Text von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

Im etwas nachlässigen alltäglichen Sprachgebrauch benutzen wir Zweck und Sinn manchmal so, als seien sie dasselbe. Wir sollten uns aber daran erinnern, wie wir einen gegebenen Zweck anstreben, und wie wir im Gegensatz dazu Sinn erfahren. Der Unterschied ist bemerkenswert.[1]

Um einen Zweck zu erreichen, müssen wir alles unter Kontrolle halten. Wir müssen sozusagen «die Zügel halten», «die Dinge in die Hand nehmen», die «Sache unter Kontrolle bringen» und die Umstände wie Hilfsmittel nutzen, um unsere Zwecke zu erreichen. Solche Redewendungen sind bezeichnend für eine zweckorientierte, nützliche Tätigkeit, und das ganze moderne Leben insgesamt neigt dazu, so zweckorientiert zu sein.

Die Dinge liegen jedoch anders, wenn wir es mit Sinn und Bedeutung zu tun haben. Hier geht es nicht darum, die Welt um uns zu gebrauchen, sondern darum, sie auszukosten.

Unsere Redewendungen, die sich auf Sinn beziehen, zeigen uns mehr passiv als aktiv: «Es ist mir etwas geschehen», «Es hat mich tief berührt», «Es hat mich bewegt». Natürlich möchte ich Zweck und Sinn nicht gegeneinander ausspielen, oder Aktivität gegen Passivität. Es geht eher darum, ein Gleichgewicht in unserer hyperaktiven, von Zweckmäßigkeit besessenen Gesellschaft zu finden. Wir unterscheiden hier Zweck und Sinn nicht, um die beiden zu trennen, sondern um sie zu verbinden. Unser Ziel ist es, Sinn in unsere zweckvollen Tätigkeiten einfließen zu lassen, indem wir Aktivität und Passivität in ihre ursprüngliche wechselseitige Beziehung bringen.[2]

Eine kreative Spannung aber aufrechtzuerhalten ist anstrengend. Es erfordert von uns eine Hingabe, die uns schwerfällt. Warum schwer? Weil sie Mut erfordert. Solange wir die Kontrolle haben, fühlen wir uns sicher. Lassen wir uns aber hinreißen, dann ist nicht zu sagen, wohin das führen wird. Wir wissen nur, dass das Leben abenteuerlich wird. Zum Abenteuer aber gehört Wagnis.

Manchmal macht uns das Wagnis so sehr Angst, dass wir lieber alles unter Kontrolle halten, selbst wenn das bedeutet, dass wir uns mit Langeweile zufrieden geben müssen.

Entsinne dich, wie das in persönlichen Beziehungen funktioniert. Du glaubst, dass dir jemand sicher ist: «Ich habe ihn im Sack» oder «Sie frisst mir aus der Hand». Hältst du aber eine Beziehung so unter Kontrolle, dann wird sie sehr schnell langweilig. So gibst du euch beiden also ein wenig Spielraum. Und schon wird es abenteuerlich, aber auch riskant. Du weißt nie, was als nächstes passiert, wenn du dich auf Abenteuer einlässt. Sobald es dir genügend Angst macht, verschließt du dich aber sofort wieder. Manchmal bewegen wir uns an einem einzigen Tag viele Male hin und her zwischen Geben und Zurücknehmen, zwischen Auf- und Zumachen. Leben aber ist Geben und Nehmen, nicht geben oder nehmen.[3]

Sollten wir nur nehmen oder nur geben, sind wir nicht lebendig. Wenn wir nur einatmen, dann ersticken wir, aber wenn wir nur ausatmen, ersticken wir ebenso. Das Herz saugt das Blut ein und pumpt es hinaus, und im Rhythmus von Geben und Nehmen leben wir. Tatsächlich ist aber das Gleichgewicht in unserem Leben oft gestört. Unser Schwerpunkt liegt viel zu sehr auf dem Zweck ‒ dem Nehmen, dem Machen, dem Wollen. Was das sinnvolle Leben angeht leben wir sozusagen in einem unterentwickelten Land. Weil wir nur eine Hälfte des Gebens und Nehmens entwickeln, sind wir nur halb lebendig.

Hier sind wieder die Redewendungen unserer Sprache symptomatisch für unsere Vorliebe für zweckmäßiges Nehmen und Wollen. Wir haben jede Menge Ausdrücke, die vom Machen und Nehmen reden, doch nur wenige sprechen von Hingabe:

Wir machen einen Spaziergang, wir machen einen Kurs, wir nehmen ein Bad, wir nehmen uns eine Pause, wir nehmen eine Mahlzeit ein. Wir nehmen uns fast alles, eingeschlossen sogar viele Dinge, die kein Mensch wirklich «nehmen» kann, zum Beispiel Zeit.

Wir sagen, dass wir uns «Zeit nehmen», doch wir leben nur wirklich, wenn wir Zeit geben, nämlich für etwas, das Zeit braucht und nimmt. Wenn du Platz nimmst, so sitzest du nur dann bequem, wenn du deinem Sessel erlaubst, dich aufzunehmen. Schlafen zu wollen ist der sicherste Weg zur Schlaflosigkeit, denn solange du auf dem Nehmen bestehst, wirst du den Schlaf nicht bekommen. In dem Moment jedoch, wo du dich hingibst, wirst du in den Schlaf fallen.

Vielleicht beginnen wir zu ahnen, dass unser einseitiges Bestehen auf dem Nehmen uns daran hindert, ausgeglichen und friedlich zu leben und auch daran, einen ausgeglichenen und friedlichen Tod zu sterben. Nach einem Leben, in dem wir genommen und genommen haben, stoßen wir zuletzt auf etwas, das wir nicht nehmen können. Der Tod nimmt uns. Das ist ernst. Einer kann durchs Leben gehen und immerfort nehmen, und zuletzt endet alles damit, dass er sich das Leben genommen hat, was in Wirklichkeit Suizid ist. Doch wir können lernen, uns selbst zu geben. Es fällt uns nicht leicht, weil wir uns davor fürchten, uns hinzugeben, aber es kann gelernt werden. Wenn wir lernen uns hinzugeben, lernen wir beides: zu leben und zu sterben ‒ nicht nur unseren letzten Tod zu sterben, sondern auch die vielen Tode des täglichen Lebens, durch die wir mehr und mehr lebendig werden können.[4]

Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fällt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?[5]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-5]

[Ergänzend:

1. Ich bin durch Dich so ich (2016): 5. Dialog, 1966-1976, 104f.:

Johannes Kaup: «Sie haben gesagt, Sie brauchen Ordnung, Stabilität und Wiederholung. Wie verträgt sich Ordnung, Stabilität und Wiederholung mit diesem Anfängergeist, der die Dinge immer wieder neu sehen, erleben und begreifen möchte, der sozusagen aus der Ursprünglichkeit heraus lebt?»

Bruder David: «Vielleicht ist mir gerade deshalb Wiederholung so lieb, sogenannte eintönige Arbeit. Manche Brüder finden es langweilig, wenn wir gemeinsam die Rundbriefe ausschicken. Aber jeder Briefumschlag, in den man etwas hineinsteckt, ist neu: Diesen einen habe ich noch nie in der Hand gehabt.»

2. Der Mönch in uns (1978) [die folgenden Abschnitte ab ‹Nun lautet die große Frage …› sind im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63, übersetzt von Bernardin Schellenberger, nicht enthalten]; siehe auch Sinn und Zweck: Ergänzend 3.; Geben und Nehmen: Ergänzend: 1.:

«Wenn wir eine strenge Arbeitsmentalität haben, dann sind wir nur halb lebendig. Wir sind dann wie Leute, die nur einatmen und dann ersticken. Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob man nur einatmet oder nur ausatmet: man wird auf jeden Fall ersticken.

Das zeigt sehr klar, dass wir hier nicht die Arbeit gegen das Spiel oder den Zweck gegen den Sinn ausspielen. Man muss beides miteinander verbinden. Wir müssen ein- und ausatmen, nur so bleiben wir am Leben. Das ist es schließlich, was wir alle anstreben, und worum es bei jeder Religion gehen sollte ‒ lebendig sein.

Nun lautet die große Frage: warum sind wir nicht lebendiger? Die Antwort findet sich in einem Wort: Furcht. AII das, was das Leben verzerrt oder zerstört, hat eine Wurzel und das ist die Furcht. Wir fürchten uns einfach davor zu leben. Warum fürchten wir uns davor zu leben? Weil ‹leben›, lebendig-sein bedeutet, sich selbst zu geben, und wenn wir uns wirklich geben, wissen wir nie, was mit uns geschehen wird.

Solange wir alles schön unter Kontrolle halten, alles zweckorientiert ist und wir alles im Griff haben, solange gibt es keine Gefahr ‒ aber auch kein Leben. Eine Welt, in der wir alles unter Kontrolle halten könnten, wäre so langweilig, dass wir alle tot wären. Wir würden sterben vor Langeweile. In gewisser Weise erfahren wir das jeden Tag ein bisschen. Wir bekommen Angst und halten die Dinge unter Kontrolle, aber sobald wir sie im Griff haben, langweilen wir uns. Denken Sie einmal an persönliche Beziehungen: ‹Ich habe sie im Griff; ich weiß, wie ich sie anpacken muss; ich weiß, wie ich ihn anpacken muss.›

Bis zu einem gewissen Grad ist das ganz gut, es ist sehr beruhigend. Aber dann geraten wir an einen Punkt, wo das entsetzlich langweilig wird, und dann sagen wir: ‹Lass uns ein kleines Abenteuer wagen.› Sobald wir aber ein Abenteuer wagen, ist Gefahr da, ist ein Risiko da. Ohne Risiko können wir kein Abenteuer erleben, also öffnen wir uns ein wenig.

Wir lockern unseren Griff ein bisschen, und sofort wird die Sache sehr interessant und abenteuerlich, aber auch furchterregend. Kaum haben wir uns versehen, da haben wir uns auch schon wieder eingeigelt und versuchen, die Dinge wieder in den Griff zu bekommen. So bewegen wir uns hin und her, hin und her, und das ist es, worum es im spirituellen Leben eigentlich geht. Das ist es, worum es bei der Religion eigentlich geht: die Überwindung der Furcht, uns selbst zu verlieren.»]

_______________

[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Kontemplation und Muße›, 65 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 63f.]

[2] Sterben lernen (2005); siehe auch Sterben und Wandlung

[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Kontemplation und Muße›, 65f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 64f.]

[4] Sterben lernen (2005)

[5] Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 13. In diesem Vortrag geht Bruder David ausführlich ein auf den Zusammenhang von Sinn und Zweck, Arbeit, Spiel, Muße, Kontrolle und Hingabe, Sinn und Feier, Sterben und Wandlung

 


Quellenangaben

logo bibliothek

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.