Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

mich verlieren finden neu titelCopyright © - Georg Stahl

Versuchen Sie es einfach, erinnern Sie sich ganz konkret an eine Erfahrung, in der Sie etwas sehr tief berührt hat, eine Erfahrung, in der Sie auf irgendeine Weise über die normale Ebene erhoben wurden.

Ich sagte, dass der Inhalt dieser Erfahrungen schwer zu fassen sei. Sie könnten sogar sagen: «Mensch, da ist ja überhaupt nichts Richtiges passiert!» Nun, das ist ein tiefer Einblick, denn wenn Sie es nicht zulassen, dass etwas geschieht, dann ist das die größte mystische Erfahrung.

Wenn Sie weiter versuchen, darüber zu reden, werden Sie auf Redewendungen kommen wie: «Ich habe mich einfach ganz verloren. Ich habe mich verloren, als ich dieses Stück Musik hörte.» Oder: «Ich habe mich verloren, als ich diesem Strandläufer zuschaute; sobald die Wellen kommen, läuft er zurück, und dann läuft er wieder den Wellen nach.»

Sie verlieren sich in einer solchen Erfahrung, und wenn Sie sich für eine Weile verloren haben, sind Sie nie mehr ganz sicher, ob die Wellen den Strandläufer jagen, oder ob der Strandläufer die Wellen jagt, oder ob überhaupt irgendjemand irgendjemanden jagt. Aber es ist dort etwas geschehen, und Sie haben sich wirklich darin verloren.

Und dann, seltsamerweise, paradoxerweise ‒ und genau darauf wollen wir hinaus; auf die Paradoxa, die in jeder mystischen Erfahrung vorhanden sein müssen ‒, stellen Sie auch fest, dass Sie in dieser Erfahrung, in der Sie sich verloren haben, wirklich Sie selbst gewesen sind.

«Das war ein Augenblick, in dem ich wirklich ich selbst war, mehr als sonst. Es hat mich einfach fortgetragen.»

Das ist ein poetischer Ausdruck. Manche Dinge im Leben kann man nur dichterisch ausdrücken, und so geraten diese Ausdrücke auch in unser Alltagsleben.

Aber auch hier finden wir wieder das Paradoxon, denn über dieselbe Erfahrung, von der wir gesagt haben: «Es hat mich fortgetragen», müssen wir auch sagen: «Ja, aber in dem Augenblick, in dem ich am stärksten fortgetragen wurde, war ich viel stärker in der Gegenwart, als ich es sonst jemals bin.»

Wie die meisten von uns, so muss auch ich zugeben, dass ich nicht voll dort gegenwärtig bin, wo ich jetzt bin. Statt dessen bin ich mir selbst zu neunundvierzig Prozent voraus und werde schon von dem angezogen, was noch kommt, und zu neunundvierzig Prozent bin ich hinter mir, hänge noch an dem, was schon vorbei ist. Es ist kaum etwas von mir übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.

Dann passiert etwas, das gar nicht fassbar ist, jener Strandläufer etwa, oder Regen auf dem Dach, das trifft mich plötzlich und für den Bruchteil einer Sekunde bin ich wirklich da, wo ich bin. Es trägt mich fort und ich bin dort, wo ich mich befinde. Ich habe mich verloren, und ich habe mich gefunden, mein wirkliches Selbst. allein. [Der Mönch in uns (1978)]

[Ergänzend:

1. Die Achtsamkeit des Herzens (2021):

«Das Gipfelerlebnis ist deshalb so befreiend, weil wir endlich einmal nicht fühlen, dass wir fühlen, und nicht wissen, dass wir wissen, sondern einfach nur fühlen und wissen, weiter nichts. Erst später können wir darüber nachdenken und so davon sprechen. Unsere Beschreibung könnte sich dann etwa so anhören: ‹Es hat mich einfach überwältigt› oder ‹Ich war völlig weg.› Auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde der Fall war: ‹Ich hatte mich ganz vergessen.› Das war alles; aber doch nicht ganz, denn in der Rückschau wird mir auch bewusst, dass ich während des Gipfelerlebnisses mehr ich selbst war als jemals sonst. Und so finde ich mich mit dem merkwürdigsten Widerspruch konfrontiert, dass ich am wahrhaftigsten ich selbst bin, wenn ich mich vergesse. Wenn ich mich verliere, finde ich mich selbst.» [ST 54f.; AH 1-2 107; 3-5) 104]

2. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis ‒ jede mystische Erfahrung ‒ paradox wahrnehmen und ausdrücken:

«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden.»
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins»: Allein ‒ All-Eins
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben»: Ja-sagen

Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger.

3. Retreat-Woche in Assisi (1989):
Audio: Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‚Ich glaube an Gott‘:
(00:00) Paradoxe Gottesbegegnung: Da war ich einfach weg und zugleich wirklich da]



Quellenangaben

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