Film, Audio und Text von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

[Film 30:53] Isha Johanna Schury: «Jetzt hast du ja bestimmt auch viel mit Sterbenden schon in deinem Leben zu tun gehabt, mit Menschen, die am Ende ihres Lebensweges sind. Ich könnte mir vorstellen oder vielleicht kannst du uns sagen, was ist es denn, was diese Menschen am Ende unzufrieden macht, warum sie dann am Ende vielleicht doch irgendetwas bereuen. Was äußern sie, was sagen sie, was benennen sie?»

David Steindl-Rast: «Also ich muss zugeben, ich habe nicht sehr viel Erfahrung mit Sterbenden, Sterbehilfe oder so, das habe ich nicht gemacht. Ich war am Tod von Menschen dabei, aber alte Menschen, die sich irgendwie vor dem Tod fürchten, denen bin ich natürlich begegnet und dieses Gefühl, dass man etwas versäumt hat oder dass man etwas schlecht gemacht hat oder so, das ist schon oft ein Problem. Wie soll man damit umgehen?

Ich kann es mir nur so vorstellen, wie man mit Schuldgefühlen überhaupt im Laufe des Lebens umgehen kann, ganz gleich, wie nahe man dem Tod ist.

Und mein Rat ist immer, einerseits die Schuld anzuerkennen: Da war ich mir nicht selber treu, da war ich einem Andern nicht treu, da hab ich etwas versäumt, was ich tun hätte können, und es zunächst einmal eingestehen, dann mit festem Entschluss gleich aus diesem Gefühl, es ist ja ein ungutes Gefühl, eine Energie, diese Energie gleich verwenden, um zu sagen, nächstes Mal mache ich es besser, und von dem Augenblick an keinerlei Energie mehr in dieses Erlebnis einfließen zu lassen, denn das ist alles verschwendete Energie, über meine Fehler nachzudenken, sondern von da an nur vorwärts und alle Energie ‒ : Jetzt besser machen.

Das ist das Entscheidende. Und ganz gleich, wie nahe man dem letzten Augenblick steht, ich kenne keine andere Methode, damit umzugehen.

Wenn dann jemand sagen wird, ja, die Ärzte sagen mir, ich habe nur noch ein paar Tage oder ein paar Stunden zu leben, dann würde ich sagen, in den paar Stunden alles, Menschen und Tiere und Pflanzen dir vorzustellen und Ja zu sagen und dankbar zu sein dafür und das Leben zu rühmen und zu preisen und nicht auf meine kleinen Fehler überhaupt einzugehen.

Das Leben ist viel großzügiger als wir es sind.

Sogar in der christlichen Bibel, im Neuen Testament, das ja sonst sehr verrufen ist, diese Schuldgefühle immer wieder aufzubringen und den Menschen aufzuladen, sogar dort steht ganz ausdrücklich:

‹Wenn dein Herz dich anklagt, Gott ist größer als dein Herz.›

Die Vergebung Gottes ist immer größer. Darauf kann man sich sogar als Christ verlassen.»[1]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!

Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.
Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:
Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.
Ich bleibe dem Leben etwas schuldig:
mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.

Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.
Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒
an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.

Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[2]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Jeden Morgen erwache ich zum Geschenk eines neuen Tages,
aber auch zu allem Elend der Welt.
Unheil, das wir Menschen anrichten, ist entsetzlich genug.
Aber Erdbeben, Epidemien, Tsunamikatastrophen, wo kommen die her?
Ich will keine rosa Brille, will Dich nicht nach meinen Wunschträumen erfinden.
Ich möchte Dich kennenlernen, wie Du bist.
Lebensfülle und Vernichtung ‒ beides stammt von Dir, Du Unergründlicher. Mich schaudert.
Ich kann verzweifeln oder vertrauen. Ich wähle vertrauen.
Alles Böse ist das Noch-nicht-Gute.
Mit diesem Vertrauen will ich heute Schreckensnachrichten hören.
Amen.»[3]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.

1.2. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
Drei Grundfragen Warum? Was? Wie? (Bruder David):
(32:10) Unsere Aufgabe: ‹Rühmen, das ists› (Rilke: Sonette an Orpheus ‒ ‹Ich geh doch immer auf dich zu› (Rilke: ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst›) ‒ Kann man denn alles rühmen? ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) ‒ ‹Zwischen den Schlägen besteht unser Herz› (Rilke: Die Neunte Elegie) ‒ Die Dunkelheit, der Schatten des Geheimnisses und unser eigener Schatten gehören zum Ganzen dazu ‒ ‹Du Dunkelheit aus der ich stamme› (Rilke: Das Stunden-Buch)
(37:37) Das Böse, das noch nicht Vollendete ‒ Und so gehen wir aus dem Schweigen in das Wort und durch das Verstehen wieder ins Schweigen zurück auf einer andern Ebene ‒ In der liebenden Dunkelheit sind wir versöhnt mit dem Schweigen
(58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen

1.3. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
‹Das Böse mit den Augen einer Mutter anschauen›

1.4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
‹Was hindert gesundes spirituelles Wachstum›; siehe auch
Mitschrift:
(03:36) ‹Die Sünde ‒ ein sehr gefährliches Wort, aber ich verwende es in dem Sinne: Es bedeutet ‹die Absonderung›. ‹Sünde› und ‹sondern› gehören sprachlich zusammen: Die Sünde sondert uns ab von unserem eigenen wahren Selbst, von den Anderen, von dem MEHR. Sie wird nun juristisch verstanden. Denn wenn da so ein Machthaber oben sitzt, dann muss das juristisch interpretiert werden. So wird die Sünde zur Schuld und muss bestraft werden. Wir dürfen diese Sünde aber auch entwicklungsgeschichtlich verstehen, in unserer eigenen persönlichen Entwicklung als das noch nicht Geglückte. Und dann ‒ statt Strafe: lernen, nachlernen ‒ etwas ganz Anderes!›

1.5. «Wähle das Leben» (5 Mose 30,19) (1992)
Vortrag; siehe auch Sterben und Tod:
(03:59) Sich in Gottes Hände fallen lassen / (05:21) ‹Die Blätter fallen› (Rilke) / (07:14) ‹Gott ist grösser als unser Herz› (1 Joh 3,20)

2. Weitere Texte

2.1. Erwachende Worte (2023): ‹Rühmen›, 31; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben:

«‹Rühmen, das ist’s!›[4] Ja, alles, was ist, rühmt das Sein durch sein Dasein.
Einfach da zu sein ist Rühmung.
Dasein ist ein Ja-Sagen zum Sein.
Und dieses Ja fasst alles Rühmen in einem einzigen Wort zusammen.

Jedes Sein ist ein Ja ‒ ein ‹aus dem Nein aller Verneinung gehobenes› Ja:
Dasein ist Ja-Sein. Und dieses Ja-zum-Leben-Sagen heißt Rühmen.

Auch ich bin ‹ein zum Rühmen Bestellter›.[5]
Warum ist mein Ja zum Leben oft so zaghaft, so trüb, sogar oft widerwillig?
Aus Furcht, Ja zu sagen zum Ganzen.

‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze!›[6]

Das will ich mir zu Herzen nehmen ‒ vertrauensvoll trotz allem. Amen.»

2.2. Das Vaterunser (2022): ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern›, 76; siehe auch Erlösung ‒ Sünde und Heil:

«Meine Scham lässt mich fühlen, dass mein Versagen die zarte Vernetzung zerreißt, durch die alles mit allem verbunden ist ‒ verbunden auch mit dir. Das Wort ‹Sünde› kommt ursprünglich von ‹absondern›. Sünde meint einen Riss im Gewebe des Ganzen. Sie trennt, was zusammengehört, und das ist buchstäblich herzzerreißend. Denn das Herz ist ‒ wie Rilke das so wunderbar ausdrückt ‒

‹das ins Ganze Geborne.›[7]

Wenn wir aus unserm Herzen leben, dann gehören wir dem Ganzen, dann werden wir ganz, dann werden wir auch das, was uns am Ganzen so schwierig erscheint, in uns aufnehmen, dann werden wir mit dem Ganzen auskommen. Das Herz ist jener Bereich, wo wir am tiefsten und innigsten mit allem und allen und mit dem Göttlichen verbunden sind. Darum findet sich das Herz nicht ab mit der Trennung und es mahnt uns, die Trennung zu überwinden.

Aber auch dort, wo unser Herz uns anklagt, dürfen wir dir vertrauen, denn du bist ‹größer› als unser Herz und kennst uns durch und durch› (1 Joh 3,20). Auf dein grenzenloses Verzeihen lass mich vertrauen und es freigebig weiterschenken.»

2.3. Weihnachtsbotschaft 2022:

«Mutter und Kind sind das Urbild von Gemeinschaft und bleiben ihr Leitbild. Die Mutter sieht das Böse im Kind als das Noch-nicht-Gute. Wir können lernen, mit den Augen einer Mutter das Böse in der Welt – ohne es zu beschönigen – als das Noch-nicht-Gute zu sehen. Dann heißt es alles aufzubieten, um einfallsreich damit umzugehen. Was kann ich persönlich ganz konkret tun, um irgendwo eine gesellschaftliche Kluft zu überbrücken – ganz gleich was es mich kostet? Dazu bereit zu sein, ist unser unerlässlicher Beitrag, um das Versprechen der Weihnachtsengel Wirklichkeit werden zu lassen: ‹Friede den Menschen auf Erden!›»

2.4. Orientierung finden (2021), 59f.:

«Projizierte Gottesvorstellungen sind leider allzu häufig. Es gibt zwei Grundtypen: einen überdimensionierten kosmischen Weihnachtsmann und einen Superpolizisten mit den gleichen kolossalen Ausmaßen. Diese beiden können sogar miteinander verschmelzen. Die sich entwickelnde Beziehung eines Kindes zum großen Du kann durch diese beiden Projektionen irregeführt und verzerrt werden. Wenn das große Du die Maske des Superpolizisten trägt, wird das Kind möglicherweise sein Leben lang mit Schuldgefühlen und Angst zu kämpfen haben. Und wenn das Bild eines wunscherfüllenden Weihnachtsmanns den Platz des großen Du in der kindlichen Vorstellung einnimmt, wird eine bittere Erfahrung früher oder später den Schrei auslösen: ‹Wie kann ein liebender Gott solche Dinge tun›? In beiden Fällen wird eine echte Gottesbeziehung verlorengehen.

Dass ein Kind ein gesundes Verhältnis zum großen Du entwickelt, wird wohl weitgehend davon abhängen, wie sein Verhältnis zum maßgeblichen kleinen Du sich gestaltet. Für Eltern bedeutet das die schwierige Aufgabe, weder in die Rolle des Weihnachtsmannes zu verfallen noch in die des Superpolizisten. Vor allem aber wird es darum gehen, dem Kind die persönliche Beziehung zu Gott vorzuleben und so eine spontane Beziehung zu Gott ernst zu nehmen und zu fördern. Kinder aus ihrer Gotteserfahrung heraus auf eigene Weise zu Gott sprechen zu lassen, ist weit besser, als ihnen mit vorgegebenen Gottesbildern den freien Blick zu verstellen.»]

________________

[1] Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 10f.

[2] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹Schuld›, 23; siehe auch Erlösende Kraft

[3] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹Das Böse›, 12; siehe auch Sinne und Sinn

[4] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, VII

[5] Ebenda

[6] Für Bruder David eines der liebsten Worte des Kirchenvaters Aurelius Augustinus, die er immer wieder zitiert.

[7] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, II:

«Ach, der Erde, wer kennt die Verluste?
Nur, wer mit dennoch preisendem Laut
sänge das Herz, das ins Ganze geborne.»



Quellenangaben

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