Br. David Steindl-Rast OSB
Wir alle fangen ganz spontan in gewissen Situationen an zu beten. Typisch sind zwei Situationen: wenn wir staunende Freude empfinden oder in größter Not. Es sind Situationen, von denen wir später sagen: «Da war ich ganz außer mir.» Wenn wir außer uns sind, dann finden wir plötzlich: Wir sind mehr wir selber als sonst.
Ein Beispiel: Wir stehen unter dem Sternenhimmel bei Nacht und sehen diese ungeheuren Weiten, die Millionen von Sternensystemen, jedes so groß wie unsere Milchstraße, umgeben von Millionen von Sonnensystemen, undenkbare Weiten. Wir sind einfach überrascht, überwältigt vor Begeisterung, voller Staunen: Wir sind außer uns. Und im gleichen Augenblick wissen wir auch: Wir gehören dazu. Wir sind nicht verwaist. Wir gehören diesem Ganzen zu, wir sind ein wenn auch noch so winziger Teil des Ganzen. Wir sind auf das Ganze bezogen. Und dieser Bezug ist ein Bezug auf Gott hin, genauer: auf das, was jene, die das Wort «Gott» richtig verwenden, Gott nennen. Denn wir kennen ja Gott eben aus diesen Augenblicken, von diesen Erlebnissen her: wenn wir es Gott nennen.
Oder eine andere Situation: Wir sind in größter Not. Ein Kind ist schwer krank, ein lieber Mensch stirbt uns. Und wir sind außer uns vor Verzweiflung, vor Traurigkeit. Und wieder ‒ in dieser äußersten Not ‒ finden wir uns doch wieder echter, als wir es meistens sind, wenn wir an der Oberfläche dahinleben. Und auch in einem solchen Augenblick brechen wir wieder durch zu der Erfahrung, dass wir nicht verwaist sind. Dass wir uns auf irgendetwas verlassen können. Wir verlassen uns: Wir sind außer uns. Und wir verlassen uns auf etwas hin. Und das ist wieder diese geheimnisvolle Wirklichkeit, die jene Menschen, die das Wort «Gott» richtig verwenden, Gott nennen.
Und in diesen Augenblicken rufen auch Menschen, die sonst gar nicht in irgendeiner Weise an Gott glauben, so etwas wie: «mein Gott». Und dieser Ausruf auf Gott hin, ganz spontan in Augenblicken, in denen wir außer uns sind, das ist eigentlich das ursprünglichste Gebet.
Wenn die Not am größten ist, dann wird das Gebet notwendig. Dieses Wort «notwendig» enthält schon einen Hinweis darauf, dass das Gebet dann die Not auch wendet. Es tritt eine Wende ein.
Wir haben das, glaube ich, alle erlebt, in Augenblicken, in denen wir einfach am Ende sind und wir einfach nicht mehr weiter können.
Dann tritt so etwas wie eine ganz große Stille ein, und wenn wir uns der hingeben, wenn wir uns nicht ängstlich zurückziehen, dann wendet sich unsere Angst in Vertrauen: Nicht, als ob wir jetzt plötzlich festen Boden unter den Füßen hätten, aber es ist ein Vertrauen, dass wir auch weitergehen können, ohne festen Boden unter den Füßen zu haben. Dass es einfach weitergeht. Wir können uns diesem Fluss hingeben, und es führt uns weiter.
Es gibt diese Situationen, dass wir uns plötzlich berührt, angerührt und angesprochen fühlen: wenn wir eine schwere Nacht überstehen oder am Krankenbett. Das kann man so verstehen, dass Gott, dieses geheimnisvolle DU, uns anspricht. Aber es ist nicht ein Ansprechen mit Worten. Man könnte paradox sagen, es ist eine unendliche Stille, eine geheimnisvolle Stille, die zu uns spricht. Nicht in Worten, aber verständlich. Wir können verstehen. Und dieses Verstehen äußert sich in einer Antwort, die wir geben, nicht in Worten, sondern in der Tat. Beim Gebet gehören diese Bereiche zusammen: unendliche Stille, die uns anspricht, wie ein Wort. Und die Antwort, die wir selber geben, in der Tat.
Beim Bittgebet ist die Bitte nahezu schon die Erfüllung, denn das Bitten selbst verwandelt uns. Das Bitten ist Ausdruck unseres Vertrauens. Denn wenn wir kein Vertrauen hätten, würden wir nicht bitten. Dieses Vertrauen setzt voraus, dass wir ganz spontan und tief, irgendwo tief unten in uns selbst, Gottes Treue kennen. Sie ist das erste, sie geht unserem Vertrauen voraus.
Wir wissen, dass wir das Leben nicht allein auf uns, ganz allein auf uns gestellt, meistern können: Wir brauchen Lebenskräfte, die uns tragen. Dies gilt nicht nur im persönlichen Leben, sondern auch im allgemeinen, im großen, wenn wir um Frieden beten mitten im Krieg oder mitten in der unfriedlichen Weltlage, in der wir uns jetzt befinden.
Viele fragen: Was kann ich denn schon zur Veränderung beitragen? Das Beten selbst ändert uns schon. Wenn wir oft genug um den Frieden beten, versetzt uns das in eine Lage, in der wir plötzlich beginnen zu sehen: Mein kleiner Beitrag könnte das und das sein. So ändert uns das Gebet. Und die Bitte ist in sich selbst schon Teil dieser notwendenden Veränderung und der Erfüllung.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man Menschen helfen kann, in dem man für sie betet.
Wir können einander ja einfach dadurch schon helfen, dass wir einander gegenwärtig sind. Es hilft einem Kranken zum Beispiel schon, wenn wir an seinem Bett sitzen. Wir brauchen nichts weiter für ihn zu tun, nur einfach dazusitzen. Oder wenn ein Mensch sich Sorgen macht, den wir gern haben, hilft es schon, wenn wir ihm freundlich die Hand auf die Schulter legen. Und auch wenn wir weiter entfernt sind, stellt es schon eine Verbindung her, wenn wir nur an jemanden denken, wenn wir uns bemühen, jemanden im Herzen zu halten, den wir gern haben.
In dem «Raum», um den es sich hier handelt, gelten nicht die gleichen Gesetze, wie in dem physikalischen Bereich von Raum und Zeit. Auch wenn jemand schon gestorben ist, können wir mit dem in Verbindung bleiben. Oft erleben wir sogar, dass wir, wenn etwa unsere Eltern sterben, auf einmal eine neue und sogar viel engere Beziehung zu ihnen haben als vorher. Auf diese Beziehung können wir uns stützen. So können wir einfach den anderen Menschen im Herzen halten und im Herzen Gott hinhalten. Nichts anderes ist Gebet.
Wenn zwei Menschen einander einmal so wirklich ganz eng nahegekommen sind, dann lässt sich das nie mehr trennen. Ich stelle mir das so vor, dass für immer und ewig sie einander irgendwo nah bleiben und irgendwie in Verbindung bleiben, auch wenn sie einander schon fast vergessen haben. Oder wenn sie einander auch vergessen, und einer noch an den anderen denkt, kann man immer noch dem anderen nahebleiben. Man kann dann den anderen im Herzen zur Quelle des Lebens hinhalten. Kann den anderen Gott hinhalten. Und das ist: für jemanden beten. Dass das hilft, das wissen wir aus Erfahrung. Das können wir erproben.
Das Staunen, das uns in unseren lebendigsten Augenblicken überwältigt, ist eigentlich selber schon Gebet. Es kann sich dann auch noch in dem einen oder anderen Wort Ausdruck verschaffen. Wir können lobpreisen und danken. Aber das Staunen selber ist schon wie ein Eintreten in einen Raum, in dem unser Herz sich ausweitet und betet. Es rührt uns etwas an, es begegnet uns etwas. Es spricht uns an, und wir können darauf antworten. Wir können in diesen Chor des Lobpreisens eintreten. Wir gehören der ganzen Schöpfung an. Die Schönheit, die wir um uns sehen, spiegelt sich in unserem Innern wider und wir werden dadurch selber schön. Aber zugleich spiegelt sich unsere innere Schönheit im Äußeren um uns. Das ist in den Worten des bekannten Lieds ausgedrückt: «Staunen nur kann ich und staunend mich freun.» Der Lobpreis der Schöpfung ist unser eigener Lobpreis. Im Sonnengesang des hl. Franziskus kommt das großartig zum Ausdruck.
Beten ist wie in einen Raum eintreten. Wie man zum Beispiel in einen Kirchenraum als Raum des Gebetes eintritt. Zunächst ist da das Gebäude, die Wände, das Gewölbe, die Bilder, die uns ansprechen wie ein Wort, das uns anspricht. Aber wenn wir uns ansprechen lassen, dann bemerken wir, dass wir von einer Stille, von einem Schweigen ganz geheimnisvoll angesprochen werden. Denn das Wesentliche an diesem Raum des Gebets ist die Stille. Und in dieser Stille begegnen wir einer geheimnisvollen Gegenwahrheit. Wir erleben, was wir die Gegenwart Gottes nennen könnten. Etwas, was uns geheimnisvoll entgegenwartet. Was etwas von uns erwartet. In jedem Augenblick erwartet diese Gegenwart etwas von uns, und indem wir antworten, verstehen wir. Erst im Tun, in liebenden Antworten verstehen wir, worum es dabei geht.
Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.
Denn einerseits sprechen wir von Gott, dem Urgrund des Seins, dem Abgrund des Schweigens, aus dem das Wort geboren wird, das ewige Wort, das immer neu die Liebe Gottes ausdrückt und ausspricht.
Und andererseits erfahren wir, dass wir verstehen, indem wir uns diesem Wort stellen und darauf antworten.
Man könnte fast sagen, dass Beten die Tätigkeit Gottes oder das Spiel Gottes oder der Reigentanz Gottes sei, ein Raum, in den wir als Menschen eintreten, eingebettet sind, mitschwingen, mittanzen.
Schließlich sollten wir bedenken, dass das Gebet den Anfang, die Mitte und das Ende aller unserer Tätigkeiten segnen kann.
Am Anfang eines Tages, am Morgen: ein kurzer Augenblick, in dem wir den Tag vorwegnehmen, den Tag weihen; vor dem Essen einen Augenblick innehalten; vor der Arbeit einen Augenblick stillhalten: die künftige Tätigkeit einfach in das Licht Gottes aufheben.
In der Mitte unseres Tuns ist es sehr wichtig, immer wieder zu unterbrechen, auch nur einen Augenblick lang die Tätigkeit zu unterbrechen und uns darauf zu besinnen, was tun wir hier eigentlich, was ist der Sinn von dem Ganzen.
Und am Ende unseres Tuns ist es sinnvoll, noch einmal zu überschauen, am Tagesende, aber auch am Ende einer bestimmten Tätigkeit, am Ende der Mahlzeit danksagen, am Ende einer Begegnung zusammen mit dem Sich-Verabschiedenden einen Augenblick diese Begegnung und alles, was drin gelegen ist, in das Licht Gottes aufheben.
Anfang Mitte und Ende sind durch Gebet zu weihen.
Eine Form, in der viele Menschen täglich und stündlich beten, ist das Herzensgebet. Das ist nicht so sehr ein Gebet, das man spricht, obwohl die klassische Form des Herzensgebetes, die Wiederholung des Namens Jesu, dafür typisch ist. Eigentlich handelt es sich beim Herzensgebet eher um eine Gebetshaltung, um eine Aufmerksamkeit und Achtsamkeit des Herzens.
Beim Beten ist das Entscheidende die Achtsamkeit, denn wenn wir nicht mit Achtsamkeit beten, ist es nur ein Herunterleiern, kein wirkliches Beten. Achtsamkeit macht alles, was wir tun, zum Gebet.
Wenn wir nur die Augen des Herzens am Horizont halten, in allem was wir tun, dann wird alles zum Gebet. Dann wird unser ganzer Alltag zum Gebet. Und das ist ja eigentlich die Aufgabe: ohne Unterlass zu beten. Nicht nur hie und da Gebete zu sagen.
Nur Mönche haben natürlich die Gelegenheit, sich ihr ganzes Leben lang zurückzuziehen, in die Abgeschiedenheit zu gehen, sozusagen mit Gott allein zu sein. Aber das ist nicht nur etwas, was den Mönchen zukommt. Jeder von uns braucht diese Zeit des Alleinseins, des Mit-sich-alleinseins. Wir brauchen das. Es ist für uns Menschen lebensnotwendig.
So kann jeder sich irgendwann am Tag einen Augenblick auch nur, eine Minute auch nur, einige Sekunden, zur Seite setzen. Immer wieder, wo wir in uns gehen, uns sammeln, und dann bereit sind, uns wieder an die Welt hinzugeben, geschieht Gebet. Die beiden Pole gehören zusammen, es ist wie das Einatmen und das Ausatmen.
Wir sammeln uns, und Gott hat das Recht, uns zu verschenken.
So wie wir von Weltraumfahrten sprechen können, so könnte man das Gebet eine Gottraumfahrt nennen. Und auf dieser Fahrt, auf dieser Entdeckungsfahrt des Gebetes, kommen wir früher oder später an eine Stelle, in der wir völlig allein sind mit uns selbst. Ganz allein bei uns selbst, in der Tiefe unseres Herzens. Wenn wir diese Tiefe, diesen Tiefpunkt erreicht haben, dann sind wir zugleich ganz allein, und überraschenderweise eins mit allem. Nicht nur eins mit uns selbst, sondern eins mit allen Menschen, Tieren, mit der ganzen Schöpfung und mit dem göttlichen Tun unseres Lebens.
Das Entscheidende am Beten ist eigentlich das Segnen. Das lässt sich wunderbar in den Alltag einbauen. Jederzeit können wir segnen. Jeden Augenblick empfangen wir Gottes Segen, wenn wir uns nur dessen bewusst werden.
Jeder Atemzug ist ein Empfangen des Segens, denn wer sagt uns denn, dass wir noch weiteratmen können, das hat uns ja niemand versprochen. Jeder Atemzug ist ein neues Geschenk, und diesen Segen zu empfangen und auszustrahlen, weiterzugeben, zurückzugeben, das ist das Schönste. In diesem Sinn ist Gebet Teilnahme am göttlichen Leben.
Viele Menschen brauchen eine Stütze: Sie sagen, ich möchte gerne Zeit für das Gebet, ein paar Augenblicke hin und wieder im Lauf des Tages. Aber was soll ich dann tun? Ich werde nur abgelenkt. Ich brauche irgendetwas, woran ich das Gebet hängen kann.
Da scheint mir immer am besten, wenn wir unsere Anliegen oder unsere Haltung auf Gott hin, in ein ganz einfaches Wort oder einen ganz kurzen Satz fassen, der einfach ausdrückt, was wir selber derzeit sagen wollen. Oder auch immer wieder sagen wollen. Zum Beispiel ein berühmter chassidischer Lehrer, der das DU-Gebet gebetet hat, DU, das war sein einziges Gebet: DU, zu Gott hin, das kann man sich zu eigen machen. Oder «Gott, ich liebe dich», oder «Gott, hilf mir in meiner Angst.»
Man kann sich selber suchen, was einem am besten passt, in einer bestimmten Zeit des Lebens, in diesem Lebensabschnitt, und das wiederholen.
Durch das Wort, das man ruhig wiederholt, vielleicht mit dem Atemzug, so wie es im Osten üblich ist, wird man dann langsam in die Stille geführt. Und aus diesem Schweigen wird man dann wieder geführt in das Wort und in den Dienst am anderen, in das Dasein für den anderen. Dieser Zusammenhang ist untrennbar: das Wort, das Schweigen und der Dienst am anderen.
Ich persönlich bete auch das Herzensgebet. Die Form, die ich persönlich verwende, ist: «Herr Jesus Barmherzigkeit». Mit dem Einatmen «Herr Jesus», mit dem Ausatmen «Barmherzigkeit».
Ich habe diese Form besonders gern, denn das kann man auf verschiedene Weise beten. Wenn ich in Schwierigkeiten bin, dann ist es ein Notruf: «Herr Jesus, Barmherzigkeit!»
Die meiste Zeit ist es einfach ein Dankgebet, ich schaue alles an und sage: wieder ein Beweis für die göttliche Barmherzigkeit, wieder ein Beweis der göttlichen Gnade, wieder ein Geschenk Gottes. Und so höre ich immer «Herr Jesus, Barmherzigkeit». Wir sind von Barmherzigkeit überschwemmt. Es passt also beides.
Und wenn wir Jesus «Herr» nennen, so heißt es, dass er das Maß gibt. Jesus ist letzte maßgebende Autorität. Und er ist der, der uns immer wieder die Autorität zurückgibt, der uns selber immer wieder auf unsere eigenen Füße stellt und uns darauf hinweist, dass Gott ‒ die Stimme in unserem eigenen Herzen ‒ spricht, und dass wir dann wirklich zu Kindern Gottes werden, wenn wir auf Gottes Leben in unserem Herzen achten und auf den Namen, mit dem Gott uns in unserem Innersten anruft, eingehen und das werden, was wir in Gottes Augen sind.
Quelle: David Steindl-Rast im TV-Film des ORF «Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets» (1992), transkribiert von Werner Binder † im Buch: David Steindl-Rast: «Staunen und Dankbarkeit: Der Weg zum spirituellen Erwachen» von Werner Binder † (Hrsg.), Freiburg/Basel/ Wien, Herder 1996, S. 138-147.