LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Text Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

«Wenn wir allein unter dem von Sternen übersäten Nachthimmel stehen, wenn wir zufällig im Herbst einen großen Schwarm Zugvögel zur Rast und Nahrungsaufnahme in einen Wacholderhain einfallen sehen, wenn wir Kindern in einem Augenblick zuschauen, in dem sie ganz Kinder sind, wenn wir im Herzen tiefe Liebe verspüren oder wenn wir wie der japanische Dichter Bashô einen dicken Frosch mit einem einzigen Platsch in einem stillen Teich landen hören ‒ dann sind das alles Augenblicke, in denen wir jäh erwachen können, uns alle Werte auf den Kopf gestellt werden, uns das ‹Neusein›, die Leerheit und die Reinheit von allem aufgeht. Und das ist dann wie ein kurzes Aufblitzen des kosmischen Tanzes.

Denn Welt und die Zeit sind der Tanz Gottes in der Leerheit. Das Schweigen der Sphären ist die Musik eines Hochzeitsfestes. Je länger wir hartnäckig dabei bleiben, die Phänomene des Lebens ganz falsch zu verstehen, je mehr wir sie in seltsame Zweckmäßigkeiten und komplizierte Mittel zur Verfolgung unserer eigenen Ziele zerlegen, desto stärker verwickeln wir uns in Traurigkeit, Absurdität und Verzweiflung. Aber das spielt keine große Rolle, denn keine Verzweiflung unsererseits kann die Wirklichkeit der Dinge verändern oder die Freude des kosmischen Tanzes schmälern, die immer da ist. Tatsächlich sind wir mitten in diesen Tanz einbezogen, ja er ist mitten in uns im Gang, denn er ist unser Pulsschlag, ob wir das wollen oder nicht. Tatsache bleibt auf jeden Fall: Wir sind zum großen Tanz eingeladen, sollen uns selbst bewusst vergessen, unsere schreckliche Feierlichkeit ablegen und einfach ausgelassen mittanzen.»

(Thomas Merton)[1]

Bruder David: Wenn ich an meine letzte Begegnung mit Thomas Merton[2] denke, sehe ich ihn vor mir, wie er im Wald steht und auf den Regen horcht. Viel später, als er zu sprechen begann, hat er nicht die Stille gebrochen – er ließ sie stattdessen zu Wort kommen. Und er horchte weiter. «Sprechen ist nicht die Hauptsache», sagte er.

Wir – eine Handvoll Frauen und Männer auf der Suche nach Wegen, religiöses Leben zu erneuern – waren nach Kalifornien gegangen, um ihn zu treffen, kurz bevor er in den Fernen Osten ging. Wir hatten ihn gebeten, über das Gebet zu uns zu sprechen. Aber er bestand darauf:

«Nichts, was Jemand sagt, wird so bedeutend sein.
Das Großartige ist Beten. Beten als solches.
Wenn ihr ein Leben des Gebets wollt,
so führt der Weg dahin übers Beten.»

«Genießt es! Nehmt es in euch auf.
Alles, die Redwood-Wälder,
das Meer, den Himmel, die Wellen,
die Vögel, die Seelöwen. In all dem
werdet ihr eure Antworten finden.
Da ist alles vernetzt.»

(Die Vorstellung der Vernetzung war für Thomas Merton von geheimnisvoller Bedeutung.)

Drei Seiten der Kapelle hier bestanden aus soliden Blockwänden. Die vierte Seite, ganz aus Glas, öffnete sich auf eine von Mammutbäumen umsäumte Lichtung hin. Die Bäume waren so hoch, dass trotz dieser hohen Fenster von den näheren Bäumen nur die riesigen Säulen des Baumrumpfes zu sehen waren. Die Zweige darüber konnten nur erahnt werden durch die Richtung, in der sie die Sonnenstrahlen auf den Waldboden durchscheinen ließen. Ja, selbst die Natur, welche «Our Lady of the Redwoods» (das Kloster in Kalifornien, in dem wir uns aufhielten) umgab, trug zur Atmosphäre des Gebets bei, ganz zu schweigen von den Frauen, welche hier beten und ihrer charismatischen Äbtissin.

An diesem Tag hatten wir als Evangelium das Gleichnis vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest gehört. Gleichzeitig mit dem Kommuniongang begannen fliegende Ameisen durch den ganzen Wald auszuschwärmen und erhellten ihn mit Zehntausenden von glitzernden Flügelchen wie in einem Hochzeitszug. Alles «vernetzt».

Dort zu beginnen, wo man ist und sich der Vernetzungen bewusst zu werden, war Thomas Mertons Zugang zum Beten.

«Im Gebet entdecken wir,
was wir bereits haben.
Ihr beginnt, wo ihr seid
und ihr vertieft,
was ihr bereits habt,
und ihr erkennt,
dass ihr bereits da seid.

Wir haben bereits alles,
aber wir wissen es nicht
und erfahren es nicht.
Alles wurde uns in
Christus gegeben.

Alles, was wir brauchen,
ist zu erfahren,
was wir bereits besitzen.»

«Wenn wir das Gebet wirklich wollen,
werden wir ihm Zeit geben müssen.
Wir müssen uns auf ein menschliches Tempo
verlangsamen und wir werden beginnen,
Zeit zu haben um zu horchen.
Sobald wir auf das horchen,
was vor sich geht, werden
die Dinge selbst Form annehmen.
Aber dafür müssen wir Zeit
auf eine neue Weise erfahren.
Als ich in die Einsiedelei ging,
war es für mich etwas vom Besten,
achtsam für die Tageszeiten zu sein:
Wann die Vögel zu singen begannen,
der Hirsch aus dem Morgennebel auftauchte;
die Sonne aufging,
währenddem im Kloster die
Laudes immer
zur selben Stunde stattfinden,
Sommer und Winter.»

Die Vorstellung, sich Zeit zu nehmen, um zu erfahren, zu kosten, das Leben voll zu sich kommen zu lassen in uns, das war ein Kerngedanke von in Thomas Mertons Überlegungen zum Beten.

«Ihr müsst frei werden
von allen eingebildeten Ansprüchen.
Wir leben in der Fülle der Zeit.
Jeder Augenblick ist Gottes
eigene gute Zeit,
sein Kairos.
[3]
Das Ganze läuft darauf hinaus,
uns im Gebet die Chance zu geben
zu erkennen, dass wir haben,
was wir suchen.
Wir müssen ihm nicht
hinterher laufen.
Es ist die ganze Zeit da,
und wenn wir ihm Zeit geben,
wird es sich uns selbst kundtun».

Im Gegensatz zur Person, für die Zeit eine Hypothek ist, soll der Mönch

«sich frei fühlen nichts zu tun,
ohne sich schuldig zu fühlen».

All dies erinnerte mich an Suzuki Roshi,[4] den buddhistischen Abt von Tassajara. Er sagte, dass ein Zen-Schüler lernen muss

«Zeit gewissenhaft zu verschwenden.»

Ich war dann nicht überrascht zu hören, wie Thomas Merton in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Zen verwies.

«Das ist es, was Zen-Leute tun:
Sie geben dem viel Zeit, zu tun,
was immer sie tun müssen.
Das ist es, was wir lernen müssen,
wenn es ums Beten geht:
ihm Zeit zu geben.»

In all dem gibt es ein Bewusstsein des sich entfaltenden Geheimnisses in der Zeit, eine Ehrfurcht für allmähliches Wachstum.

«Was wirklich zählt, ist nicht,
wie man aus dem Leben
am meisten herausholt,
sondern wie ihr euch sammelt,
damit ihr euch ganz hingeben könnt.»

Wir saßen etwas später gemeinsam vor einem lodernden Feuer, als Thomas Merton nochmals das Thema des Wachsens aufnahm.

«Das Hauptthema der Zeit ist
das des inneren Wachstums.
Es ist ein Thema, auf das wir alle
im Gebet oft zurückkommen sollten.
Das ist etwas Großartiges in meinem Leben:
Christus will, dass ich wachse.
Bewegt dies beim Meditieren
ein wenig hin und her.
Statt sich zu sorgen –
wohin gehe ich?
Was soll ich mir vornehmen? –
soll ich einfach dieses Wachsen
in meinem Gebet
sich entfalten lassen.
Ich soll schauen,
was mich davon abhält.
Was ist es?
Was für eine Art
von Kompromissen
habe ich gemacht?
Ersetze ich Wachstum
durch Geschäftigkeit?»

«Eines der größten Hindernisse
eures Wachsens ist die Angst,
euch lächerlich zu machen.
Jeder echte Schritt vorwärts
schließt das Risiko des Scheiterns ein.
Und die wirklich wichtigen Schritte
schließen das Risiko
des vollständigen Scheiterns ein.
Und doch müssen wir sie machen,
vertrauend auf Christus.
Wenn ich diesen Schritt mache,
könnte alles, was ich
bis jetzt tat, flöten gehen.
In solchen Situationen brauchen wir
einen Schuss buddhistischer Denkweise.
Dann sehen wir:
Was geht flöten? Na und?

Die falsche Art von Selbstverwirklichung sah er als eine der großen Versuchungen von heute an.

«Was wirklich zählt, ist nicht
wie man am meisten aus dem Leben herausholt,
sondern wie ihr euch sammelt,
damit ihr euch ganz hingeben könnt.»

Selbstannahme, nüchtern und realistisch, war grundlegend aus der Sicht von Thomas Merton.

«Die Wüste wird zum Paradies,
wenn sie als Wüste akzeptiert wird.
Wenn wir versuchen ihr zu entkommen,
kann die Wüste nie etwas anderes sein als die Wüste.
Aber wenn wir sie einmal in Vereinigung
mit dem Leiden Christi voll akzeptiert haben,
wird sie zum Paradies.»

«Lasst das Gebet in euch beten,
ob ihr es wisst oder nicht.
Das heißt ein tiefes Bewusstsein
unserer wahren inneren Identität.»

«Beten ist riskant. Die Gefahr besteht,
dass unsere eigenen Gebete
zwischen Gott und uns geraten.
Das Großartige am Gebet ist,
nicht zu beten,
sondern direkt zu Gott zu gelangen.
Wenn das Aufsagen eurer Gebete
ein Hindernis zum Beten ist,
lasst es weg.
Der beste Weg zu beten ist:
damit aufzuhören.
Lasst das Gebet in euch beten,
ob es euch bewusst ist oder nicht.
Das heißt, ein tiefes Bewusstsein
unserer wahren inneren
Identität zu haben.
Das beinhaltet ein Leben des Glaubens,
aber ebenso des Zweifels.
Es gibt keinen Glauben ohne Zweifel.
Hört auf, den Zweifel zu unterdrücken.
Zweifel und Glaube sind
zwei Seiten desselben.
Glaube wächst aus Zweifel,
aus echtem Zweifel.
Wir beten nicht richtig,
wenn wir dem Zweifel ausweichen.
Und wir weichen ihm
durch Regelhaftigkeit
und Aktivismus aus.
Durch diese zwei Wege
schaffen wir eine falsche Identität,
und dies sind auch die zwei Arten,
mit denen wir die Selbst-Aufrechterhaltung
unserer Institutionen rechtfertigen.»

Es gab so viele Kontaktpunkte zum Zen Buddhismus, dass ich ihn einfach fragen musste, ob er auch zu diesen Einsichten gekommen wäre, wenn er Zen nie begegnet wäre.

«Ich bin nicht sicher»,
antwortete er nachdenklich,
«aber ich denke nicht.
Ich sehe keinen Gegensatz
zwischen
Buddhismus und Christentum.
Die Zukunft des Zen ist im Westen.
Ich habe die Absicht,
Buddhist zu werden
so gut ich kann.»

Dennoch, der christliche Glaube von Thomas Merton war nicht bis zu dem Punkt verwässert, wo er mit fast allem austauschbar würde. Er war pulsierend mit Leben. Das zeigte sich am klarsten in kleinen persönlichen Bemerkungen wie zum Beispiel, was er zu einem so traditionellen Thema wie dem Fürbittegebet sagte:

«Es ist mir einfach ein Bedürfnis,
meine Liebe auszudrücken,
indem ich für meine Freunde bete.
Es ist, wie wenn ich sie umarme.
Wenn ihr jemanden liebt,
ist es Gottes Liebe,
die verwirklicht wird.
Die ein- und dieselbe Liebe erreicht
euren Freund durch euch,
und euch durch euren Freund.»

«Aber ist da in all dem nicht immer noch ein indirekter Dualismus?», fragte ich. Seine Antwort war:

«Eigentlich nein und doch ja.
Ihr müsst euren Willen und Gottes Willen
lange Zeit dualistisch betrachten.
Ihr müsst die Dualität lange Zeit erfahren,
bis ihr seht, sie ist nicht da.
In dieser Hinsicht bin ich ein Hindu.
Ramakrishna hat die Lösung.
Betrachtet dualistisches Gebet
nicht auf einer niedrigeren Stufe.
Das Niedrige ist höher.
Es gibt keine Stufen.
Jeden Augenblick könnt ihr
zur zugrunde liegenden
Einheit durchbrechen:
Gottes Geschenk in Christus.
Am Ende:
Lobpreis lobpreist.
Dankbarkeit
dankt.
Jesus betet.
Bereitschaft ist alles.»

Er war bereit, nach Bangkok zu gehen.

[Bevor Thomas Merton (*1915) im September 1968 nach Asien fuhr, fand diese Zusammenkunft mit ihm im Kloster ‹Our Lady oft he Redwoods› in Whitethorn, Kalifornien statt. Hier entstanden Bruder Davids Erinnerungen an die letzten Tage von Thomas Merton im Westen (1968). Die Reise führte Thomas Merton bis nach Bangkok. Am 10. Dezember trifft ihn ein elektrischer Stromschlag tödlich: Er hatte in seinem Zimmer einen defekten Ventilator berührt. Obiger Text ist eine gekürzte Fassung des Originaltextes, der auch abgedruckt ist im Buch Vernetzungen: ‹Eine Begegnung mit Thomas Merton› (2024), 11-29]

[Ergänzend:

1. Drei Innenwelten des Gebetes; siehe die folgenden Links auch in Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen: Ergänzend: 4.:

1.1. Gebet ‒ drei Innenwelten: Haupttext und Ergänzend: 3.4.

1.2. Video Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), sowie die Transkription von Werner Binder† in Wort und Schweigen ‒ über den Sinn des Gebets (1992); siehe auch in Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium:

«Beten ist wie in einen Raum eintreten. Wie man zum Beispiel in einen Kirchenraum als Raum des Gebetes eintritt. Zunächst ist da das Gebäude, die Wände, das Gewölbe, die Bilder, die uns ansprechen wie ein Wort, das uns anspricht. Aber wenn wir uns ansprechen lassen, dann bemerken wir, dass wir von einer Stille, von einem Schweigen ganz geheimnisvoll angesprochen werden. Denn das Wesentliche an diesem Raum des Gebets ist die Stille. Und in dieser Stille begegnen wir einer geheimnisvollen Gegenwahrheit. Wir erleben, was wir die Gegenwart Gottes nennen könnten. Etwas, was uns geheimnisvoll entgegenwartet. Was etwas von uns erwartet. In jedem Augenblick erwartet diese Gegenwart etwas von uns, und indem wir antworten, verstehen wir. Erst im Tun, in liebenden Antworten verstehen wir, worum es dabei geht.

Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.

Denn einerseits sprechen wir von Gott, dem Urgrund des Seins, dem Abgrund des Schweigens, aus dem das Wort geboren wird, das ewige Wort, das immer neu die Liebe Gottes ausdrückt und ausspricht.

Und andererseits erfahren wir, dass wir verstehen, indem wir uns diesem Wort stellen und darauf antworten.»

1.3. Weitere Links: die Übersicht in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), S. 80 und die Texte:

2. Den großen Tanz beten: Kindheitserinnerungen von Bruder David; siehe auch Arbeit ‒ Gebet: Haupttext und Ergänzend: 3.

3. Links zum Stichwort: ‹Dualität› / ‹Dualismus› im Zusammenhang mit Gebet:

3.1. In Geheimnis:

«Das Ja zum Leben ist zugleich ein Ja zum DU ‒ zu jedem DU, das uns im Alltag begegnet, und darüber hinaus zum Geheimnis als dem großen letzten DU.

Ein Gottesverständnis, das nicht von Spekulation ausgeht, sondern von tiefster menschlicher Erfahrung, überwindet den Dualismus ‒ wir hüben, Gott drüben ‒, fällt aber deshalb nicht notwendigerweise in das Missverständnis des Monismus, der für liebende Beziehung zu Gott keinen Raum lässt, weil alles eins ist.

Richtig verstanden ist menschliche Gotteserfahrung weder monistisch noch dualistisch, sondern trinitarisch.

Gipfelerlebnisse, in denen uns bewusst wird, dass wir mit allem eins sind, können zugleich Höhepunkte unserer tiefsten DU-Bezogenheit sein.

So erleben wir das große Paradoxon: Das Eine hat in sich Platz für Beziehung.

Schon mein Ich-Sagen setzt ja ein DU voraus, das mir ebenso unergründlich ist wie mein Ich. Beide sind im Geheimnis verwurzelt.»

Diese innerste Bezogenheit auf das Geheimnis als DU gehört zu unseren menschlichen Grunderfahrungen. Sie ist nicht an irgendeine Periode der Geschichte gebunden.»

3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 99:

«Der Dualismus wird der Welt, wird dem Leben nicht gerecht und der Monismus wird auch dem Leben nicht gerecht.»

3.3. Das WIR wächst aus der Dankbarkeit (2013):

«Ja, eine dualistische Spiritualität geht heute nicht mehr. Dafür wissen wir viel zu gut, dass alles mit allem verwoben und verbunden ist. Ebenso wenig geht eine monistische Spiritualität, weil sie der bunten Mannigfaltigkeit des Lebens nicht gerecht wird. Denn das Leben ist Beziehung und in der Dankbarkeit werden wir uns dessen bewusst.»

4. ‹Die Stille nicht brechen, sondern zu Wort kommen lassen.›

4.1. Stille leben:

«Über Stille darf zuletzt nur Dichtung reden. Nur die Worte der Dichter brechen das Schweigen nicht, sondern lassen es vielmehr zu Wort kommen.

Unsere westliche Kultur wird vom Wort beherrscht. Wir können uns in eine Kultur des Schweigens und der Stille kaum hineindenken.

Oft sind wir wie vom Wort besessen, voller Angst vor all dem, was sich nicht in Worte fassen lässt.

Und doch ahnen wir, dass das erlösende Wort aus dem Schweigen kommen muss.

Ja, wir ahnen sogar, dass Wort und Schweigen untrennbar zusammengehören, dass an echten Worten die Stille das Wesentliche ist.

Wir haben keine Schwierigkeit, zwischen einem bloßen Wortwechsel und einem Gespräch zu unterscheiden.

Was an einem echten Gespräch wichtiger ist als die Worte, ist die Bereitschaft, uns von den Worten in jene Stille führen zu lassen, aus der sie auf uns zukommen.

Darum münden die tiefsten Gespräche in gemeinsames Schweigen.

Auch jedem guten Gedicht merkt man es an, dass es aus der Stille stammt und in die Stille zurückführen will.

Wenn auch die deutsche Dichtung eindeutig Dichtung des Wortes ist, so hat sie doch Höhepunkte gerade dort erreicht, wo Worte noch sanft am Unsagbaren ausgehen[5] und wo dann nur noch Stille übrigbleibt.»

4.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), S. 31:

«Ein ernstes Gespräch ist kein Wortwechsel, das ist eher ein Austausch von Schweigen: Schweigen mittels Worte.»

4.3. Audio Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen ‒ Die Themen des Gesprächs:
Die Stille nicht brechen: Musik und Alltag aus der Kraft der Stille (Paul an der Panflöte)]

 __________________

[1] Quelle: Schluss des Kp. 39 ‹Der kosmische Tanz›, in: Thomas Merton: ‹Christliche Kontemplation›: ‹Ein radikaler Weg der Gottessuche›; aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, München, Claudius Verlag 2010, 403f.

[2] Thomas Merton (1915-1968), Trapistenmönch und spiritueller Lehrer drang tief in den Geist des Zen-Buddhismus ein, er stand in persönlichem Kontakt mit dem Dalai Lama, D. T. Suzuki, tibetischen Mystikern und Zen-Meistern.

[3] Siehe in Jetzt in diesem Augenblick: Ergänzend: 1.5.:

Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
2.1. Der Weg zu Fülle und Nichts ‒ Vortrag und Kanon auch als
Mitschrift:
(34:19) Chronos: Zeit der Uhren und Kairos: Zeit zum Entschluss, völlig im Jetzt zu sein ‹dieses einzige Mal› (Rilke: Die Neunte Elegie)

[4] Bruder David war 1968 mit Shunryu Suzuki Roshi im neu gegründeten Bergkloster Tassajara, Kalifornien.

[5] Immer wieder zitiert Bruder David T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V:

«Words, after speech, reach into the silence.»

«Worte, nachdem sie gesprochen, reichen in das Schweigen hinein.»



Quellenangaben

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