als dass wir hoffen könnten, das ganze Spektrum hier zu behandeln. Wir müssen daher auswählen. Aber im Leben hängt alles mit allem zusammen. Welchen Bereich des Lebens sollen wir hier in Frage stellen, ins Auge fassen? Biologisches Leben, psychologisches Leben, soziologisches Leben, sogar politisches, ökonomisches Leben spielt da herein; jedes hat seine Rhythmen.
Ich möchte vorschlagen, dass wir uns heute auf den umfassendsten Bereich des Lebens einstellen, auf das g e i s t l i c h e Leben.
Geistliches Leben, das ist ‒ im Deutschen ‒ ein schwieriges Wort und missverständlich, weil man gleich an ‹die Geistlichen› denkt. Was heißt also ‹Geistliches Leben›?
Es heißt: Leben im Geist, Leben aus dem Geist, Leben im Heiligen Geist, Leben aus dem Heiligen Geist. Und Geist heißt Lebensatem Gottes.
Lebensatem ‒ alle die Wörter, die unserem Wort ‹Geist› voranstehen in der biblischen Tradition, ruach, pneuma, spiritus ‒ alle bedeuten Lebensatem.
Beinahe ist es ein Pleonasmus, von geistlichem, also lebendigem Leben zu sprechen ‒ so etwas ist ein weißer Schimmel oder ein schwarzer Rappe ‒, aber es ist doch nicht wirklich ein Pleonasmus. Wenn wir nämlich vom g e i s t I i c h e n Leben sprechen, dann meinen wir damit w a h r e s Leben, wahrhaftige Lebendigkeit, aufblühendes Leben, fruchtbares Leben ‒ ganz im Gegensatz zu dem, was wir so häufig Leben nennen, nämlich unser halbtotes, sich selbst verneinendes, geistloses Dahinleben. Das nennen wir auch Leben. Und daher muss man es ausdrücklich sagen: Wir meinen hier geistliches Leben, nämlich wirkliche Lebendigkeit.
Was können wir über diese wirkliche Lebendigkeit sagen?
1. Wir haben sie von Gott als Geschenk.
Im Buch Genesis, im 2. Kapitel (1 Mose 2,7), lesen wir: Gott, der Bundesgott, formte den Menschen aus Erde und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Das heißt, in biblischer Sicht sind wir jene Lebewesen, die durch Gottes eigenen Lebensatem lebendig sind. Das ist der Mensch.
Was können wir weiters über diese wahre Lebendigkeit aus der Sicht der christlichen Tradition, der biblischen Tradition sagen?
2. Wir haben sie mit Gott gemeinsam.
Diese Lebendigkeit ist Gottes Lebendigkeit in uns. Freilich, wir haben sie nur so gemeinsam, wie das Wasser in einem Krug und das Wasser im Meer gemeinsam sind, aber es ist doch eine Gemeinsamkeit. Wir Menschen atmen Gottes Atem.
3. Wir kennen Gott durch diese Lebendigkeit, wir kennen Gott nur durch diese Lebendigkeit des göttlichen Lebens in uns.
Denn man kann zwar über Gott etwas wissen, von außen, aber kennen kann man Gott nur von innen. Selbst erahnen können wir Gott nur von innen. Der heilige Paulus spricht das sehr schön aus im ersten Korintherbrief, im 2. Kapitel (1 Kor 2,10-12).
Er sagt: Wer kann schon einen anderen Menschen wirklich kennen? Nur der Geist, der in dem Menschen selber ist, kennt den Menschen wirklich. Und in Parallele dazu sagt er: Wer könnte dann hoffen, Gott zu kennen? Nur der Geist Gottes selbst kann die Tiefen Gottes ausloten.
Da könnte man nun glauben, dass Paulus aus diesen beiden Prämissen den Schluss zieht, wir sollten uns gar nicht bemühen, Gott zu kennen. Wenn wir schon einen anderen Menschen nicht kennen können, um wieviel weniger Gott.
Aber da springt er jetzt in der Kraft dieses selben Heiligen Geistes über die beiden Prämissen sozusagen hinweg und zieht kühn den Schluss: Wir haben den Heiligen Geist Gottes empfangen und erkennen Gott daher mit Gottes eigener Selbsterkenntnis. Wir kennen Gott von innen her, weil uns an Gottes eigener Lebendigkeit Anteil g e s c h e n k t ist.
Gottes Lebensatem ist uns geschenkt, wir können also Gott von innen her verstehen, durch diesen Heiligen Geist, durch diese Lebendigkeit in uns.
4. Diese Lebendigkeit macht uns zu Menschen, macht uns erst zu Vollmenschen.
Wir Menschen werden zu lebendigen Wesen, indem Gott uns Anteil nehmen lässt am göttlichen Atem, am Heiligen Geist.
Und je mehr wir uns aufschließen und lebendig werden durch Offenheit aller Sinne und durch Opferbereitschaft, umso mehr werden wir wahrhaft menschlich: als Gotterfüllte erfüllen wir unsere menschliche Berufung.
5. Zugleich aber verbindet uns dieser Heilige Geist auch miteinander.
Im Römerbrief sagt Paulus: Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, sind Söhne und Töchter Gottes (Röm 8,14). Das ist der Geist Gottes, den wir Menschen schon von Anfang an empfangen haben und dann in Fülle zu Pfingsten. Nach dem biblischen Menschenbild gibt es keinen Menschen in der ganzen Welt, der nicht aus Gottes eigenem Leben lebt, wenn er sich nur diesem Leben aufschließt, und so wirklich Mensch wird. Und darum verbindet uns der Heilige Geist mit allen, denn alle, die sich dem Geiste Gottes aufschließen, alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen (und Paulus betont dieses ‹alle› hier), sind Söhne und Töchter Gottes.
6. Nicht nur mit den Menschen verbindet uns dieser Heilige Geist, dieser Lebendigkeit in uns, sondern mit allen und allem, mit den Tieren, den Pflanzen, ja mit dem ganzen Kosmos.
In den Psalmen hören wir immer wieder vom Atem Gottes, der ausgeht und alles lebendig macht; wenn er zurückgezogen wird, fällt alles wieder ins Nichtsein zurück. Wir hören auch schon im Alten Testament, dass der Geist Gottes den ganzen Erdkreis füllt und alles zusammenhält, alles vereinigt und jede Sprache kennt.
Da ist die vereinigende Kraft des Geistes ganz deutlich ausgesprochen. Und wie sehr wir dieses Gemeinsamkeitsbewusstsein mit der ganzen Schöpfung gerade heute brauchen! ‹Geistliches Leben› bedeutet also Lebendigkeit im Heiligen Geist Gottes. Gerade auf diesen Aspekt des Lebens möchte ich hier am Anfang unserer Tagung eingehen, wenn vom ‹Rhythmus des Lebens› die Rede sein soll.»
1.3. Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 2:
(20:10) Bruder David spricht über seine Geisttaufe am 20. Juli 1969 und die Charismatische Erneuerung, wie er sie erlebt hat.
1.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(10:23) Mit Jesus bricht durch, was in Israel angelegt war: Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem. Jesus ist nicht in erster Linie Verkünder, sondern erinnert uns, dass wir in unserem eigenen Herzen mit dem innersten Gesetz unseres Lebens, in eins mit dem Baugesetz ‒ dem Hologramm ‒ des Kosmos, vertraut sind.
2. Weitere Texte
1. Wendezeit im Christentum, Teil I (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 94f.:
«Der Heilige Geist bedeutet, dass wir die göttliche Wirklichkeit durch Gottes eigenes Selbsterkennen erfahren, an dem wir teilhaben. Gottes Selbsterkennen ist ein Aspekt dessen, was wir den Heiligen Geist nennen. Der hl. Paulus hat eine wunderbare Stelle in seinem ersten Brief an die Korinther formuliert (1 Kor 2,10-12): ‹Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch niemand, was in Gott ist, als der Geist Gottes.› Nun könnte man denken, aus diesen Sätzen sei der Schluss zu ziehen, dass kein Menschenwesen jemals Gott kennen könne. Wenn wir nicht einmal einen anderen Menschen in seinem Innersten kennen, wie könnten wir dann Gott kennen? Doch macht Paulus hier einen unglaublichen Sprung und sagt: ‹Wir haben aber nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist.› Das heißt, wir kennen Gott aus innerer Sicht, gewissermaßen durch Gottes Selbsterkennen. So gesehen ist die Dreifaltigkeit eine Art, über unsere menschliche Verbundenheit mit der göttlichen Wirklichkeit zu sprechen. Es ist eine Lehre, die ihre Wurzel in unserer mystischen Erfahrung hat.» [ST 63]
2 Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 59-63:
«Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht. Er gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.»
Dazu ergänzend aus Credo (2015): ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, 52f.:
«Im biblischen Schöpfungsmythos geht es anders zu als in Collodis ‹Pinocchio›, wo Gepetto eine Puppe schnitzt, die ihm davonläuft.
Der biblische Schöpfer haucht dem Werk seiner Hände seinen eigenen Lebensatem ein. Könnten wir (und so der ganze Kosmos) inniger verbunden sein mit Gott?
Hier muss das Bild von Gott als unser Vater das Bild von Gott als unser Schöpfer ergänzen und berichtigen. Es geht hier um ein Gegenüber, mit dem wir doch im Innersten eins sind.
Weil Lebendiges nicht e r zeugt, sondern g e zeugt wird, verlangt etwas in uns danach, dass auch Pinocchio zuletzt nicht Puppe bleibt, sondern in der Geschichte Collodis der Fleisch-und-Blut-Lausbub wird, der er eigentlich schon von Anfang an war.
‹Gezeugt, nicht geschaffen; eines Wesens mit dem Vater›, sagt eine andere Fassung des Glaubensbekenntnis von Christus aus.»[5]]
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[1] Sakramentales Leben; Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 119
[2] Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): ‹Wo stehen wir›?
[3] Ebd. S. 185:
«Es begann im Februar 1967 mit einer förmlichen Explosion von Geistesgaben während eines Einkehrtages für Studenten der Duquesne University [in Ann Arbor, Michigan, eine kleine Universitätsstadt im Mittelwesten der USA] Von da aus verbreitete sich die Charismatische Erneuerung wie ein Lauffeuer über die ganze Welt. Solche Geistesgaben ‒ z. B Zungenreden (ein ekstatisches Beten in meist unverständlichen Lauten), prophetische Mahnreden und Heilung durch Handauflegung ‒ die in kleineren evangelischen Kirchen der Pfingstbewegung schon lange bekannt waren, fanden nun plötzlich in den großen traditionellen Kirchen Eingang; in jeder beliebigen Anglikanischen oder Römisch-Katholischen Pfarrkirche konnte man jetzt auf solche Phänomene stoßen.»
[4] Credo (2015): ‹Ich glaube an den Heiligen Geist›, 182-184, 186f.
[5] ‹genitum non factum, consubstantialem Patri› (Großes Glaubensbekenntnis); siehe auch Religionen und heiles Gottesbild: Anm. 3