Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn wir Probleme mit den Begriffen «Erfahrung» und «gemeinschaftliche Verbundenheit haben», so werden sie sich am ehesten einstellen, wenn wir auf die «letzte Wirklichkeit», das Göttliche oder Gott, zu sprechen kommen.[1]
Wir können Missverständnisse vermeiden, wenn wir von der letzten Wirklichkeit statt von Gott sprechen.
Alle diejenigen, die mit dem Wort Gott etwas verbinden können, werden mir sicherlich zustimmen, dass Gott die letzte Wirklichkeit ist.
Es gibt aber viele, denen das Wort Gott Unbehagen bereitet, und häufig aus gutem Grund.
Wenn wir aber über christliche Mystik sprechen, dann müssen wir uns früher oder später mit dem Gottesbegriff auseinandersetzen, also warum nicht jetzt gleich?
Wir dürfen dabei nicht von dem ausgehen, was ein anderer uns über Gott erzählt hat. Wir müssen Gott von innen wiederentdecken.
Dort entdecken wir Gott als den, zu dem wir gehören. Das ist alles.
Noch ehe wir etwas über Gott wissen, kennen wir ihn.
Dies gilt für jeden von uns. Wir kennen Gott als denjenigen, zu dem wir gehören. Jeder, der das Wort «Gott» richtig benutzt, benutzt es in diesem Sinn.
Würde es in irgendeinem anderen Sinn benutzt, so können Sie selbst darüber urteilen, wie es benutzt wird, denn Sie kennen Gott aus Erfahrung. Jeder von uns kennt Gott aus seiner Erfahrung.
Das Wort «Gott» ist lediglich so etwas wie ein Etikett, wir brauchen es eigentlich nicht. Wir könnten unentwegt über Religion sprechen, ohne jemals das Wort Gott zu benutzen.
Es kann aber hilfreich sein.
Es verbindet unsere eigene Erfahrung mit all den theistischen Traditionen.
Wir müssen aber bei unserer eigenen Erfahrung ansetzen, und da hilft es, diese Erfahrung mit dem zu verknüpfen, was Millionen von Menschen auf dieser Welt in den theistischen Traditionen erfahren und worüber sie gesprochen haben. So können wir von dem profitieren, was andere erfahren haben.
Sie können Ihre eigene Erfahrung mit der Erfahrung anderer vergleichen, wenn Sie im Besitz dieses Schlüsselwortes sind.
Lassen Sie aber nicht zu, dass Ihnen jemand diesen Begriff Gott mit allerlei Bedeutung befrachtet näherbringen will.
Entdecken Sie den Inhalt dieses Begriffs selbst!
Ich möchte Ihnen nun gerne die kurze Schilderung einer dieser Entdeckungen Gottes vorlesen. Sie steht in der Autobiografie von Mary Austin.
Es ist erstaunlich, wie oft man eine solche Erfahrung am Beginn einer Autobiografie findet, und es ist wichtig, dass Sie selbst sie in Ihrer eigenen Autobiografie finden.
Mary Austin erzählt: «Ich muss zwischen fünf und sechs Jahre alt gewesen sein, als mir dieses Erlebnis widerfuhr. Es war an einem Sommermorgen, und das Kind, das ich damals war, spazierte allein hinunter durch den Obstgarten, bis es schließlich an den oberen Rand eines Hügelabhangs kam, wo das Gras wuchs, der Wind wehte und ein großer Baum sich in das unendliche Blau emporreckte.
Dann ganz plötzlich, nach einem Augenblick der Ruhe, bildeten Erde, Himmel, Baum, windzerzaustes Gras und das Kind inmitten von all dem in einem pulsierenden Bewusstseinsstrahl eine lebendige Einheit.
Bis zum heutigen Tag kann ich mich an dieses schwerelose Bewusstsein erinnern, das alles für das Ganze empfand ‒ ich in all dem und all das in mir und wir alle zusammen in einer warmen, leuchtenden Hülle von Lebendigkeit.»
Jetzt kommt aber die Stelle, derentwegen ich Ihnen das Ganze vorlese. Mary Austin beschreibt nämlich auf wunderbare Weise die Entdeckung Gottes.
«Ich erinnere mich, wie sich das Kind überall nach dem Ursprung dieses glücklichen Wunders umsah und zuletzt fragend sagte: ‹Gott?›, denn dies war das einzige Ehrfurcht gebietende Wort, das es kannte.»
Wir haben hier also zwei Augenblicke. Zunächst die Entdeckung Gottes ‒ und dann seine Benennung.
Die Erfahrung ist die wahre Entdeckung. Dann ist da dieses ehrfurchtgebietende Wort, das nirgends sonst passt.
Versuchen Sie nun selbst, dieses Wort auf Ihre eigene Erfahrung anzuwenden. Sie fragen sich selbst ‒ und das ist das erste Stadium ‒ «Gott?»
Könnte diese Erfahrung irgendetwas mit Gott zu tun haben?
Und dann: «Tief in seinem Inneren hörte es wie fernes Glockengeläute die Antwort ‹Gott, Gott›.»
Das bedeutet schlicht «Okay, es passt.» Versuchen wir es mit diesem Wort.
«Wie lange dieser unbeschreibliche Augenblick anhielt, habe ich nie gewusst. Er platzte wie eine Seifenblase, als ein Vogel plötzlich zu singen anfing. Und der Wind wehte und die Welt war dieselbe wie immer ‒ nur nie mehr ganz dieselbe.»[2]
Dies ist eine Entdeckung, das Überschreiten einer Bewusstseinsgrenze.
Von hier gibt es kein Zurück.
Sie haben etwas entdeckt, das Sie von nun an für immer erforschen können.
Die Mystik ist «die Erforschung Gottes».
Christopher Fry hat diesen Ausdruck geprägt. In seinem Theaterstück «A Sleep of Prisoners» sagt er:
«Affairs are now soul-sized,
the enterprise is exploration into God.»
«Alles dreht sich jetzt um die Seele,
das Ziel der Unternehmungen ist die Erforschung Gottes.»
Das ist es, worum alles im Leben geht: die Erforschung Gottes.
Es ist wie das Öffnen der Augen.
Da ist es, das Land, zu dem ich gehöre, da bin ich zu Hause.
Und nun kann ich den Rest der Ewigkeit damit verbringen, dieses Territorium zu erforschen.
Dies ist der Punkt, in dem die religiösen Traditionen zusammenlaufen.
Sie gehen alle von der mystischen Erfahrung aus.
Es gibt keine einzige religiöse Tradition auf dieser Welt, die einen anderen Ausgangspunkt hat. [Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 174-176]
Soweit ich zurückdenken kann, hatte ich gelernt, mir Gott nicht als weit entfernt, sondern als näher als nah vorzustellen. Ich muss vier oder fünf gewesen sein, als ich einmal völlig außer Atem vom Garten in die Küche gerannt kam und verkündete, dass ich gerade den Heiligen Geist gesehen habe, wie er etwas in den Himmel geschrieben habe. Es stellte sich dann als Werbung für ein Seifenpulver heraus, die ein Flugzeug so hoch droben in den Himmel geschrieben hatte, dass es genauso aussah wie die weiße Taube im Fresko der Heiligen Dreifaltigkeit, das auf unserer Kirchendecke gemalt war. Etwa zur gleichen Zeit, kurz vor Weihnachten, wenn österreichische Kinder darauf warten, dass das Christkind ihnen Geschenke bringt, erspähte ich eines Morgens einen winzigen Faden goldenen Lamettas auf dem Teppich, und nichts hätte mich davon überzeugen können, dass das nicht ein goldenes Haar war, das das Christkind verloren hatte. Die Schauer von Ehrfurcht und inniger Zuneigung, die mich durchliefen, sind in meiner Erinnerung immer noch lebendig.
Diese kindlichen Missverständnisse waren nichts desto weniger wahrhaftige religiöse Erfahrungen. Was für sie entscheidend war, bleibt:
Ein Gefühl der Nähe Gottes, Es blieb nicht nur, sondern es nahm an Weite und Tiefe immer mehr zu. Nähe ist dafür ein viel zu geringes Wort.» [ST 60, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
[Ergänzend:
1. GOTT, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 141:
«Gott ist eine Bezeichnung für das Große Geheimnis. Da das Wort ‹Gott› von einer Wortwurzel herstammt, die ‹rufen› bedeutet, verwenden wir es, wo unsere Beziehung zum Großen Geheimnis ‒ als dem Angerufenen oder dem uns Anrufenden ‒ betont werden soll.»
2. GOTT in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 171f.; 2-5) 175; 6) 174):
«Da dieses Buch Erfahrung voraussetzt und an Erfahrung appelliert, ist Gott hier nur insofern von Bedeutung, als das Göttliche erfahrbar ist.
‹Ruhelos ist unser Herz›: dies ist eine grundsätzliche menschliche Erfahrung. Augustinus fährt mit dem Satz fort: ‹Ruhelos, bis wir in Gott Ruhe finden›.
Dies setzt aber nicht voraus, dass wir Gott unabhängig von dem Durst unseres Herzens schon kennen. Vielmehr erfahren wir Gott gerade in der Ruhelosigkeit unseres Herzens.
Und der Richtung unserer ruhelosen Sehnsucht geben wir den Namen Gott.
Indem unser Herz auf dem Weg Eindrücke der göttlichen Landschaft sammelt, können wir langsam ein bisschen über Gott erkennen, besonders dann, wenn wir auch den großen Erforschern Gottes zuhören.
Worauf es jedoch ankommt, sind niemals Erkenntnisse über Gott, sondern Erkenntnis Gottes ‒ als dem magnetischen Norden des menschlichen Herzens unterwegs.»
3. Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004):
Themen dieses Audios mit weiterführenden Links:
3.1. (25:11) «Dieses Gottesbild, das jedem Menschen zugänglich ist, ist nicht theistisch»:
In Von Eis zu Wasser zu Dampf: im Wandel der Gottesvorstellungen: Was schätze ich am Christentum? (2003) schreibt Bruder David über seinen eigenen Erfahrungsweg, die christliche Gottesidee in ganz neuem Licht zu sehen und zu würdigen:
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach: Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig. Dass er von Gott als ‹Vater› spricht, schafft Raum für liebende Beziehung, trennt aber nicht; für semitisches Empfinden sind Vater und Sohn eins. ‒ So unausrottbar war jedoch der Theismus, dass der geistige Durchbruch Jesu wie ein Leck im Boot verstopft wurde, um so schnell wie möglich den Status quo wiederherzustellen. Die Lehre Jesu musste uminterpretiert und dem theistischen Weltbild eingefügt werden. Wir dürfen, was sich da ereignete, als geistesgeschichtliche Katastrophe betrachten, es steht uns aber auch frei, es positiv zu sehen, dass in den Dogmen, die uns die Kirchenväter hinterließen, wirklich die bahnbrechende Gotteserfahrung Jesu enthalten ist, wenn auch in beinahe unkenntlicher Form.»
3.2.: (28:40) «So wurde es uns dargestellt»:
In An welchen Gott können wir noch glauben (2008) schreibt Bruder David:
«Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen. Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht: Wort, Schweigen und Verstehen.»
3.3.: (42:04) «Jesus war ja nicht göttlich, trotzdem er Mensch war ‒ er war göttlich, weil er Mensch war»:
Im Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel (2003) hören wir:
«Wir sind uns selbst so abgründig, dass die tiefste Tiefe unseres eigenen Lebens göttlich ist.
Sehen sie den Umschwung von einem Gottesbild, in dem Gott da draußen ist, und dann der Sohn Gottes irgendwie in unsere Welt, die ganz von Gott getrennt ist, hereinkommt, und nur er ist natürlich Gott und wir müssen uns dann irgendwie damit auseinandersetzen?»
Der Vortrag schließt mit: «Der Zweifel gehört zu dem Glauben, in dem man sich auf Gott verlässt: Ich mich verlasse auf Gott hin. Zweifel im Sinne von Angst zum Beispiel: Zweifel ist eine Form von Angst. Und dieser Zweifel soll uns nicht stören, er gehört zum Glauben dazu; … wenn ich auf eine hohe Leiter hinaufklettere, wird die Angst immer größer: Unsere Angst und unser Zweifel zeigt uns nur, wie hoch wir schon im Glauben gekommen sind.»]
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[1] Bruder David bezieht sich auf seine Arbeitsdefinition in Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 171f.: «Mystik im weitesten Sinn ist definiert als ‹Erfahrung der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit der letzten Wirklichkeit›.» und geht nach den beiden Bestandteilen der Definition «Erfahrung» und «gemeinschaftliche Verbundenheit», auf die «letzte Wirklichkeit» ein.
[2] Aus Michael Paffard: «The unattended Moment», SCM Press Ltd., London 1976