Abschied, der Klang des Lebens
Video, Text, und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Erich Baumgartner
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Eines Deiner großen Geschenke heißt Abschied. Trennung schmerzt,
doch wenn ich sie ‒ trotz des Schmerzes ‒ als Geschenk dankbar
aus Deinen Händen empfange, wird Abschiednehmen zur Feier.
Schon als Kind durfte ich der Großmutter nachwinken und dabei erleben,
dass die Feier dieses kleinen Rituals der Abschiedswehmut eine eigene Süße gab.
Oder das Winken von Boot zu Boot beim aneinander Vorübergleiten:
Ein tiefer Instinkt verlangt es.
Heute will ich (ganz unbemerkt) auch die kleinsten Trennungen als Abschied feiern
und so zugleich Abschiednehmen üben und Dankbarkeit lernen.
Amen.»[1]
Alles schwindet. Wir aber sind die Schwindendsten, weil wir um unser Schwinden wissen.
Wenn wir die unvorstellbar lange Zeitspanne von sechzehntausend mal tausend mal tausend Jahren bedenken, die das Weltall brauchte, um uns hervorzubringen, dann ist unsere Lebensspanne im Vergleich dazu kürzer als ein Seufzer. Wir wissen aber nicht nur, wie schwindend wir sind, wir wissen auch, wie wir unser Schwinden einmünden lassen können in Ewiges Leben: indem wir unser Hiersein in seiner Einmaligkeit völlig vollziehen ‒ jetzt und jetzt und jetzt, mit jedem Atemzug.
Das erwarten all die anderen schwindenden Formen von uns Menschen, denn sie brauchen uns, um durch uns ins Ewige Leben einzugehen. Darum fordert Rilke uns auf:
«Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.»
(Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII)
Als Menschen wissen wir, wie kein anderes der vergänglichen Lebewesen um den Tod, jenen endlosen Winter. Aber gerade darum kennt unser Herz auch das Geheimnis, ihn zu überstehen: «allem Abschied voran zu sein», indem wir im Jetzt leben.
Wach um den Tod zu wissen, heißt ihn vorwegnehmen.
Orpheus wird hier zum Beispiel dafür. Es gelang ihm nicht ‒ so der griechische Mythos ‒, Eurydike, seine große Liebe, aus der Unterwelt zurückzubringen, aber umso klangvoller sang er ‒
«… wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»
(Rilke: Die neunte Elegie)
Das ist auch unsere Aufgabe, und wir erfüllen sie, indem wir die Vergänglichkeit des Augenblickes durch dankbares Leben zum Klingen bringen.
«Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.»
(Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII, 2. Strophe)
Mitten im vergänglichen Augenblick das unvergängliche Jetzt dankbar rühmend zu feiern, das ist wahres Sein, und es ist uns nur unter der Bedingung geschenkt, dass wir auch zum Nicht-sein, zum Schwinden Ja sagen.
Jubelnd muss dieses Ja zur Vergänglichkeit erklingen, damit die Vielzahl vergänglicher Formen im ewigen Jetzt aufgehoben werden kann.
«Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.»
(Rilke: Ebd., die sechs Schlusszeilen)
Auf «dieses einzige Mal» kommt alles an. Solange wir erwarten, dass es uns «nächstes Mal» gelingen wird, ganz im Augenblick zu sein, ihn völlig zu vollziehen, sind wir noch in Zeit und Zahl verfangen.
Das «nächste Mal» wird ja auch «dieses einzige Mal» sein, denn «alles ist immer jetzt».
Wir dürfen diese Einmaligkeit nicht vergessen in allem was wir tun und erleiden ‒ ein Mal.
Und weil es «unwiderruflich» ist, führt «dieses eine einzige Mal» als Tor zum Ewigen Leben.
Verlangt das nicht Mut von uns? Großen Mut? Sollten wir nicht erwarten, dass «Ewiges Leben» höchsten Lebensmut von uns verlangt? Und nicht später einmal, sondern jetzt.
Wie anders sieht das doch aus, als die landläufige Vorstellung vom «Ewigen Leben» als Fortleben nach dem Tod.
Der indische Mystiker Kabir (1440-1518) sagt dazu:[2]
«Wenn du deine Fesseln nicht als Lebender sprengst,
meinst du,
Geister werden es später tun?
Seliges Entzücken der Seele,
nur weil der Leib verwest,
ist reine Phantasterei.
Was du jetzt findest, wirst du dann finden.
Wenn du jetzt nichts findest,
wirst du eben eine Wohnung
in der Stadt der Toten erben.
Wenn du dich jetzt auf göttliches Liebesspiel einlässt,
werden dann deine Züge befriedigte Lust spiegeln.»
Im Jetzt leben bedeutet nicht weniger, als sich auf ein Liebesspiel einzulassen mit der göttlichen Wirklichkeit, die uns mit jedem Atemzug neu begegnet.
Scheint es nicht so, als ob dieses letzte Wort im Credo uns «Das Ewige Leben» als größtes Versprechen vor Augen halte und zugleich als höchste Herausforderung für unser Leben hier und jetzt?[3]
(Video 06:16):
«Sei immer tot in Eurydike.»
«Das richtet sich an jeden von uns: Wer und was ist deine Eurydike?
Wer ist der liebe Mensch, oder was war geliebt, und ist jetzt schon in der Unterwelt?
Das gehört auch zu deinem Leben dazu:
Sei ‹tot in Eurydike› heißt nicht: Sei tot, sondern es heißt: Sei so lebendig, dass du sogar den Tod deiner Eurydike ‒ den Tod von all dessen, was dir gestorben ist ‒, in deine Lebendigkeit hineinnehmen kannst.
Denn gleich das nächste Wort ist:
‹… s i n g e n d e r steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.›
Was ist dieser ‹reine Bezug›, in den wir zurücksteigen?
Es ist die Offenheit fürs Leben.
Aus dem Tod, wenn wir den hineinnehmen können in unsere Lebendigkeit, sind wir im ‹reinen Bezug› zum Leben.
Und dieser reine Bezug zum Leben ist Hoffnung:
Hoffnung gehört zum Überleben dazu
Abschied nehmen gehört zum Überleben dazu.
Wir müssen lernen, Abschied zu nehmen.
Und wir müssen lernen:
Hoffnung:
Und Hoffnung ist ganz etwas anderes wie die Hoffnungen. Es ist wunderbar, wenn man viele Hoffnungen hat. Und wenn man ein Mensch der Hoffnung ist, hat man auch viele Hoffnungen. Aber die Hoffnung ist etwas ganz anderes.
Die Hoffnung ist Offenheit für Überraschung.
Das ist wahre Hoffnung. Die Hoffnungen, die wir haben, sind immer Dinge, die wir uns vorstellen können. Aber Überraschung ist das, was alles übertrifft. Hoffnung öffnet sich für das, was alles übertrifft.
Und das brauchen wir zum Überstehen: die Offenheit für das Leben.
(Video 15:36) Und was hindert uns daran so zu überleben? So zu überstehen?
Was uns hindert ist Furcht. Furcht vor Wandel. Wir wollen, dass alles immer bleibt. Wir fürchten den Wandel. Und da sagt Rilke im Sonett, das gerade vorher kommt in der Sammlung:
‹W o l l e die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!›
(Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)
Wenn es still ist und wir uns ins Bleiben verschließen wollen ‒ nicht die Wandlung ‒, und wenn’s so still ist, ist das nur die Wandlung vor dem Sturm, nur die Stille vor dem Hammer, der schon ausholt. Denn nichts kann sich dem Bleiben verschließen: das Leben ändert sich ständig. Und das macht uns Angst.
(17:36) Und das ist das Entscheidende: Wenn wir uns fragen: Wie können wir überstehen, heißt das eigentlich: Wie können wir Angst überwinden?
Angst lässt sich nicht vermeiden. Sie lässt sich nur überwinden. Furcht ist nicht unvermeidlich. Wir müssen unterscheiden zwischen Angst und Furcht. Furcht lässt sich vermeiden. Angst lässt sich dadurch überwinden, dass wir die Furcht überwinden. Angst kommt von demselben Wort wie Enge ‒ ‹miser et angustiae› ‒, das sind die Ängste, die Bedrängnisse. Angst ist im Deutschen dasselbe Wort wie im Lateinischen ‹angustiae› ‒ ‹Enge›. Und durch diese Enge kommen wir schon in die Welt. Wir haben als Fötus ein paradiesisches Leben. Und dann kommen wir durch die Enge des Geburtskanals in diese Welt. Jeder von uns hat das durchgemacht.
Und dann im Lauf dieses Lebens kommen wir immer wieder in Engpässe, immer wieder in Bedrängnis von allen Seiten. Und während wir uns als Babys während der Geburt ganz instinktiv dem Leben und der Überraschung überlassen haben ‒ wir waren offen für Überraschung und sind so geboren worden ‒, müssen wir das jetzt willentlich tun: Wir tun’s nicht mehr instinktiv, sondern instinktiv sträuben wir uns eigentlich, wir lassen so Borsten heraus und bleiben stecken in dieser Enge.
Und das müssen wir lernen: uns dem Leben anvertrauen. Und so wie uns das Leben durch den Geburtskanal in die Welt gebracht hat, bringt es uns immer wieder durch jede Enge.
Die größte Angst und Enge, die hinter jeder andern Angst steht, ist die Todesangst, denn wir haben keine Ahnung, was nachher kommt: das macht uns Angst.
Aber wenn wir uns nicht fürchten, dürfen wir vertrauen, dass wir durchgehen jedem Abschied voran in größeres Leben, in größere Fülle des Lebens, in eine neue Geburt, wie wir es uns gar nicht vorstellen können. Die Raupe kann sich ja auch nicht vorstellen, dass sie dann als Schmetterling herumfliegen wird. Wir können es uns nicht vorstellen ‒, wir sollen uns gar nicht bemühen, es uns vorzustellen.[4]
Aber wir dürfen darauf hoffen, dass, so wie wir durch jede Enge ‒ wenn wir uns nicht sträuben, nicht fürchten ‒, immer wieder in eine neue Geburt kommen, wir auch im letzten Abschied überstehen können.
Abschied lernen, gehört zum Überleben,
Mut und Bereitschaft zur Verwandlung.
Und ich hoffe, dass wir, wenn wir jetzt diese Musik anhören, die das so viel schöner und so viel ergreifender immer wieder sagt, als Worte es ausdrücken können, dass wir nicht nur das irgendwie nachempfinden können, sondern, dass wir uns entschließen können: ent-schließen, öffnen für das Leben.
Wenn ein Konzert noch so schön ist und am Ende nicht zum Entschluss führt, dann fehlt, wie das Rilke zusammenfasst:
‹Namenlos bin ich zu dir entschlossen› ‒ ‹Erde du liebe, ich will.›[5]
Das sollen wir sagen können:
Leben: ‹namenlos bin ich zu dir entschlossen›.
Und nichts kann unser Herz besser ent-schließen als Musik.
Und dafür sind wir heute ganz besonders dankbar.»[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3 und 6]
[Ergänzend:
2. Bruder David trägt die beiden Sonette vor im Vortrag So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)
(39:16) ‹Sei allem Abschied voran› (Ebd. 2. Teil, XIII): Bruder David deutet das Gedicht mit Versen aus: ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› (Rilke: Das Stunden-Buch) und der neunten Duineser Elegie ‒ ‹All is always now› (T.S. Eliot) ‒ Jeder Augenblick ist aufgehoben (ausgelöscht, bewahrt, in das Bleibende hinaufgehoben)
3. In den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014 bildete diese beiden Sonette das Herzstück dieser vier intensiven Tage; siehe Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 140-148, 150-155
4. Das Sonett ‹Sei allem Abschied voran› in weiteren Vorträgen von Bruder David:
4.1. Audio 2.1, in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991) und Mitschrift:
In diesem zum Video parallelen Vortrag geht Bruder David ab (19:53) näher auf den Mythos von Orpheus und Eurydike ein, siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 52-56
4.2. Audio ‹Viertes Seminar im Rittersaal des Schlosses Goldegg›, in Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch Augenblicke wach im Jetzt: Ergänzend: 2.2:
(12:06) Bruder David: «Und jetzt diese wunderbare Beschreibung des Lebens Augenblick für Augenblick hier auf dieser Ebene: ‹Hier unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige›: ‹der Tag hat sich geneiget›, es neigt sich hier alles schon zum Abend. Und die ursprüngliche Bedeutung von Trauer ist Neige ‒ die Trauerweide, die Trauerbirke, diese hängenden, sich neigenden Bäume ‒, im Namen für diese Bäume hat Trauer noch die ursprüngliche Bedeutung: Trauer ist, was uns neigt ‒ die Augen niederschlagen, den Kopf neigen ‒, und Trost ist, was uns aufrichtet. Trost kommt von dem Wort für Eichenbaum (das germanische Baumnamensuffix đr[a] ist noch bewahrt in Holunder, Wacholder und Flieder); der Trost ist die innere Kraft, sich aufzurichten. Trost spenden ist, jemandem diese Kraft geben. Das Reich der Neige ist das Reich der Trauer … Sehr schön, dass Trauer sich neigt und Trost sich aufrichtet.
(14:36) ‹Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige, / sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug›: Das Glas klingt und zerbricht. In diesem Augenblick klingen und für diesen Augenblick sterben, damit wir frei sind und lebendig sind für den nächsten Augenblick.
Das ganze Buch (Rilke: Die Sonette an Orpheus) ist eigentlich ein Trostbuch. Das erste Wort ist schon: ‹Da stieg ein Baum›: das ist der Trost: ein hoher Baum.
(15:30) ‹Sei immer tot in Eurydike … / Sei und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung …›: da ist das nicht so die Fülle, auf die wir so immer wieder angespielt haben, das zu ‹Sein› und ‹des Nicht-Seins Bedingung› zu wissen: das hängt übrigens auch engstens zusammen, mit dem wir gestern so gerungen haben: die Tapferkeit, die ein bisschen der Furcht voraus ist, und der Glaube, der ein bisschen dem Zweifel voraus ist: des ‹Nicht-Seins› Bedingung ist, was das Sein so seinsmächtig macht, so wie die darunterliegende Furcht, das Nicht-tapfer-sein, die Tapferkeit zu dem macht, was sie ist, und der Zweifel, das Nicht-glauben-können, den Glauben zu dem macht, was es ist.
(18:07) Aber Bedingung kann auch bedeuten, dass nur unter der Bedingung, dass wir das Nicht-Sein auch erleben, s i n d wir wirklich. Das ist auch die Bedingung für das wirkliche Sein; … dann hat auch Grund in der nächsten Zeile wieder diese Bedeutung …: Das kann entweder der Abgrund sein, der Abgrund des Nicht-Seins über dem das Sein schwingt, oder der Abgrund ist gerade der Grund, die Veranlassung für diese Schwingung, die Basis. Und das ist wieder dann die Fülle, die aus dem Nichts hervorquillt. Die Quelle ist ja nicht etwas ‒ wenn es fließt, ist es schon nicht mehr die Quelle, sondern der Bach ‒, die Quelle ist nichts, die Quelle – ich kann immer weiter zurückgehen, bis die Quelle eben nur den Anfang bedeutet.
(19:59) ‹Sei ‒ und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung, / den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, / dass du sie völlig vollziehst
‹dieses einzige Mal›,
als ob dies das Einzige wäre, das du je in diesem Leben tun wirst, du tust es zum ersten Mal und zum letzten Mal. So sollten wir jede Türe aufmachen und jede Türe zumachen: wir tun das, als ob wir sicher wären, dass wir wieder durch diese Türe gehen ‒ keinen Beweis dafür. Nichts verpflichtet. So ein Tod, wie unsere verstorbene Andrea gestern, bringt uns das wieder zum Bewusstsein.[7] Wir wissen es nie und das ist gut für uns, denn dann vollziehen wir, was immer wir tun ‹dieses einzige Mal›: völlig ‒ v o l l ziehen.
(22:24) Wir kommen mit dem Leben nicht aus, wenn wir nicht das Leben Augenblick für Augenblick nehmen. Wenn wir immer die ganze Last der Vergangenheit und die die ganze Unsicherheit der Zukunft mittragen müssen.»
4.3. Audio ‹Verstehen durch Tun›, in Lebendige Spiritualität (2015)
(46:52) ‹Sei allem Abschied voran›
4.4. Vertrauen in das Leben (2014)
(42:12) ‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung›]
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[1] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹33 ‒ Abschied›, 42
[2] Robert Bly (Hrsg.): Kabir: Ecstatic Poems, 2004; siehe auch Tod und Auferstehung
[3] Credo (2015): ‹Ewiges Leben›: ‹Persönliche Erwägungen›, 225-228
[4] Im Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (44:44):
«Das Wichtigste scheint mir, im Augenblick zu leben, ganz gleich, wie alt man ist: Im Augenblick zu leben. Denn der letzte Augenblick wird auch ein Augenblick sein. Mir sind die Jenseitsvorstellungen nicht wichtig: Wir wissen es nicht.»
Johannes Kaup: «Du hast so schön geschrieben, dass du mit Eichendorff Skifahren gehen wirst?»
Bruder David: «Träumen darf man schon, solange man weiß: das stelle ich mir halt so vor, das wünsche ich mir halt so, dann ist das schon gerechtfertigt. Man mag sich ja nur hineindenken in eine Raupe, die einmal ein Schmetterling werden wird. Diese Raupe kann sich sehr schwer vorstellen, dass sie einmal herumfliegen wird, und ebenso wenig kann ich mir das Leben jenseits des Todes vorstellen. Das ist eine Zeitverschwendung. Es gibt soviel hier zu erleben: darauf sollte ich mich konzentrieren.»
[5] Rilke: Die neunte Elegie:
«Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? ‒ Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? ‒ Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag
Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen ‒, einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.»
[6] Der Text ab (Video 06:16) ist der Mitschrift des Videoes Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) entnommen.
[7] Siehe ‹Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg›: (00:00) Eine Reporterin des ORF ist auf der Heimreise tödlich verunfallt.
Abschied, Wandlung, Aufheben
Text, und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Erich Baumgartner
«Möge ich immer bereit sein Abschied zu nehmen, immer bewusst, dass jede Ankunft ein Auftakt zur Abreise ist, jede Geburt ein Schritt hin zum Sterben und möge ich dadurch den Segen kosten, voll im Jetzt zu sein, da, wo ich bin.»[1]
Weil alle Askese auf Bleibendes gerichtet ist, wir aber nur allzu gut um den Wandel wissen, der allem Sinnlichen eignet, ist das Wesensmerkmal sinnenfreudiger Askese ein freudig gehorsames Loslassen.
Jeden Augenblick des Lebens gilt es, sich daran zu freuen und ‒ loszulassen.
Wir aber haben Angst und fürchten uns davor.
Wir wollen uns im Bleiben verschließen. Das aber widerspricht dem großen Weltplan.
Die Choreographie des kosmischen Tanzes verlangt von uns den Willen zur Wandlung.
Das Planmäßige an der Askese entspringt ja nicht der Willkür menschlichen Planens, sondern letztlich dem Bauplan des Kosmos, der sich wandelnd entfaltet.
«Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.»
(Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)
Das Herz, das wirklich gehorsam hinhorcht auf den Rhythmus des großen Tanzes, steht immer am Wendepunkt, lässt leicht los, nimmt Abschied vorweg.
«Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.»
(Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII)
Wir können hier nur die erste Strophe anführen. Man sollte aber in diesem Zusammenhang das ganze Sonett sorgfältig lesen. Worum es sich dreht ‒ in doppeltem Sinn ‒ ist der wendende Punkt.
Vergil stand an diesem Wendepunkt des Herzens. Er wusste, was Abschiednehmen heißt. Er konnte, Rachel Varnhagen sagt es so schön:
«durch Tränen des Abschieds die Welt anschauen.»
Durch diese Tränen hindurch glänzt jedes Lächeln «ewiger»; (Rilke wusste das).
Wer so die Welt anschaut, sieht im Bleibenden Wandel und im Wandel das Bleibende.
Dazu aber gehört jener zarte Humor der trotzdem lächelt, wenn er auch vielleicht nicht lacht.
«Am letzten Tag noch wird sie lachen»,
heißt es von der weisen Frau in der Bibel, wohl deshalb, weil sie gelernt hatte, immer wieder loszulassen. Uns weniger Weisen hilft Gott ein bisschen nach. Darum entfaltet sich die letzte Strophe von Eichendorffs Gedicht aus seiner ersten Zeile, wie aus einem Samen:
«Es wandelt, was wir schauen …
...
Du bist's, der, was wir bauen,
mild über uns zerbricht,
dass wir den Himmel schauen ‒
darum so klag' ich nicht.»
«Himmel» steht hier für das immer Bleibende, so wie der Mond (der Wandel und Bleiben vereint) in Ryokans Haiku.
Der Humor ist in beiden Gedichten gleich zart. Selbst die angedeutete Situation ist nicht unähnlich.
«DER DIEB VERGASS IHN.
ER HÄNGT JA NOCH IM FENSTER
VOLL UND SCHÖN, DER MOND.»
Ein anderer fernöstlicher Dichter schreibt im Alter ein Gedicht über das Ausfallen der Zähne ‒ auch das voll Humor.
Aber selbst Galgenhumor kann unversehens zur Rühmung werden, Rühmung, die umso reiner klingt, weil sie sich des Rühmens selbst kaum bewusst ist.
Christian Morgenstern beweist dies in seinen «Galgenliedern».
Angesichts der Aufhebung unserer Sinnlichkeit ist Humor deshalb trotzdem noch möglich, weil «nichts vergänglich ist, als die Vergänglichkeit.» ‒
«Trunken von Beständigkeit»,
stößt Werner Bergengruen mit dieser Einsicht tief in den Sinn des Sinnlichen vor.[2]
Damit stehen wir aber schon völlig
«im Raum der Rühmung»,
wie Rilke ihn nennt.
Rühmend hebt der Dichter das Sinnliche auf, indem er es erhöht, überhöht, übertrifft.
«Rühmen, das ist's! Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor wie das Erz aus des Steins
Schweigen. Sein Herz, o vergänglicher Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.»
(Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, VII)
Das ist der Dichter, der das Sinnliche aufhebt und über den Wandel hinaushebt, indem er es zu Sinn verdichtet.
Wir dürfen aber den Begriff Dichter nicht zu eng fassen. Es gibt den Dichter in jedem von uns. Wir alle sind dazu berufen, das, was wir durch unsere Sinne empfangen, im Herzen aufzuheben.
Menschliche Berufung ist es, das Nur-Sinnliche ungültig zu machen, indem wir es rühmend über sich hinausheben, es aber zugleich in seiner ganzen vergänglichen Einmaligkeit im immer Bleibenden geborgen halten und verwahren.
Erinnerung ist es, die diese Aufgabe letztlich vollendet. Das Sinnliche, das im Humor gärt, klärt sich in der Dichtung und gewinnt seine volle Süße im Erinnern.
Wir müssen dem Wort «Erinnerung» hier seine volle Bedeutung zurückgeben. Er-innerung ist Ver-innelichung, Sinnernte unserer Sinnlichkeit ‒ Einbringung, Verwandlung.
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
(R. M. Rilke am 13. November 1925 in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz)
Kennen wir nicht dieses selbstvergessene Blütensaftsaugen aus der tiefsten Erfahrung unseres eigenen Lebens? So verwandelt unser Herz das Sinnliche unseres wachsten Erlebens und birgt es in seiner großen, goldenen Honigwabe als Sinn.
Darum wird beim Altwerden jedes Weihnachtsfest reicher, gewichtiger, schwerer und süßer, weil Freude und Traurigkeit aller vergangenen Weihnachtsfeste von frühester Kindheit an im Erleben mitschwingt; weil in der Erinnerung Altes und Neues einander bereichern. «Alles Vollendete fällt heim zum Uralten.»
«Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.»
(R. M. Rilke: Sonette an Orpheus Teil 1, XIX)
In diesem «Lied überm Land» liegt der bleibende Sinn, in den das horchende Herz allen Wandel führt. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen, das heißt durch die Sinne Sinn finden.[3]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 3]
[Ergänzend:
1. «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare). Der hegelsche Begriff ‹aufheben› ist für Bruder David ein wichtiger Schlüssel im Zusammenhang mit Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 1 ‒ Vormittag: (08:27) und dem Thema Jetzt und ewiges Leben:
«Von dieser Mitte her können wir ‹in Fülle› leben, weil Zeit für uns auf eine höhere Ebene hinaufgehoben ist. Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. Das Jetzt in der Zeit gibt uns ja Zugang zum Jetzt, das über Zeit erhaben ist.
Wir dürfen darauf vertrauen, dass alles, was schön und gut und echt ist an der Zeit, aufgehoben und geborgen ist im ewigen Jetzt; mit jeder für uns bedeutsamen Einzelheit ist es liebend aufbewahrt dort, wo wir letztlich zuhause sind ‒ in Gott.»
Im Vortrag So leben wir und nehmen immer Abschied (2009) trägt Bruder David ‹Sei allem Abschied voran› und ‹Wolle die Wandlung› (Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII und XII) vor und spricht, wie jeder Augenblick aufgehoben ist: ausgelöscht, bewahrt, in das Bleibende hinaufgehoben.
2. ‹Aufheben› ist auch das Schlüsselwort im Kapitel ‹Sinnlichkeit und christliche Askese› im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 80-99, dem der obige Text entnommen ist, wie auch Rühmen, Er-innern, Aufheben; Sterben und Wandlung; Altern: Ergänzend: 4.
3. Links zu weiteren Audios und Texten mit den Sonetten ‹Sei allem Abschied voran› und ‹Wolle die Wandlung› in Abschied, der Klang des Lebens: Ergänzend: 3.-4. und Anm. 3 und 6
4. Links zu Audios und Texten mit dem Sonett ‹Rühmen, das ist’s› und ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› in Rühmen, Er-innern, Aufheben: Ergänzend: 2.: Audios
5. Links zum Video und Audios mit dem Sonett ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› in Sterben und Wandlung: Ergänzend: 3.
6. Links zu Audios und Texten mit Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen› (Der Umkehrende, 4) in Fragen des Lebens: Haupttext und Ergänzend: 3.; Sterben und Wandlung: Haupttext und Ergänzend: 2. mit Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil IIDichtung, Teil II (2014), 93]
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[1] Blessings ‒ Segenswünsche deutscher Text zum Video Blessings ‒ Segenswünsche von Bruder David (2019)
[2] Werner Bergengruen: ‹Nichts Vergängliches vergeht› und ‹Magische Nacht›, in Die den Kurs begleitenden Gedichte, 37f. und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 110f.
[3] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 93-99
Achtsamkeit
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Vergegenwärtigen Sie sich achtsame Menschen: Sie sind fest in ihren Körpern verwurzelt. Sie sind in ihrem Körper lebendig. Aber es ist bezeichnend, dass wir dafür kein Wort haben und es einfach nur als achtsam im Sinn von geistig wach sein bezeichnen. Das weist darauf hin, dass etwas fehlt. Wenn in unserer Sprache ein Wort fehlt, dann fehlt damit auch eine Einsicht, nämlich in diesem Fall die Einsicht, dass volles Lebendigsein volles geistiges und auch körperliches Wachsein umfasst, und dass hier von diesem vollen Lebendigsein die Rede sein soll.
Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an der Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.
T. S. Eliot sagte: «Der Mensch kann nicht viel Realität aushalten.» Aber in verschiedenen Graden können wir die Realität aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Realität auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Realität zu kommen, mit der ganzen Realität, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen. [Auf dem Weg der Stille (2016) 68f.]
Im Kloster wird Zeit und Raum so eingeteilt, dass die Achtsamkeit gefördert wird; mit Bewusstsein und im Gefühl des Segens. Nahrung zuzubereiten und zu essen ist eine grundlegende Tätigkeit, um die Achtsamkeit in unseren Alltag einzufügen. Unsere Brüder in buddhistischen Klöstern singen: «Unzählige Arbeiten waren nötig, um uns dieses Essen zu bescheren; wir sollten wissen, wodurch es uns geschenkt wurde.» Und sie fahren fort: «Wir wollen uns fragen, ob unsere Tugend und Übung diese Nahrung verdienen.» Wir essen, um dienen zu können; wir ernähren uns, um anderen zu Diensten sein und in irgendeiner Form weiterzugeben, was wir bekommen haben.
Wenn wir den Segen des Lebendigseins erkennen, entspringt daraus ganz spontan eine demütige Haltung, ein nützlicher, praktischer Dienst und Sorgfalt in Einzelheiten. Das ist auch etwas, was wir in jeder Lebenslage üben können. Das eine bedingt und fördert das andere: Wenn wir uns liebevoll um Einzelheiten kümmern, die uns so leicht entfallen, während wir uns auf die scheinbar großen Dinge konzentrieren, dann entsteht eine Haltung der Sorgsamkeit und Zärtlichkeit. Wir müssen ohnehin kochen und putzen, also können wir es genauso gut liebevoll und sorgsam tun.
[ST 12, Quelle: MS 5) 85f.]
Jeder wirklich achtsame Mensch erkennt, dass alles ein Geschenk ist. Niemand schuldet es uns, wir haben es nicht gekauft und haben nicht dafür bezahlt. Es ist kostenlos, und wir reagieren mit Dankbarkeit auf diese kostenlose Wirklichkeit.
Es hilft, täglich wenigstens eine Überraschung wahrzunehmen, irgend etwas, was überraschend und unvorhergesehen ist. Vielleicht ist es das Wetter, vielleicht ein Anblick, auf den wir aufmerksam werden. Es kann ein angenehmes oder ein unangenehmes Ereignis sein. Wenn wir unser Herz öffnen, um etwas Überraschendes hineinzulassen, wird es uns immer klarer, wie viele Überraschungen jeder Tag enthält, und mit der Zeit erkennen wir, dass wir in einem Universum leben, das irgendwie zu uns spricht. Wenn wir das erst einmal erkannt haben, hören wir ganz selbstverständlich hin, weil wir die Botschaft hören wollen.
[ST 13, Quelle: SW 102]
[Ergänzend:
1. ACHTSAMKEIT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 128:
«Achtsamkeit ist das Gegenteil von Zerstreutheit, bedeutet eine Haltung erhöhter Aufmerksamkeit und aufgeweckter, aber entspannter Konzentration. Während jedoch Konzentration typisch unsre Aufmerksamkeit auf einen Brennpunkt verengt, erweitert die Achtsamkeit ihren Bereich ins Grenzenlose.
Der Dichter T. S. Eliot kennzeichnet dieses Paradox als ‹Konzentration ohne Ausblendung›.[1]
Es ist aber nicht genug, nichts auszublenden, sondern wir müssen bewusst unser Gegenüber einblenden, sonst zeigt sich nämlich in der Praxis, dass wir dazu neigen, uns auf uns selbst zu konzentrieren.
Achtsamkeitsübungen, so wichtig und hilfreich sie sein können, sind nicht selten überwiegend selbstbezogen. Dadurch gleitet manches, was sich fälschlich Achtsamkeit nennt, in Selbstbespiegelung ab.
Echte Achtsamkeit zeigt sich uns in Menschen, die für ihr jeweiliges Gegenüber wach und zum Dialog bereit sind.»
2. Im Vortrag Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014) klärt Br. David gleich zu Beginn die Begriffe Achtsamkeit ‒ Spiritualität ‒ Dankbarkeit und Dankbar leben. Er beobachtet ‒ seit «Achtsamkeit» in aller Munde ist ‒ eine Bedeutungsverschiebung dieses Begriffs in Richtung auf «meine» Wünsche und Bewertungen und nicht mehr auf: «Wovon werde ich jetzt beeindruckt?» «Welche Gelegenheit bietet mir jetzt das Leben?»]
_______________________
[1] «Concentration without elimination …»
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «Burnt Norton», II, ebenfalls zitiert in: Auf dem Weg der Stille (2016), 60f. und in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 44 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 42]: «Konzentration, die nichts ausgrenzt.»
Achtsamkeit üben
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht es ist, die Aufmerksamkeit zu verlieren. Die Übersättigung unserer Sinne führt dazu, dass unsere Wachsamkeit eingeschläfert wird. Eine Flut von Sinneseindrücken neigt dazu, unser Herz von der konzentrierten Achtsamkeit abzulenken. Das schenkt mir eine neue Wertschätzung der Eremitage und ein neues Verständnis dafür, worum es in der Einsamkeit geht. Der Eremit ‒ der Eremit in jedem von uns ‒ läuft nicht vor der Welt davon, sondern sucht nach dem stillen Punkt im Inneren, worin man den Herzschlag der Welt vernehmen kann. Wir alle ‒ jede und jeder in anderem Maß ‒ bedürfen des Alleinseins, weil wir uns unbedingt in die Achtsamkeit einüben müssen.
Wie soll das praktisch aussehen? Gibt es für die Kultivierung der Achtsamkeit eine Methode?
Ja, dafür gibt es sogar viele Methoden. Diejenige, die ich gewählt habe, ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit kann man praktizieren, kultivieren, lernen. Je stärker unsere Dankbarkeit wächst, desto stärker wird auch unsere Achtsamkeit.
Ehe ich morgens die Augen aufschlage, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe, jedoch Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind, und zwar die Mehrzahl von ihnen aufgrund von Bedingungen, die sich verbessern ließen, wenn nur unsere Menschheitsfamilie zu Verstand kommen und ihre Ressourcen vernünftig und gerecht einsetzen würde. Wenn ich mit diesen Gedanken die Augen aufschlage, sind die Chancen groß, dass ich für das Geschenk, sehen zu können, dankbarer bin und aufmerksamer für die Bedürfnisse derer, denen dieses Geschenk fehlt.
Bevor ich abends das Licht ausschalte, vermerke ich in meinem Taschenkalender immer eine Sache, für die ich noch nie dankbar war. Das übe ich schon jahrelang, und der Vorrat an Themen kommt mir immer noch unerschöpflich vor.
[Auf dem Weg der Stille (2016) 88f.]
Allein ‒ All-Eins
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen einen Augenblick gewählt haben, in dem Sie allein waren ‒ ein Augenblick allein in Ihrem Zimmer, beim Strandspaziergang, im Wald oder vielleicht auf einem Berggipfel. In einer dieser Erfahrungen stellen Sie fest, dass Sie, obwohl Sie allein waren ‒ und, paradoxerweise, nicht obwohl Sie allein waren, sondern gerade weil Sie in diesem Augenblick so allein waren ‒ mit allem und jedem vereint waren.
Wenn es keine Menschen um Sie herum gab, mit denen Sie sich vereint fühlen konnten, dann waren es die Bäume oder die Felsen oder die Wolken oder das Wasser oder die Sterne oder der Wind oder was auch immer. Es fühlte sich an, als dehne sich Ihr Herz aus, als ob Ihr Wesen ausgedehnt würde, um alles zu umarmen, als ob die Schranken auf irgendeine Weise heruntergerissen oder aufgelöst worden wären, und Sie mit allem eins wären.
Sie können das im Nachhinein überprüfen, indem Sie feststellen, dass Sie keinen Ihrer Freunde auf dem Gipfel Ihrer Gipfelerfahrung vermisst haben. Einen Augenblick später mögen Sie vielleicht gesagt haben: «Ach, ich wünschte, der-und-der könnte jetzt hier sein und diesen herrlichen Sonnenuntergang erleben, oder könnte dies sehen, oder diese Musik hören.» Aber auf dem Gipfel Ihrer Gipfelerfahrung haben Sie niemanden vermisst, und der Grund dafür liegt nicht darin, dass Sie alle anderen vergessen hätten, sondern dass die anderen bei Ihnen waren, oder Sie bei den anderen. Weil Sie mit allem eins waren, war es sinnlos, irgend jemanden zu vermissen.
Wenn man so will, hatten Sie den Mittelpunkt erreicht, von dem die religiöse Tradition manchmal spricht, und in dem jeder und alles zusammenschmelzen.
Nun gut, es ist also ein Paradoxon, dass ich, wenn ich am stärksten allein bin, eins mit allem bin.
Man kann das auch umdrehen:
Manche von Ihnen haben vielleicht an eine Erfahrung gedacht, in der ein Teil der Gipfelerfahrung gerade darin bestanden hat, dass Sie sich innerhalb einer riesigen Menschenmenge mit allen eins fühlten. Das war vielleicht eine liturgische Feier, vielleicht aber auch ein Friedensmarsch, ein Konzert oder ein Theaterstück ‒ irgendeine Versammlung, in der ein Teil Ihrer überströmenden Freude darin bestand, dass sie das Gefühl hatten, alle seien ein Herz und eine Seele, und jeder mache dieselbe Erfahrung. Übrigens mag das objektiv gar nicht gestimmt haben. Es ist möglich, dass Sie der Einzige waren, der in einer solchen Stimmung war, aber Sie haben es so erfahren als ob es jeder genauso empfände.
In diesem Fall drehen wir das Paradoxon um:
Wenn man mit allen am meisten eins ist, ist man auch wirklich allein.
Sie sind plötzlich herausgehoben, als ob jenes besondere Wort des Redners (falls es ein Vortrag war, der dies bewirkte) an Sie persönlich gerichtet gewesen wäre, und fast werden Sie rot. «Warum spricht er über mich? Warum wählt er mich dafür aus?»
Oder: «Diese Passage einer bestimmten Symphonie ist für mich geschrieben, für mich komponiert worden und wird für mich aufgeführt; was für eine wunderbare, vollkommene Aufführung ‒ und alles für mich, jetzt und hier!» Sie sind auserwählt; Sie sind völlig allein. Und wir erkennen, dass das kein Widerspruch ist.
Wenn man wirklich allein ist, ist man eins mit allem ‒ schon das Wort «allein» spielt darauf an. Es mag vielleicht nur eine Gedächtnisstütze sein, sich das zu merken, aber es kann auch mehr dahinterstecken ‒ all-ein, eins mit allem, wirklich allein. [Der Mönch in uns (1978)]
[Ergänzend:
1. Die Achtsamkeit des Herzens (2021):
«In dem bewussten Augenblick waren Sie, in einem tieferen Sinn, allein. Nicht, dass Sie sich damals darüber Gedanken gemacht hätten, aber rückblickend stellen Sie fest, dass das Wort ALLEIN passt, selbst wenn Sie sich inmitten einer Menschenmenge befanden. In einem gewissen Sinn waren Sie ‹der oder die Einzige›. Nicht nur in dem Sinne von auserwählt sein, sondern, und das ist noch wichtiger, im Sinne von wirklich dort sein, wo Sie sind, aus einem Stück: ‹all-eins›.
Genau dann, als Sie all-eins mit sich selbst waren, fühlten Sie sich innig vereint mit allem. Ihr tiefes Alleinsein fand seine Entsprechung in grenzenloser Verbundenheit. Tatsächlich handelt es sich um zwei Aspekte derselben Erfahrung. Und auch hier kommt es nicht darauf an, ob Sie äußerlich allein oder inmitten einer Menschenmenge waren. Selbst auf einer einsamen Insel, weit entfernt von anderen menschlichen Wesen, könnten Sie vom Bewusstsein tiefer Verbundenheit überwältigt worden sein. Auch beschränkt sich diese Zugehörigkeit nicht auf Menschen. An diesem Schmelzpunkt war Ihr innerstes Wesen mit allem vereint: mit dem Duft wilden Thymians auf der Wiese in der Dämmerung; mit dem plötzlichen Aufleuchten eines Winterblitzes, der Stimme des Wasserfalls oder einer Krähe. Sie waren allein, all-eins, eins mit allem.» [ST 55; AH 1-2) 108f.; 3-5) 105]
2. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis ‒ jede mystische Erfahrung paradox wahrnehmen und ausdrücken:
«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins.»
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben»: Ja-sagen
Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger; siehe auch die Übersetzung von Eve Landis in Der Mönch in uns (1981)
3. Retreat-Woche in Assisi (1989):
Audio: Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‚Ich glaube an Gott‘:
(03:01) Ich bin allein und dennoch mit allen und allem verbunden oder ich bin in Gemeinschaft und zugleich allein, ganz persönlich angesprochen — Gotteserfahrung muss paradox sein, weil in Gott sich alle Widersprüche treffen]
Altern
Video, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Arijana Somolanji Kurbanović
«Altern war mein Schicksal, jetzt ist es Aufgabe ‒ ein gesegnetes Schicksal und eine nicht ganz leichte Aufgabe. Unter den Gaben des Altwerdens bin ich vor allem für meine Gesundheit dankbar ‒ ein unermessliches Geschenk. Dann für die unzähligen Begegnungen in all diesen Jahren ‒ die erinnerten und die vergessenen; sie alle haben mich geformt. Und wenn ich an die Erlebnisse denke, zu denen diese vielen Jahre mir Zeit schenkten, dann bin ich überwältigt von Dankbarkeit.
Jetzt gilt es, die Erinnerungen zu sichten. Schenk ihnen, ich bitte Dich, noch sonnige Herbsttage, in denen sie zur vollen Süße ausreifen können.[1] Lass mich alles, was mich drückt, vertrauensvoll Deiner Vergebung übergeben, alles Schöne noch einmal lange und dankbar betrachten und dann loslassen. Von allem Beschwerlichen des Alterns lass mich die Augen aufheben zum ‹Morgenglanz der Ewigkeit›. Amen».[2]
Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David: «Bruder David, ich habe noch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man neunzig Jahre alt ist. Da kommt sicher einiges auf mich zu. Doch nicht nur ich bewundere, dass Sie in Ihrem Alter noch so wach, so neugierig und lebendig sind. Was ist das, was Sie heute im vielleicht letzten Lebensjahrzehnt beschäftigt, umtreibt, bewegt?»
Bruder David: «Es kristallisiert sich für mich immer klarer heraus, dass meine große Aufgabe darin besteht, im Jetzt zu leben und das immer wieder zu üben.
Das sehe ich als meine Hauptaufgabe an, und zugleich ist es ein großes Geschenk, das so viele Jahrzehnte lang üben zu dürfen.
Vielleicht wird uns das Leben nur verlängert, weil wir noch nicht gelernt haben, wirklich im Jetzt zu leben.»
Johannes Kaup: «Woran haben Sie heute noch besondere Freude? Worüber können Sie nach wie vor staunen und was macht Ihr Herz ganz weit?»
Bruder David: «Um das zu beantworten, müsste ich alles aufzählen, was mir im Lauf des Tages begegnet. Alles macht mich staunend, mehr als je zuvor. Schon wenn ich am Morgen die Augen aufschlage. Dass mir noch einmal ein Tag geschenkt wird, ist das nicht eine große Überraschung?
Johannes Kaup: «Ich bin auch noch da ...»
Bruder David: «Aha! Es gibt mich noch. Alles, alles wird immer staunenswerter.»
Johannes Kaup: «Das heißt staunenswerter, je älter Sie werden ‒ wie das? Sie könnten ja auch sagen: ‹Ich bin schon abgebrüht, ich kenne das schon.›»
Bruder David: Wie Augustinus sagt:
«Alles ist Gabe, alles ist Gnade, alles ist Geschenk.»[3]
Als junger Mann wanderte ich bei einem meiner ersten Besuche in New York City eines Abends die 5th Avenue aufwärts und schlenderte an der 59th Straße in den kleinen Zoo hinein, den es damals an dieser südöstlichsten Ecke des Central Parks gab. Den Zoo besuchten vor allem Kinder und um diese Zeit war ich alleine hier. Doch plötzlich fühlte ich eine mächtige Gegenwart, blickte auf und sah einen Gorilla auf dem Dach seines Häuschens sitzen. Der massige Klotz schien sich in der Dämmerung riesig aufzutürmen und doch saß er gebeugt und wie trauernd da. Beim Näherkommen konnte ich in seine Augen schauen, aber es schien mir, dass er mich kaum wahrnahm und seine Gedanken weit weg irgendwo wanderten. Er war alt, vielleicht sehr alt. Ich kann nicht sagen, wie lange wir so Auge in Auge verweilten, aber ich weiß, es war eine ganze Zeit lang. Lange genug, um mir etwas mitzuteilen über das Altwerden, eine Ahnung, so tief, dass ich sie immer noch nicht völlig ausgelotet habe, auch nicht in diesem bisher letzten Jahrzehnt meines Lebens ‒ ich sage «bisher», denn ich habe gelernt, mit Überraschungen zu rechnen, und weil es eben noch Geheimnisse gibt, die aufs Ausloten warten.
In diesem Lebensabschnitt gerät das Senklot meines ahnenden Nachdenkens immer wieder in Tiefen, in denen ich ein Schlüsselwort Rilkes hilfreich finde; der Dichter spricht vom Doppelbereich:
«Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
W i s s e d a s B i l d.
Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.»[4]
Auf vieles lässt sich dieses Bild anwenden, und dabei erscheint es mir besonders wichtig, nicht zu vergessen, dass der Doppelbereich eine untrennbare Einheit ist, auch wenn mein Denken seine beiden Aspekte immer wieder auseinanderreißen möchte. Unterscheiden ‒ ja; trennen ‒ nein!
Aufs Ganze zu schauen, es so umfassend wie möglich zu sehen und nicht zu erlauben, dass es in meiner Vorstellung auseinanderfällt ‒ das sehe ich als meine große Aufgabe beim Altwerden.
T. S. Eliot weist auf die Schwierigkeit hin:
«Ich will dir zeigen, was das Alter bringt ...
Da Leib und Seele auseinanderfallen.»[5]
An manchen Tagen scheint es wirklich, als ob alles im Begriff wäre, auseinanderzufallen: Das Dinkelweckerl fällt mir in den vollen Suppenteller und bespritzt die weiße Kutte von oben bis unten mit Kürbissuppe und Kernöl ‒ schwarz und gelb in den kaiserlichen Farben.
Ist das meine «zweite Kindheit»? Aus meiner ersten weiß ich, weil meine Mutter es mir lachend erzählte: Als ich zum ersten Mal einen Teller voll Spinatsuppe vor mir auf dem Tisch sah, war ich so begeistert vom Grün, dass ich beide Hände in die Suppe tauchte und mich von oben bis unten damit anmalte. Auch jetzt lachen die Brüder verständnisvoll bei meinem kleinen Unfall im Refektorium und schlagen vor: «Vielleicht darf man das ‹Aktionskunst› nennen.» Das ist jedenfalls eine positivere Interpretation, als vom Auseinanderfallen zu sprechen.
Warum liegt denn überhaupt der Gedanke nahe, dass beim Altwerden und Sterben Leib und Seele auseinanderfallen?
Weil ich mir einerseits bewusst bin, dass meine Seele, mein Selbst, im Jetzt lebt, also nicht in der Zeit gefangen ist, andererseits aber mein Leib einen Anfang hatte bei meiner Empfängnis und seinem Ende zugeht, das täglich näher kommt.
Durch meinen Leib bin ich also an die Zeit gebunden und mein Ich ist vergänglich, mein Selbst aber hat Bestand.
Und doch erlebe ich mich als Einheit, als ich selbst ‒ nicht als ich und selbst. Dieses Einssein ist mir jedoch nur bewusst, solange ich im Jetzt lebe, im Augenblick, im Doppelbereich von Zeit und Ewigkeit.
Sobald ich an Vergangenem hängen bleibe oder mich in Zukunftsfantasien verstricke, bin ich mir nur mehr des Zeitablaufs bewusst, und es bedrückt mich, dass meine Zeit rasch abläuft und ausläuft.
«Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt,»[6]
sagt der Dichter. Ich sehe es jetzt mehr noch als in früheren Lebensabschnitten als meine große Aufgabe an, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren und zu erkennen, dass ich nicht in einem Nebeneinander von Zeit und Ewigkeit lebe, sondern in ihrem Ineinander, in der dynamischen Spannung des einen Doppelbereichs.[7]
«Doppelbereich nennt Rilke die Einheit von Diesseits und Jenseits und sagt:
‹Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten.›[8]
Nur wenn ich mich bewusst in diesem Doppelbereich von Vergänglichem und Bleibendem bewege, kann ich in allem Vergänglichen das Bleibende miterfahren und in allem Bleibenden Dich, Du Ursprung bleibenden Seins.
Erweitere Du die Reichweite meiner Sinne; öffne sie für das Übersinnliche im Sinnlichen. Lass mich ‹die Spiegelung im Teich› als ein Ganzes sehen und dieses Bild niemals vergessen. Lass mich jetzt schon das vertrauliche Nahsein der uns Vorangegangenen erfahren. Und wenn meine Zeit kommt, heimzugehen, dann schenk mir einen sanften Übergang. Amen.»[9]
In seinem berühmten Gedicht «Sailing to Byzantinum»[10] sagt Butler Yeats, ein alter Mann sei eine jämmerliche Vogelscheuche,
«… wenn nicht die Seele klatscht und singt und lauter singt
für jeden Riss im sterblichen Gewand.»
Das versuche ich zu tun, so oft wieder etwas in Fetzen geht am «sterblichen Gewand», und klatsche dankbar allen Körperteilen und Organen Beifall, die noch funktionieren. So wird das, wofür ich dankbar sein kann, täglich mehr.
«Mein Becher fließt über» (Psalm 23,5).
Es wird mir immer klarer bewusst: Dankbarkeit ist Feste feiernde Liebe.
Wie Liebe das gelebte Ja freudiger Zugehörigkeit ist, so feiert Dankbarkeit das Leben durch ein freudiges Ja an jedem Knoten des großen Netzwerks, in dem alles mit allem zusammenhängt.
Je überzeugter wir dieses Ja leben, desto sommerlicher reift die Liebe in uns und um uns.[11]
Ein großer Denker ‒ Otto Mauer ‒, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:
‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.[12]
Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.»[13]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f., 7, 9, 11, 13]
[Ergänzend:
1. Video Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 13:
Isha Johanna Schury: «Ja, diese Energie des Lernen Wollens, das ist auch ein Geschenk, ich trage das ganz stark. Deswegen hatte ich auch den Impuls für diesen ÄLTESTENRAT-Kongress, weil ich es wunderschön finde, von dieser Weisheit und von dieser Erfahrung lernen zu dürfen. Da wohnt so viel ‒ großes Geschenk für mich drin. Viele von uns haben so das Gefühl, sie müssen nichts mehr lernen, sie wissen schon alles, aber lernen ist doch eine große Freude und trägt mich schon ein ganzes Stück weiter.»
David Steindl-Rast: «Ich war noch ein recht junger Mann, als ich eines Abends in New York City in einen kleinen Zoo hineingewandert bin ‒ damals hat es den Zoo noch gegeben, den gibt es heute nicht mehr, das muss eine Art Kinderzoo gewesen sein im Central Park. Da war kein Mensch drinnen, es war eben Abend, kurz vor dem Absperren ‒ stell ich mir vor. Da ist auf dem Dach seiner Hütte ein Orang-Utan gesessen. Der ist nur so dort gesessen und ich bin lange Zeit vor dem gestanden. Der hat mir eine Weisheit übermittelt, die mir für das ganze Leben wichtig war. Ich kann es natürlich nicht in Worte fassen, aber das war ein weises altes Lebewesen. Dafür bin ich immer noch dankbar. Das ist mindestens schon … 60 oder 65 Jahre her.»
Isha Johanna Schury: «Wunderschön, wunderschön. Diese Weisheit strahlt einfach, die so ein älteres, gelebtes, erfahrenes Wesen in sich trägt. Und so Vieles kann man nicht mit Worten ausdrücken, was einfach die Worte übersteigt.»
2. Widersprüche in ein Sinnbild fassen:
Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (28:48) und Text in Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 29-32, siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild:
«Wenn wir unseres Lebens viele Widersinne versöhnen und dankbar in ein Sinnbild fassen: Was kann dieses Sinnbild sein?»
3. Wirklich werden:
Musik der Stille (2023), 27; siehe auch: Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 2. ‹Die Tagzeiten›:
«Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›[14]. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:
‹Tut Wirklichwerden weh?›
Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:
‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»
4. Sich erinnern:
Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›,97f.; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben:
«Wir müssen dem Wort ‹Erinnerung› hier seine volle Bedeutung zurückgeben. Er-innerung ist Ver-innerlichung, Sinnernte unserer Sinnlichkeit ‒ Einbringung, Verwandlung.
Rilke schreibt in seinem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz, 13. November 1925:
‹So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden.
Verwandelt?
Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht.
Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.
Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible: Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenkorb des Unsichtbaren anzuhäufen.›
Kennen wir nicht dieses selbstvergessene Blütensaftsaugen aus der tiefsten Erfahrung unseres eigenen Lebens? So verwandelt unser Herz das Sinnliche unseres wachsten Erlebens und birgt es in seiner großen, goldenen Honigwabe als Sinn. Darum wird beim Altwerden jedes Weihnachtsfest reicher, gewichtiger, schwerer und süßer, weil Freude und Traurigkeit aller vergangenen Weihnachtsfeste von frühester Kindheit an im Erleben mitschwingt; weil in der Erinnerung Altes und Neues einander bereichern.
5. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen:
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual …
(36:58) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX)
Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›,98f.:
«Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.»
R. M. Rilke: Sonette an Orpheus Teil 1, XIX
«In diesem ‹Lied überm Land› liegt der bleibende Sinn, in den das horchende Herz allen Wandel führt. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen, das heißt durch die Sinne Sinn finden.»[15]]
___________________
[1] ‹Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiel den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.›
R. M. Rilke: ‹Herbsttag›
[2] Erwachende Worte (2023): ‹Altern›, 99
‹Morgenglanz der Ewigkeit
Licht vom unerschaffnen Lichte,
schick uns diese Morgen-Zeit
deine Strahlen zu Gesichte,
Und vertreib’ durch deine Macht
unsre Nacht.›
Erste Strophe aus dem Kirchenlied von Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689) im heutigen Sprachgebrauch
[3] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich ‒ ‹9. Dialog, 193; siehe auch Jetzt im Doppelbereich
[4] Rilke: Sonette an Orpeus 1. Teil, IX
[5] ‹Let me disclose the gifts reserved for age
To set a crown upon your lifetimes’s effort.
First, the cold friction of expiring sense
Without enchantment, offering no promise
But bitter tastelessness of shadow fruit
As body and soul begin to fall asunder.›
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, II
[6] Siehe auch Jetzt im Doppelbereich, Anm. 1 und Audio zu Beginn von Kreuz ‒ Sinnbild:
‹Stimme eines jungen Bruders
Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.
Ich möchte sterben. Laß mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.›
R. M. Rilke, Das Stunden-Buch
[7] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 180-182
[8] Rilke, aus der Ersten Duineser Elegie
[9] Erwachende Worte (2023): ‹Doppelbereich›, 35; siehe auch dieses Gebet am Ende des Haupttextes in Doppelbereich Ich-Selbst
[10] ‹An aged man is but a paltry thing,
A tattered coat upon a stick, unless
Soul clap ists hand an sing, and louder sing
For every tatter in tis mortal dress …›
W. B. Yeats: Sailing to Byzantium
[11] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 186
[12] Siehe auch Sterben und Tod: Ergänzend: 1.
[13] Video Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 8
[14] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106, und Erlösende Kraft, Anm. 4:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, erschienen 1922, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[15] Siehe auch dieses Sonett im Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975)
(08:59) vorgetragen von Ellinor Jensen; siehe auch Transkription
Andacht
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Ronja Forster
Welche Tätigkeiten lösen in dir regelmäßig spontane Andacht aus, so dass dein Herz ganz ohne Mühe dabei ist? Vielleicht ist es die erste Tasse Kaffee am Morgen, die Art und Weise, in der sie dich wärmt und wach macht, oder der Spaziergang mit deinem Hund, oder die Huckepack-Tour mit einem kleinen Kind. Dein Herz ist voll dabei, und so findest du auch Sinn darin ‒ keinen Sinn, den du in Worte fassen könntest, sondern Sinnfülle, in der du Ruhe finden kannst. Das sind Momente gesammelter Andacht, auch wenn wir sie nie als Gebet betrachtet haben. Sie zeigen uns die enge Verbindung von Gebet und Spiel. Diese Augenblicke, in denen unser Herz ‒ ganz gleichwie kurz ‒ in Gott Ruhe findet, sind Beispiele dafür, was Gebet eigentlich ist. Könnten wir diese innere Haltung aufrechterhalten, dann würde unser ganzes Leben zum Gebet werden.
Zugegeben, es ist keine leichte Aufgabe, die Sammlung, Dankbarkeit und Andacht jener Augenblicke, in denen das Herz voll ist, aufrechtzuerhalten. Aber jetzt wissen wir wenigstens, worauf wir hinauswollen. Es ist, als wollten wir lernen, einen Bleistift auf einer Fingerspitze zu balancieren. Darüber zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Haben wir es aber ein einziges Mal geschafft, dann wissen wir wenigstens, dass wir es können und wie es gemacht wird. Der Rest ist eine Frage der Übung und des Immer-wieder-Probierens, bis es zur zweiten Natur geworden ist. Auf das Gebet angewandt könnte dies bedeuten, jeden Mundvoll genauso aufmerksam zu essen und zu trinken, wie wir jene erste Tasse Kaffee trinken. Und bald schon entdecken wir, dass Essen und Trinken Gebet sein kann. Wenn wir «ohne Unterlass beten» sollen, wie könnten wir da beim Essen und Trinken mit dem Beten aufhören?
[ST 16f., Quelle: FN 1) 42f.; 2-3) 45]
Anfängergeist
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Shams Kairys
Johannes Kaup: «Im Buddhismus gibt es eine zentrale Haltung, die man als Anfängergeist beschreiben könnte. Das ist im Englischen mit beginner's mind ein etwas missverständlicher Ausdruck, weil man meinen könnte, hier ginge es um den Gegensatz von unerfahrenen Schülern und erfahrenen Lehrern. Was ist dieser Anfängergeist, der auch für Sie sehr wichtig wurde?»
Bruder David: «Wer Anfängergeist hat, erlebt zum Beispiel jeden Tag so, als ob es der erste Tag wäre.
Mit Anfängergeist putzt man sich jedes Mal die Zähne so, als ob man sich noch nie die Zähne geputzt hätte.
Wenn man es einmal praktisch versucht, sieht man erst, was das für einen Unterschied im Leben macht. Wie interessant plötzlich alles wird, wie lebendig. Man bemerkt Dinge, die man vorher nie bemerkt hat. Darum sprechen buddhistische Lehrer vom typischen Dahinleben als einem Schlafwandeln. Ein schlafwandelnder Mensch wandelt eben durch die 24 Stunden des Tages dahin, aber ein wacher Mensch erlebt das Leben in voller Lebendigkeit. In diesem Sinn wach zu sein heißt, mit Anfängergeist zu leben. Bin ich nicht immer Anfänger? Ich habe ja diesen jeweils neuen Tag noch nie erlebt.»
Johannes Kaup: «Dieses Gespräch auch noch nicht. Wir haben schon ein paarmal miteinander gesprochen und es ist immer wieder neu. Wir fangen etwas Neues an, erkunden noch Unerhörtes. Ich jedenfalls komme mir auch immer wieder wie ein Anfänger vor.
Bruder David: «Das ist gut, das müssen wir beide ...»
Johannes Kaup: «… aus einem frischen Geist tun. Man könnte auch sagen, es geht darum, die Dinge von ihrem Ursprung her immer wieder neu und tiefer zu verstehen. Man versucht den Dingen auf den Grund zu gehen, zur Quelle zu gehen und nicht die fixierten Begrifflichkeiten, die Vorurteile, die gedanklichen Einbahnen, die Meinungen über Menschen und Sachen als Schablone zu übernehmen, sondern diese zurückzustellen und einzuklammern.»
Bruder David: «Jede Benennung ist schon eine Verallgemeinerung und sozusagen eine Ablage in irgendeiner Schublade. Solange ich etwas nicht benenne, bleibt es reines Erlebnis. Auch das gehört zum Anfängergeist: Ich habe noch keinen Namen dafür.
Wenn ich es benenne, erlebe ich es gar nicht so richtig, sondern der Name kommt zwischen das, was ich tue, und mein lebendiges Erleben. Es wird zur Gewohnheit.
Die Rabbiner sagen: Die Gewöhnung ist das eigentliche Exil.
Was war das eigentliche Exil? War es, in Babylon zu sein oder in Ägypten? Nein. Sie antworten: Das eigentliche Exil besteht darin, dass man sich daran gewöhnt. Das Exil ist die Gewöhnung.[1] Sobald wir uns an etwas gewöhnen, erleben wir es nicht mehr mit Anfängergeist, sondern sind im Exil.»
Johannes Kaup: «Ich möchte das doch noch mit dem Gedanken von vorhin in Verbindung bringen. Sie haben gesagt, Sie brauchen Ordnung, Stabilität und Wiederholung. Wie verträgt sich Ordnung, Stabilität und Wiederholung mit diesem Anfängergeist, der die Dinge immer wieder neu sehen, erleben und begreifen möchte, der sozusagen aus der Ursprünglichkeit heraus lebt?»
Bruder David: Vielleicht ist mir gerade deshalb Wiederholung so lieb, sogenannte eintönige Arbeit. Manche Brüder finden es langweilig, wenn wir gemeinsam die Rundbriefe ausschicken. Aber jeder Briefumschlag, in den man etwas hineinsteckt, ist neu: Diesen einen habe ich noch nie in der Hand gehabt.
Wenn wir im Augenblick leben, wird er für uns taufrisch und überraschend.
Diese Einsicht steht wohl auch hinter dem großen Versprechen Gottes in der Apokalypse: ‹Siehe, ich mache alles neu› (Offenbarung 21,5).
Wenn wir bewusst in Gott leben und weben und sind, dann wird alles jeden Augenblick neu.
Es meint nicht: An einem gewissen Punkt der Geschichte werde ich alles erneuern und von da an beginnt es wieder zu altern, nein. Vielmehr: Sieh her! Wach auf! Jeden Augenblick mache ich alles neu. Das ist das große Versprechen. Eigentlich gibt es also gar keine Wiederholung.»
Johannes Kaup: «Es ist paradox: Wir leben aus einer Quelle, die sich ständig schenkt. Zugleich zieht sich der Grund dieser Quelle zurück, ist nicht sichtbar und fassbar. Das beschreibt gut die Situation, in der wir leben. Wir können das unergründliche Geheimnis Gott nicht festhalten. Aber aus dem Anfängergeist heraus können wir entdecken, dass sich uns ständig etwas neu schenkt.»
Bruder David: «Der Quellgrund, der hinter dem Herausquellen liegt, ist ja noch nicht Quelle. Anfängergeist achtet jeden Augenblick auf das Herausquellen, auf den Ur-Sprung.»[2]
Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das TAO. Watercourse Way nennt Alan Watts das TAO auf Englisch. Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden.
Um mit dem TAO zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum ‹Anfängergeist› des Kindes zurückfinden.
Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt. ‹Du hast noch kein Ich, das sich von dem, was geschieht, unterscheidet›, wie Alan Watts es ausdrückt. ‹Deshalb geschieht Dir auch nichts. Es geschieht einfach.› Du nimmst teil, sagt er an ‹den wundervollen Tanzfiguren … fließenden Wassers›.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im ‹Fließweg›. Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.
Wie beim Baby ‹geschieht einfach› das Lebensbejahende, aber mit unsrer Zustimmung. Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.»[3]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f.)
[Ergänzend:
1. Musik der Stille (2023), S. 53:
«Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren, und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten. Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. Diese erfrischende Haltung, Dinge immer wieder neu zu betrachten, nennen buddhistische Mönche ‹Anfängergeist›.
Gelegenheit, diese Haltung einzunehmen, ist nicht nur Mönchen vorbehalten, sie ist allen zugänglich. Wie Rilke im Stunden-Buch sagt: ‹Nichts war vollendet, eh ich es erschaut.›[4] Niemand hat je gesehen, was ich sehe, weder mit meiner ganz eigenen Anschauungsweise noch von meinem ganz persönlichen Standpunkt aus. Ich bin Schöpfer eines jeden neuen Tages. Mir ist Gelegenheit gegeben, alles in diesem neuen Licht zu betrachten, und als der einmalige Mensch, der ich bin, dies zu würdigen und darauf zu antworten.»
2. ‹Es nicht benennen›:
2.1. Schmecken, Ahnen, Weisheit:
«Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns ‹langsam namenlos› im Munde.»
Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal
2.2. Riechen, Düfte, Erinnerung:
«Solange man dem nicht einen Namen gegeben hat, war es ein großes Erlebnis. Und dann sagt man ‹pille› (‹bitter›) und aus ist es, abgestempelt. Aber solange man nicht benennt, hat es einen ungeheuren Effekt. Und so ist es auch nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Geruch. Und das sollte man immer wieder mal ausprobieren: nicht benennen: ‒ erleben!»
Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(43:44) ‹Der Duft› (Rilke, aus dem Nachlass) – ‹Rose, du thronende› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, VI)
2.3. Stille zulassen:
«In einem Kloster, das ich besuchte, trieb das Kreischen der Kreissäge beim Nachbarn eine der Schwestern buchstäblich die Wände hoch. ‹Wie kann denn so ein Geräusch Gabe Gottes sein?› Mein Vorschlag war: nur hinhorchen; nicht benennen. Und in diesem Fall wirkte es. ‹Ich hab's versucht›, berichtete die Schwester nach ein paar Tagen, ‹und was ich da hörte, klang wie die Stimme eines Erzengels!› Zwar verstehe ich mich nicht auf die Unterscheidung von Engelstimmen, aber ich glaube, mir würde schon die Stimme eines ganz gewöhnlichen Engels genügen.»
Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011)
Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch:
(13:52) Wie wir Stille finden können, wenn Lärm und Geräusche uns stören / (17:47) Die Tiefe des menschlichen Herzens, diese Tiefe liegt hinter allem: diese sehr tiefe Traurigkeit, die gehört dazu, und das Heimweh der Menschen liegt am Grund von allem Lärm]
__________________
[1] Siehe auch Sakramentales Leben: ‹Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.›
[2] Ich bin durch Dich so ich (2016): 5. Dialog, 1966-1976, 103-105
[3] Orientierung finden (2021): ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 88f.]; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.1.
[4] ‹Da neigt sich die Stunde und fasst mich an›: Das Gedicht, mit dem Rilke das Stundenbuch eröffnet, in Sehen ‒ schöpferisches Schauen, Sinn und Feier, Anm. 2, Stop ‒ Look ‒ Go, Anm. 2
Angst
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
(Video 00:00) Geburt gilt überall in der Welt als ein freudiger Anlass; und sie ist es auch. Aber wir wollen nicht vergessen, um welchen Preis diese Freude erkauft werden muss, was beide, die Mutter und auch das Neugeborene, da durchleiden müssen.
Nachdem meine arme Mutter mit mir als Erstgeborenem mehr als 24 Stunden lang in Wehen lag, bis ich dann (nicht mit dem Kopf, sondern mit der rechten Hand zuerst) ans Tageslicht kam, hat das sicher auch mich allerhand gekostet und hat mein Lebensgefühl wohl entscheidend geprägt. Aber wir haben’s geschafft.
Ja, alle von uns dürfen rückschauend sagen: «Wir haben’s geschafft!» – rückschauend nicht nur auf unsere Geburt, sondern auf jede Lebenslage, die uns in die Enge trieb und uns Angst machte.
Angst und Enge sind ja im Deutschen wurzelverwandte Wörter und sicher nicht zufällig; unser menschliches Urerlebnis von Angst ist ja die Enge des Geburtskanals. Durch diese Enge gehen wir aber noch mit instinktiver Bereitschaft hindurch; erst später müssen wir mühsam erlernen, uns auf jede Angst so furchtlos einzulassen, wie uns das bei unserer ersten Angst spontan gelang.
Furchtlos ist da das entscheidende Wort.
Angst ist im Leben unvermeidlich; zwischen Furcht und Mut aber können wir wählen:
Furcht sträubt sich gegen die Angst (und bleibt so in der Enge stecken); Mut lässt sich voll Vertrauen auf die Angst ein (und findet so den Weg ins Weite). Mut nimmt dabei die Angst nicht weg; im Gegenteil: Wer nicht Angst hat braucht ja keinen Mut und hat auch keinen.
Wer aber mitten in der Angst aufs Leben vertraut, den führt das Leben durch jede Angst zu einer neuen Geburt. Zum Beweis genügt es, wenn wir zurückblicken auf die Engpässe unseres Lebens: Je drückender die Beängstigung, umso strahlender das überraschend Neue, das daraus hervorgeht. Es hilft mir, mich immer wieder daran zu erinnern.
Erinnerung an diese Lebenserfahrung kann uns allen helfen, besonders in Zeiten einer «großen Bedrängnis, wie sie nicht war vom Anfang der Welt bis jetzt.» (Mt 24,21).
Ja, Ängste bedrängen uns von allen Seiten und sie zu leugnen, wäre selbst Ausdruck eines furchtsamen Sträubens gegen nüchternes Hinschauen auf die gegebene Welt.
Was wir dennoch feiern dürfen ist unser Lebensvertrauen und den Lebensmut, der daraus aufblüht «mitten im kalten Winter.»
Das Kind, mit dem unsere Welt in Wehen liegt, ist eine ganze Menschheit mit neuem, höherem Bewusstsein. Diese Neugeburt verantwortungsbewusst und bereitwillig durchzustehen, darum geht es.
In großer Hoffnung auf das überraschend Neue, das nicht ohne unsere äußerste Anstrengung geboren werden kann und doch reines Geschenk ist, grüße ich Euch, Herz zu Herz, Euer Bruder David.
[Adventsbrief 2015; nachgesprochen auch als Video (2020)]
[Ergänzend:
1. ANGST, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 129f.:
«Angst und Furcht sind zwei Wörter, die im sorgfältigen Sprachgebrauch nicht verwechselt werden sollten.
Angst lässt sich im Leben nicht vermeiden. Sie ist die unwillkürliche Reaktion auf Bedrohliches und löst körperliche Veränderungen aus. Dazu gehört ein Gefühl der Enge und Beengung in Brustkorb und Kehle. Diese Enge ‒ im Lateinischen «angustia» ‒ gibt der Angst ihren Namen.
Wir können nun durch die Bedrohung, die Angst auslöst, mutig hindurchgehen; wir können aber auch innerlich Widerstand leisten und uns innerlich sträuben.
Das Sträuben gegen die Angst heißt Furcht.
Was den Unterschied zwischen den beiden ausmacht, ist das Lebensvertrauen, auf das der Mut sich stützt.
Denn der Furcht fehlt Vertrauen.
Das Urerlebnis von Angst ist die Geburt. Die Ur-Enge, durch die wir hindurchmüssen, ist der Geburtskanal. Was wir als Embryo bei der Geburt instinktiv tun, das verlangt das Leben von uns immer wieder: dass wir uns dem Fließweg des Lebens anvertrauen. Sooft wir das tun, führt uns die Angst zu einer neuen Geburt. Wir dürfen dies selbst von der Todesangst erhoffen.»
2. Video
2.1. Im Video-interview (Transkription) (2017) mit Ramon Pachernegg spricht Bruder David über den Zusammenhang von Ich und Selbst / Ich und Ego und den Unterschied von Angst und Furcht:
(21.45) «Angst ist unvermeidlich im Leben. Jeder Mensch hat immer wieder Angst.
Das heißt: Angst hängt zusammen mit dem Wort Enge:
Wir kommen immer wieder in die Enge, wir kommen sogar schon in die Welt durch die Enge des Geburtskanals ‒ das ist unsere Urangst ‒, aber wir kommen furchtlos, denn wir haben den Instinkt, uns aufs Leben zu verlassen und durchzugehen. So kommen wir ins Leben.
Und immer wieder, wenn wir in die Enge kommen und furchtlos durch diese Angst durchgehen ‒ ‹ja, ich habe Angst, aber ich fürchte mich nicht› ‒, dann kommt eine neue Geburt.»
2.2. Im Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (Mitschrift) (2019) spricht Bruder David ebenfalls über Angst und Furcht im Zusammenhang mit Lebensvertrauen:
(08:37) «Wodurch wird Euer Lebensvertrauen herausgefordert? Durch Angst. ‒ Durch Angst.»
3. Audios
3.1. Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün und Johannes Kaup
Teil 2: Wer bin ich? ‒ Die Entdeckung des Selbst über Kontemplation:
(16:58) Hilfreich ist, Angst und Furcht zu unterscheiden
3.2. Fülle und Nichts (1996):
(19:17) Das Gegenteil von Glaube ist nicht Unglaube, sondern Misstrauen, Angst / (20:09) Vertrauender Glaube hält Überzeugungen fest, aber doch leicht / (21:14) Aber nichts verbessert sich, wenn wir uns jetzt noch vor der Angst ängstigen. Warum betrachten wir nicht stattdessen Angst als notwendige Voraussetzung für Mut? / (22:12) Wie den Hanserl unterweisen? / (24:05) Angst, unvollkommen zu sein / (24:34) Angst treibt uns immer tiefer genau in das hinein, was wir fürchten – Unterschied von Angst und Furcht / (25:37) Angstbesetzte Idealvorstellungen von Vollkommenheit, Gott, Vollendung und das Wagnis des Glaubens / (28:17) Die Angst, unnütz zu sein / (33:00) Angst vor Misserfolg – Gelassenheit üben / (34:35) Angst, nichts Besonderes zu sein / (36:25) Angst, nicht genug zu wissen – Sich ergreifen lassen (Bernhard von Clairvaux) / (38:50) Die Angst, nicht anerkannt zu werden / (40:33) Die Angst vor Enttäuschung – Mut, durch jede Enttäuschung zur Wahrheit zu gehen / (41:56) Angst, schwach zu sein / (43:19) Angst vor dem Neuen
3.3. Die Kraft der Visionen (1991): Bruder David im Gespräch mit Baker Roshi:
(39:37) «Die Angst ist heute die stärkste Waffe derer, die die Welt zerstören»]
Arbeit ‒ Gebet
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Norbert Kopf
Die Hymne der Prim beginnt mit den Worten: «Die Sonne ist aufgegangen»[1]. Die ersten beiden Stunden waren eher besinnlich. Jetzt ist die Bühne bereit für die Handlung. Die Prim ist die Stunde der Arbeitsverteilung. Dabei richtet sich das Augenmerk auf einen angemessenen Beginn. Es ist wesentlich, dass die Anforderungen und Beschäftigungen des Tages aus ganzem Herzen und mit Begeisterung angefangen werden.
Der Ort der Prim ist der Kapitelsaal, wo die Mönche zusammenkommen, um die praktischen Fragen der Gemeinschaft zu besprechen. Die Arbeit wird gemeinschaftlich verteilt. Und auch wenn wir Mönche oft tagsüber lange Zeit allein arbeiten, so ist es dennoch eine gemeinsame Arbeit.
Robert Frost drückte dies sehr schön aus, als er sagte, dass Menschen immer zusammenarbeiten, «ob sie gemeinsam arbeiten oder getrennt».
Frost berichtet von einem Landarbeiter, der frühmorgens hinausgeht, um das Heu zu wenden. Der Mäher hatte seine Arbeit bereits viel früher am Morgen getan und war längst weggegangen. Und nun fühlt sich dieser Mann beim Heuwenden etwas verlassen und einsam und sagt sich: «Ich muss allein sein ‒ genauso wie der andere es war, wie alle es sein müssen», so sinniert er in seinem Herzen, «ob sie zusammenarbeiten oder getrennt.»
Dann aber wird seine Aufmerksamkeit von einem Schmetterling auf ein Blumenbüschel gelenkt, das der Mäher stehengelassen hat, weil es zu schön war, um abgemäht zu werden. Das gemeinsame Erlebnis der Schönheit dieser Blumen bewegt ihn, sich anders zu besinnen: «Und gleichsam träumend unterhielt ich mich brüderlich mit jemandem, den ich nicht einmal in Gedanken zu erreichen hoffte.»
«Menschen arbeiten gemeinsam», sagte ich ihm von Herzen, «ob sie zusammen arbeiten oder getrennt.»
Seine plötzliche Einsicht machte ihm klar, dass Arbeit immer Gemeinschaftsarbeit ist, ob wir das nun erkennen oder nicht. Alle Arbeit ist miteinander verflochten.[2]
Natürlich gibt es Arbeit, die sich eigentlich nicht lohnt. Aber selbst wenn es sich nur um Handgriffe an einem Fließband handelt, dürfen wir doch hoffen, dass sie Menschen irgendwo in der Welt helfen, mit denen wir in Gemeinschaft arbeiten, obwohl wir ihnen nie begegnen werden.
Auch dieser Gedanke ist wiederum mit dem Choral verknüpft: Man singt ja gemeinsam mit anderen, und gerade deshalb ist der Gesang so schön. Es ist nicht nur eine Stimme, die singt, sondern da singt eine Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft singt nicht einfach nur, sondern sie singt ganz bewusst mit der gesamten Schöpfung, mit den Vögeln, den Bäumen, dem Wasser und den Engeln, mit der sichtbaren und unsichtbaren Kreatur.
Die Arbeit frisst uns mit ihren Forderungen auf, wenn wir sie nicht bewusst angehen. Dann werden wir zu Sklaven, ganz egal, wie weit oben auf der Leiter wir stehen! Nur wenn wir lernen, bewusst zu beginnen mit Anhalten, Hinschauen und Vorangehen, kann uns die Arbeit nicht unterjochen. Mönche wenden sich bewusst der Arbeit zu, so wie der Augenblick es erfordert; und sie lassen alles stehen und liegen, wenn die Glocke erklingt. Sie beweisen damit, dass sie nicht dem Gesetz der Arbeit unterstehen, sondern frei sind, sie immer dann loszulassen, wenn die Zeit gekommen ist.
Gehen wir nicht absichtsvoll und achtsam mit unserer Arbeit um, werden wir zu ihrem Sklaven und fühlen uns schließlich entfremdet und leer. Sogar Arbeit, die wir nicht gerne verrichten und für sinnlos halten, kann Sinn gewinnen, wenn wir uns bewusst und oft daran erinnern, warum wir sie tun.
Solange wir unsere Arbeit aus Liebe tun für diejenigen, die uns etwas bedeuten, macht sie Sinn. Die Liebe ist der beste Grund für unsere Mühsal. Liebe verwandelt alles, was wir tun und erleiden, zu einer Musik, die sich erhebt und weit hinaufschwingt wie ein Lobgesang.[3]
Diese Erde ist uns gegeben worden, damit wir mit ihr arbeiten. Wenn wir sie bebauen, erlangen wir ein tieferes Verständnis der göttlichen Wirklichkeit, die jeden Teil der Schöpfung erfüllt.
Rilke sagt in einem seiner Gedichte an Gott: «Du wirst nur mit der Tat erfasst.» Das Wort «erfassen» beinhaltet sowohl, etwas in Händen zu halten, zu fassen, als auch mit der Hand in etwas hineinzugreifen, wie beispielsweise beim Formen von Ton. Nur auf diese Weise erfassen wir die göttliche Wirklichkeit.
Manche glauben, dass wir das Göttliche umso mehr erfassen, je weiter wir uns von der Materie entfernen. Der Schöpfungsgeist betont jedoch zu Recht, dass wir das Göttliche im Materiellen entdecken. So wie das Blumenbüschel der Punkt war, an dem der Mäher und der Mann, der das Heu wendete, miteinander in Berührung kamen, ist die Materie unser Berührungspunkt mit dem Göttlichen.
Im Kloster ist es wichtig, die Arbeit als Herausforderung anzunehmen und nicht nur als eine Haushaltspflicht. Es ist nie dieselbe Aufgabe wie gestern: Heute ist ein neuer Tag, eine neue Herausforderung und eine neue Gelegenheit.
Im Kloster lernen wir, unsere Arbeit zu genießen, während wir sie tun ‒ wir tun sie um ihrer selbst willen und nicht einfach, damit sie getan ist oder damit wir sie erledigt haben.
Wir müssen lernen, unserer Neigung zu widerstehen, uns in die Dinge zu stürzen und unsere Beschäftigungen im Eilzugstempo hinter uns zu bringen. Unsere Zivilisation lehrt uns: «Zeit ist Geld»; sie fasst Arbeit als ein notwendiges Übel auf, lediglich ein Mittel zum Zweck. Wir wollen sie hinter uns bringen. Wenn wir die Stunden zusammenzählen, die wir in unserem Leben damit verbracht haben, etwas hinter uns zu bringen, dann macht das wohl leicht die Hälfte unseres Lebens aus.
Die mönchische Haltung aber besteht darin, gezielt etwas anzugehen und alles, was wir tun, in einem bedächtigen, gemessenen Tempo und mit voller Aufmerksamkeit zu vollbringen. So arbeiten Handwerkmeister, Weber, erfahrene Bauern und andere verständige Arbeiter. So können auch schwierige Aufgaben gemächlich, freudig und um ihrer selbst willen gelöst werden. Und somit werden sie zu Lebensspendern.
Wenn während der Prim die Arbeit verteilt wird, heißt das zugleich die Arbeit zu segnen als auch sie zuzuweisen. Wir bitten darum, dass Gott unsere Handlungen lenken möge. Wenn wir unsere Arbeit so tun, wird alles zu einem Gebet. Das ist keineswegs eine engstirnige, fromme Anschauung. Um mit Rilke zu sprechen:
«Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
dass sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.»[4]
Alles, was wir im Angesicht Gottes tun, ist Gebet. Auf diese Weise werden unsere Hände geheiligt und gesegnet. Sie können nichts schaffen, was nicht betet.
«Ob einer malte oder mähte», fährt der Dichter fort, «schon aus dem Ringen der Geräte entfaltete sich Frömmigkeit.» Wird etwas richtig begonnen und unsere Handlungen mit unseren besten Absichten in Einklang gebracht, dann ist alles, was wir tun, Gebet. Die Prim ist jene Stunde des Tages, in der wir nicht darum beten, etwas hinter uns zu bringen, sondern darum, dass alles, was wir tun, zum Gebet werde.
Alle Experten für Zeitmanagement raten uns, damit zu beginnen, den Tag zu planen. Wenn wir tatsächlich innehalten und uns Zeit nehmen, vorauszudenken und gezielt vorzugehen, dann werden wir die Prioritäten deutlich erkennen und können uns mit Erfolg einsetzen.
Die Prim ermöglicht uns, die Gelegenheit wahrzunehmen, im Voraus unser Gewissen zu erforschen und darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. Wir setzen die Prioritäten, so wie sie unseren innersten Gefühlen entsprechen. Wir können uns nochmals daran erinnern, was wir gestern Abend zur Komplet aus der Tagesrückschau gelernt haben und was wir besser machen wollten.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f., 5]
[Ergänzend:
1. ‹Ora et labora›:
1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen (2011)
Spiritualität und Ökonomie:
(50:58) Würde der Arbeit und des Arbeiters: ‹Ora et labora› ‒ Fest für die Straßenarbeiter in Tassajara (Zen Mountain Center)
1.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019); siehe auch Sakramentales Leben:
«… Darum scheint mir manchmal, dass dankbar leben sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird ‒ und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).
Rainer Maria Rilke ist ganz im Einklang mit unserem Ordensvater, wo er diese Wahrheit dichterisch ausdrückt – und zwar so, dass sie nicht nur für Mönche gilt, sondern für alle Menschen:
‹Es gibt im Grunde nur Gebete.›
So wie das Tagewerk zum Gebet wird, so wird auch das Gebet zum Werk, zum ‹opus Dei›, wie der heilige Benedikt das Chorgebet nennt.»
2. «Du wirst nur mit der Tat erfasst» (Rilke: Das Stunden-Buch):
2.1. Lebendige Spiritualität (2015): Vier Gesprächsabende mit Texten von Rainer Maria Rilke
Verstehen durch Tun:
(06:54) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› – ‹Sprich mir aus überall› (‹Du wirst nur durch die Tat erfasst› – Das nackte Du
(13:56) ‹Es gibt im Grunde nur Gebete› (‹Alle, die ihre Hände regen›) … entfaltete sich Frömmigkeit: ‹Pietas› und Dankbares Leben / (17:57) Im Gespräch mit P. Johannes – ‹Contemplatio in actione›: Das göttliche Tun in unserem Tun
2.2. Das Gedicht in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 63-67
3. Den großen Tanz beten (1998) [siehe auch diesen Text, übersetzt von Bernardin Schellenberger, im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 1: ‹Lernen wie man in Stille betet›, 17f.]:
«Zu einer dritten inneren Welt [des Gebetes] ist das Tun der Schlüssel, liebevolles Tun. Sicher liegen Welten zwischen dem Gebet des Tuns und dem der Stille oder des Wortes. Hier bin ich mit Gott nicht übers Horchen und Antworten verbunden, auch nicht durch das Eintauchen in die Stille, sondern durch das Tun.
Was immer ich liebevoll tun kann, kann zu einem Gebet des Tuns werden.
Es ist auch nicht nötig, dass ich während dem Arbeiten oder Spielen unbedingt an Gott denke. Manchmal wäre das kaum möglich. Wenn ich ein Manuskript korrigiere, konzentriere ich mich wohl besser auf den Text als auf Gott. Wenn meine Gedanken zwischen beiden hin- und her gerissen sind, werden mir die Tippfehler entschlüpfen wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz.
Gott wird genau in dieser liebevollen Achtsamkeit anwesend sein, die ich der Arbeit entgegenbringe, welche mir anvertraut ist. Indem ich mich ganz und liebevoll dieser Arbeit hingebe, gebe ich mich ganz Gott hin. Dies geschieht nicht nur in der Arbeit, auch im Spiel, beim Reden, beim Beobachten von Vögeln oder beim Anschauen eines guten Videos. Wenn es mich in Gott erfreut, muss sich Gott darüber in mir erfreuen. Ist nicht dieses Einssein das Wesen des Betens?»
3. Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 294-296, 300f.; siehe auch Kontemplation im Handeln: Ergänzend: 5.; Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:
«Gott vollendet sich nicht ohne unser Zutun. Gott vollendet sich aber auch trotz unseres Versagens. … Und Gott ist immer noch größer. Wir bauen an Gott, wir bauen am Bild Gottes, und dieses Bauen ist Kontemplation.»
«Das also ist Kontemplation im tiefen Sinne, diese Verbindung von schauen und bauen. Wenn wir das in jedem Bereich unseres Lebens durchführen, dann kann der Dichter sagen:
‹Es gibt im Grunde nur Gebete.›
Solange wir im Mysterium verwurzelt bleiben, solange unser Bauen im Schauen verwurzelt bleibt, im Mysterium, solange unser Handeln im Grunde der Kontemplation verwurzelt bleibt und unsere Arbeit in der Dunkelheit des Schweigens, aus der wir stammen, im Mystischen, so lange ist alles Gebet.
Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift.
Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:
‹Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.
Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift›
(Rilke, Das Stunden-Buch)»
4. Sterben lernen (2005); siehe auch Sterben und Wandlung
«Das Mönchsleben ist ein Weg, um sich radikal der Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. In einem solchen Leben kann man nicht im Zweck stecken bleiben: Zwar gibt es viele Zwecke, die Mönche verfolgen, aber sie sind alle zweitrangig. Als Mönch bist du vollkommen überflüssig, und darum kannst du der Frage nach dem Sinn nicht ausweichen.»
5. Der Mönch in uns (1978) [die folgenden Abschnitte sind im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63, übersetzt von Bernardin Schellenberger, nicht enthalten]:
«Ich möchte jetzt gerne ein paar Bemerkungen zum mönchischen Leben machen. Erstens ist das Klosterleben eine besondere Art von Leben. Das Kloster ist ein besonderer Ort und eine besondere Umgebung. Man könnte es eine professionelle Umgebung, eine kontrollierte, geregelte Umgebung, ein Labor, eine Werkstatt nennen. Und in der Tat nennt die ‹Regel des Heiligen Benedikt›, eines der Schlüsseldokumente unserer abendländischen Tradition des Mönchstums, das Kloster eine Werkstatt. Es ist ein Ort, an dem alles darauf ausgerichtet ist, jene kontemplative Dimension zu pflegen, von der wir gesprochen haben, jene mystische Einstellung zu pflegen, jenes Offensein für den Sinn, das wir alle in unseren Gipfelerfahrungen kennengelernt haben.
Wir alle sind also in unserem Leben in gewissem Sinne Amateure des mönchischen Lebens. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Mönchen besteht darin, dass die Mönche Fachleute sind. Aber gerade in unserer Zeit wissen wir, dass die Fachleute sehr oft in ihrem Fach weniger leisten als manche Amateure. Deshalb: je mehr Menschen entdecken, wie wichtig der Mönch in ihnen ist, und je mehr sie entdecken, wie wichtig das Offensein für den Sinn ist, umso wichtiger wird es, dass jeder, Amateur oder Fachmann, ab und zu Zugang zu dieser geregelten Umgebung bekommt, in der er die mönchische oder kontemplative Dimension seines Lebens fördern kann.»]
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[1] «Iam lucis orto sidere
Deum precemur supplices
Ut in diurnis actibus
Nos servet a nocentibus.»
1. Strophe des Hymnus von Aurelius Ambrosius (339/40-397), übersetzt von Adalbert Schulte:
«Da sich nun das Tagesgestirn erhoben hat,
so wollen wir Gott flehentlich bitten,
dass er uns bei den Geschäften des Tages
vor schädlichen Dingen bewahre.»
[2] Musik der Stille (2023), 66f.
[3] Ebd. 74f.
[4] R. M. Rilke: ‹Alle, die ihre Hände regen› (Das Stunden-Buch)
[5] Musik der Stille (2023), 67-70
Arbeit, Spiel, Muße
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Norbert Kopf
Aber nur wenige Worte aus unserem Sprachgebrauch werden so sehr missverstanden wie das Wort Muße.
Das wird sofort deutlich, wenn wir von Arbeit und Muße als einem Gegensatzpaar sprechen. Heißen die beiden Pole aller Aktivität wirklich Arbeit und Muße? Wenn dem so wäre, wie könnten wir dann von einem Arbeiten in Muße sprechen? Das wäre ein offensichtlicher Widerspruch. Und doch wissen wir, dass es ganz und gar kein Widerspruch ist. Tatsächlich ist es so, dass jede befriedigende Arbeit mit Muße verrichtet werden will.
Was also ist nun das Gegenteil von Arbeit, wenn es nicht Muße ist? Es ist das Spiel. Arbeit und Spiel ‒ das sind die beiden Pole aller Aktivität. Und was wir über Zweck und Sinn gelernt haben, wird uns hier helfen, dies klarer zu erkennen.
Wann immer du arbeitest, dann tust du das, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Gäbe es diesen Zweck nicht, dann hättest du etwas besseres zu tun. Arbeit und Zweck sind so eng miteinander verknüpft, dass deine Arbeit endet, sobald dein Zweck erreicht ist. Oder willst du dein Auto weiter reparieren, wenn es bereits wieder läuft? Das mag weniger offensichtlich sein, wenn du den Boden fegst. Ist es nicht möglich, den Boden weiter zu fegen, selbst dann, wenn sich kein Staubkörnchen mehr findet? Nun, du kannst natürlich mit dem Besen weiterfegen, wenn es dir Spaß macht, aber dein Zweck ist längst erreicht, und damit endete die Arbeit als solche. Früher oder später wird dich sicherlich jemand fragen, warum du noch immer mit dem Besen herumspielst. Was einmal Zweck hatte und Arbeit war, ist jetzt eben zum Spiel geworden.
Beim Spiel liegt die gesamte Betonung auf dem Sinn der Aktivität. Sagst du deinen Freunden, dass es dir außerordentlich sinnvoll erscheint, an einem Freitagabend mit einem Besen herumzutanzen, dann mögen sie dich zwar verwundert anschauen, ernsthaft widersprechen können sie hingegen kaum. Spiel braucht kein Ziel. Darum kann das Spielen immer weitergehen, solange die Spieler es für sinnvoll halten. Schließlich tanzen wir ja nicht, um irgendwo hinzukommen. Wir tanzen im Kreis.
Eine Symphonie endet nicht, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Genau genommen hat sie keinen Zweck. Es ist spielerische Sinnentfaltung, die sich in jedem ihrer Rhythmen, in jedem Satz und jedem Thema offenbart: Sinn zu feiern, darum geht es.
Menzlers Kanon ist eine der großartigen Überflüssigkeiten des Lebens. Wann immer ich ihm zuhöre, erkenne ich aufs Neue, dass einige der überflüssigsten Dinge die notwendigsten für uns sind, weil sie unserem menschlichen Leben Sinn verleihen.
Wir sollten darauf achten, dass wir nicht Muße und Arbeit gegeneinander ausspielen. Muße ist die Ausgewogenheit von Arbeit und Spiel. Muße wird beiden gerecht.
Aber selbst das könnte missverstanden werden. Zu hastig könnte jemand sagen: «Jawohl, wenn Spiel, dann Spiel; wenn Arbeit, dann Arbeit. Jedes zu seiner Zeit. Eine perfekte Balance, nicht wahr?» Nicht besonders perfekt, wie mir scheint. Geht mir perfekte Arbeit nicht auch spielerisch von der Hand? Menschen, die ihre Arbeit mit nichts als ihrem Ziel vor Augen verbringen, wissen kaum mehr, was spielen heißt, wenn ihre Freizeit schließlich anfängt.[1]
(Video 34:54) «Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.»[2]
«Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
«Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, ‹gute Arbeit› ist wie ein kosmisches Ballspiel, ‹wie ein heiliger Tanz.›»[3]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3]
[Ergänzend:
1. Schlüsselwort ‹Arbeit/Spiel›, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 165 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 166]:
«Menschliches Handeln ist von zweierlei Art: Arbeit und Spiel. Wir arbeiten, um einen nützlichen Zweck zu erfüllen. Aber wir spielen aus sinnvollem Vergnügen. Spiel ist in sich selbst sinnvoll. Wir können in unserer Arbeit dermaßen zweckorientiert werden, dass wir selbst nach der Arbeit nicht länger spielen können; bestenfalls können wir uns eine weitere Runde Arbeit verschaffen. Nützlichkeit verdrängt unser Vergnügen. Welch eine Zeitverschwendung! Aber wir können Arbeit davor schützen, zu bloßer Plackerei zu werden. Wir können lernen, spielerisch zu arbeiten. Das aber bedeutet, unsere Arbeit nicht nur im Blick auf ihre brauchbaren Resultate zu verrichten, sondern auch wegen des Vergnügens, das wir dabei empfinden, wenn wir sie aufmerksam und dankbar verrichten. Dankbare Arbeit ist spielerische, gelassene Arbeit. Nur gelassene Arbeit ist auf lange Sicht fruchtbar. Nur wenn wir spielerisch arbeiten, sind wir wirklich lebendig.»
2. Sterben lernen (2005); siehe auch Muße:
«Diese innere Einstellung, sich selbst hinzugeben, ein Gehenlassen von Augenblick zu Augenblick ist es, was uns so besonders schwer fällt, doch kann man es anwenden auf beinahe jedem Gebiet unserer Erfahrung.
Wir haben zum Beispiel die Zeit erwähnt. Da ist das ganze Problem der Freizeit, wie wir sie nennen, der Entspannung und Muße.
Wir denken uns als ein Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen (dieses ewige ‹Nehmen›!), während sie in Wirklichkeit überhaupt kein Privileg ist. Muße ist eine Tugend, und zwar eine, die jeder sich leisten kann. Es geht hier nicht darum, sich Zeit zu nehmen, sondern Zeit zu geben, ‹sich Zeit zu lassen›.
Muße ist die Tugend derjenigen, die sich Zeit nehmen für was immer es ist, das Zeit braucht ‒ dieser Angelegenheit so viel Zeit schenken, wie sie benötigt. Das ist der Grund, warum Muße für uns beinahe unerreichbar ist. Zu sehr sind wir ausgerichtet auf Nehmen, auf Aneignen. Und so gibt es mehr und mehr freie Zeit ‒ und immer weniger Muße. In früheren Jahrhunderten, als für alle viel weniger freie Zeit zur Verfügung stand und es keine ‹Ferien› gab, da entspannten sich die Leute während der Arbeit. Heute arbeiten sie hart, um sich zu entspannen.
Es gibt Leute, die arbeiten von morgens um neun bis abends um fünf mit der Einstellung: Lasst es uns erledigen, lasst uns die Sache an die Hand nehmen. Sie sind vollkommen zweckorientiert, und wenn es endlich fünf Uhr ist, sind sie so erschöpft, dass sie keine Zeit mehr haben für richtige Muße. Wer nicht entspannt arbeitet, kann auch nicht entspannt spielen. So kommt es zum Zusammenbruch, oder die Leute nehmen ihren Tennis- oder Golfschläger und fahren fort mit der Arbeit, die dann ‹Freizeittätigkeit› genannt wird.»
3. Der Mönch in uns (1978) [dieser Text findet sich, übersetzt von Bernard Schellenberger, weitgehend auch im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63]; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014): Kernsätze zum 9. und 10. Mai:
«Arbeit ist diese besondere Art von Aktivität, die auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist, und wenn dieser erreicht ist, hört die Arbeit auf.»
«Gewöhnlich denken wir, dass das Gegenteil von Arbeit Muße ist. Muße ist nicht das Gegenteil von Arbeit. Spiel ist das Gegenteil von Arbeit, wenn du einen Gegensatz haben willst. Und die Muße überbrückt die Lücke zwischen Arbeit und Spiel. Muße ist, seine Arbeit in der Haltung des Spielens zu tun.»
4. Im Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-14, geht Bruder David ausführlich ein auf den Zusammenhang von Sinn und Zweck, Arbeit Spiel und Muße, Kontrolle und Hingabe, Sinn und Feier, Sterben und Wandlung ein:
«Beachten Sie, dass wir Sinn und Zweck nicht gegeneinander ausspielen. Es geht uns nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-Als-auch. Wir müssen unterscheiden, aber wir dürfen nicht trennen. Das gilt auch von den Begriffen Arbeit und Spiel. Die beiden sind miteinander verbunden in dem Begriff von Muße. Muße ist freilich ein oft missverstandener Begriff. Verwechseln wir nicht allzuoft Muße mit Müßiggang? Muße ist aber keineswegs Untätigkeit. Wie könnten wir sonst mit Muße arbeiten? Und wir wissen doch, dass die beste Arbeit in Muße geleistet wird. Diese echte Muße ist aber die Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Spiel.
Nun missverstehen wir das oft so, dass wir meinen, man müsse zuerst arbeiten und nichts als arbeiten, um dann endlich zum Lohn spielen zu können. Wenn man aber nicht schon spielerisch arbeitet, dann kann man auch nachher nicht spielen. Kennen wir nicht Leute, die während der Arbeitszeit wie wild arbeiten und dann nachher entweder erschöpft zusammenbrechen oder während der Freizeit einfach weiterarbeiten, nur jetzt mit Spielzeug als Werkzeug? Sie kommen aus der Zwangsjacke der Zweckgerichtetheit einfach nicht heraus. Wenn man nicht schon mit Muße arbeitet, kann man auch nicht mit Muße seine Freizeit gestalten.
Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fallt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?»]
___________
[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 67-69 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 66f.
[2] Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription; siehe auch Tasten, berühren, behüten: Ergänzend: 1.
[3] Orientierung finden (2021): ‹Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens›, 108f.; siehe auch Fließweg
Askese
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
Man verbindet Mönchstum und Mönchsein oft mit Askese, und das ist auch richtig. Aber oft glaubt man, Askese bedeute, dass man die Sinne verleugnet, und das ist ein Irrtum. In spirituellen Überlieferungen wie etwa dem Zen lernen wir, dass Askese eine Disziplinierung der Sinne bezeichnet, durch die man die Fähigkeit entwickelt, jede Daseinsdimension mit gesteigerter Sensibilität zu erleben. Das wurde in Blütezeiten seit jeher vom Mönchstum in jeder Tradition betont. Für einen wahrhaft aufnahmebereiten Gaumen ist Quellwasser sehr wohlschmeckend.
Richtig verstanden bedeutet Askese üben. Das Wort kommt vom griechischen askesis, dem Üben der Athleten. Wenn wir Lebensqualität suchen, dann üben wir, entwickeln Methoden, verfeinern unsere Sprache, achten auf unsere Bewegungen und ernähren uns sorgfältiger. So geschieht es auch mit unserem spirituellen Wachstum. Wer sich beispielsweise besser ernähren will, muss vielleicht auf Dinge verzichten, die gut schmecken oder sonst verlockend sind. Wem aber etwas am Gesundsein liegt, wird daran arbeiten, wird seine Ernährung verbessern, wird vielleicht sogar seinen Geschmack verändern und bald feststellen, dass man dabei auf nichts verzichten muss, was man wirklich braucht. So geht es auch bei der Askese. Der erfahrene Läufer, der gesunde Feinschmecker, der Musikvirtuose, der meisterhafte Gärtner ‒ jeder, der aus Leidenschaft für Spitzenleistungen auf irgendeinem Gebiet eine disziplinierte Kunst daraus macht ‒ verzichtet gern auf einiges, um durch Übung eine Vollkommenheit zu erlangen, die eine außerordentliche Vitalität und Freude zur Folge hat. [ST 20f., Quelle: MS 5) 56-58]
Augenblicke dankbar leben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Elisabeth Glücks
Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzige passende Antwort. (3. Februar)[1]
Die rückhaltlose Aufgeschlossenheit für das Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks inspiriert uns zum Hinschauen und Überlegen, was wir tun können, so wenig es auch sein mag. Wenn genügend Menschen fragen: «Was können wir tun?», dann werden wir Lösungen für unsere dringendsten Probleme finden. (4. Februar)[2]
In jedem Augenblick wird alles, was es gibt, uns neu geschenkt, und wir können es in Dank verwandeln. Das Wesen göttlicher Schöpfung ist Geschenk, das Wesen menschlicher Schöpfung ist Dankbarkeit. Durch diesen Austausch nehmen wir teil am göttlichen Leben selbst. (5. Februar)[3]
Dankbares Leben ist ein Weg zum Heilwerden der Welt. Nicht nur wenn uns was Schönes wiederfährt, sondern wenn wir dankbar leben, jeden Augenblick. (23. April)[4]
Die Art von Glück, die davon abhängt, was uns glückt und was uns nicht glückt, was uns zustößt, ist etwas sehr Unbeständiges. Im Gegensatz zur Freude, die jenes Glück ist, das nicht davon abhängt, was uns widerfährt.
Und der Schlüssel, zu dieser Freude ist die Dankbarkeit, denn in dem Augenblick, wo wir dankbar sind, finden wir zurück zu der Freude, die immer in uns ist. (2. Juli)[5]
Es ist aufschlussreich, dass die Sprache vom gegebenen Augenblick spricht: Der Augenblick wird uns gegeben, er ist uns geschenkt. Und daher ist die einzig entsprechende Antwort auf dieses Gegebene: die Dankbarkeit. (8. Oktober)[6]
Als Weg zum Glücklichwerden kann das Dankbarsein nur dann dienen, wenn ich es übe, wenn ich daraus einen spirituellen Weg mache. Ein Augenblick, eine kurze Begegnung, ist noch kein Weg. (14. Oktober)[7]
Wenn ich dankbar dem Sein gegenüber bin, werde ich das auch im nächsten und übernächsten Augenblick sein können ‒ und dann auch im letzten Augenblick, wenn es darum geht, das Ich endgültig loszulassen im Sterben. (19. November)[8]
Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. (25. Dezember)[9]
Wie oft wir einfach genießen dürfen, was uns jetzt geschenkt ist, bemerken wir erst, wenn wir beginnen, aufzuwachen zu dankbarem Leben. Und je dankbarer wir leben, umso mehr Gelegenheit zur Dankbarkeit entdecken wir. Freilich, manchmal stößt uns etwas zu, wofür niemand dankbar sein kann. Wer kann dankbar sein für Verletzung, Untreue, oder Betrug; für Fremdenhass, Ausbeutung, Krieg?
Nein, wir können nicht für alles dankbar sein ‒ doch aber in jedem Augenblick.
Auch Widerwärtigkeiten geben uns Gelegenheit ‒ etwa die Gelegenheit Geduld zu lernen, Erfahrung zu sammeln, oder uns in tapferem Widerstand zu üben. Für diese Gelegenheiten können wir uns dankbar erweisen, indem wir sie wahrnehmen (was für ein schönes Wort!) und sie nutzen. (Bruder David im Vorwort zum Buch)[10]
Dankbarkeit, das war hier im Westen die Spiritualität, die unsere Vorfahren geübt haben, bevor sie überhaupt noch das Wort Spiritualität gekannt haben. Sie waren dankbare Menschen und durch ihre Dankbarkeit haben sie Freude gefunden.
Und diese Dankbarkeit taucht uns ein in dieses Geheimnis der Trinität. Denn es setzt voraus den Geber aller Gaben, diesen Urquell, aus dem alles hervorquillt, das Nichts, das alles gibt.
Es setzt voraus, uns selbst als Gabe zu empfangen: Wir haben uns nicht gekauft, wir sind uns gegeben, wir finden uns als gegeben vor, wir finden die Welt als gegeben vor.
Jeder Augenblick ist ein gegebener Augenblick, alles ist Gabe.
Und wir sind, weil wir in einer gegebenen Welt leben, aufgefordert dankbar zu sein und durch Danksagung alles zurückfließen zu lassen zum Ursprung. Und dadurch sind wir völlig eingebettet in das Wort, das aus dem Schweigen kommt und durch Verstehen, im dankbaren Verstehen zurückfließt zu seiner Quelle. (‹Wir sind uns gegeben›, 10f.)[11]
Alles in dieser gegebenen Welt ist Geschenk. Aber das Geschenk in jedem Geschenk ist Gelegenheit. Meistens bedeutet das die Gelegenheit zum Genießen. Manchmal bedeutet es die Gelegenheit, sich zu mühen, zu leiden, ja selbst zu sterben. Wenn wir nicht aufwachen zu den zahllosen Gelegenheiten, das Leben zu genießen, wie können wir da erwarten, wach zu sein, wenn die Gelegenheit, sich dem Leben dienlich zu erweisen, auftaucht? Jene, die erkennen, dass das Geschenk in jedem Geschenk die Gelegenheit ist, werden Dankbarkeit nicht passiv verstehen.
Dankbarkeit ist die Tapferkeit des Herzens, sich der Gelegenheit zu stellen, die ein gegebener Augenblick bietet. (‹Die Gelegenheit erkennen›, 17)[12]
Wir Menschen werden keinen Frieden finden, solange wir in unserem Leben keinen Sinn finden können. Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet. Sinn wird gefunden, nicht durch harte Arbeit erworben. Er wird einem immer als reines Geschenk zuteil. Und dennoch müssen wir unserem Leben Sinn geben. Wie ist das möglich? Durch Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die innere Haltung, durch die wir unserem Leben Sinn geben, indem wir das Leben als Geschenk empfangen.
Was jeden gegebenen Augenblick sinnvoll macht, ist, dass er gegeben ist. Dankbarkeit erkennt diesen Sinn, anerkennt und feiert ihn. (‹Dem Leben Sinn geben›, 18)[13]
Unsere Sinne führen uns hinaus in die Vielfältigkeit, weiter und weiter. Es ist ein wundervolles Abenteuer. Aber wir können uns in der Vielfalt verlieren, wenn wir nicht jene heilige Einfalt finden, die uns tiefer und tiefer führt und alles zusammenhält. Dazu verhilft uns die Dankbarkeit.
Die Einfalt der Dankbarkeit ist ganz und gar nicht einfältig, im Sinne von Beschränktheit. Sie ist mit Arglosigkeit verwandt, mit Ehrfurcht und mit Weisheit. Weil sie arglos ist, geht sie heil durch den Dornwald argwöhnischen Misstrauens. Arglos erkennt die Dankbarkeit jeden Augenblick mit allem, was er enthält, als Geschenk.
In Ehrfurcht anerkennt sie in (und zugleich jenseits von) allen Gaben den Geber. Preisend bekennt sie, dass alles Gnade ist.
Ergriffen von dieser Einsicht, führt die Dankbarkeit zu jener Weisheit, von der der Heilige Bernhard sagt: «Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.»
In Dankbarkeit können wir vom Erkennen der Gabe zum Anerkennen des Gebers und von da zum preisenden Bekennen der Gnade fortschreiten und so durch unsere Sinne Sinn finden. (‹Sinnfinden durch die Sinne›, 38f.)[14]
Dankbarkeit beginnt im Bereich der Sinne, mit jener staunenden Freude, die sich am Sinnlichen ganz von selbst entzündet. Wer das bezweifelt, braucht nur ein Fußbad zu nehmen. Da wird Dankbarkeit ganz spontan lebendig. Wenn Herz und Mund es nicht tun, so fangen wenigstens die Zehen an, auf ihre Art dankbar zu singen.
Tag und Nacht wird uns mit jedem Augenblick Unzähliges geschenkt. Wir brauchen nur darauf zu achten, und Dankbarkeit wird uns beinahe überwältigen. Aber achten wir darauf? Das ist die Frage. (...)
Seit Jahren schreibe ich zum Beispiel täglich in meinen Taschenkalender zumindest eine Sache, für die dankbar zu sein mir vorher noch nie in den Sinn kam. Meint vielleicht jemand, es sei schwer, jeden Tag einen neuen Grund zur Dankbarkeit zu finden? Es ist nicht schwer. Oft kommen mir vier oder fünf Gründe in den Sinn. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie alt ich werden müsste, um den Vorrat merklich zu vermindern.
Was wir bemerken, wenn unsere Aufmerksamkeit wächst, ist, dass uns in tausend Formen immer das Gleiche geschenkt wird, nämlich Gelegenheit. Gelegenheit ist das Geschenk, für das alle anderen Geschenke nur Verpackung sind. Und hier ist das Erstaunliche: In 99 von 100 Fällen wird uns schlicht und einfach Gelegenheit geschenkt, uns zu freuen.
Es fragt sich nur: Nehmen wir diese Gelegenheit überhaupt wahr?
Meistens wohl nicht. Ein Grund dafür ist dieser: An schwierigen Tagen stehen unsere Schwierigkeiten so im Vordergrund, dass wir alles andere übersehen. Der tiefere Grund ist aber, dass wir einfach nicht gewohnt sind, auf die uns geschenkten Gelegenheiten zu achten; auch an unseren fröhlichen Tagen nehmen wir alles ganz undankbar als selbstverständlich hin.
Dankbare Aufmerksamkeit lässt sich üben und erlernen. Wir können am Abend auf den vergangenen Tag zurückschauen und für etwas noch nie vorher Beachtetes zum ersten Mal dankbar sein. Wir können aber auch vorausplanen. Heute wird, sagen wir, dankbar auf Gerüche geachtet; morgen auf Farben und Formen; übermorgen auf Geräusche. In einem «Kurs», der jeden sechsten Tag wieder von vorne beginnt, können wir so durch dankbare Sinnlichkeit unsere freudige Lebendigkeit planmäßig fördern. Alles hängt davon ab, dass wir uns immer wieder erinnern. (‹Gründe genug›, 62-65)[15]
Welche Tätigkeiten lösen in dir regelmäßig spontane Andacht aus, so dass dein Herz ganz ohne Mühe dabei ist? Vielleicht ist es die erste Tasse Kaffee am Morgen, die Art und Weise, in der sie dich wärmt und wach macht, oder der Spaziergang mit deinem Hund, oder die Huckepack-Tour mit einem kleinen Kind.
Dein Herz ist voll dabei, und so findest du auch Sinn darin ‒ keinen Sinn, den du in Worte fassen könntest, sondern Sinnfülle, in der du Ruhe finden kannst. Das sind Momente gesammelter Andacht, auch wenn wir sie nie als Gebet betrachtet haben. Sie zeigen uns die enge Verbindung von Gebet und Spiel.
Diese Augenblicke, in denen unser Herz ‒ ganz gleich wie kurz ‒ in Gott Ruhe findet, sind Beispiele dafür, was Gebet eigentlich ist. Könnten wir diese innere Haltung aufrechterhalten, dann würde unser ganzes Leben zum Gebet werden.
Zugegeben, es ist keine leichte Aufgabe, die Sammlung, Dankbarkeit und Andacht jener Augenblicke, in denen das Herz voll ist, aufrechtzuerhalten.
Aber jetzt wissen wir wenigstens, worauf wir hinauswollen. Es ist, als wollten wir lernen, einen Bleistift auf einer Fingerspitze zu balancieren. Darüber zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Haben wir es aber ein einziges Mal geschafft, dann wissen wir wenigstens, dass wir es können und wie es gemacht wird. Der Rest ist eine Frage der Übung und des Immer-wieder-Probierens, bis es zur zweiten Natur geworden ist. (‹Momente der Andacht ausweiten›, 66-68)[16]
Die Dankbarkeit ist eine Form spiritueller Praxis, die den Vorzug hat, dass sie sehr schnell Resultate zeigt. Wenn wir uns am Morgen vornehmen, dankbar zu sein für alles, was uns an diesem Tag begegnet, werden wir am Abend bereits spürbar glücklicher sein.
Dankbarkeit heißt, den gegebenen Augenblick und jede gegebene Gelegenheit, einfach alles, was uns begegnet, als Gabe, als Geschenk wahrzunehmen.
Wenn wir alles, was uns begegnet, als Geschenk erkennen und nicht einfach als gegeben hinnehmen, wachen wir auf zu einer neuen Lebendigkeit. Das gibt uns tausend Gelegenheiten, uns zu freuen. (‹Neue Lebendigkeit›, 86)[17]
Was geschieht, wenn wir unsere Augen in Dankbarkeit für alles öffnen, was uns begegnet: Wir sehen göttliches Licht durch alles, was ist, hindurchleuchten.
Jemand mag dann etwa sagen: «Naja, aber wie kann ich für Völkermord dankbar sein? Wie kann ich für Terrorismus dankbar sein?» Und wie können wir für das Elend in den Straßen vor unserer eigenen Haustür dankbar sein? Oder für die Zerstörung unserer Umwelt? Oder für die Tierquälerei in Laboratorien und Legebatterien? Über diese Dinge an und für sich können wir uns keinesfalls freuen, doch dafür, dass sie uns Gelegenheit geben, etwas dagegen zu unternehmen, können wir dankbar sein.
Diese rückhaltlose Aufgeschlossenheit für das Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks ist eine außerordentlich schöpferische innere Haltung.
Sie inspiriert uns zum Hinschauen und Überlegen, was wir tun können, so wenig es auch sein mag. Zumindest können wir fragen, was wir dagegen tun können und die Gelegenheit nutzen. Wenn genügend Menschen fragen: «Was können wir tun?», dann werden wir schließlich Lösungen für unsere dringendsten Probleme finden.
Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren, und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten, Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. (‹Alte Schwierigkeiten neu anpacken›, 110-112)[18]
Auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. Im Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen. Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebensspendendes Wort?
Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.
Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt. Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit.
Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.
Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube. Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebens nicht offenbar ist, heißt den Weg zum Herzensfrieden finden. Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich. (‹Vertrauen in den Geber›, 118f.)[19]
Dankbarkeit beruht auf der Einsicht, dass mir etwas Gutes widerfahren ist, das von einem anderen Menschen ausging, dass es mir aus freien Stücken geschenkt wurde und als Gefälligkeit gedacht war. In dem Augenblick, wo ich dies erkenne, empfinde ich spontan Dankbarkeit: «Je suis reconaissant» ‒ Ich erkenne, ich anerkenne, ich bin dankbar; im Französischen umfasst dieser eine Ausdruck alle drei Bedeutungen. Ich erkenne die besondere Qualität dieser Freude der Dankbarkeit: es ist eine Freude, die mir aus freien Stücken als Gefälligkeit zugedacht wurde. Indem ich ein Geschenk, das mir nur ein anderer aus freien Stücken geben kann, aus freien Stücken akzeptiere, erkenne ich meine Abhängigkeit an. (‹Ich erkenne, ich anerkenne›, 132f.)[20]
Geber und Empfänger werden im Danksagen eins. Und das «Ja» zu ihrem Zusammengehören ist nichts anderes als das «Ja» der Liebe. Wir haben gesehen, wie schwer es in unserem täglichen Leben manchmal ist, das «Ja» der Dankbarkeit auszusprechen.
In Augenblicken jedoch, wenn unser Herz voller Lebendigkeit schlägt, erfahren wir die gegenseitige Abhängigkeit von allem mit allem als Freiheit, als Freude, als Erfüllung. (‹Einswerden›, 139)[21]
[Obige Kernsätze mit Angabe von Tag und Monat sind dem Buch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014) entnommen; ihnen folgen die längeren Kernsätze mit Überschrift und Seitenzahl aus dem Buch Einladung zur Dankbarkeit (2018); siehe den gesamten Text des Buches in Einladung zur Dankbarkeit und die Quellenangaben in Anm. 1-21]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023)
Teil 4: ‹Dankbar leben ‒ oder: ‹Wenn jeder Augenblick zum Geschenk wird›:
(12:12) ‹Das ganze Leben ist Dialog mit dem schenkenden Geheimnis, das mir Augenblick für Augenblick Gelegenheiten schenkt und will, dass ich etwas daraus mache›
1.2. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015): Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David
Vortrag ab (01:23:42), siehe auch:
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Audio: ‹Augenblick für Augenblick freudig dankbar›:
«Dankbarkeit ist ja Freude, ist nicht Danksagung. Das ist etwas anderes. Dankbarkeit ist die Freude, die ganz spontan in uns aufsteigt, wenn uns etwas Wertvolles geschenkt wird. Das springt einfach auf in uns. Und diese Freude können wir jeden Augenblick haben, wenn wir bedenken, dass das größte Geschenk und völlig unbezahlbare Geschenk der Augenblick ist, das Jetzt. Denn wenn wir den Augenblick nicht hätten, könnten wir sonst nichts machen. Das ist sozusagen das Gefäß, in dem alles uns geschenkt wird, und die Gelegenheit, die dieser Augenblick uns bietet. Und wenn wir uns dessen bewusst werden, dann leben wir wirklich erfülltes Leben, spirituelles Leben, denn dann sind wir Augenblick für Augenblick freudig dankbar für das Geschenk des Lebens und haben allen Grund dazu. Und auch in sehr schwierigen Lebenslagen sind wir dankbar für die Gelegenheit, die diese schwierigen Lagen uns bieten: Gelegenheit zu wachsen, Gelegenheit etwas zu lernen, sogar Gelegenheit zu protestieren: alles das ist Gelegenheit, die der Augenblick uns schenkt. Und lang genug innezuhalten, um nicht von dem Fluss der Zeit fortgerissen zu werden, sondern wirklich in diesem Jetzt zu sein, in dem Jetzt Ausschau zu halten, innehalten, innewerden der Gelegenheit, die sich uns jetzt hier und jetzt bietet, und dann etwas aus dieser Gelegenheit machen, das ist dankbares Leben. Und das ist wirklich im Zentrum jeder spirituellen Praxis. Und das ist zugleich die Quelle der Lebensfreude. Und wenn man so richtig freudige Menschen sieht, sieht man immer, das sind auch wirklich dankbare Menschen. Und manche Menschen haben alles, was man brauchen würde, um wirklich freudig zu sein, und die sind nicht freudig, weil sie nicht dankbar sind. Das ist der einzige Grund: die wollen etwas Anderes oder mehr vom selben. Aber wenn wir uns freuen an dem Geschenk dieses Augenblickes …»
1.3. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription des Vortrags:
(08:45) «Aber die ganz entscheidende Einsicht ist, dass uns in jedem Augenblick etwas geschenkt wird, was wir uns unter keinen Umständen selber erwerben, kaufen, eintauschen oder sonst irgendwie verdienen können: Und das ist das JETZT: dieser gegebene Augenblick mit allen den Gelegenheiten, die er uns bietet. Das ist das Entscheidende.»
2. Im Buch Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015): ‹Zeit für Dankbarkeit ‒ oder: Warum jeder Augenblick ein Geschenk ist›, 160f.:
«Dankbarkeit fängt immer dann an, wenn zwei Dinge zusammenkommen: Wir müssen etwas empfangen, was uns wertvoll ist. Und es muss uns als freies Geschenk gegeben werden. Wenn diese beiden Bedingungen zusammenkommen, dann steigt die Dankbarkeit spontan im Herzen jedes Menschen auf.
Der entscheidende Schritt von dieser Erfahrung auf ein dankbares Leben hin besteht darin, dass man sich bewusst wird, dass das wertvollste von allen möglichen Geschenken der gegebene Augenblick ist.
Würde uns dieser Augenblick nicht geschenkt, dann wäre auch sonst nichts da. Das Jetzt ist das größte Geschenk. Das Jetzt ist reines Geschenk.
Mit allem Geld und Gold der Welt kann man sich keinen einzigen Augenblick erkaufen.
Das sehen wir, wenn der Tod vor der Tür steht. Darum ist es hilfreich, uns den Tod allezeit vor Augen zu halten, wie es der heilige Benedikt anrät.
Das führt zu der Dankbarkeit, aus der die Lebensfreude aufblüht.
Jetzt, in diesem Augenblick, und jetzt, im nächsten Augenblick, fällt mir das größte Geschenk in den Schoß, eben das Jetzt mit all den Gelegenheiten, die es mir gibt.»
3. Weitere Links zu Dankbarkeit und dankbar leben:
Ein Leben für die Dankbarkeit (2023)
Dankbarkeit: eine spirituelle Praxis, die reich macht (2023)
Dankbarkeit als Lebenskunst (2023)
Wach – bewusst – achtsam (2001); siehe auch Die drei Schritte der Dankbarkeit (2020)
Dankbarkeit ‒ persönliche Gedanken von David Steindl-Rast (2018); siehe auch Stop ‒ Look ‒ Go
Dankbarkeit ist der Spitzenkandidat (2018)
Dankbarkeit als revolutionäre Kraft (2018)
DAS ABC-Spiel der Dankbarkeit (2016)
Dankbarkeit ist kein Gefühl (2014)
Glück aus Dankbarkeit (2013)
Ein Versprechen dankbar zu leben (2008): Gebet
Üben dankbar zu leben (2008)
Geber allen guten Gaben (2007): ein Tischgebet
Ein neuer Grund für Dankbarkeit (2002): Diese fünf Schritte sind klein, aber wirkungsvoll
Für all die kleinen (und grossen) Dinge im Leben danken (2002)]
________________________
[1] Musik der Stille (2023), 50
[2] Musik der Stille (2023), 52f.
[4] Video Fragen zu gesundem Leben, die uns alle angehen (2011): Vortrag von Bruder David bei der Einherz-Gemeinschaft für Medizin mit Liebe
[5] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS
[6] Ebd.
[7] Wege zum Glücklichkwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der großen Universitätsaula, Salzburg
[8] Begegnungen ‒ Dankbarkeit (2011) und Dankbarkeit ‒ Alles ist Gelegenheit (2013): Interviews von Rudolf Walter mit Bruder David für das Buch Einfach leben ‒ wie geht das?, 193 [siehe den Auszug]; sowie im Buch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Vorbereitung auf den letzten Augenblick›, 37 [siehe den Auszug]
[9] Musik der Stille (2023), 49
[10] Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014): Vorwort von Bruder David: ‹Dankbar leben›, 9f.
[11] An welchen Gott können wir noch glauben? (2008)
[12] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Gelegenheit›, 172f. [bzw. Fülle und Nichts (2015): ‹Gelegenheit›, 173f.]
[13] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Sinn›, 183 [bzw. Fülle und Nichts (2015): ‹Sinn›, 184]
[14] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Die Dankbarkeit der fünf Sinne›, 53
[15] Ebd. 82-84
[16] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 47 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 45]
[17] Spiritualität und Verantwortung (2009): Interview von Christa Spannbauer mit Bruder David
[18] Musik der Stille (2023), 52f.
[19] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Mit dem Herzen horchen›, 16f.
[20] Ebd. ‹Eine tiefe Verbeugung›, 138
[21] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 150 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 150f.]
Augenblicke wach im Jetzt
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Elisabeth Glücks
Genau der jetzige Augenblick kann der Beginn eines neuen Lebens sein. (1. Februar)[1]
Wenn du morgens den Bus nimmst oder dich ins Auto setzt, während es noch dunkel ist, dann beginn gar nicht erst damit, dir Sorgen über den kommenden Tag zu machen. Achte nur auf den Augenblick, wenn das Licht aus der Dunkelheit steigt: «Mir wird ein neuer Tag gegeben. (…) Welche Haltung sollte ich diesem Tag entgegenbringen? Wofür ist es Zeit? Zeit, sich zu erheben und zu leuchten.» (2. Februar)[2]
Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt. (6. Februar)[3]
Wir leben im Jetzt, indem wir uns auf den Ruf eines jeden Augenblicks einstimmen, indem wir hören, was jede Stunde und jede Situation von uns verlangt, und indem wir darauf antworten. (9. Februar)[4]
Unser wahres Glück, unser unverlierbares Glück besteht darin, im gegebenen Augenblick völlig da zu sein. «Zum Augenblicke möcht ich sagen, verweile doch, du bist so schön», so hat Goethe das im Faust formuliert, weil eben wahres Glück nur da ist, wenn wir im Augenblick sind. (13. Februar)[5]
Wenn wir nach innen schauen, sehen wir: Das Glück ist nicht irgendwo vor uns, es ist schon da. Dem Glück nachjagen, das ist so wie wenn jemand seinem eigenen Schatten nachjagen wollte. Im Augenblick, wo wir stehen bleiben, bleibt auch der Schatten stehen. Die Freude ist unser eigentliches Wesen. Sie ist immer da, nur wir sind nicht da. (14. Februar)[6]
Das Gegenteil von Freude ist nicht die Traurigkeit, sondern die Faulheit, welche die Mühe scheut, auf den geschenkten Augenblick voll und ganz zu antworten, und die Trübsinnigkeit, die der Faulheit entspringt. (17. Februar)[7]
Die meisten von uns leben sehr hastige, sehr unruhige und volle Tagesläufe. Wir müssen in diese Tagesläufe irgendwo kleine Augenblicke des Innehaltens einfügen. (10. Juli)[8]
Was in jedem Augenblick von uns verlangt wird, ist doch ganz einfach. Wir lernen es schon als Kinder beim Überqueren der Straße:
Nur wer still hält, sieht, was zu tun ist ‒ hier und jetzt ‒ und nur wer klar sieht, kann hilfreich handeln. (24. Februar)[9]
In Augenblicken glühendster Lebendigkeit wird uns bewusst, dass wir inmitten allen Wandels etwas in uns kennen, das Bestand hat: Wir haben Anteil am Sein. In solchen Augenblicken wird uns klar, dass unser eigenes Sein am Einen, Schönen, Guten und Wahren Anteil hat und daher unzerstörbar ist, so wie diese höchsten Werte es sind. (10. März)[10]
Wenn wir uns bewusst sind, auf wie viele unzählige Arten und Weisen wir im Leben gesegnet sind, dann sind wir wie ein Vermögender, der großzügig ist, ohne Angst zu haben, dass ihm die Mittel je ausgehen werden.
Wenn wir, wenn auch nur einige Augenblicke lang, immer wieder üben, auf unseren Atem zu achten, dann können wir bewusst erleben: Jeder Atemzug fließt als Segen in uns hinein; jeder Atemzug fließt als ein Weitergeben dieses Segens wieder hinaus. (15. August)[11]
Einfach einige Augenblicke lang innehalten und sich der Macht der Liebe öffnen, die das Universum in Gang hält. Ihr Wesen ist still sein und segnen, innehalten und danken. Halte also ein und segne. Halte ein und danke. (11. April)[12]
Wahre Freude und Selbstvergessenheit gehen Hand in Hand. Das Glück kommt daher, dass wir uns nicht auf uns selbst verlassen, dass wir uns auf das uns in jedem Augenblick neu geschenkte Leben verlassen. Wir verlassen uns, da wir nicht völlig auf uns selber eingestellt sind, auf das Leben, auf die anderen, auf die Güte, nicht nur Gottes, sondern des Göttlichen, das uns durch alles zukommt. Wir verlassen uns auf das Leben. (5. Oktober)[13]
Die Quelle des Lebens ist letztlich das, was Menschen, die das Wort «Gott» richtig verwenden «Gott» nennen. Also das ES, das alles gibt, ist das unergründliche Geheimnis, aus dem jeden Augenblick Alles hervorkommt. (30. Juli)[14]
Das «Gekreuzigt» im Credo heißt, dass es nichts im Leben oder im Tod geben kann, in das wir nicht mit Gottvertrauen hineingehen können, kein Unrecht, kein Leid, keine Katastrophen, in denen wir Gott nicht finden können. Im Augenblick seiner äußersten augenscheinlichen Abwesenheit ist Gott gegenwärtig. (18. April)[15]
In Augenblicken, in denen uns unsere tiefste Zugehörigkeit ‒ und somit GOTT ‒ bewusst wird, quillt gläubiges Vertrauen ganz spontan auf. Abraham Maslow spricht da von Gipfelerlebnissen. (21. Juni)[16]
Gelegenheit macht kreativ. Und zwar kreativ in Beziehung. Das ist so ungeheuer wichtig, weil wir hinhorchen auf das Gegebene oder auf den Menschen, der uns da gegenüber steht ‒ jetzt, als gegeben in diesem Augenblick. Und dann werden wir kreativ in unseren Beziehungen zu den anderen Menschen. (14. September)[17]
Je älter man wird, umso mehr wird einem bewusst, wie vergänglich alles ist. Und wenn wir die Vergänglichkeit von jedem Augenblick ‒ von all dem, was uns in einem Augenblick geschenkt wird ‒ wahrnehmen, dann wird es umso wertvoller. (10. April)[18]
Wir beten: Jetzt und in der Stunde unseres Todes. T.S. Eliot, der große englische Dichter, sagt: Die Stunde des Todes ist jeder Augenblick.[19] Denn in jedem Augenblick kommt die Zeit zu Ende und das Jetzt bleibt. Wenn wir also im Jetzt dankbar leben, dann gibt uns das eine ungeheure Freiheit. (8. April)[20]
Wir befürchten, dass der Tod uns wie ein Dieb in der Nacht überfällt, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten zu leben. Diese Furcht ist dann am größten, wenn wir nicht im Augenblick leben. (2. November)[21]
Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon im Jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. (11. November)[22]
[Obige Texte sind dem Buch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014) entnommen, siehe die Quellenangaben in Anm. 1-22]
[Ergänzend:
2. Audios
2.1. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(48:06) Schlusswort von P. Nathanael: Er dankt Bruder David und schließt mit den Zeilen des Gedichtes von Andreas Gryphius ‹Betrachtung der Zeit›:
‹Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.
Wenn wir das nicht jetzt erleben, kommt es auch in Zukunft nicht! Nur im Augenblick gelingt das Leben.›
2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Viertes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(02:05) Sei allem Abschied voran (Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) – Der Augenblick:
(14:37) Bruder David: «‹Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige, sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug›:
Das Glas klingt und zerbricht.
In diesem Augenblick klingen und zu diesem Augenblick sterben, damit wir frei sind und lebendig sind für den nächsten Augenblick.»
(21:00) Teilnehmer: «Wer das Geheimnis des Augenblickes kennt, kennt das ganze Geheimnis des Lebens.»
Bruder David: «Weil das Leben aus Augenblicken besteht.»
(22:24) Bruder David: «Wir kommen mit dem Leben nicht aus, wenn wir nicht das Leben Augenblick zu Augenblick nehmen. Wenn wir immer die ganze Last der Vergangenheit und die die ganze Unsicherheit der Zukunft mittragen müssen.»
(22:59) Bruder David: «‹Zu diesen ‒ Vergangenheit und Zukunft ‒ ‹unsäglichen Summen zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl›: das ist der Augenblick.»
(24:05) Teilnehmer: «Ich habe das einmal erlebt, dass in einem Augenblick, vielleicht in zwei Sekunden, das ganze Leben abgelaufen ist in einer Gefahrensituation. Das ist für mich dieses intensive Erleben dieses Augenblickes, in dem dieser Lebensfilm abläuft.»
Bruder David: «… im Augenblick eben alles schon enthalten ist, zugleich da ist. Im Jetzt. Weil das Entscheidende an jedem Augenblick das Jetzt ist, das Überzeitlichkeit innerhalb der Zeit ist. Und wenn die Zeit dann wegfällt, bleibt nur dieses Überzeitliche für uns. Und so kann man vielleicht irgendwie auch dem näherkommen, dass es für uns möglich ist, in einem Augenblick so viel zu erleben.»]
____________________
[1] Musik der Stille (2023), 72
[2] Musik der Stille (2023), 62; siehe auch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Lächelnd den Tag aufhellen›, 47
[3] Musik der Stille (2023), 24
[4] Musik der Stille (2023), 19f.
[5] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS
[6] Ebd.
[7] Musik der Stille (2023), 102
[8] Wege zum Glücklichwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der Großen Universitätshalle, Salzburg
[9] Sommergrüsse (2012)
[11] Musik der Stille (2023), 83; siehe auch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Unerschöpfliche Mittel›, 82
[12] Musik der Stille (2023), 89
[13] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS
[14] Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Vortrag:
(13:39) Nachdenken über den Satz ‹ES gibt mich›.
Siehe auch: Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
‹Was fördert gesundes spirituelles Wachstum›; siehe auch die Mitschrift
[17] Wege zum Glücklichwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der Großen Universitätshalle, Salzburg
[18] Ebd.
[19] T. S. Eliot sagt in den Four Quartets: The Dry Salvages, III; siehe auch Doppelbereich Ich-Selbst:
‹Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.› ‒ ‹And the time of death ist every moment.›
[20] Siehe Anm. 17
[21] Musik der Stille (2023), 108f.
Autorität ‒ Autoritäten
Text, Audio, Video und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
In diesem Kontext von Religion und Spiritualität ist die Frage der Autorität äußerst wichtig, jedoch muss man den Begriff der Autorität richtig verstehen, denn heutzutage wird er gewöhnlich falsch verstanden.
Sogar wenn man nach dem Wörterbuch greift und dieses Wort nachschlägt, findet man gewöhnlich als Hauptsinn von «Autorität» angegeben, bei ihr handle es sich um eine Art von «Befehlshoheit»
Aber das ist nicht der ursprüngliche Sinn von Autorität, sondern der lautet:
«feste Grundlage für das Erkennen und Handeln.»
Wir verwenden ihn auch in diesem Sinn. Wenn wir zum Beispiel etwas über unseren Gesundheitszustand erfahren wollen, suchen wir als Autorität dafür einen Arzt auf.
Oder wenn wir etwas erforschen, greifen wir nach einem Buch als Autorität.
Das heißt, wir suchen darin nach einer festen Grundlage für unser Erkennen und Handeln.
Von daher lässt sich dann verstehen, wie wir «Befehlshoheit» erlangen, und das besonders dann, wenn man das auf den kleineren soziologischen Maßstab einer kleinen Gemeinschaft reduziert, also eine Familie, ein Stamm oder ein Dorf. Darin kann es einen Menschen geben, der sich immer wieder als feste Grundlage für das Erkennen und Handeln erweist.
So geht man dann etwa zu einer bestimmten alten Frau, wenn man wissen will, wie man seine Wunden heilen kann ‒ oder wenn man wissen will, ob man einen Krieg gegen ein anderes Dorf führen soll ‒, und sie gibt einem immer die richtige Antwort.
Das heißt also, weil sie eine feste Grundlage für das Erkennen und Handeln darstellt, verleiht man ihr den Rang einer Autorität und gibt ihr Befehlshoheit.
So ist Autorität entstanden, und alle unsere Autoritäten beruhen auf einer derartigen Entstehungsweise.
Aber von da an, wo jemand Autorität verliehen wird, lässt die oder der Betreffende normalerweise nicht mehr so leicht von dieser Macht ab, selbst wenn sie oder er keineswegs weiterhin eine Grundlage von Erkennen und Handeln ist. Auf diese Weise bekommen wir autoritäre Autoritäten.
Die wirkliche, echte Autorität ist so stark, dass sie oder er es sich leisten kann, uns aufzubauen.
Tatsächlich besteht darin der einzige angemessene Gebrauch der Autorität: die der Autorität Unterstehenden aufzubauen.
Autoritäre Autoritäten entbehren dieser Grundlage, und deshalb müssen sie alle anderen klein halten, um sich selbst hochzuhalten, und das ist das Kriterium, anhand dessen man sie unterscheiden kann.
Das ist der Lackmustest für die Unterscheidung von autoritärer Autorität und echter Autorität:
Wenn sie dich aufbaut, ist sie echt; wenn sie dich klein hält, ist sie autoritär. So einfach ist das.
Wenn man gründlich auf das zurückblickt, was Jesus in Bewegung gesetzt hat und was sich immer noch auf unsere Welt auswirkt, stellt man fest, dass es sich dabei um eine Autoritätskrise handelt.
Er war die Art von Prophet, der nicht gesagt hat: «Ich spreche zu euch im Namen der höchsten Autorität, und so komme ich also mit Autorität zu euch.», sondern er berief sich immer auf die Autorität Gottes in den Herzen seiner Zuhörer, und auf diese Weise baute er sie auf.
Deswegen sagten die Leute:
«Dieser Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten.»
Genau das brachte ihn in Schwierigkeiten. Sowohl die religiösen als auch die politischen Autoritäten mussten energisch gegen ihn vorgehen, denn jeder, der die Leute auf ihre eigenen Füße stellt, ist für diese Autoritätspersonen gefährlich.
Schließlich schafften sie ihn aus dem Weg.
Aber diese Art von Geist ließ sich nicht töten, weil das der unübertreffliche Geist ist, und er ist heute noch am Wirken.
[Auf dem Weg der Stille (2016), 74-76]
[Ergänzend:
1. Tao der Hoffnung (1994)
Vortrag und Diskussion bei der existential-psychologischen Bildungs- und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte und in Königsfeld im Schwarzwald (DE).
Den Frieden hinterfragen (Königsfeld im Schwarzwald) Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben
(22:49) Jesus befragt die Autorität und verändert das Autoritäts- und Gottesverständnis seiner Zeit völlig: Anders als ein Prophet oder Charismatiker verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer – Die Pointe der Gleichnisse Jesu – Deine Sünden sind dir vergeben – Dein Glaube hat dich geheilt – Steh auf! (Apg 3,1-10) / (29:00) Konflikte mit den autoritären Autoritäten und das Versagen der von Jesus Ermächtigten: Wer hat dir diese Vollmacht gegeben? (Joh 21, 23-27) – Viele wandten sich von ihm ab (Joh 6,66) – Die Fußwaschung passend zu: Auf den eigenen Füßen stehen.
2. Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (16.11.2019)
Vortrag von Bruder David und Gesprächsrunde (Mitschrift des Vortrages) anlässlich des Forums «Aus Dankbarkeit kraftvoll führen» im Europakloster Gut Aich, Winkl (AT).
(50:35) Frage einer Frau, zusammengefasst von Robert:
«Die Kontrolle abzugeben ist oft so schwer. Ist Kontrolle abzugeben das gleiche wie Macht abzugeben? Wenn ich ins Vertrauen gehe, gebe ich dann automatisch Macht und Kontrolle ab?»
Bruder David: «… Das ist nur eine teilweise Antwort: Man kann sich fragen: Wie soll ich Macht gebrauchen? ‒ Wie soll ich Macht gebrauchen? Da müssen wir uns zuerst einmal bewusstwerden, dass jede und jeder von uns so viel mehr Macht hat als wir überhaupt wissen. Wir wissen vielleicht einiges, aber wir haben noch viel mehr Macht: Wir haben Macht über Menschen, von denen wir gar nicht wissen, dass die zu uns schauen und sich an uns ausrichten usw..
Und wie sollen wir diese Macht verwenden?
Meine Antwort ist: Es gibt nur eine legitime ‒ echte, vom Leben gestattete Weise, Macht zu verwenden, und das ist: Andere zu ermächtigen.
Alles andere: Überwältigung von anderen … Aber das ist eine große Aufgabe. Besonders für Unternehmer und so: Andere zu ermächtigen.»
3. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017):
Bruder David: «Die Idee ist, die Hierarchie der Macht abzubauen, also die Pyramide der Ausbeutung und Unterdrückung, und sie in ein Netzwerk umzuwandeln. Auch ein Netzwerk kommt keineswegs ohne Autorität aus, aber Autorität ist nicht Machtbefugnis. Das ist ein völliges Missverständnis, aber das ist oft die erste Bedeutung, die man heutzutage diesbezüglich im Wörterbuch findet.
Autorität ist ursprünglich Grundlage für rechtes Wissen und Handeln.
Und da gibt es Menschen, die auf einer höheren Bewusstseinsebene stehen und deswegen verlässlicher sind, wenn es darum geht zu klären, was man tun soll und wie.
Es wäre wichtig, diesen Menschen auch in einem Netzwerk die Autorität einzuräumen. Was wir brauchen, ist eine Vernetzung von Netzwerken. Denn gewisse Probleme sollten nur auf der untersten Ebene gelöst werden. Und nur, wenn dort keine Lösung gefunden werden kann, sollte das Problem auf der nächsten Ebene behandelt werden.
Hinter der Idee von einem Netzwerk von Netzwerken stehe ich, aber es muss mit Autorität höheren Bewusstseins verbunden sein.»
4. Wie das Autoritätsbewusstsein von frühester Kindheit an von Krise zu Krise heranreift bis zum prophetischen Gehorsam des reifen Erwachsenen.]
Berufung
Video, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Norbert Kopf
(Video 27:53-30:18) «Für mich gilt immer noch, was auch für mich als junger Mensch und sicher auch für dich gilt: Wenn wir uns fragen, was sollen wir jetzt weiter machen, kommt immer zuerst die Frage:
Was würde mich wirklich freuen? Das ist das Wichtigste. Das mache ich immer noch. Was soll ich morgen machen? ‒
Was würde mich wirklich freuen?
Aber es ist halt schon mehr Gewohnheit geworden, ich brauche das nicht ausdrücklich zu fragen.
Das zweite ist:
Kann ich es?
Wir wünschen uns manchmal etwas, möchten etwas machen, das wir gar nicht können. Fallschirmspringen oder sonst irgendetwas.
Und die dritte Frage, und die ist die Wichtigste, ist:
Wozu bietet mir jetzt das Leben Gelegenheit,
auf das hinzugehen, was mich am meisten freut?
Und dieses Hinhören, dieses Hinhorchen ist ganz etwas Wichtiges.
Ich habe einmal eine Geschichte gelesen ‒ wenn sie nicht wahr ist, ist sie gut erfunden ‒, dass jemand gesagt hat: ‹Also, was ich mir am meisten wünschen würde, ist, am Meer zu sitzen, zu lesen und sonst nicht viel zu tun zu haben.›
Die Frage ist: Was bietet mir jetzt das Leben als nächste Gelegenheit, dorthin zu kommen? Nachdem er die Annoncen für Berufe in Zeitungen gelesen hat, ist er dann Leuchtturmwächter geworden.»
Olivia: «Ein kreativer Umgang mit den Wünschen.»
Bruder David: «Es sind die kleinen Dinge, die man beachten muss, so kleine Schritte auf das hin, was einen am meisten freut.»[1]
Junge Menschen zur Zeit ihrer Berufswahl fragen mich oft:
«Wie kann ich der Welt am besten dienen?»
Ihr hohes Streben macht mir Freude und ich möchte eine Antwort geben, die ihnen wirklich bei ihrer Entscheidung hilft. Da kann ich nichts Besseres tun, als eine Antwort zu wiederholen, die nicht von mir stammt. Als ein Student Howard Thurman (1899-1981) die dringende Frage stellte: «Was kann ich nur tun, um der Welt zu helfen?» Da antwortete dieser weise Meister: «Tu’, was dir am meisten Freude macht. Die Welt braucht nichts dringender als Menschen, die alles, was sie tun, mit Freude tun.»
Der große Interpret des Heldenmythos, Joseph Campbell (1904-1987), gibt auf seine Weise den gleichen Rat, wenn er sagt:
«Follow your bliss!»
was so viel bedeutet wie «Lass’ dich von deiner Begeisterung leiten.»
Dabei ist freilich Begeisterung mehr als Nervenkitzel. Was uns Freude schenkt, ist nicht einfach das, was uns Spaß macht. Unser echtes Begehren sitzt tiefer als unsre Begierden.
Um herauszufinden, was wirklich dein tiefstes Begehren ist, wirst du einen Ort brauchen, an dem du ungestört allein sein und dir Zeit lassen kannst, um ganz still zu werden. Um innere Klarheit zu finden, ist Stille notwendig ‒ in uns und um uns herum.
Ein oft gebrauchtes Bild dafür ist trübes, aufgewirbeltes Wasser im Teich. In Stille wird es von selber klar. Du musst nichts tun, als zu warten, bis der Schlamm sich senkt, dann kannst du bis tief auf den Grund sehen. Stille ist auch unerlässlich, um die zarte Stimme des Herzens zu hören ‒ die Stimme unsres tiefsten Begehrens. Sie wird immer wieder übertönt vom lauten Schreien unsrer Begierden, verstummt aber doch nie ganz.
Begierden kommen und gehen. Um das bleibende Begehren unsres Herzens kennenzulernen, können wir uns also fragen: Wonach würde ich immer noch begehren, wenn all meine Begierden gestillt wären?
Die Antwort darauf wird uns zugleich auch klarmachen, was uns bleibend begeistert. Begeisterung im Sinne Campbells führt uns auf den Pfad des Helden, von dem der Mythos berichtet, dass er durch Todesschrecken gehen muss, um das begeisternde Ziel seines Begehrens zu erreichen.
Nur was uns zum Äußersten bereit macht, ist unsre wahre Begeisterung; von ihr dürfen wir uns leiten lassen.
Die zweite Frage, die uns helfen kann, unsre Berufung zu erkennen, betrifft unsre Begabung.
Was hat das Leben mir gegeben, um es zielstrebig zu nutzen?
So nüchtern wie möglich sollten wir das erwägen. Es kann ja vorkommen, dass wir einem bewunderten Vorbild nachstreben, das ganz anders begabt ist als wir selber. Auf unsre eigene Begabung aber kommt es an; auch sie ist einzigartig. Es fällt uns vielleicht schwer, an unsre Einzigartigkeit zu glauben. Aber selbst unsre Fingerabdrücke haben nicht ihresgleichen unter all den Milliarden von Mitmenschen, wie viel mehr muss das gelten für das vielfältige Gemisch all dessen, was unsre Begabung ausmacht.
Dazu gehören auch Antrieb, Ausdauer und alles, was wir benötigen, um unsre Talente durch Übung zu verbessern. Ja, sogar unsre Mängel sind ein wichtiger Teil unsrer Begabung. Sie können zum Ansporn werden, sie auszugleichen oder zu überwinden, und diese Bemühung entwickelt in uns eine moralische Kraft, die andren fehlt, weil sie sich nie so anstrengen mussten.
Auch Körperbehinderungen können auf ähnliche Weise zum Ansporn werden, gehören also auch zu dem, womit wir vom Leben beschenkt ‒ begabt ‒ wurden. Wäre Helen Keller (1880-1968) nicht blind und taub gewesen, sie wäre wohl nie die große Schriftstellerin, Aktivistin und von Millionen dankbar bewunderte Ratgeberin geworden.
Ganz gleich wie begabt du bist, es wird Mühe und Ausdauer kosten, aus deinen Talenten etwas zu machen. Mit Fleiß und Geduld kannst du auch gering erscheinende Talente zum Blühen bringen, und sie werden eine reiche Ernte tragen ‒ für dich und für die ganze Welt. Im großen Chor ist jede Stimme unentbehrlich; im großen Tanz ist jede Tänzerin, jeder Tänzer unersetzlich.
Auf unsre dritte Frage können wir erst antworten, wenn wir die beiden ersten beantwortet haben. Wir ahnen dann zumindest die Richtung unsres bleibenden Begehrens, in die unsre tiefste Begeisterung uns führen will. Und wir kennen unsre Stärken und Schwächen, die uns auf dem Weg dahin helfen oder hindern können.
Das sind Voraussetzungen, um weiter zu fragen:
Welche Gelegenheiten bietet mir das Leben,
meinem Ziel näher zu kommen?
In groben Umrissen werden wir diese Gelegenheiten vielleicht voraussehen können, während wir uns in Stille Zeit nehmen zu planen und Überblick über unsre Lage zu gewinnen. Wichtiger aber wird es sein, diese Frage immer wieder neu zu stellen. Das Leben bietet uns jeden Tag und jede Stunde unzählige Gelegenheiten zur Auswahl an.
Da heißt es, unser Begehren und unsre Begabung im Auge zu behalten. Nur im Hinblick auf sie werden wir Gelegenheiten erspähen, die wir sonst vielleicht übersehen hätten, jetzt aber unter den gegebenen Möglichkeiten auswählen.
Alles kommt darauf an, auch unsre kleinsten Entscheidungen von unsrer großen Ausrichtung bestimmen zu lassen. Der Weg zum Ziel besteht ja wie bei einer Wanderung aus vielen kleinen Schritten.
Für die allgemeine Richtung dürfen wir die Kompasslesung nicht vergessen, unser nächster Schritt aber muss dem Terrain an genau dieser Stelle angepasst sein. Was das Leben uns bringt, entspricht dem Terrain ‒ jeden Augenblick ein wenig verändert. Das fordert Achtsamkeit.
Mit Hilfe dieser drei Fragen eine Berufslaufbahn wählen zu können, ist freilich nur einem kleinen Prozentsatz junger Menschen geschenkt. Während diese sich oft überwältigt fühlen von der Überfülle der ihnen gebotenen Auswahl, haben weltweit die meisten überhaupt keine Wahl und müssen froh sein, wenn sie irgendeine Arbeit zum Lebensunterhalt finden. Wir müssen alles daransetzen, eine ungerechte Gesellschaftsordnung zu ändern, die auf diese Weise gegen die Menschenwürde verstößt.
Und was können wir jungen Menschen sagen, die gar keine Chance der Berufswahl haben?
Wenn wir ihre Lage ernst nehmen, dann zeigt sich: Das Entscheidende an unsrer Berufung sind nicht die äußeren Umstände, sondern unsre innere Haltung.
Unsre eigentliche Berufung ist nicht, was wir tun. Darüber können wir nur in begrenztem Ausmaß entscheiden. Aber wie wir es tun, das steht uns frei. Nicht auf unsren Platz im Kreis der Tanzenden kommt es an, sondern darauf, wie wir tanzen ‒ auf Achtsamkeit und Respekt für alle andren, besonders für die neben uns Tanzenden.
Fernstenliebe ist so viel bequemer als Nächstenliebe. Sie verlangt ja nichts Konkretes von uns. Nur durch unsre Nächsten, unsre Nachbarn im Tanzkreis, die wir an den Händen fassen, sind wir mit allen andren verbunden.[2]
Dein Leben ist untrennbar verbunden mit dem Leben aller andren ‒ dem ganzen Universum. Das allumfassende Leben wird dir schon zeigen, was du mit deinem Anteil am Ganzen tun sollst. Darauf darfst du dich vertrauensvoll verlassen.[3]
Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.
Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küsste,
die strahlend und als ob sie Alles wüsste
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.
Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.
Gott, du bist groß.[4]
Sagen wir es noch einmal, denn es verdient oft wiederholt zu werden: Wir dürfen dem Leben vertrauen, dürfen uns dem Geheimnis, das uns darin «entgegenwartet»[5], anvertrauen.
Die Antwort auf jede Berufung wird einem Dreischritt folgen: still werden, sonst können wir nicht horchen; hinhorchen, sonst können wir nicht hören, wozu das Leben uns ruft; und antworten auf den gehörten Ruf ‒ innehalten, innewerden und tun. Das gilt für Berufung im Großen, will aber Augenblick für Augenblick im Kleinen geübt werden. Wir nennen diese Übung: Stop ‒ Look ‒ Go.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3, 6]
[Ergänzend:
1. Weitere Auszüge aus ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern›!› im Buch Orientierung finden (2021), 90f., in Berufung ‒ Folge deinem Stern (2022); 100f. und 95f., in Treue; 97, in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.1.; 99-101, in Dem Leben vertrauen
2. Fünf Schritte, wie du zu deiner Berufung findest (2015)
3. Audios zu ‹Berufung ‒ dem Leben antworten›
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
‹Drei Grundfragen … und Gespräch:
(45:00) Wissen und Weisheit ‒ Intuition, ein inneres Sehen ‒ Weise Menschen sind Herzmenschen / (52:29) Freiheit als Antwort auf die Frage, die das Leben mir in diesem Augenblick stellt / (58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen / (01:12:35) Das Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung in der Erziehung von Kindern
Tag 2 ‒ Nachmittag:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(38:11) Das Selbst spielt in jedem Ich eine einzigartige Rolle ‒ der Vergleich mit dem Kasperltheater ‒ Unsere Rollen sind uns weit mehr aufgegeben als wir meinen ‒ Mir ist eine Rolle aufgegeben: Wie kann ich sie gut spielen? ‒ Freiheit ist ein Wesenszug von allem, was es gibt / (42:00) Wir sind zu einem gewissen Grad frei, uns dem Leben hinzugeben oder uns gegen das Leben zu sträuben: Immer wieder ins Jetzt kommen und das Leben durch uns fließen lassen. Im Jetzt sein heißt, sich der Frage, der Aufgabe stellen, die das Leben uns jetzt stellt: ‹Es gibt nichts Gutes, außer man tut es› / (45:19) ‹To live in tune with the world› ‒ ‹Alles ist Schwingung, alles ist Klang›: Im Einklang mit dem Leben tanzen ‒ tanzend arbeiten]
________________
[1] Interview mit Bruder David im Video Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024)
[2] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern!›, 91-95
[3] Ebd. 100
[4] R. M. Rilke, Das Stunden-Buch, in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 73f.
[5] Sinne und Kind werden, Anm. 7:
Das Wort ‹entgegenwarten› stammt von Rilke: ‹Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten.› (R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)
[6] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern!›, 100f.
Besinnung
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Mittags einen Augenblick lang zur Besinnung innezuhalten ist ein spontanes Bedürfnis des menschlichen Bewusstseins. Da erinnere ich mich an die Weihe von Tetsugen Glassman Sensei zum Abt des Riverside Zendo in New York. Es war eine großartige Feier; aus dem ganzen Land waren Zenlehrer zusammengekommen, um diesen Anlass zu würdigen, und der Raum war voll von Kerzen und Weihrauch, weißen Chrysanthemen und schwarz-goldenen Brokatgewändern. Mitten in den Feierlichkeiten ertönte plötzlich das Piepsen einer Armbanduhr. Alle sahen sich verstohlen um, um festzustellen, welchem Pechvogel das passiert sein mochte, denn eigentlich sollte man im Zendo überhaupt keine Armbanduhr tragen. Zum allseitigen Erstaunen unterbrach der neue Abt selbst die Zeremonie und sagte: «Das war meine Armbanduhr, und es war kein Versehen. Ich habe ein Gelübde abgelegt, am Mittag innezuhalten, ganz gleich womit ich auch beschäftigt sein möge, um Gedanken des Friedens in die Welt zu senden.» Dann lud er alle Anwesenden ein, dies mit ihm gemeinsam zu tun.
Dieser Zwischenfall erinnerte mich daran, dass die Angelusglocken eigentlich ursprünglich dazu vorgesehen waren, zum Gebet für den Frieden einzuladen. lm Kloster waren es die Glocken, die zur Sext riefen, aber sie luden auch alle Dorfbewohner ein, für den Frieden zu beten. Wo immer sich Menschen aufhielten, in den Feldern oder bei ihrer Arbeit, in ihren Geschäften oder zu Hause, wenn sie die Glocken zum Angelus hörten, unterbrachen sie ihre Arbeit und beteten. Das war auch bei den Morgen- und Abendglocken der Fall, aber die Mittagsglocken waren eine spezielle Einladung, für den Frieden zu beten und sich zu verpflichten, andere liebevoll zu behandeln. Ich habe diese Geschichte der Abteinsetzung oft erzählt und immer festgestellt, dass viele gerne mithelfen wollen, diesen Brauch wieder aufleben zu lassen. Schon jetzt beten Menschen auf der ganzen Welt zur Mittagszeit für den Frieden, wie wir es im Kloster seit Jahrhunderten getan haben. Wie schön wäre es, wenn mittags im Radio und Fernsehen Glocken und Geläute von Heiligtümern zu hören wären, die allerorts den Frieden verkünden. [ST 22f., Quelle: MS 5) 95f.]
Buddhismus
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Ich hatte bemerkt, dass für meine buddhistischen Lehrer Schweigen die Zentralstellung einnahm, die der des Wortes in den Amen-Traditionen entsprach.
Nirgends wird das offensichtlicher als in der berühmten wortlosen Predigt des Buddha. Wie kann jemand ohne Worte predigen?
Der Buddha hielt einfach eine Blume hoch. Nur ein einziger seiner Jünger verstand, heißt es. Wie konnte er aber ohne Worte beweisen, dass er verstand? (Und wenn er redet, hat er ja das Wesentliche nicht verstanden.) Er lächelte, wird uns berichtet. Der Buddha lächelte zurück, und in diesem gemeinsamen Schweigen wird die Tradition Buddhas weitergegeben an seinen ersten Nachfolger, an Mahakashypa, den Mönch der verständnisvoll schweigend gelächelt hatte.
Seither, sagt man, wird die buddhistische Tradition schweigend weitergegeben. Oder genauer gesagt, was weitergegeben wird ‒ die Tradition selbst ‒, ist Schweigen.
Das erklärt, was ich mit Eido Shimano Roshi erlebte. Wenn ich meinte, einen Punkt des Zen Buddhismus verstanden zu haben und ihn so genau wie möglich formulierte, um ihn danach zu fragen, lachte er aus vollem Hals und sagte: «Absolut richtig ‒ aber wie schade, dass du es in Worte fassen musst».
Und wenn er selber sich in unseren Gesprächen manchmal vergaß und begann, einen Punkt zu erläutern, erwischte er sich früher oder später dabei und lachte: «Ich mache schon wieder viele Worte. Jetzt bin ich schon ein halber Christ». [CG 1-2) 235f.]
Mir scheint, man könnte die buddhistische Metaphysik die fehlende Theologie Gottes nennen, die Theologie der Stille. Darin, wie die Buddhisten mit der Stille umgehen und sich innerhalb des Wortes auf die Stille konzentrieren, liegt etwas außerordentlich Wertvolles. Das Wort ist Stille, die zu Wort gekommen ist. Wenn man vergisst, dass das wahre Wort aus der Sille kommt und uns in die Stille zurückführt, wird das Gespräch zu einer Plauderei und ‒ allgemeiner betrachtet ‒ wird das Leben oberflächlich. Darum erscheint mir das buddhistische Augenmerk auf dem Schweigen innerhalb des Wortes außerordentlich wertvoll. Der Buddhismus enträtselt die Stille um die Stille. [ST 24, Quelle: SW 65f.]
[Ergänzend:
1. BUDDHISMUS, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 131f.:
«Von den unzähligen Aspekten der vielen Formen des Buddhismus steht für uns in diesem Buch vor allem einer im Mittelpunkt: das Schweigen.
Schweigen ist von Anfang an so grundlegend für den Buddhismus wie das Wort für die Amen-Traditionen [Judentum, Christentum, Islam] und das Verstehen-durch-Tun für den Hinduismus.
Das gilt nicht nur vom ‹vornehmen Schweigen› des Buddha, von seiner Weigerung, auf große spekulative Fragen zu antworten, die sich nicht direkt auf die zentrale Praxis beziehen. Dazu gehören sogar die Fragen nach Gott und nach dem Jenseits.
Schweigen hat vor allem eine positive Bedeutung, so wenn die große Predigt des Buddha, der Bergpredigt vergleichbar, wortlos ist. Er hält nur schweigend eine Blume hoch. Nur einer unter allen Anwesenden verstand diese berühmte ‹Blumenpredigt› und bewies, dass er verstanden hatte, indem er schweigend lächelte. In diesem Augenblick, so heißt es, ging die Tradition von Buddha auf seine lächelnden Nachfolger über.
Das Schweigen ist die Tradition. Die Amen-Traditionen vertrauen auf Gottes Wort; der Buddhismus lässt sich hinunter in das Schweigen, aus dem das Wort aufsteigt.»
2. «Wohin geht der Mensch?» (2022): Im überarbeiteten und ins Deutsche übersetzten Vorwort der Neuausgabe dieses Buches von Hugo M. Enomiya Lassalle, das Bruder David 1988 erstmals für die englische Ausgabe des Buches verfasste, schreibt er:
«Christen erfassen die Letzte Wirklichkeit in theistischen, Buddhisten in nichttheistischen Begriffen; für Zen spielt diese Unterscheidung keine Rolle. Was zählt, ist, dass im Herzen des Buddhismus als auch des Christentums die Erfahrung steht. Und diese Erfahrung ist, im Vollsinn, mystisch.»
3. Dankbarkeit macht eine Fütterung zum Mahl (2011): Interview von Marietta Schürholz mit Bruder David:
«Sie stehen gleichsam für die Verbindung von unterschiedlichen religiösen Traditionen, sind Benediktiner Mönch und haben sich zugleich intensiv mit dem Zen Buddhismus beschäftigt. Was hat die Begegnung mit dem Buddhismus für Sie bedeutet?»
«Eine ziemlich ähnliche Frage habe ich einmal Thomas Merton gestellt: ‹Glaubst Du, dass Du über das Christentum sagen könntest, was Du sagst, wenn es nicht im Licht des Buddhismus wäre?›
Und Merton hat geantwortet: ‹Ich glaube, dass ich das Christentum nicht so verstehen könnte, wie ich es verstehe, wenn es nicht im Licht des Buddhismus wäre.›
Merton ging es nicht um theologische Aspekte. Für ihn war die Einsicht zentral, dass es auf eine persönliche Beziehung zu ‹den letzten Dingen› ankommt. Es kommt nicht auf eine Lehre an, auf etwas, das man glaubt oder nicht glaubt. Es kommt nicht auf äußere Formen an. Es kommt eine persönliche Beziehung zum Grund an.
Das ist zugleich sehr buddhistisch und auch sehr christlich, urchristlich.
Alan Watts, der den Buddhismus in Amerika bekannt machte, sah die Tatsache, dass sich das Christentum und der Buddhismus getroffen haben, als die wichtigste historische Entwicklung des 20igsten Jahrhunderts an.
Ich sehe das genauso. Diese Begegnung ist ein ganz wichtiger Auslöser für einen Bewusstseinssprung, den wir machen müssen.»
4. Audio TAO der Hoffnung (1994):
Vortrag:
(24:30) Im echten Schweigen kommt das Schweigen zu Wort: Unterschied von Gespräch und Wortwechsel / (26:56) Der Tanz, die Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort: Das Verstehen – Verstehen und Tun gehören engstens zusammen / (29:11) Wort – Schweigen – Verstehen in den Primärreligionen und die unterschiedliche Betonung in den westlichen und östlichen Religionen / (31:06) Die Blumenpredigt des Buddha – Zerreisset die Bücher – Wie schade, dass du es sagen musst]
Christuswirklichkeit
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Erich Baumgartner
In den persönlichen Erwägungen zum Glauben an «Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn» in seinem Buch Credo bezieht sich Bruder David auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889) in der Übertragung von Andreas Koziol.
Gerard Manley Hopkins (*28. Juli 1844 in Stratford bei London; † 8. Juni 1889 in Dublin) war ein britischer Lyriker und Jesuit, dessen Gedichte vor allem wegen der Lebendigkeit ihres Ausdrucks bewundert werden.[1]
In diesem Gedicht prägt der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache ‒ «to selve›, was man Deutsch mit «selbsten» wiedergeben kann. Etwas «selbstet», indem es durch sein Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede angezupfte Saite «selbstet» so durch ihren ganz eigenen Ton.[2]
«Wie Eis-Vögel entbrennen, Libellen-Flug sich anfacht;
Wie ein vom Brunnenrand gestürzter Stein erklingt;
Wie jede Saite, die man anschlägt, ihre Sage singt;
Wie jeder Glocke Zunge deren Erz bekanntmacht;
Tut jedes Ding, das sterblich, dieses eine einfach:
Es weist das Wesen, welches in ihm Wohnung nimmt
Als Selbst ‒ ‹ich selbst ward› spricht es vor sich hin;
Ruft: ‹Bin, was ich hier tu, und hierzu hergebracht›.
Ich sage mehr: dem Menschen ist Recht verbürgt,
Der Huld erhält: hält Huld sein Tun und Lassen;
Er führt vor Gott das auf, was Gott in ihm bewirkt ‒
Christus ‒ Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
Den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.»
«As kingfishers catch fire, dragonflies dráw fláme;
As tumbled over rim in roundy wells
Stones ring; like each tucked string tells, each hung bell's
Bow swung finds tongue to fling out broad its name;
Each mortal thing does one thing and the same:
Deals out that being indoors each one dwells;
Selves ‒ goes itself; myself it speaks and spells,
Crying Whát I do is me: for that I came.
I say móre: the just man justices;
Kéeps gráce: thát keeps all his goings graces;
Acts in God's eye what in God's eye he is ‒
Chríst ‒ for Christ plays in ten thousand places,
Lovely in limbs, and lovely in eyes not his
To the Father through the features of men‘s faces.»
(Eis-Vogel-Sonett von Gerard Manley Hopkins, 1844-1889)[3]
Die ersten drei Wörter ‒ «I c h sage mehr» ‒ sind der Wendepunkt dieses Sonetts. Sie fassen alles zusammen, was seine ersten acht Zeilen über das Selbst sagten, und weisen auf das Wesentliche der abschließenden Zeilen hin:
Wo bisher Selbst im Mittelpunkt stand, tritt nun Recht an seine Stelle ‒ nicht aber in dem Sinne, den das Gerichtswesen dem Recht gibt, sondern in dem viel tiefer liegenden Sinn einer inneren Ausrichtung auf Gerechtigkeit.
Recht will hier nicht statisch, sondern dynamisch verstanden werden. Darum prägt der Dichter auch hier ein neues Wort ‒ «justicing» ‒, das zu «selbsten» die gesellschaftspolitische Parallele darstellt und soviel wie «Gerechtigkeit schaffen» bedeutet.
Um das Bewirken echter Gemeinschaft von innen her geht es hier. In gerechter Gemeinschaft besteht das «Mehr», das ich als Mensch sagen kann. Dadurch reicht mein Selbst über das aller anderen Daseinsstufen hinaus.
Jedes sterbliche Ding tut
… dieses einfach:
Es weist das Wesen, welches in ihm Wohnung nimmt
Als Selbst. …
«Ich aber» ‒ als Mensch ‒ «sage mehr: wer gerecht ist, wirkt Gerechtigkeit»,
wie eine wörtliche Wiedergabe der englischen Vorlage lautet.
Sam Keen, ein vielgelesener nordamerikanischer Autor, der sich vorbildlich für eine friedliche, gerechte Gesellschaft einsetzt, sagt mit Nachdruck:
«Ob es uns lieb ist oder nicht, wir gehören alle zu einer Gerechtigkeitsgemeinschaft im Werden.»
Klingt das nicht fast wie ein Kommentar zu Hopkins’ «Ich sage mehr»?
«Selbsten» zeitigt klare Selbst-Aussage jedes Einzelnen. Aber erst wenn wir die uns allen gemeinsame Christuswirklichkeit als unser eigentliches Selbst erkennen, entsteht Gerechtigkeitsgemeinschaft.
Als Glied dieser Gemeinschaft wird ein lebendiges Wesen mehr sagen als: «Ich selbst ward». Was hier ward, ist, «was Gott in ihm bewirkt ‒ Christus» ‒ der kosmische Christus, die innerste Wirklichkeit von allem, was es gibt.
Wo der Dichter hier «Christus» sagt, könnte er unmöglich Jesus sagen. Selbst «Jesus Christus» würde nicht passen.
Es geht um die Christus-Wirklichkeit, an der jedes Selbst Anteil hat, und die darum als innerstes Aufbaugesetz wirkt für die ganze Gemeinschaft des Seins.
In Jesus, wie ‒ potentiell in jedem Menschen, hat Offenheit für das Christus-Selbst sein Ich unendlich erweitert. Das Selbst Jesu Christi fand Ausdruck in seinem Leben und Sterben für eine alles-einschließende Gerechtigkeitsgemeinschaft.[4]
Im Innersten weiß ich ‒ und das Leben zeigt es mir jeden Augenblick neu: Das Geheimnis «will etwas» ‒ es hat eine «Neigung».
«Der Bogen des moralischen Universums ist weit, aber er neigt sich Richtung Gerechtigkeit»,
sagte Martin Luther King, der bewundernswerte Blutzeuge für diese Gerechtigkeit. Meine tiefste Beziehung zum Geheimnis sagt mir, dass ich in dieses moralische Universum hineingestellt bin, um meinen Beitrag zu leisten ‒ um Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Dynamik des Seins zielt auf Gerechtigkeit ab. Diese Gerechtigkeit in unsren Beziehungen zur Mitwelt und zur Umwelt zu verwirklichen, das ist eine außerordentlich schwierige Herausforderung für uns Menschen. Sie erfordert, dass wir uns immer wieder von neuem am Leben in der Komplexität seiner Einzelheiten ausrichten. Bei dieser Aufgabe ist es hilfreich, wenigstens eine klare Orientierung zu haben ‒ Gerechtigkeit als das Ziel zu erkennen und zu wissen, dass das Geheimnis, das uns zuinnerst miteinander verbindet, uns dieses Ziel setzt. Inwiefern wir dieses Ziel erreichen, ist weniger wichtig, als dass wir mit brennendem Verlangen ununterbrochen danach streben.» [5]
Wie kannst Du, als Leser, das Sonett von G. M. Hopkins verbinden mit Deinem Ich-Bewusstsein, Deinem Selbst-Bewusstsein und Deinem Bewusstsein vom «Christus» in Dir selbst?
«Dem Menschen ist Recht verbürgt», sagt der Dichter. Was bedeutet für Dich persönlich diese tiefste innere Ausgerichtetheit des menschlichen Herzens auf Gerechtigkeit?
Wie siehst Du in diesem Licht das Recht aller auf Würdigung ihrer Person und Gleichberechtigung in der menschlichen Gesellschaft?
Wie setzt sich das um in Dein politisches Handeln? (Nicht handeln bedeutet hier auch handeln, denn es stützt den Status Quo.)
Für Jesus Christus war dies so wichtig, dass er schließlich für seinen gewaltfreien politischen Einsatz mit seinem Leben bezahlen musste.
Auf diese Art sagte Jesus «mehr» und führte vor Gott auf der Bühne dieser Welt das auf, was Gott in ihm bewirkte (und in uns allen bewirken will) ‒ «Christus».[6]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-6)
[Ergänzend:
1. Christus verschmilzt mit ‹Sophia›, der göttlichen Weisheit:
Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74f.:
«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.
Mit dem Bild, dass Christus ‹spielt›, greift Hopkins eine Vorstellung auf, die schon im Neuen Testament anklingt, wo Paulus und besonders Johannes Christus und S o p h i a , die personifizierte göttliche Weisheit, ineinander verschmelzen. Sie greifen da auf eine der entzückendsten Bibelstellen zurück, in der Gottes Weisheit von sich spricht:
‹Die Ewige› schuf mich zu Beginn ihrer Wege,
als Erstes all ihrer Werke von jeher.
Gewoben wurde ich in der Vorzeit;
zu Urbeginn, vor dem Anfang der Welt.
Bevor es das Urmeer gab, wurde ich geboren.
Bevor die Quellen waren, von Wasser schwer.
Bevor die Berge verankert wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren.
Noch hatte sie weder Erde noch Felder erschaffen
oder den ersten Staub des Festlands.
Als sie den Himmel ausspannte, war ich dabei,
als sie den Erdkreis auf dem Urmeer absteckte,
als sie die Wolken oben befestigte,
als die Quellen des Urmeers kräftig waren,
als sie das Meer begrenzte, damit das Wasser ihren Befehl nicht überträte,
als sie die Fundamente der Erde einsenkte:
Da war ich der Liebling an ihrer Seite.
Die Freude war ich Tag für Tag und spielte die ganze Zeit vor ihr.
Ich spielte auf ihrer Erde und hatte meine Freude an den Menschen.»
(Buch der Sprüche 8,22-31, Bibel in gerechter Sprache, 2006)[7]
Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Audio Spiritualität und Ökologie; siehe auch im Buch Erkenntnis (2023): Kapitel vier: Natur und Seele, 82-106, das auf dieser Gesprächsreihe basiert:
«Gott ist Weisheit. Weisheit ist Gott. Das eröffnet uns völlig neue Perspektiven. Wir können uns fragen, wohin es uns führt, wenn wir sie im Kosmos entdecken und betrachten, die heilige Weisheit namens sophia.
Für den heiligen Johannes war logos die richtige Übersetzung von sophia. Er bezieht sich dabei mehr auf die Weisheit Gottes im Alten Testament als auf Platons Logos-Philosophie beziehungsweise die griechische Philosophie im Allgemeinen, für die nur das Erklärbare Teil des Wissens sein kann.»
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(35:01) Zwei Blickrichtungen auf Jesus Christus: Er ist einer von uns, die Pointe seiner Gleichnisse, kein Prophet im eigentlichen Sinn und die spätere Deutung in der Logos-Sophia-Theologie (Joh 1)
(38:49) Jesus: Ganz der Vater (Joh 1,18; 10,30) ‒ ‹Die Weisheit hat ihr Haus gebaut› (Spr 8) ‒ ‹Und all denen, die an seinen Namen glauben, gab er Kraft, das zu werden, was er ist› (Joh 1,12)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen … Reinkarnation:
(26:08) Wortwörtlich nehmen klammert sich ans kleine Ich entgegen der Intention des Buddhismus wie auch des Christentums: ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20)
2. Christus-in-uns: unser ureigenstes gott-menschliches Selbst:
Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 75f. und 71:
«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.
Hopkins bereichert den Sinngehalt dieser Bilder noch, indem er betont, dass Christus/Sophia lieblich sei an Aug und Gliedern, die aber ‹nicht seine eigenen› seien ‒ der englische Text sagt ausdrücklich: ‹not his own› ‒ sondern dass diese Augen zu Gesichtern gehören, ‹die ihn menschlich fassen›, wie es in Koziols Übersetzung heißt. So wird Christus sichtbar ‹in Tausenden von Straßen›. Wo immer es Frauen, Männer und Kinder gibt, spielt der eine Christus in allen und jedem, als ob es nur einen einzigen Schauspieler gäbe, der so viele verschiedene Rollen spielt.»
«Gott liebt jeden Menschen so, als ob es nur diesen einen Menschen gäbe. Darin besteht das Herzstück der Lehre Jesu, und dazu bekennen wir uns in gläubigem Vertrauen, wenn wir Jesus Christus Gottes eingeborenen Sohn nennen. Er ist Repräsentant der ganzen Menschheit. Wer auf Gottes väterliche Liebe vertraut, glaubt an sich selbst als ‹einzig geliebtes› Gotteskind.
Aber ist das Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus nicht doch einmalig? Sicher. Aber das gilt für jeden Menschen. Die Beziehung jedes Menschen zu Gott ist einmalig und unauswechselbar, eine immer neue Abwandlung der Christuswirklichkeit, ähnlich wie sich auch Stern von Stern an Glanz unterscheidet. ‹Allen, die ihn aufnahmen› ‒ d.h. allen, die aus der Christuswirklichkeit in ihrem Herzen leben, ob sie Jesus kennen oder nicht ‒ ‹gab er Vollmacht Gottes Kinder zu werden› (Joh 1,12). Oder wie es im ersten Johannesbrief heißt: ‹Sehet, welch eine Liebe uns der Vater geschenkt hat, dass wir Kinder Gottes genannt werden ‒ und sind› (1 Joh 3,1).»
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Demut ‒ der Weg zum Gipfel
Fragerunde:
(01:22:09) In, durch und mit dem Selbst und dieses Selbst nennen wir als Christen ‹Christus›: Und dieses Selbst war auch in Jesus, geht aber über Jesus hinaus und verwirklicht sich auch in uns. Und das war schon dem Paulus ganz klar: Denn er hat nicht nur gesagt: Christus lebt in mir (Gal 2,20) ‒ er hat nicht gesagt: Jesus lebt in mir: Christus lebt in Jesus, Christus lebt in mir, Christus lebt in uns allen ‒, er hat auch gesagt: Wir müssen in unseren Leiden vollenden, was noch am Leiden Christi unvollendet ist (Kol 1,24). Also die Christuswirklichkeit verwirklicht sich in uns allen. Und so beten wir auch ‹In Christus, durch Ihn und mit Ihm›. Das kann alles missverstanden werden, aber so würde ich es verstehen.
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Kath. Akademie Bayern, Kardinal Wendel Haus, München (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(20:55) Christus in uns ‒ Panentheismus
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(13:39) Der dreifaltige Gott – ein Kreislauf von Beziehungen: das Christus-Selbst
Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(18:52) Das Wesentliche am Christentum ausdrücken mit Mythos, Ethos und Ritus / (20:05) Das Reich Gottes: Wir sind alle eine große Familie im Gotteshaushalt, der vom göttlichen Geist belebt ist, dem Hausfrieden Gottes / (21:52) Das Gebot der Gottesliebe und ‹liebe deinen Nächsten als dich selbst› ‒ ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20) / (24:08) Die Feier der Tischgemeinschaft: Die ganze Welt ist eine Tischgemeinschaft, Gott Gastgeber und Speise zugleich, wir ernähren einander, das ist schon in der Natur vorgegeben
TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(06:38) Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir (Gal 2,20) – Den dreifaltigen Gott von innen her verstehen (1 Kor 2,10-16) – Die panentheistische Sicht im Vergleich zum Pantheismus: Wer bin ich denn, dass ich es Gott verweigern sollte, dass Gott ich sein will?
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: Audio 1.2.
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(50:22) Gerade Johannes sagt an der zentralen Stelle im Prolog: ‹Und allen jenen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden› (Joh 1,12), das heißt, genau das zu werden, was er nach dem Johannesevangelium ist: Sohn Gottes.
3. «Ich und der Vater sind eins» ‒ «Atman ist Brahman und Brahman ist Atman»:
Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 76:
«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.
Wo der Originaltext sagt, er spiele v o r dem Vater ‒ ‹to the Father›, eigentlich ‹auf den Vater zu› ‒ sagt Koziol hier, er spiele d e n Vater, dadurch wie ‹er lebt und stirbt›. Auch das ist theologisch haltbar. In Jesus Christus manifestiert sich ja der un-manifeste Gott, den wir ‹Vater› nennen. Darum sagt Jesus bei Johannes: ‹Philipp, wer mich sieht, der sieht den Vater› (Joh 14,9).»
Religionen ‒ drei Innenwelten:
«Es sei an das erinnert, was hier schon über das Verstehen gesagt wurde: Es ist der Prozess, in dessen Verlauf das Schweigen ins Wort findet und das Wort ins Schweigen heimfindet.
Das liefert uns den Schlüssel zur zentralen Intuition des Hinduismus: Atman ist Brahman ‒ der manifeste Gott (das Wort) ist der nichtmanifeste Gott (das Schweigen) ‒ und Brahman ist Atman ‒ das göttliche nicht Manifeste (das Schweigen) ist das manifeste Göttliche (das Wort).»
An welchen Gott können wir noch glauben (2008):
«Wir finden uns in der Unruhe unseres Herzens von einem unauslotbaren Geheimnis umgeben. Wir wissen nicht, woher wir letztlich kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir sind rundum von Geheimnis umgeben. Und je tiefer wir versuchen, dieses Geheimnis zu erfahren, umso mehr kommen wir in Geheimnisse hinein. Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist NICHTS. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.
Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das NICHTS, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar. Dieses MEHR und immer MEHR, das das Göttliche bedeutet, ist in uns selbst.
Das ist die manifestierte Wirklichkeit, wie die Hindus das nennen, im Gegensatz zu der unmanifestierten. Und beide sind unauslotbar, beide Begegnungen mit dem Göttlichen.»
Jesus als Wort Gottes (Salzburger Hochschulwochen 1972), 50f.:
«‹Gott spricht›, dieses ganz prägnante Wort, ist der Schlüssel, der uns das Verständnis aufschließt für die ganze biblische Tradition. ‹Ich habe das Schweigen gehört›, dieses Paradox kann uns als Schlüssel dienen für das Verständnis buddhistischen Sinnerlebens. Ähnlich können wir als Schlüssel (freilich nur als Schlüssel) die immer wiederholte, zentrale Feststellung des Hinduismus betrachten: ‹Atman ist Brahman, und Brahman ist Atman›; oder, wie man sagen könnte: Gott, der sich offenbart, bleibt der verborgene Gott, und Gott als der Verborgene ist wahrlich offenbar; oder: Das Wort ist Schweigen, das zu Wort gekommen ist, und das Schweigen ist Wort, das im Schweigen aufgehoben ist. Indem Gott seine Verborgenheit offenbart, verbirgt er sich in seiner Offenbarung. Das einzusehen heißt verstehen.»
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast im Kardinal König Haus, Wien (AT)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(09:29) ‹Verstehen› im Hinduismus mit Blick auf ‹Ich und der Vater sind eins› (Joh 10,30) und einfache Übung mit einer Blume
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(10:46) Begegnung mit Gott, dem Mehr und immer mehr (Dorothee Sölle)[8] in drei Grunderlebnissen: Die Begegnung mit dem unergründlichen Urgrund von allem ‒ mit dem Unmanifesten, wie die Hindus das nennen ‒, mit der unbegreiflichen Fülle allen Seins ‒ dem manifesten Universum ‒, und mit der Dynamik des unerschöpflichen Lebens, der Lebendigkeit, die das ganze durchpulst: in diesen drei Bereichen, die im Christentum in der Trinitätslehre sich ausdrücken, da tritt diese Gottesbeziehung ein, wird uns ermöglicht: Wenn wir uns bewusst bleiben, dass es sich um eine Beziehung handelt, um eine dynamische Auseinandersetzung mit diesen Bereichen, nicht um ‹jemanden›, dann wird uns unsere Beziehung zu dem Göttlichen und zu Gott, viel leichter:
Bruder David im buddhistischen Bergkloster Tassajara, siehe im Buch Ich bin durch dich so ich (2016), 94f.:
«Immer wieder steigt in diesen Sommerwochen die Frage in mir auf, warum ich mich als Mönch hier so zu Hause fühle. Ja, der Tagesablauf ist sehr ähnlich wie auf Mount Saviour, aber statt des Chorgebetes sitzen wir auf unseren Kissen im Meditationsraum und versenken uns in was wir Christen das Gebet der Stille nennen. Wir lassen uns in das abgründige Schweigen des Großen Geheimnisses hinunter. Schweigen verbindet: Sehr schnell sind wir hier zu einer echten Gemeinschaft geworden. So wie auf Mount Saviour unser Chorgebet die gemeinschaftsbildende Mitte ist, so ist es hier die schweigende Meditation. Dort rühmt in uns ‒ christlich ausgedrückt ‒ der Heilige Geist durch das ewige Wort den Vater, hier dagegen kehrt das Wort ins Schweigen zurück, also Christus zum Vater. Hier wie dort führt uns die innere Bewegung hinein in ein und dasselbe unergründliche Geheimnis. Ein begriffliches Brückenbauen wird mich noch jahrelange Gedankenarbeit kosten, aber jetzt schon erlebe ich diese Gemeinsamkeit und das fasziniert mich. Was Thich Nhat Hanh in Vietnam erlebte, wird mir in Tassajara bewusst: dass wir durch unser Mönchsein zutiefst verbunden sind ‒ über alle äußeren Unterschiede hinweg. Und diese Gemeinsamkeit ist ein tragender Grund ‒ überzeugender als alle scheinbaren Widersprüche.»
Die Weisheit, die alle verbindet (2010):
(04:29) ‹Wir können uns im Schweigen in den Abgrund Gottes hinunterlassen ohne Ende, nie wird ein Echo zurückkommen› (T. S. Lewis) ‒ jede Tradition kennt das Selbst, das uns alle verbindet, die göttliche Wirklichkeit tief in uns: das Christus-Selbst, die Buddha-Natur, Purusha, I’itoi
4. Christus als Choryphaeos, als Anführer des Reigentanzes:
Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 76:
«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.
Der Originaltext sagt, er spiele v o r dem Vater ‒ ‹to the Father›, eigentlich ‹auf den Vater zu› …
Der kosmische Christus spielt und tanzt i n und d u r c h uns vor dem Vater. Dieses Bild sollten wir tief in uns aufnehmen und mit geschlossenen Augen auf uns einwirken lassen. Was es uns sagen will, ist klar: Der Glaube an Jesus Christus als Gottes eingeborenen Sohn schließt niemanden aus, sondern bezieht uns in diese einzigartige Liebe des Vaters zu seinen Kindern ein.
Auf dem Weg der Stille (2023), 20f., siehe den Text von Eve Landis übersetzt in Den großen Tanz beten (1998), siehe auch Dreifaltigkeit: Ergänzend: 2.4.:
«Während einer Predigt unseres Dominikaner-Studentenpfarrers Father Diego hob ich einmal geradezu ab. Mich erfasste ekstatisch die Wahrnehmung, dass wir Gott als den Dreieinen genau deshalb erkennen können, weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Heiligem Geist mit hineingezogen werden. Für Studenten in Wien ist es nicht albern, von Gott zu sagen, dass er tanze. Tanzen ist etwas Ernsthaftes ‒ natürlich nichts Todernstes, aber etwas Lebenswichtiges. Viel später lernte ich den Hymnus über Christus als ‹Lord of the Dance› ‒ ‹Tanzmeister› ‒ kennen, der auf eine alte Shaker-Melodie gesungen wurde.[9]
Ich erfuhr auch, dass der heilige Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert die Beziehung der drei göttlichen Personen zueinander als eine Art Kreistanz beschrieben hatte: Der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns im Heiligen Geist zusammen mit der ganzen Schöpfung zum Vater zurück.
Wir können von diesem Großen Tanz auch mit den Begriffen Wort, Schweigen und Handeln sprechen: Der Logos, das Wort Gottes, kommt aus dem unergründlichen Schweigen Gottes hervor und kehrt wieder zu Gott zurück, schwer beladen mit der Ernte des zum liebevollen Handeln inspirierenden Geistes. Diese trinitarische Sicht hilft mir auf immer neue Weisen die ‹Kommunikation mit Gott› zu verstehen, die wir als Beten bezeichnen ‒ nicht als eine Art Ferngespräch bis zum Himmel, sondern als das Geschenk, dank der Teilhabe an Gottes Leben immer mehr von Leben erfüllt und lebendiger zu werden.»
Credo (2015): ‹Amen›, 237f.; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.3. und Dreifaltigkeit:
«Hier beim Parlament der Weltreligionen zeigte sich mir aber etwas Wichtiges:
Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn.
Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam.
Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes drängte sich mir dabei auf, und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.
Schon im 4. Jahrhundert verwendeten die griechischen Kirchenväter das Bild des Reigens oder Rundtanzes ‒ so wie Kinder ihn tanzen, einander bei den Händen haltend und ‹Ringa ringa reia› singend ‒, um tiefe theologische Einsichten über Gottes Dreieinigkeit auszusprechen:
Der Sohn ‒ Christus als ‹Choryphaeos›, als Anführer des Tanzes ‒ kommt aus der Verborgenheit des Vaters hervor und kehrt im Schwung des Heiligen Geistes zum Vater zurück.
Wenn mein christlicher Glaube an Gott als dreieinig ‒ nicht eins und nicht drei, sondern eins in drei und drei in eins ‒ wirklich Ausdruck des Ur-Glaubens ist, dann musste selbst eine so spezifische Lehre wie die von Gottes Dreifaltigkeit keimhaft in dem Glauben enthalten sein, den ich mit allen Menschen gemein habe.»
An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen. Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht. Wort, Schweigen und Verstehen. Das Wort, das haben schon die griechischen Väter so gesehen, das Wort kommt aus dem Schweigen und geht durch das Verstehen ins Schweigen zurück. Sie haben das den großen ‹Reigentanz der Trinität› genannt. Und wir sind in diesem Reigen und können teilnehmen an diesem Tanz. Das Wort ist der Anführer des Tanzes, der Koryphaios in diesem trinitarischen Tanz.»
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2
Nachmittag:
(57:38) Der Reigentanz der Trinität und Christus, der Logos: das WORT ist der Choryphaeos, der Anführer im Tanz
Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(51:31) Der Reigentanz der Trinität gespiegelt in den Weltreligionen]
________________________
[1] Gerard Manley Hopkins (Wikipedia)
[2] Siehe Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 66; im Buch Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 44, übersetzt Bruder David:
«Jedes vergänglich’ Ding tut eins nur und dasselbe:
stellt, was zutiefst ihm innewohnt, zur Schau:
es selbstet ‒ nennt sich, drückt sich selber aus,
es ruft, ich bin ich selbst: Nur dazu bin ich da.»
«Auf unsre Frage ‹Was?› ruft uns jedes Ding sozusagen seinen einzigartigen Namen zu und wartet nicht darauf, dass wir ihm einen geben. ‹Es selbstet.› Hopkins musste ein neues Wort prägen, um dies auszudrücken. Die Dinge ‹buchstabieren› ihr Selbst, wie er sagt, sie rufen es uns zu mit ihrem ganzen Sein, aber wir können das Wort, das jedes Ding im Innersten ist, nicht begreifen. Es entzieht sich dem Zugriff jeglichen Begriffes. Nur wenn wir uns davon ergreifen lassen, können wir es verstehen. So führt uns also auch die Frage ‹Was?› tief ins Geheimnis.»
Siehe auch Geheimnis: Erg. 3.1. und Anm. 12.
[3] Credo (2015): ‹… und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 76f.
[4] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 67-69
[5] Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 48f.
[6] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 69
[7] Im Buch Credo ist der Text aus der Lutherbibel 1554 abgedruckt
[8] Siehe auch die Audios Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
[9] Anmerkung von Bernard Schellenberger: Die Shaker («Schüttler») waren eine im 18. Jahrhundert aus den Quäkern hervorgegangene Freikirche in den USA, in der man ekstatische Schütteltänze pflegte.
Common Sense
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Ronja Forster
Ein alter englischer Spruch lautet: «Common sense is anything but common» ‒ «Common Sense ist alles andere als üblich.»
Darin steckt viel Wahres. Nach Belegen müssen wir nicht lange suchen: Vieles von dem, was in unserer Welt gesagt und getan wird, beruht ganz gewiss nicht auf Common Sense. Dessen werden wir uns in aller Klarheit bewusst, wenn wir den Verstand einsetzen, über den wir selbst verfügen. Wir haben ihn sehr wohl, nur halten wir uns nicht an ihn.
Eine schlichte Redewendung zeigt, dass wir um dieses Spannungsverhältnis wissen. Da schüttelt ein Freund uns an den Schultern und ruft uns verzweifelt zu: «Um Himmels willen, besinn dich doch endlich auf deinen gesunden Menschenverstand», deinen Common Sense!
Das impliziert doch, dass wir durchaus den Common Sense hätten, den wir brauchen, wir müssten ihn nur wirklich einsetzen. Nicht an Common Sense fehlt es, sondern an der Bereitschaft, ihn entsprechend zu leben. Warum ist das so? Worin besteht unser Problem?
Wenn wir sagen, wir müssten bloß unseren gesunden Menschenverstand benutzen, und das in dem Sinn meinen, wie wir einen Schraubenschlüssel handhaben, um ein undichtes Wasserrohr zu reparieren, sind wir auf dem Holzweg.
Wirklich Common Sense einzusetzen bedeutet viel mehr: Es bedeutet, aus ihm heraus zu leben, ihn zu atmen, so wie wir die Luft atmen, an der alle Lebewesen Anteil haben.
Seinen gesunden Menschenverstand anzuwenden heißt, gemäß etwas Verstandenem zu leben.
«Verstehen» ist eine lntensivform von «Stehen».
Um etwa den Wald zu verstehen, müssen wir tief in ihm stehen, lange und still. Oder um den Fluss zu verstehen, müssen wir in ihn eintauchen, uns in ihm versenken ‒ so wie in Musik oder in ein Buch, das wir verstehen wollen. Um einen Berg zu verstehen, genügt es nicht, seinen Namen zu kennen oder vom Tal aus hinaufzuschauen, sondern wir müssen ihn besteigen, müssen auf dem Gipfel stehen. Und so müssen wir auch mit beiden Füßen in der Welt stehen, bevor wir sie verstehen können als das Haus, das Heim, zu dem sie uns wird, wenn wir unseren Hausverstand, unseren gesunden Menschenverstand, unseren Common Sense anwenden.
Unsere Vernunft vernimmt nur den Auftrag; unser Verstand führt den Auftrag aus.
Gesund kann unser Menschenverstand nur sein, wenn er sich nicht allein im Hirn befindet, sondern von Herzen kommt ‒ vom Herzen als dem innersten Lebensbereich, in dem wir mit allem Leben auf der Welt zutiefst eins sind.
Bevor wir Common Sense - Gedanken haben können, müssen wir also ein Gespür für das entwickeln, was common, was uns allen gemeinsam ist. Wie sollten wir denn erwarten können, dass Common Sense in unsere Köpfe einzieht, wenn wir unsere Herzen noch gar nicht weit aufgetan, noch nicht tief durchgeatmet und noch kein Gefühl dafür bekommen haben, was uns allen gemeinsam, was uns allen common ist?
Um uns die Gemeinsamkeit allen Lebens deutlich vor Augen zu führen, brauchen wir uns bloß an einen Feldrain oder einen Waldrand zu setzen. Unser Blick fällt auf Wiesen, Sträucher und Bäume.
Je genauer wir aber hinschauen, desto mehr entdecken wir.
Die Wiese besteht aus Gräsern und unzähligen Kräutern und Blumen: Da wachsen Wegerauten, Löwenzahn, Hahnenfuß, Wiesenschaumkraut und Thymian; dazwischen hat sich Moos angesiedelt, in dem Ameisen umherkrabbeln. In einer Astgabel der Haselstaude spannt eine Spinne ihr Netz. Ein Rotkehlchen hüpft von Zweig zu Zweig. Käfer klettern über grobe von Flechten bedeckte Steine. Alle diese Pflanzen und Tiere stehen in engster Wechselbeziehung zueinander und zu ihrer Umwelt, zu Erde und Sonnenlicht, Tau, Regen und Wind.
Das Ganze funktioniert aber nicht nur mechanisch, sondern wird von einem gegenseitigen Einvernehmen gesteuert, zu dem jedes Lebewesen seinen Teil beiträgt ‒ und das Ganze ist doch mehr als die Summe aller Teile. Die Wiese am Waldrand ist ein einziger großer summender Haushalt und er wird zusammengehalten und gelenkt von einem einzigen vibrierenden Common Sense.
Doch machen wir uns nichts vor. Die Harmonie, wie wir sie in der Natur vorfinden, unterscheidet sich von unserem romantischen Wunschdenken. Der Löwe ruht keineswegs friedlich neben dem Lamm ‒ und auch nicht das Rotkehlchen neben dem Regenwurm oder die Katze neben dem Rotkehlchen. Unser Begriff «Nahrungskette» ist allzu steril-distanziert; er lässt uns die gnadenlose Tatsache vergessen, dass Lebewesen davon leben, einander zu töten und gegenseitig aufzufressen.
Die Natur lebt nach dem großen Gesetz vom Fressen und Gefressenwerden.
Warum aber das Ganze nicht als einziges großes Mahl betrachten ‒ sogar als Hochzeitsmahl?
Die Geschöpfe feiern auf Kosten anderer, mit ihresgleichen sind sie in Intimität verbunden. Jede einzelne Blume auf der Wiese signalisiert in strahlender Unschuld ihre nackte Geschlechtlichkeit ‒ bevor sie von einer Kuh gefressen wird. Das Gesumme und Gebrumme auf der Wiese ist Hochzeitsmusik. Jedes Lebewesen ist eingestimmt auf die Harmonie dieses grausam-freudigen Tanzes aller mit allen.
Alle ‒ außer uns Menschen. Wir sind bei diesem Tanz die einzigen Ungeschickten, die einzigen, die aus Takt und Rahmen fallen.
In unserer Einzigartigkeit liegt unsere Größe, aber auch die Gefahr für uns. Wir neigen dazu, die Tatsache, dass wir anders sind, mit der Illusion zu verwechseln, dass wir außerhalb oder über dem anderen stehen. Plötzlich hören wir dann nicht länger den großen Rhythmus des Ganzen und geraten im kosmischen Tanz aus dem Takt.
Einfache Menschen haben es leichter. Dabei heißt «einfach» nicht: einfältig oder ungebildet. Der Dalai Lama etwa zeigt das Beispiel echter Einfachheit, die sehr wohl mit höchster Bildung vereinbar ist. Nicht hohe Intelligenz steht der Einfachheit im Weg, sondern der Umstand, sich selbst zu wichtig zu nehmen ‒ mit all seinen negativen Konsequenzen.
Je weniger wir uns selbst wichtig nehmen, desto einfacher werden wir. Wir lassen dann die engen Grenzen unseres kleinen Ichs hinter uns und betreten die weiten, offenen Räume unseres wahren Selbst.
Einfachheit dieser Art schenkt uns innere Weite und ein immer tieferes Bewusstsein dessen, dass wir mit allem Lebendigen eins sind. Wer sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt, atmet freier und gewinnt erst von da aus in der Einschätzung anderer wirklich an Gewicht. Menschen, die so leben, spürt man es an, dass sie sich im Universum zu Hause fühlen, und dann fühlt man sich auch bei ihnen zu Hause.
Sie sprechen so, dass auch der einfachste Mensch sie verstehen kann, denn sie sprechen mit dem gesunden Menschenverstand, mit dem Common Sense. Ein Schweizer Sprichwort sagt es ausdrücklich: «Me cha mit em Veh rede, we mer Mänscheverstand het.» ‒ «Man kann mit dem Vieh reden, wenn man Menschenverstand hat.»
Menschen zu begegnen, die dank ihres Common Sense diese Sprache fließend sprechen, ist eine Gnade.
Ein solcher Mensch ist mir aus meiner Kindheit in Erinnerung geblieben: unsere bucklige Nachbarin, Frau Schliffsteiner. Sie konnte wirklich mit dem Rindvieh reden, aber auch mit Katzen und Hunden, mit ihren Ziegen, mit Spatzen, Tauben und Krähen, mit den Kröten im Garten und den Topfpflanzen auf ihrem Fensterbrett. Vor allem aber konnte sie mit allen Arten von Menschen reden: von Kurtl, dem gutmütigen Dorftrottel, bis zum Herrn Oberlehrer unserer zweiklassigen Volksschule, und der war wirklich jemand (er konnte sogar Klavier spielen).
In aller Einfachheit begegnete sie jedem als einem Mitglied ihrer großen Familie, zu der ganz selbstverständlich auch Tiere und Pflanzen gehörten. Sie schien deren Geheimnisse zu kennen. Sie wusste über Kräuter Bescheid, aus denen sich Tee gegen dieses oder jenes Leiden bereiten ließ, und über die Blätter, die zur Heilung halfen, wenn wir Buben uns wieder einmal in den Finger geschnitten hatten. Früher hätte man sie wohl der Hexerei verdächtigt, sie war aber jedenfalls eine gute Hexe, eine weise Frau.
Ihre Nachbarn tranken gern Kaffee mit ihr und erzählten ihr stundenlang von allem, was ihnen auf dem Herzen lag. Nachher fühlten sie sich immer erleichtert. Eines steht jedenfalls fest: Niemand kam um ihres Kaffees willen, denn der war ein jämmerliches Gebräu aus allerhand Zusätzen und den wenigen Kaffeebohnen, die sie sich leisten konnte.
Was sie ihren Gästen gab, war ein Gefühl des Daheimseins. Bei ihr konnte man die heilsame Luft des Common Sense atmen. Das ist es ja, was wir zur Heilung von Leib, Seele und Geist brauchen. Ein indisches Sprichwort drückt es so aus: «Ein Viertel Medizin und drei Viertel Common Sense.»
Common Sense wirkt heilend, weil er mehr ist als eine bestimmte Art des Denkens; er ist eine bestimmte Art, zu leben, zu handeln und alles so zu tun, wie es seinem eigentlichen Sinn entspricht, und es spontan zu tun, selbstvergessen, mühelos.
Manchmal erleben wir das, wenn wir etwa beim Skifahren, beim Tanzen oder sogar beim Tippen auf dem Computer den Punkt erreichen, ab dem wir «in Schwung» kommen: Dann geht alles plötzlich wie von selbst; alles fließt mit Leichtigkeit, ereignet sich im richtigen Augenblick und ganz so, wie es sein soll.
Wir müssen uns nur vorstellen, wie es wäre, wenn wir auf diese Weise in diesem Fluss bleiben und uns selbst dabei spontan selbst ganz vergessen könnten.
Würde nicht die Kraft und Leichtigkeit dieses Fließens:
unseren Geist sprühen lassen,
unserer Seele Frieden bringen,
unserem Verstand Wachheit
und unserem Leib Heilung?
Das gelingt wohl nur wenigen über einen längeren Zeitraum, aber für uns alle ist das erstrebenswert.
Eine einzige Lebensspanne wird kaum ausreichen, um sich ganz auf die Harmonie des Universums einstimmen zu können.
Aber bereits das Bewusstsein eines ersten Mitschwingens mit der Musik des Universums können wir so erleben, dass es uns vorkommt wie das Erwachen aus tiefem Schlaf und Traum.
Davon sprach bereits zu Beginn der griechischen Philosophie Heraklit:
«Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt, von den Schlafenden aber wendet sich jeder seiner eigenen zu.»
Die Bantu in Afrika drücken es in einem Sprichwort noch kräftiger aus:
«Es gibt vierzig Arten des Verrücktseins, aber nur eine Art von gesundem Menschenverstand.»
Heraklit klagte:
«Obwohl der Logos allen gemeinsam ist, leben die meisten so, als besäße jeder eine Privatintelligenz für sich.»
Und er fügte hinzu:
«Wir sollten uns leiten lassen von dem, was allen gemeinsam ist.»
Dieses Leitprinzip, diese innere Weisung, «die alle Menschen der Welt zum Einklang der Herzen führt», nannte Laotse «Dao» (ältere Schreibweise: Tao).
Dieser uns allen gemeinsame Sinn und Instinkt für das Richtige und für das kosmisch wie individuell Sinnvolle findet besonders treffend Ausdruck in dem englischen Begriff Common Sense. [Common sense (2014): «Was ist Common Sense?», 21-29]
[Ergänzend:
1. Hausverstand, Liebe, Zugehörigkeit
2. Common sense (2014): Vorbemerkung des Übersetzers, 7-8:
«In diesem Buch lotet David Steindl-Rast die spirituellen Tiefen des englischen Begriffs ‹Common Sense› aus:
Dabei spielt er mit Gedankenverknüpfungen und paradoxen Redewendungen.
‹Common Sense› heißt korrekt ins Deutsche übersetzt ‹gesunder Menschenverstand›, allgemeiner auch ‹Gemeinsinn›. Beide Begriffe taugen jedoch nicht für die Entdeckung in diesem Buch.
Common Sense lässt sich überhaupt nicht angemessen ins Deutsche übersetzen, ohne dass Bedeutungsnuancen auf der Strecke bleiben.
Beispielsweise verliert Sir John Templetons Spruch ‹Common sense is not common› seinen Witz, wenn er mit ‹Gesunder Menschenverstand ist nicht allgemein verbreitet› übersetzt wird.
lm Begriff Common Sense schwingen unterschiedliche Bedeutungen mit: allgemein richtiges, gesundes Empfinden, stärker noch: Sinn für das Ganze, Gespür für die Verbundenheit mit allem, von allen als wahr und richtig Erkanntes, Sinn für die Vernetzung und Gemeinschaft des gesamten Kosmos, alle und alles verbindender tiefster inspirierender Sinn.
Dieser Aspekt des ‹Common›, des Gemeinsamen, des Verbundenen und Verbindenden, der Vernetzung des gesamten Universums, ist ein zentrales Thema heutiger Spiritualität und genau davon handelt dieses Buch.
Der deutsche Begriff ‹gesunder Menschenverstand› drückt diese Bedeutung nicht aus, jedenfalls nicht vordergründig.
Genau besehen geht es natürlich auch beim gesunden Menschenverstand um mehr als den bloßen Verstand: Es geht um den Menschenverstand, und zwar den gesunden, und dieser nährt sich letztlich aus dem, womit wir Menschen uns als verbunden erleben: aus dem Gespür für das Ganze und für die eine, gemeinsame Wahrheit der Dinge und des Lebens.
Die deutschen Übersetzungen ‹Gemeinsinn› oder ‹Gemeinsamkeit› können ebenfalls nicht angemessen wiedergeben, was mit ‹Common Sense› gemeint ist.
‹Gemeinsinn› lässt zu vordergründig an soziales und politisches Engagement, Ehrenamt und Sorge umeinander denken, während ‹Common Sense› das Gespür und die Inspiration meint, die dazu führen.
Ähnlich vordergründig bleibt ‹Gemeinsamkeit›.
Daher wird es das Beste sein, den Begriff ‹Common Sense› in der deutschen Ausgabe dieses Buches als eine originelle Perle der englischen Sprache beizubehalten. Er macht uns reicher; jede Übersetzung ließe uns ärmer bleiben.
Bernardin Schellenberger»
3. Unsere Zukunft: Das Reich des Kindes (1987):
«Die einfachen Leute, das sind die, die viel unkomplizierter nach dem Hausverstand leben, weil sie nicht so viel zu verlieren haben. Als Professor an einer Universität hat man viel zu verlieren, dann lebt man lieber nach den Spielregeln der Universität. Und als Angehöriger einer Korporation lebt man nach den Spielregeln der Korporation. Auf diese Weise stecken wir alle in irgendeiner Gemeinschaft mit eigenen Spielregeln und lassen uns daran hindern, die Wahrheit zu sagen und nach der Wahrheit zu leben. So lassen wir uns alle tyrannisieren von gesellschaftlichen Zwängen und davon abhalten, wirklich lebendig zu werden.»
4.1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(29. April 2011) Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(12:23) Nur mit existentiellem Mut, mit Vertrauen können wir uns dem Universum als Erdhaushalt zuwenden, in dem wir Ordnung und Zugehörigkeit finden und uns darin daheim fühlen / (16:37) Ordnung als Zustand, in dem jedes Ding dem andern den ihm angemessenen Platz zugesteht ‒ Das Hochzeitsfest in der Natur
4.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(4. Juni 2011) Vertiefungsseminar:
(14:48) Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XI und XX): Das Hochzeitsmahl in der Natur: wenn Tiere einander fressen und Gründe für eine vegetarische Lebensweise]
dankbar leben
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Dankbarkeit beginnt im Bereich der Sinne, mit jener staunenden Freude, die sich am Sinnlichen ganz von selbst entzündet. Wer das bezweifelt, braucht nur ein Fußbad zu nehmen. Da wird Dankbarkeit ganz spontan lebendig. Wenn Herz und Mund es nicht tun, so fangen wenigstens die Zehen an, auf ihre Art dankbar zu singen. [AH 1-2) 85; 3-5) 82]
Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht es ist, die Aufmerksamkeit zu verlieren. Die Übersättigung unserer Sinne führt dazu, dass unsere Wachsamkeit eingeschläfert wird. Eine Flut von Sinneseindrücken neigt dazu, unser Herz von der konzentrierten Achtsamkeit abzulenken. Das schenkt mir eine neue Wertschätzung der Eremitage und ein neues Verständnis dafür, worum es in der Einsamkeit geht. Der Eremit ‒ der Eremit in jedem von uns ‒ läuft nicht vor der Welt davon, sondern sucht nach dem stillen Punkt im Inneren, worin man den Herzschlag der Welt vernehmen kann. Wir alle ‒ jede und jeder in anderem Maß ‒ bedürfen des Alleinseins, weil wir uns unbedingt in die Achtsamkeit einüben müssen. Wie soll das praktisch aussehen?
Gibt es für die Kultivierung der Achtsamkeit eine Methode?
Ja, dafür gibt es sogar viele Methoden. Diejenige, die ich gewählt habe, ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit kann man praktizieren, kultivieren, lernen.
Je stärker unsere Dankbarkeit wächst, desto stärker wird auch unsere Achtsamkeit.
Ehe ich morgens die Augen aufschlage, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe, jedoch Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind, und zwar die Mehrzahl von ihnen aufgrund von Bedingungen, die sich verbessern ließen, wenn nur unsere Menschheitsfamilie zu Verstand kommen und ihre Ressourcen vernünftig und gerecht einsetzen würde. Wenn ich mit diesen Gedanken die Augen aufschlage, sind die Chancen groß, dass ich für das Geschenk, sehen zu können, dankbarer bin und aufmerksamer für die Bedürfnisse derer, denen dieses Geschenk fehlt. Bevor ich abends das Licht ausschalte, vermerke ich in meinem Taschenkalender immer eine Sache, für die ich noch nie dankbar war. Das übe ich schon jahrelang, und der Vorrat an Themen kommt mir immer noch unerschöpflich vor.
Die Dankbarkeit bringt Freude in mein Leben.
Wie könnte ich mich über etwas freuen, das ich für selbstverständlich halte? Seit ich damit aufgehört habe, etwas als «selbstverständlich» anzusehen, kommen die Überraschungen, die ich finde, an kein Ende.
Eine dankbare Einstellung ist etwas Kreatives, denn letztlich ist die Gelegenheit dazu das Geschenk, das in jedem uns geschenkten Augenblick steckt. Das bedeutet meistens, dass sich uns Gelegenheiten bieten, etwas mit Freude zu sehen, zu hören, zu riechen, zu tasten und zu schmecken.
Habe ich mir aber erst einmal angewöhnt, immer neue Gelegenheiten dafür zu finden, so werde ich recht kreativ darin, diese sogar in unangenehmen Situationen zu entdecken.
Doch das Wichtigste daran ist: Dankbarkeit verstärkt diesen Sinn für das Dazugehören, von dem ich ganz zu Anfang gesprochen habe.
Es gibt kein engeres Band als dasjenige, das die Dankbarkeit feiert, nämlich das Band zwischen Geber und Danksagendem.
Alles ist Gabe, ist Geschenk.
Ein dankbares Leben ist eine Feier des allumfassenden Gebens-und-Nehmens des Lebens, ein grenzenloses «Ja» zum Dazugehören. [Auf dem Weg der Stille (2016), 88-90]
Alles ist unentgeltlich, alles ein Geschenk. Der Grad, in dem wir für diese Wahrheit aufgewacht sind, ist das Maß unserer Dankbarkeit. Und Dankbarkeit ist das Maß unserer Lebendigkeit. [FN 1) 15; 2-5) 15; 6) 18]
Bei den meisten Menschen quietschen die glorreichen Pfortenflügel der Wahrnehmung in rostigen Angeln. Ungemein viel Lebensglanz wird recht fruchtlos für uns vergeudet, weil wir mit gedrosselten Sinnen halb blind und halb taub herumtappen und vor lauter Gewohnheit ganz benommen sind. Wie ungeheuer viel Freude verpassen wir, wie viele Überraschungen bemerken wir gar nicht! Das ist, als wären unter jedem Busch Ostereier versteckt, aber wir sind zu faul, um sie zu beachten.
Doch das muss nicht so sein. Genau wie eine sich ausbreitende Krankheit können wir auch unsere fortschreitende Benommenheit beheben, ja können diesen Prozess sogar umkehren und die Heilung einleiten.
Wir können vorsätzlich täglich auf einen bestimmten Duft achten, auf einen Klang, den wir bislang noch nie genossen hatten, auf eine Farbe oder Form, eine Struktur oder einen Geschmack, die wir noch nie beachtet hatten. Versuchen Sie nur eine Woche lang, jeden Tag je ein anderes Ihrer Sinnesorgane bewusst einzusetzen, etwa am Montag das Riechen, am Dienstag das Schmecken und so weiter.
Die Freude fängt jenseits des Glücklichseins an. Freude ist das Glück, das nicht von dem abhängt, was gerade geschieht. Sie entspringt der Dankbarkeit.
Wenn wir anfangen, alles für selbstverständlich zu halten, verfallen wir in Langeweile. Aber alles in uns sehnt sich danach «Leben zu haben, und es in Fülle zu haben» (Joh 10,10).
Der Schlüssel zum Leben in Fülle ist die Dankbarkeit.
Machen Sie den folgenden Versuch: Halten Sie inne und denken Sie nach, bevor Sie morgens die Augen aufschlagen. Denken Sie daran, dass es auf dieser Welt Millionen von blinden Menschen gibt. Wenn Sie Ihre Augen etwas länger geschlossen halten und noch etwas weiterdösen, werden Sie sie dann sogar noch dankbarer aufschlagen. Sobald wir einmal unser Augenlicht nicht mehr für selbstverständlich halten, geht uns auf, was für ein Geschenk unsere Augen sind, und dass wir sie bislang noch gar nicht als solches wahrgenommen hatten.
Ein Geschenk als solches zu erkennen, ist der erste Schritt zur Dankbarkeit. Da die Dankbarkeit der Schlüssel zur Freude ist, halten wir diesen Schlüssel zur Freude in unseren Händen, also zu dem, was wir uns am meisten wünschen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 97-99]
[Ergänzend:
Dankbarkeit mit ergänzenden Hinweisen zu Videos, Audios, Interviews und weiteren Texten]
Dankbarkeit
Text, Videos, Audios, Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Was verstehen wir eigentlich unter Dankbarkeit?
Tägliche Erfahrung zeigt uns, dass das Gefühl der Dankbarkeit spontan in uns aufsteigt, wenn wir etwas Wünschenswertes als reines Geschenk erhalten.
Diese beiden Elemente müssen zusammenkommen: Was wir empfangen, muss uns wünschenswert, also wertvoll erscheinen, und zugleich unverdient.
Je mehr wir das Geschenk schätzen und je klarer uns bewusst ist, dass wir keinen Anspruch darauf haben, desto größere Dankbarkeit löst es aus.
Wir gehen oft wie Schlafwandler durch unsre Tage, nehmen, was das Schicksal uns schenkt, als gegeben hin, solange es uns angenehm ist, oder meinen gar, ein Anrecht darauf zu haben, und beklagen uns über alles Unangenehme und Schwierige.
Wenn wir aber aus diesem stumpfen Dahindösen aufwachen, wird uns bewusst, dass das Leben selbst das wertvollste Geschenk ist, ein Geschenk, das uns völlig unverdient täglich neu und verschwenderisch zuteilwird.
Dieses Aufwachen löst eine Dankbarkeit aus, die unsre Lebenshaltung von Grund auf verändern kann. Dann wird Dankbarkeit weit mehr als ein gelegentliches Gefühl. Sie kann zu unsrer Grundhaltung werden, so dass wir das ganze Leben dankbar feiern. In diese Richtung, das spüren wir jetzt, führt der Weg zu erfülltem Leben. Von nun an kennen wir unser Ziel: dankbar leben.
Aber schauen wir dabei nicht durch eine rosarote Brille? Können wir wirklich dankbar sein für alles, was uns das Schicksal schenkt?
Die Antwort lautet eindeutig: Nein! Es gibt vieles, wofür niemand dankbar sein kann. Das bezieht sich aber nur auf die Verpackung. Das Geschenk selbst ‒ ganz gleich, wie die Verpackung aussieht ‒ ist immer die wertvolle Gelegenheit, die das Leben uns dadurch bietet.
Beide Arten von Geschenken ‒ solche, für deren Verpackung wir dankbar sein können, aber auch solche, bei denen das nicht möglich ist ‒ enthalten das eigentliche Geschenk: Gelegenheit.
Meist ist dies die Gelegenheit, uns einfach dran zu freuen.
Das merken wir aber erst, wenn wir anfangen, Dankbarkeit zu üben.
Dabei wird uns nach und nach bewusst, welch kostbare Geschenke wir bisher unbeachtet als selbstverständlich hingenommen haben.
Jetzt erwachen unsre Sinne und bemerken mit Staunen und Freude die unzähligen Gelegenheiten, aus Freudenquellen zu trinken: Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, betasten ‒ Gelegenheiten, uns zu freuen, auf die wir bisher kaum geachtet haben. Unsre Sinne erwachen. Wir entdecken zunehmend mehr von der Fülle unsrer Lebendigkeit.
Selbst wenn uns etwas zustößt, wofür wir nicht dankbar sein können ‒ etwa Mobbing, Betrug oder Untreue im Privatleben, oder im öffentlichen Leben Gewalttätigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung ‒ auch in dieser «Verpackung» bietet uns das Leben zugleich das Geschenk der Gelegenheit.
Es kann die Gelegenheit sein, innerlich zu wachsen, Geduld und Mitgefühl zu lernen, zu vergeben, aber auch zu protestieren, sich zu verteidigen, Unterschriftslisten zu unterzeichnen, bei Demonstrationen mitzumachen ‒ friedlich, aber entschlossen und tatkräftig.
Für all diese Gelegenheiten können wir in der Tat dankbar sein. Freilich kann es anfangs schwierig sein, die Gelegenheit überhaupt zu bemerken, und selbst wenn uns das gelingt, kann es uns immer noch schwerfallen, uns dankbar zu erweisen, indem wir diese Gelegenheit auch nutzen.
Aber selbst wenn wir uns dankbar erweisen für die Gelegenheit, können wir uns dabei wirklich dankbar fühlen?
Können wir Freude empfinden, mitten in einer schlimmen Lage?
Ja, das können wir!
Freude ist mehr als Glück. Freude ist das Glück, das nicht davon abhängt, ob uns etwas glückt oder nicht. Freude ist die Art von Glück, nach der sich unser Herz sehnt: dauerhaftes Glück.
Gesundheit kann zu Krankheit werden, Wohlstand zu Elend, Glück zu Unglück.
Aber mitten in diesem Auf und Ab erfüllt Dankbarkeit unser Herz mit einer stetigen, stillen Freude.
Wir können nicht darüber glücklich sein, dass wir an einer schweren Krankheit leiden. Aber wir können auch diesem Unglück kreativ begegnen: Wir können darin überraschende Gelegenheiten entdecken und sie nutzen. Das wird uns, trotz allem, eine tiefe Freudigkeit schenken.
Jede Gelegenheit, für die wir dankbar sind, löst Freude in uns aus, selbst mitten im Unglück.
Durch eine außerordentlich schwere Krebserkrankung kam eine junge Frau in Verbindung mit einer Organisation, die solchen schwerkranken Menschen hilft, sich auf gesunde Ernährung umzustellen, gesundes Atmen, Meditieren, Spielen und Tanzen zu erlernen und ihre schiefgelaufenen Beziehungen zu heilen und in vielen andren Bereichen ihr Leben in Ordnung zu bringen.
Zuerst skeptisch sagte die Frau nach einigen Wochen, sie sei jeden Tag voll Dankbarkeit, dass die Krankheit ihr die Gelegenheit geschenkt habe, eine ganz neue Lebendigkeit zu entdecken.
Wir meinen, dass Glück uns dankbar macht. Aber schauen wir doch genauer hin.
Es ist umgekehrt: Dankbarkeit macht uns glücklich - mit dem bleibenden Glück, das wir Freude nennen.
Wir alle kennen wohl Menschen, die reichlich besitzen, was glücklich machen könnte, und die dennoch keineswegs glücklich sind.
Andre dagegen strahlen mitten in den schwierigsten Lebenslagen Freude aus. Warum? Weil sie mitten im Unglück Gelegenheiten dankbar nutzen, während die andren ihr Glück als selbstverständlich betrachten, noch weitere Ansprüche ans Leben stellen und immer unzufrieden bleiben.
Dass wir mit Recht Ansprüche ans Leben stellen können, ist eine weit verbreitete Täuschung und führt zwangsläufig zu Enttäuschung.
Genau das Gegenteil von Anspruchsverhalten ist dankbares ‒ und dadurch erfülltes ‒ Leben. Zu erfülltem Leben gehört freilich auch, dass wir Menschenrechte und -pflichten in der Gesellschaft klar ins Auge fassen und uns für ihre Verwirklichung einsetzen.
Es kommt oft vor, dass Touristen aus wirtschaftlich privilegierten Ländern die strahlende Freude der Menschen in Ländern, wo es selbst am Nötigsten mangelt, einfach nicht fassen können. Diese Freude hat einen Grund. Hast du jemals beachtet, wie die Freude der Dankbarkeit in deinem eigenen Herzen entsteht?
Zuerst fühlst du, wie die Wertschätzung für das Geschenk ‒ auch wenn es nur das Gänseblümchen ist, das ein Kind dir entgegenhält ‒ in dir aufsteigt und in aller Stille dein Inneres füllt ‒ füllt bis zum Überfließen.
Das ist der entscheidende Augenblick ‒ ähnlich dem Augenblick, in dem das Wasser, das lautlos in einem Brunnbecken aufsteigt, plötzlich den Rand übersteigt, laut plätschernd, sprudelnd und im Sonnenlicht glitzernd.
In einer wohlhabenden Gesellschaft kommen Gefühle dieses herrlichen Überströmens nie zustande.
Gerade im Augenblick, wenn Wertschätzung in Freude übergehen will, meldet sich laut die Reklame. Sie brüllt uns in die Ohren, dass es ja ein neueres, größeres, besseres Modell gibt, das wir unbedingt haben sollten. Genau dann also, gerade im springenden Augenblick, machen wir das Becken größer ‒ und wieder größer, so dass es nie zur Freude des Überfließens kommt.
Anspruchslose Menschen haben sehr kleine Becken; ein Tropfen reicht aus, um es freudig plätschernd überlaufen zu lassen. Und dann strahlen sie. Weshalb sollte diese Freude nicht auch uns zuteilwerden?
Der Armut müssen wir ein Ende machen ‒ und so rasch wie möglich. Aber die Kunst einfachen Lebens können wir erlernen. Es ist die Kunst, sich an Qualität statt Quantität zu freuen.
Diese Freude kann uns niemand nehmen. Aber auch geben kann sie uns niemand. Sie entspringt der Dankbarkeit.
Nun müssen wir aber zugeben, dass unsre Gesellschaft alles andre ist als dankbar.
Wir werden immer anspruchsvoller und nehmen als gegeben hin, was unsren Großeltern noch als ganz unglaublicher Luxus erschienen wäre.
Der Volkswirtschaftler Mario Quintana zeigt auf, dass die Wirtschaft ihre Aufgabe völlig umgekehrt hat. Statt den Bedarf zu decken, bemüht sie sich, ihn zu wecken. Von Werbung aufgestachelt, wollen wir mehr und mehr und nehmen es zunehmend einfach als gegeben hin, ohne uns wirklich daran zu freuen.
Nur Dankbarkeit löst Freude aus.
Wir verschlafen unsre Freuden. Wer wach ist, erkennt in allem, was es gibt, letztlich ein Geschenk des großen Geheimnisses, das alles gibt. Dankbarkeit dem großen DU gegenüber gab dem Leben in allen traditionellen Kulturen Sinn und Mitte.
[Orientierung finden (2021): Dankbarkeit ‒ ein Weg zur Fülle, 116-121
[Ergänzend:
1. Videose:
1.1. Persönliche Botschaft von Bruder David im Video-interview (Transkription) (2017) mit Ramon Pachernegg ab (12:09):
«Aber letztlich ist es doch die Aufgabe jedes Menschen, dankbar zu leben. Und das heißt, im Jetzt zu leben, und das heißt, sein Selbst zu finden.»
1.2. Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (Mitschrift) (2019):
(19:57) die Methode Stop ‒ Look ‒ Go und (38:10) Furcht ist das Gegenteil von dem dankbaren Leben
2. Audios:
2.1. Im Vortrag Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (Transkription) (2014) klärt Bruder David die Begriffe Achtsamkeit ‒ Spiritualität ‒ Dankbarkeit ‒ dankbar leben im Unterschied zu gelegentlicher Dankbarkeit. Im Gespräch (48:36) fasst er im Zusammenhang mit Mitgefühl und Meditation noch einmal zusammen, was mit Dankbarkeit und dankbar leben gemeint ist. Siehe auch Einleitung auf Dankbar leben.org
2.2 Der Vortrag von Bruder David in der Hochgratklinik in Stiefenhofen, Allgäu (DE) Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (Transkription) (2011):
(21:56) Einführung in die spirituelle Praxis «dankbar leben» mit Fragen: Wann und wie sind wir dankbar? Wie können wir dankbar leben in Situationen, für die wir nicht dankbar sein können? / (28:23) Wie Dankbarkeit uns schöpferisch macht ‒ Das Leben feiern / (30:12) Der wissenschaftliche Beitrag von Robert Emmons / (31:24) Wie dankbar leben uns genügsam macht
«Dankbar sein kann man immer nur im Jetzt.»
3. Interviews und weitere Texte:
Im Interview Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020) von Evelin Gander spricht Bruder David wie im Achtsamkeitstraining oft unabsichtlich eine gute Portion Selbstsucht mitspielt:
«Deswegen kann es dabei nicht klappen, denn Leben braucht Vernetzung gegenseitiger Beziehungen, um aufzublühen. In diesem Zusammenhang muss ich auf Dankbarkeit zurückkommen. Da steht das Geben-und-Nehmen im Mittelpunkt, also eine Beziehung. Dankbare Menschen haben gelernt, darauf zu achten, was das Leben jeden Augenblick schenkt und was es erwartet. Es schenkt uns eine Gelegenheit und erwartet, dass wir etwas aus ihr machen. Dadurch nehmen wir an einem weiten Netzwerk lebendiger Beziehungen teil. Kein Wunder, dass Menschen, die Dankbarkeit üben, eine Steigerung ihrer Lebendigkeit spüren.»
«Dabei ist das Training in Dankbarkeit einfach und kostenlos. Ein merklicher Erfolg stellt sich viel früher ein als bei anderen Arten von Training. Sie müssen, zum Beispiel, nur einige Zeit lang jeden Abend drei Erlebnisse niederschreiben, die Sie am vergangenen Tag hatten und für die Sie dankbar sind, und schon steigt ihr allgemeines Wohlbefinden. Oder Sie planen jeden Morgen im Voraus, am kommenden Tag jemandem eine kleine Freundlichkeit zu erweisen, für die Sie selber dankbar wären. Sie müssen es genau planen und dann freilich auch tun. Ob die so Beschenkten sich dankbar zeigen, ist unwichtig. Ihre eigene Lebensfreude wird wachsen.»
Dankbarkeit ist kein Gefühl (2014):
«Zeiten, die uns physisch, emotional und spirituell herausfordern, können es uns fast unmöglich machen, uns dankbar zu fühlen. Doch wir können uns entscheiden, dankbar zu leben, mit Mut offen zu sein für das Leben in seiner ganzen Fülle. Indem wir die Dankbarkeit leben, die wir nicht spüren, beginnen wir die Dankbarkeit zu spüren, die wir leben. Dies ist kein schnelles und einfaches Rezept, aber Sie werden sehen, es wirkt.»
Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude (2014): Interview von Andrea Huttegger mit Bruder David:
«Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude, die nicht davon abhängt, was uns zustößt. Menschen, die Freude ausstrahlen, haben nicht unbedingt viel Glück. Jedoch sind sie dankbar. Umgekehrt gibt es Leute, die scheinbar alles haben, um glücklich zu sein. Sie sind es aber nicht, weil sie nicht dankbar sind.»
«Halten Sie einmal inne, um sich bewusst zu werden, wie erstaunlich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Es gibt mich! Darüber zu Staunen, ist der Schlüssel zur Dankbarkeit.»
Glück aus Dankbarkeit (2013):
«Ich habe auch nicht gesagt, dass wir für Alles dankbar sein können. Ich habe gesagt, wir können in jedem gegebenen Moment dankbar sein für die Gelegenheit. Und sogar, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, das furchtbar schwierig ist, können wir uns dieser Situation gewachsen zeigen und auf die Gelegenheit reagieren, die uns gegeben ist.»
Dankbarkeit: Alles ist Gelegenheit: Das von Rudolf Walter redigierte Interview mit Bruder David zeigt den Weg auf von gelegentlich geübter Dankbarkeit zur Haltung dankbaren Lebens im Zusammenhang mit dem Kreislauf göttlichen Lebens. Der Beitrag erschien im Buch Einfach leben − wie geht das? Das Buch der Antworten (2013)
Das Wir wächst aus der Dankbarkeit (2013): Interview von Christoph Quarch mit Bruder David
Begegnungen ‒ Dankbarkeit (2011): Interview von Rudolf Walter mit Bruder David
Wach ‒ bewusst ‒ achtsam (2011): Wach auf! ‒ sich der Gelegenheit bewusstwerden ‒ achtsam antworten und: Anhalten ‒ Schauen ‒ Gehen
Spiritualität und Verantwortung (2009): Christa Spannbauer im Gespräch mit Bruder David:
«Du lehrst und lebst die Dankbarkeit als spirituellen Weg. Kannst du die Grundzüge dieser spirituellen Praxis erläutern?»
An welchen Gott können wir noch glauben (2008):
«Dankbarkeit: Das war hier im Westen die Spiritualität, die unsere Vorfahren geübt haben, bevor sie überhaupt noch das Wort Spiritualität gekannt haben. Sie waren dankbare Menschen und durch ihre Dankbarkeit haben sie Freude gefunden. Und diese Dankbarkeit taucht uns ein in dieses Geheimnis der Trinität. Denn es setzt den Geber aller Gaben voraus, diesen Urquell, aus dem alles hervorquillt, das Nichts, das alles gibt. Es setzt voraus, uns selbst als Gabe zu empfangen: Wir haben uns nicht gekauft, wir sind uns gegeben, wir finden uns als gegeben vor, wir finden die Welt als gegeben vor. Jeder Augenblick ist ein gegebener Augenblick, alles ist Gabe. Und wir sind ‒ weil wir in einer gegebenen Welt leben ‒ aufgefordert, dankbar zu sein und durch Danksagung alles zurückfließen zu lassen zum Ursprung. Und dadurch sind wir völlig eingebettet in das Wort, das aus dem Schweigen kommt und durch Verstehen, im dankbaren Verstehen zurückfließt zu seiner Quelle.»
Begegnung mit Bruder David Steindl-Rast: Christa Spannbauer und Bruder David 2007 im Stift Melk (siehe den letzten Abschnitt des Interviews)
Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille: Geleitwort und Epilog, in: Michael Fischer (Hrsg.): Buch der Ruhe und der Stille: Inspirationen aus dem Geist der Klöster (2003), 183f.:
«Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.»
Ein neuer Grund für Dankbarkeit, der Beitrag von Bruder David im Buch Der Tag an dem die Türme fielen: Symbolik und Bedeutung des Anschlags (2002)
Dankbar leben in drei Schritten (1991): Vertraue dem Leben ‒ Sei offen für Überraschung ‒ Ja zum Zusammengehören]
Dankbarkeit und Opferritus: Eine tiefe Verbeugung
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
«Ich werde oft gefragt, wie ein Buddhist die Frage: ‹Existiert Gott›? beantwortet.
Vor ein paar Tagen ging ich am Fluss entlang. Der Wind wehte. Plötzlich dachte ich: ‹Oh, die Luft existiert wirklich!› Wir wissen, dass die Luft da ist, aber solange uns nicht der Wind ins Gesicht weht, sind wir uns ihrer nicht bewusst. Vom Wind umweht, wurde mir plötzlich bewusst, dass sie wirklich da ist.
Genauso ist es mit der Sonne. Plötzlich nahm ich die Sonne wahr, die durch die kahlen Bäume schien. Ihre Wärme, ihre Helligkeit ‒ alles vollkommen frei, vollkommen gratis. Wir können sie einfach genießen. Und ohne es bewusst zu wollen, völlig spontan, legte ich die Hände gegeneinander und machte ‹gassho›. Da wurde mir klar, dass es nur darauf ankommt: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das. Einfach nur das.»[1]
Wären wir in der Lage, diese elementare Dankbarkeit ständig zu empfinden, dann bräuchten wir nicht darüber zu sprechen, und viele der Widersprüche, die unsere Welt zerreißen, wären sofort aufgehoben. In unserer derzeitigen Situation mag es jedoch angebracht sein, davon zu sprechen. Es könnte uns zumindest helfen, die Erfahrung zu erkennen, wenn sie uns geschenkt wird, und uns den Mut geben, uns in die Tiefe der Dankbarkeit hinabsinken zu lassen.
Zunächst einmal sollten wir uns fragen: Was geschieht, wenn wir uns spontan dankbar fühlen? (Natürlich geht es uns hier um das konkrete Phänomen, nicht um irgendeine abstrakte Idee.) Zum einen spüren wir Freude. Freude liegt der Dankbarkeit zweifellos zugrunde. Aber es ist eine ganz besondere Freude ‒ eine Freude, die uns von einem anderen Menschen geschenkt wird. Meine Freude wird um etwas wesentliches erweitert, wenn ich spüre, dass jemand anders, ein anderer Mensch, sie mir schenkt.
Ich kann mich selbst mit einem köstlichen Mahl verwöhnen, aber meine Freude wird in diesem Fall eine ganz andere sein, als wenn jemand anders mich verwöhnt hätte (und sei es auch mit einem weniger exquisiten Essen). Ich kann mir selbst etwas gönnen, aber keine geistige Verrenkung wird mich in die Lage versetzen, mir selbst dankbar zu sein; hierin liegt der Unterschied zwischen der Freude, aus der Dankbarkeit entspringt, und jeder anderen Art von Freude.
Dankbarkeit bezieht sich auf eine andere Person. Wir können nicht im selben Sinne Dingen oder unpersönlichen Mächten, wie dem Leben oder der Natur, dankbar sein, es sei denn, wir empfinden sie auf irgendeine unklare Weise als menschlich, vielleicht als übermenschlich.
Kann sich Dankbarkeit nicht auf eine Person richten, schwindet sie. Woran liegt das? Dankbarkeit impliziert, dass mir die Gabe, die ich empfange, aus freien Stücken geschenkt wird, und jemand, der mir einen Gefallen tun kann, ist, per definitionem, eine Person.
Aber auch wenn mir jemand anders eine Freude bereitet, empfinde ich nur dann Dankbarkeit, wenn er es absichtlich getan hat. In dieser Hinsicht sind die meisten Menschen sehr empfindlich. Wenn wir in der Cafeteria ein ungewöhnlich großes Stück Kuchen erhalten, zögern wir wahrscheinlich einen Augenblick, und erst wenn wir die Möglichkeit ausgeschlossen haben, dass es eben ab jetzt größere Stücke gibt oder dass es sich um ein Versehen handeln könnte, interpretieren wir es als persönlichen Gefallen, der uns ein Lächeln für den Angestellten hinter der Theke wert ist.
In manchen Fällen lässt sich nur schwer entscheiden, ob uns eine Gefälligkeit auch wirklich persönlich zugedacht war, aber unsere Dankbarkeit hängt von dieser Interpretation ab. Zumindest muss die Gefälligkeit einer Gruppe gelten, mit der ich mich persönlich identifiziere. (Trägt man ein Mönchsgewand, dann geschieht es nicht selten, dass man ein größeres Stück Kuchen bekommt oder mit einer anderen unerwarteten Freundlichkeit bedacht wird ‒ noch dazu von Menschen, die einem völlig fremd sind und die man auch nie wiedersehen wird. Hier ist man in seiner Eigenschaft als Mönch persönlich gemeint.) Völlig anders ist es in der peinlichen Lage, in der jemand uns zulächelt ‒ oder wir meinen so ‒ um dann festzustellen, dass das Lächeln jemandem gilt, der hinter uns steht.
Wozu diese kleine Phänomenologie der Dankbarkeit? Soviel ist sicher: Dankbarkeit beruht auf der Einsicht, dass mir etwas Gutes widerfahren ist, das von einem anderen Menschen ausging, dass es mir aus freien Stücken geschenkt wurde und als Gefälligkeit gedacht war. In dem Augenblick, wo ich dies erkenne, empfinde ich spontan Dankbarkeit: «Je suis reconaissant» ‒ Ich erkenne, ich anerkenne, ich bin dankbar; im Französischen umfasst dieser eine Ausdruck alle drei Bedeutungen. Ich erkenne die besondere Qualität dieser Freude der Dankbarkeit: es ist eine Freude, die mir aus freien Stücken als Gefälligkeit zugedacht wurde. Indem ich ein Geschenk, das mir nur ein anderer aus freien Stücken geben kann, aus freien Stücken akzeptiere, erkenne ich meine Abhängigkeit an.
Ich bin dankbar und erlaube meinen Gefühlen, die Freude, die mir geschenkt wurde, voll auszukosten und zum Ausdruck zu bringen. So fließt die Freude ‒ durch die Dankbarkeit, die ich ausdrücke ‒ zu ihrer Quelle zurück. Aufrichtige Dankbarkeit nimmt den ganzen Menschen in Anspruch: Der Verstand erkennt das Geschenk als Geschenk; der Wille erkennt Abhängigkeit an; die Gefühle schwingen mit der Freude dieses Erlebnisses mit.
Der Intellekt erkennt: Ja, diese Freude ist wirklich ein Geschenk; der Wille erkennt an: Ja, es ist gut, meine Abhängigkeit zu akzeptieren; die Gefühle schwingen in Dankbarkeit mit und preisen die Schönheit dieses Erlebnisses. So findet das dankbare Herz, das im Wahren, Guten und Schönen die Fülle des Seins erfährt, durch Dankbarkeit seine Erfüllung. Deshalb ist ein Mensch, der nicht von Herzen dankbar sein kann, ein so beklagenswertes Geschöpf. Fehlende Dankbarkeit weist immer auf eine Störung im Bereich des Intellekts, des Willens oder der Gefühle hin, welche eine Integration der Persönlichkeit verhindert.
So mag etwa der Verstand auf Misstrauen bestehen und nicht erlauben, dass eine Gefälligkeit als solche erkannt wird. Selbstlosigkeit lässt sich nicht beweisen. Wenn ich auch über die Motive eines anderen nachgrüble, so muss an einem gewissen Punkt der Verstand doch dem Vertrauen Platz machen. Dankbarkeit ist eine Geste, die nicht vom Verstand allein, sondern vom ganzen Herzen ausgeht. Vielleicht weigert sich auch mein stolzer Wille, meine Abhängigkeit von einem anderen Menschen anzuerkennen. Das lähmt mein Herz, noch bevor es sich zum Dank erheben kann.
Schließlich mögen auch die Narben verletzter Gefühle eine volle emotionale Antwort verhindern. Mein Verlangen nach reiner Selbstlosigkeit mag so tief und meine bisherigen Erfahrungen so schlecht sein, dass ich verzweifle. Wer bin ich denn auch schon? Weshalb sollte irgendjemand selbstlose Liebe an mich verschwenden? Bin ich es wert? ‒ Nein. Dieser Tatsache ins Auge zu sehen, meine Unwürdigkeit zu erkennen und mich doch hoffnungsvoll der Liebe zu öffnen ‒, das ist der Ursprung aller menschlichen Ganzheit und Heiligkeit, der Kern der verbindenden Geste des Dankens. Die innere Geste der Dankbarkeit kann sich jedoch nur dann verwirklichen, wenn sie auch Ausdruck findet.
Der Ausdruck des Dankes ist ein wesentlicher Bestandteil der Dankbarkeit, er ist ebenso wichtig wie das Erkennen des Geschenks als solches und die Anerkennung meiner Abhängigkeit. Man denke nur an die Hilflosigkeit, die wir empfinden, wenn wir ein anonymes Geschenk erhalten und folglich nicht wissen, wem wir dafür danken sollen. Erst wenn unser Dank zum Ausdruck gekommen ist und akzeptiert wurde, ist der Kreis des Gebens und Dankens geschlossen und ein Austausch zwischen Geber und Empfänger hergestellt.
Allerdings ist das Bild vom geschlossenen Kreis nicht besonders gut gewählt. Austausch ist wohl eher mit einer Spirale zu vergleichen, in der der Geber den Dank entgegennimmt und so selbst zum Empfänger wird. So wird die Freude des Gebens und Empfangens immer stärker. Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm eine Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter, ihrerseits hochbeglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es. Das ist sie, die Spirale der Freude. Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug? Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, größer als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte?
Die Aufwärtsbewegung der Spirale deutet jedoch nicht nur an, dass die Freude stärker geworden ist. Vielmehr sind wir zu etwas völlig Neuem gelangt. Ein Übergang hat stattgefunden. Ein Übergang von der Vielheit zur Einheit: Zu Anfang waren es Geber, Geschenk und Empfänger; daraus wird die Umarmung, die Danksagung und entgegengenommenen Dank umfasst. Wer kann im abschließenden Kuss der Dankbarkeit noch zwischen Geber und Empfänger unterscheiden?
Bedeutet Dankbarkeit nicht einen Übergang vom Misstrauen zum Vertrauen, von stolzer Isolation zu demütigem Geben und Nehmen, von der Versklavung in falscher Unabhängigkeit zur Selbst-Annahme in der befreienden Abhängigkeit? Ja, Dankbarkeit ist die die große Geste des Übergangs.
Und diese große Geste des Übergangs eint uns. Sie eint uns als menschliche Wesen, denn wir erkennen, dass wir in diesem ganzen vergänglichen Universum die Einzigen sind, die um ihre Vergänglichkeit wissen. Darin liegt ja unsere menschliche Würde. Darin liegt zugleich unsere menschliche Aufgabe. Sie besteht darin, den Sinn dieses Übergangs auszuloten. Unser ganzes Leben ist ja Übergang. Sein Sinn will durch die Geste des Dankens gefeiert sein.
Diese Geste des Übergangs eint uns tief in unserm Innern, wo Menschsein religiös sein bedeutet. Dankbarkeit ist im wesentlichen Selbstannahme in jener Abhängigkeit, die befreit. Die Abhängigkeit, die befreit, ist jedoch nichts anderes als jene Religiosität, die allen Religionen zugrunde liegt. Ja, sie liegt sogar jener tief religiösen (wenn auch irrigen) Ablehnung aller Religionen zugrunde.
Wenn wir uns die großen Übergangsriten ansehen, die Teil des ältesten religiösen Erbes der Menschheit sind, dann wird uns die religiöse Bedeutung der Dankbarkeit klar. Anthropologie und vergleichende Religionswissenschaft haben diesen «rites de passage», Riten, die Geburt und Tod und andere wichtige Übergänge im menschlichen Leben feiern, in den letzten Jahren große Bedeutung beigemessen. Im Mittelpunkt dieser Riten steht immer ein Opfer, was insofern verständlich ist, als das Opfer an sich typisch für alle Übergangsriten ist.
Wir können die verschiedenen Formen des Opferritus auf ihre gemeinsamen Grundzüge hin untersuchen. Da finden wir dann, dass zwischen der Struktur der Dankbarkeit als einer Geste des menschlichen Herzens und der inneren Struktur des Opferns eine erstaunlich große Ähnlichkeit besteht. In beiden Fällen findet ein Übergang statt. In beiden Fällen geht die Geste vom freudigen Erkennen eines empfangenen Geschenks aus, gipfelt in der Anerkennung der Abhängigkeit des Empfängers vom Geber und findet ihre Vollendung im äußerlichen Ausdruck des Dankes. Geber und Empfänger werden dadurch vereint, sei es in Form des traditionellen Händedrucks oder in Form einer Opfer-Mahlzeit.
Denken wir nur an Formen des Erstlingsopfers. Fast sicher gehören die ältesten Opferriten hierher. Selbst in seiner einfachsten und primitivsten Form hat der Ritus eindeutig die beschriebene Struktur.
Da wären etwa die Chenchu, ein Stamm, der in Südindien lebt und zu den ältesten Kulturen nicht nur Indiens, sondern der ganzen Welt zählt. Was geschieht, wenn ein Chenchu von einer Sammel-Expedition im Dschungel zurückkehrt? Er wirft eine Handvoll der gefundenen Nahrung in den Busch zurück und begleitet diese Opfergeste mit einem Gebet zur Gottheit, die als Herrin des Dschungels und all seiner Früchte verehrt wird. «Unsere Mutter», sagt er, «durch deine Güte haben wir gefunden. Ohne dich empfangen wir nichts. Dafür danken wir dir.»
Unter den primitiven Völkern sind Tausende ähnlicher Riten beobachtet worden, aber das ebengenannte Beispiel (es wurde von Christoph von Fürer-Haimendorf (1909-1995), der unter den Chenchu Feldforschung betrieben hat, aufgezeichnet) zeichnet sich durch seine besonders klare Struktur aus. Jeder Satz des einfachen Gebets, das die Gabe begleitet, entspricht einer der drei Phasen der Dankbarkeit. «Unsere Mutter, durch deine Güte haben wir gefunden»: Das entspricht dem Erkennen der Gabe als Gabe. «Ohne dich empfangen wir nichts»: Das bringt die Abhängigkeit zum Ausdruck. «Dafür danken wir dir» ist der Ausdruck der Dankbarkeit, der die ursprüngliche Freude über das erhaltene Geschenk auf ein höheres Niveau hebt.
Was das Gebet unter drei Gesichtspunkten ausdrückt, vermittelt der Ritus in einer einzigen Geste: Der Jäger, der einen Teil seiner Beute der Gottheit opfert, drückt damit aus, dass er das Geschenk zu schätzen weiß und dass er durch das symbolische Teilen des Geschenks gewissermaßen einen Bund mit dem Geber eingeht.
Die Ähnlichkeit zwischen gesellschaftlichen Dankesbezeugungen und religiösen Opferhandlungen springt ins Auge. Wir dürfen aber nicht dem Irrtum verfallen, es handle sich bei den Opfergaben der Chenchu und ähnlichen Beispielen lediglich um die Übertragung gesellschaftlicher Konventionen auf die religiöse Ebene. Zwischen den beiden Phänomenen besteht keine einfache Abhängigkeit. Beide entspringen in der Tiefe des Herzens, dehnen sich jedoch in unterschiedliche Richtungen aus.
Das religiöse Bewusstsein des Menschen verwirklicht sich in seinen Opferriten, sein Bewusstsein menschlicher Solidarität im Dank, den einer dem anderen ausspricht.
Der Mensch sieht das Leben an uns, sieht, dass es aus einer Quelle zu ihm kommt, die außerhalb seiner Reichweite liegt. Er sieht das Leben an uns, sieht, dass es gut ist ‒ gut für ihn. Und aus der Sicherheit dieser beiden intellektuellen Einsichten heraus wagt das Herz den Sprung zu einer dritten Einsicht, die über rationale Erwägungen hinausgeht: der Einsicht, dass alles Gute, das mir widerfährt, ein Geschenk aus der Quelle des Lebens ist. Dieser Sprung des Glaubens übertrifft alle Zusammenhänge, die der Verstand herstellt. Er ist ebenso wie das Vertrauen, das man in einen Freund setzt, eine Geste des ganzen Menschen.
In dem Augenblick, wo ich das Leben als ein Geschenk erkenne und mich selbst als den Empfänger dieses Geschenks, wird mir meine Abhängigkeit klar, und ich muss eine Entscheidung treffen: Ebenso wie ich mich im zwischenmenschlichen Bereich weigern kann, Abhängigkeit anzuerkennen, und mich hinter meinem Stolz verbarrikadieren kann, so kann ich auch auf der religiösen Ebene eine Haltung stolzer Unabhängigkeit gegenüber der Quelle des Lebens einnehmen. Und die Versuchung ist groß, die Lächerlichkeit dieser Pose zu übersehen. Abhängigkeit im religiösen Zusammenhang beinhaltet ja mehr als das Geben und Nehmen in der gegenseitigen Abhängigkeit von Menschen; sie beinhaltet Gehorsam gegenüber der Quelle aller Gaben, die größer ist als ich ‒ eine Tatsache, mit der sich mein kleinlicher Stolz nicht abfinden mag. (Hierin liegt übrigens auch die Ursache für die scheinbare Grausamkeit vieler Opferriten. Wir können auf diesen Aspekt hier nicht näher eingehen. Es sei nur angemerkt, dass blutige Opferriten sinnvoll sein können als Symbol für die Gewalt, die wir uns selbst antun müssen, bevor unser im Eigensinn versklavtes Herz die Freiheit liebenden Gehorsams gewinnen kann.)
Der Mensch, der ein Tier opfert, drückt in diesem Ritual die Bereitschaft aus, selber zu sterben, für alles, was ihn vom Ziel dieses Übergangs trennt. Das Ziel ist die Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen. Daher muss zunächst eine Vereinigung göttlichen und menschlichen Willens erreicht werden. Dies geschieht durch Gehorsam. Dabei ist der Tod des Eigensinns nur der negative Aspekt des Gehorsams. Sein positiver Aspekt ist das Erwachen des Menschen zu echter Lebendigkeit und Freude. Der rituellen Tötung folgt die Freude des Opfermahls.
Wenn wir von Gehorsam sprechen, sollten wir der Unterwerfung keine allzu große Bedeutung beimessen. Der positive Aspekt ist viel wichtiger: Aufmerksamkeit für die geheimen Zeichen, die den Weg zur wahren Freude weisen. (Ich nenne sie geheime Zeichen, weil sie ganz persönlicher Natur sind; wir erkennen sie in Augenblicken, in denen wir ganz wir selbst sind.)
«Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt», schreibt Rilke in den «Duineser Elegien». Unser Übergang ist nicht durch den Instinkt vorbestimmt. Uns sind nur Ahnungen gegeben, wie jene Regung der Dankbarkeit in unserem Herzen, und die Freiheit, diesen Ahnungen zu folgen.
In dem Maße, wie wir diese Freiheit verwirkt haben, ist Losgelöstheit vonnöten. Gehorsam ist unsere Wachheit, unsere «disponibilité», unsere Bereitschaft, unserem heimwärts strebenden Herzen in seinem Aufwärtsflug zu folgen. Losgelöstheit befreit die Flügel unseres Herzens. So erst können wir uns aufschwingen zur Dankbarkeit für das Leben in seiner ganzen Fülle. Wir müssen unsere Hand öffnen und loslassen, was wir festhalten. Dann erst können wir die Geschenke empfangen, die uns jeder neue Augenblick darbietet. Losgelöstheit und Gehorsam sind nur Mittel zum Zweck. Das Ziel ist Freude.
Verstünden wir das moralische Opfer in diesem positiven Sinn, dann könnten wir auch seinen Ausdruck, das rituelle Opfer, verstehen. Weder das eine noch das andere ist so schrecklich, wie es manchmal dargestellt wird. Beide haben die Struktur des Übergangs im Dank. Beide gipfeln in der Freude über die Vereinigung des Menschen mit dem, was ihn transzendiert. Dies findet im Höhepunkt des Opferritus, dem Opfermahl, seinen Ausdruck. Dieses frohe Mahl drückt das Vertrauen aus, dass der Geber aller Gaben unseren menschlichen Dank annimmt. Es ist die Umarmung, die den Schenkenden mit dem Dankenden vereint. (Hier sei noch angemerkt, dass im religiösen Kontext Gott allzeit der Gebende ist, wir Menschen die Danksagenden. Nur in dem weit weniger ursprünglichen Kontext der Magie kann diese Beziehung zu einer Art wirtschaftlicher Transaktion degenerieren oder gar zu dem Bemühen von Menschen, über-menschlichen Mächten etwas zu entlocken. Aber Magie und Ritualismus sind Sackgassen des Herzens; sie betreffen uns hier nicht.)
Worauf es uns ankommt, ist, dass unsere eigene Erfahrung der Dankbarkeit mit einem universellen religiösen Phänomen zusammenhängt: mit dem Opfer, das zum Wesenskern aller Religionen gehört. Haben wir nur einmal diesen Wesenskern erfasst, dann wird uns jede Religion zugänglich. Man kann die gesamte Entwicklung der Religionen als eine Entfaltung der Opfergeste verstehen. Wir selbst vollziehen innerlich diese Geste, sooft Dankbarkeit in unseren Herzen aufsteigt.
So geht etwa die jüdische Religion von der unausgesprochenen Überzeugung aus, dass der Mensch kein Mensch wäre, wenn er kein Opfer darbrächte, und gelangt zu der ausdrücklichen Erkenntnis, dass «nur der, der sich selbst als Opfer darbringt, verdient, Mensch genannt zu werden». (Rabbi Israel aus Rizin; verstorben im Jahre 1850.)
Genau dasselbe finden wir im Hinduismus: Ein früher vedischer Text sieht den Menschen als «das einzige Tier, das es versteht, Opfer zu bringen» (Satapata Brahmanah VII, 5, 2, 23). Die Entwicklung findet ihren Höhepunkt in einer Stelle aus dem Chandogya Upanishad (III, 16, 1), wo es heißt: «Wahrlich, Mensch sein heißt Opfer sein.» Zeigt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass ein Mensch erst in der Opfergeste der Dankbarkeit völlig Mensch wird?
Und selbst zum Verständnis des Gebots der Nächstenliebe (das in der einen oder anderen Form die reife Frucht jeder Religion ist) verschafft Dankbarkeit uns Zugang. Im Vorgehenden hat uns die scheinbare Rohheit der Wurzel, aus der Religion entspringt, abgestoßen. Jetzt stößt uns der scheinbare Widerspruch ab, den ihre reifste Frucht enthält. Kann man denn Liebe gebieten? Kann es denn eine Verpflichtung zur Liebe geben? Liebe ist nicht Liebe, wenn sie nicht frei von Zwängen ist. Unsere Erfahrung mit der Dankbarkeit gibt uns einen Hinweis: Eine Gefälligkeit, die wir einem anderen erweisen, bleibt eine Gefälligkeit, bleibt freiwillige Zuwendung, auch wenn uns unser Herz sagt, dass wir es tun sollten, dass wir großzügig sein sollten, verzeihen sollten. Weshalb? Weil uns eine tiefe Solidarität verbindet, die das Herz spürt. Wir gehören zusammen, weil wir gemeinsam einer Wirklichkeit verpflichtet sind, die über uns hinausreicht.
Jesus sagt dazu: «Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so lass allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfre deine Gabe.» (Mt 5,24).
Dies stimmt völlig überein mit der Tradition der Propheten Israels. Diese bestanden darauf, dass wahres Opfer Danksagung sei, wahrer Opfertod Gehorsam, der wahre Sinn des Opfer-Mahls Barmherzigkeit, «hesed». «Hesed» ist jene Bundesliebe, die uns Menschen miteinander verbindet, in dem sie uns als Gemeinschaft an Gott bindet. Abzulehnen ist nur leerer Ritualismus, nicht das Ritual an sich. Danksagung, Barmherzigkeit, Gehorsam sollen das Ritual nicht ersetzen, sondern ihm seinen vollen Sinn geben. Das ganze Menschenleben soll zu einem heiligen Ritual des Dankes werden, das ganze Universum ein Opfer. Der Prophet Sacharja sagt, dass «in jener Zeit» (der Zeit des Messias) «alles Küchengeschirr in Jerusalem und ganz Judäa» dem Herrn der Heerscharen heilig sein werde, heilig genug, um Opfer darin darzubringen. Das heißt, dass es nichts auf Erden gibt, was der Mensch nicht wie ein Gefäß mit Dank füllen und zu Gott emporheben könnte.
Diese universelle Eucharistie, diese kosmische Feier eines Dankopfers, ist der Kern der christlichen Botschaft. Und selbst den Nicht-Christen unter uns erlaubt die Erfahrung der Dankbarkeit zumindest eine gewisse Annäherung an die christliche Überzeugung, dass die Dankesspirale das dynamische Muster jeglicher Realität ist. Innerhalb der absoluten Einheit des dreieinigen Gottes ist Raum für einen ewigen Austausch von Geben und Danken, für eine Spirale der Freude. In der einen und unteilbaren Gottheit gibt sich der Vater dem Sohn hin; der Sohn gibt sich in Dankbarkeit dem Vater hin; das Geschenk der Liebe, das immerfort zwischen Vater und Sohn ausgetauscht wird, ist der Heilige Geist, selbst göttliche Person, der Geist der Dankbarkeit.
Schöpfung und Erlösung sind lediglich das Überfließen dieser göttlichen «perichorese», dieses innergöttlichen Reigens der Dreifaltigkeit, ein Überfließen in das, was von sich aus Nichts ist.
Gottes Sohn wird, dem Willen des Vaters gehorchend, Menschensohn. Durch sein liebendes Opfer vereint er alle Menschen miteinander und mit Gott. Im Geist der Dankbarkeit führt er sie zurück in die ewige Umarmung Gottes, so dass «Gott alles in allen sei» (1 Kor 15,28). «Alles, was existiert, existiert durch das Opfer» (Satapata Brahmanah XI, 2, 3,6). Der ganze Kosmos wird Augenblick für Augenblick durch das Opfer erneuert, durch Dank zu seiner Quelle zurückgeführt, und als Geschenk in all seiner ursprünglichen Frische neu empfangen. Aber dieses kosmische Opfer ist nur deshalb möglich, weil der eine Gott zugleich Geber, Gabe und Danksagung ist.
Denen unter uns, die durch den Glauben bereits in dieses Geheimnis eingedrungen sind, braucht es nicht erklärt zu werden; den anderen kann es nicht erklärt werden. Aber in dem Maße, wie in unseren Herzen Raum für Dankbarkeit ist, haben wir alle an dieser Wirklichkeit teil, wie auch immer wir sie nennen. Es ist eine Wirklichkeit, die wir nie ganz erfassen werden. Worauf es ankommt, ist, dass wir uns von ihr ergreifen lassen, dass wir die innere Gebärde von Dankbarkeit und Opfer vollziehen. Der Vollzug dieses Übergangs führt uns zur Einheit mit uns selbst, zur Einheit mit allen anderen und zur einen Quelle des Lebens. Denn «… nur darauf kommt es an: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das, einfach nur das». [AH 1-2) 139-155; 3-5) 135-151; SD 39-54]
[Ergänzend: Aufwachsen in Widersprüchen (1989) ‒ Salzburger intern. Pädagogische Werktagung, «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Vortrag und Dialog am 19. Juli 1989, Teil 7: Das Opfer ‒ ein Übergansritual]
[1] Aus einer Ansprache des Rev. Eido Tai Shimano, eines japanischen Zen-Meisters, der bei der Gesellschaft für Zen-Studien in New York unterrichtet.
Danken, preisen, segnen
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
Das Herz sieht voller Staunen, dass diese gegebene Welt und alles, was wir in ihr finden, letztlich Geschenk ist. Auf diesen Geschenkcharakter aller Dinge antwortet das Herz mit danken, preisen und segnen.
Das menschliche Herz wurde zum allumfassenden Lobpreisen und Rühmen geschaffen.
Solange wir auswählen und zurückweisen und unser Lob von unserer Billigung abhängig machen, kommt unsere Antwort nur aus halbem Herzen.
Unser Herz als ganzes aber ist mit der ganzen Wirklichkeit in Einklang. Und Wirklichkeit verdient unser Lob.
Mit klarem Blick erkennt das Herz den letztendlichen Sinn von allem: Segen.
Und mit klarem Entschluss antwortet das Herz mit dem letztendlichen Lebenszweck:
Danken, preisen, segnen.
«Rühmen, das ists!» ruft Rilke in seinen Sonetten an Orpheus aus.[1]
Und Orpheus, das Urbild des Dichters, der Mensch in seiner göttlichsten Gestalt, wird uns als «ein zum Rühmen Bestellter» gezeigt.
Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor
wie das Erz aus des Steins
Schweigen.
Das Bild lässt an das Erz für Glocken denken. In einem anderen Bild ist sein Herz eine Kelter. Die Zeit des Traubenpressens geht vorüber, der Wein des Rühmens jedoch hält sich. Nicht einmal der Moder in den Grüften der Könige straft seine Rühmungen Lügen. Seine Botschaft bleibt. Noch weit in die Türen der Toten hinein trägt er Opferschalen mit rühmlichen Früchten.
Vom menschlichen Herzen sagt Rilke in seinen Duineser Elegien:
Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch die preisende bleibt.
Danken, segnen und preisen: alle drei gehören zur Dankbarkeit.
Keines dieser Wörter reicht ganz zu.
Loben und preisen mag sich für das Alltagsleben zu formell anhören.
Vielen mag der Klang des Wortes segnen zu sehr nach Weihrauch riechen, um sich damit wohlzufühlen.
Das Danken wiederum lässt eher an eine höfliche Konvention denken, als an die universelle Haltung zum Leben, die wir hier meinen.
Aber jeder einzelne dieser drei Begriffe fügt der Dankbarkeit einen Aspekt hinzu, den die anderen zwei nicht betonen.
Das Preisen betont die Antwort auf einen Wert.
Das Segnen hat einen religiösen Unterton.
Das Danken weist auf die persönliche Verpflichtung.
Nur zusammengenommen machen diese drei aus Dankbarkeit uneingeschränkte Dankbarkeit.
Und plötzlich ist alles ganz einfach. Wir können all die großen, sperrigen Worte vergessen.
Dankbarkeit sagt alles.
Und Dankbarkeit ist etwas, das wir alle aus Erfahrung kennen.
Kann spirituelles Leben wirklich so einfach sein?
Ja, was wir insgeheim erhofften, stellt sich als wahr heraus: es ist alles ganz einfach.
Es ist eigentlich gerade diese Einfachheit, die uns so schwierig erscheint.
Aber warum vergessen wir nicht all die Komplikationen, die wir selbst auf unserem Weg auftürmen?
Was Erfüllung bringt, ist Dankbarkeit, die einfache Antwort des Herzens auf dieses uns gegebene Leben in all seiner Fülle.
[FN 1) 68, 71-73.; 2-5) 71, 74f.; 6) 72, 75-77]
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[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH: Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 4
Dankesspirale
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - pixabay
Der Ausdruck des Dankes ist ein wesentlicher Bestandteil der Dankbarkeit, er ist ebenso wichtig wie das Erkennen des Geschenks als solches und die Anerkennung meiner Abhängigkeit. Man denke nur an die Hilflosigkeit, die wir empfinden, wenn wir ein anonymes Geschenk erhalten und folglich nicht wissen, wem wir dafür danken sollen. Erst wenn unser Dank zum Ausdruck gekommen ist und akzeptiert wurde, ist der Kreis des Gebens und Dankens geschlossen und ein Austausch zwischen Geber und Empfänger hergestellt.
Allerdings ist das Bild vom geschlossenen Kreis nicht besonders gut gewählt. Austausch ist wohl eher mit einer Spirale zu vergleichen, in der der Geber den Dank entgegennimmt und so selbst zum Empfänger wird. So wird die Freude des Gebens und Empfangens immer stärker.
Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm eine Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter, ihrerseits hochbeglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es.
Das ist sie, die Spirale der Freude.
Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug?
Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, größer als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte?
Die Aufwärtsbewegung der Spirale deutet jedoch nicht nur an, dass die Freude stärker geworden ist. Vielmehr sind wir zu etwas völlig Neuem gelangt.
Ein Übergang hat stattgefunden.
Ein Übergang von der Vielheit zur Einheit:
Zu Anfang waren es Geber, Geschenk und Empfänger; daraus wird die Umarmung, die Danksagung und entgegengenommenen Dank umfasst.
Wer kann im abschließenden Kuss der Dankbarkeit noch zwischen Geber und Empfänger unterscheiden?
Bedeutet Dankbarkeit nicht einen Übergang vom Misstrauen zum Vertrauen, von stolzer Isolation zu demütigem Geben und Nehmen, von der Versklavung in falscher Unabhängigkeit zur Selbst-Annahme in der befreienden Abhängigkeit?
Ja, Dankbarkeit ist die große Geste des Übergangs.
«Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt»,
schreibt Rilke in den «Duineser Elegien».
Unser Übergang ist nicht durch den Instinkt vorbestimmt.
Uns sind nur Ahnungen gegeben wie jede Regung der Dankbarkeit in unserem Herzen, und die Freiheit, diesen Ahnungen zu folgen.
Und selbst den Nicht-Christen unter uns erlaubt die Erfahrung der Dankbarkeit zumindest eine gewisse Annäherung an die christliche Überzeugung, dass die Dankesspirale das dynamische Muster jeglicher Realität ist.
Innerhalb der absoluten Einheit des dreieinigen Gottes ist Raum für einen ewigen Austausch von Geben und Danken, für eine Spirale der Freude.
Der Vollzug dieses Übergangs führt uns zur Einheit mit uns selbst, zur Einheit mit allen anderen und zur einen Quelle des Lebens.
Denn «… nur darauf kommt es an: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das, einfach nur das».[1]
[AH 1-2) 144f., 150, 154f.; 3-5) 140f., 146, 149-151; SD 44f., 49, 52-54]
[Auszug aus: Dankbarkeit und Opferritus]
[Ergänzend:
2. Audio-Vortrag Fülle und Nichts:
(01:47) ‚Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt‘ (Rilke, Die vierte Elegie) – horchen, gehorchen, Gehorsam als Methode und Ziel)]
_________________
[1] Aus einer Ansprache des Rev. Eido Tai Shimano, eines japanischen Zen-Meisters, der bei der Gesellschaft für Zen-Studien in New York unterrichtet
Depression
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Was mir (ein bisschen) hilft, wenn mich Depression überkommt:
An meinem üblichen Ablaufplan festhalten.
Spaziergänge machen (auch wenn ich mich nicht danach fühle).
Nicht Gefühle von Dankbarkeit erzwingen (das würde nicht funktionieren).
Mich daran erinnern, dass «auch das vorbeigehen wird».
Mich selbst freundlich behandeln, so wie ich es mit einem leidenden Freund tun würde.
Etwas für jemand anderen tun ‒ egal wie wenig das sein mag (bereits ein Lächeln oder ein freundlicher Gruß wird helfen, die Gefängnisgitter der Depression zu lockern).
Es ist die Gelegenheit, etwas Neues zu lernen, wofür man dankbar sein kann. Ich leide sehr unter Depressionen, also weiß ich, wie es sich anfühlt, nicht für Depressionen dankbar sein zu können. Du kannst kaum etwas tun, aber wenn du spirituell geübt bist, kannst du wenigstens denken, dass dies eine Gelegenheit ist, um Geduld zu lernen. Du vertraust darauf, dass auch dieses vorübergehen wird. [ST 29, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
Dichtung, Bilder, Sprache
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Erich Baumgartner
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!
Wenn ich in allem, was meine Sinne empfangen,
das ‹Darüber-Hinaus› mit aufnehme,
wird das mir Geschenkte so dicht,
dass nur Dichtung diese Fülle aussprechen kann.
Es wird zu schwer; nur dichterische Sprache
kann so Gewichtiges tragen und vermitteln.
Heute will ich ein Gedicht,
das mich zu vollem Leben und Erleben ermutigt hat,
wiederfinden und mir Zeit nehmen,
es in Ruhe zu lesen.
Ich will mit der Dichterbegabung,
die uns allen ins Herz gelegt ist,
bei allem, was ich erlebe, für Dich,
Du ‹Darüber-Hinaus›,
wach sein. Amen.»[1]
Auch wenn das Wort «Dichtung» von einer anderen sprachlichen Wurzel abstammt als «dicht» im Sinne von «gedrängt» und «fest gefügt», so gibt doch Dichtung der Sprache eine Dichte, die von keiner andren Sprachform erreicht wird. Wir können bei diesem Bild bleiben und sagen, dass die feste Fügung dichterischer Sprache ihr eine sonst nicht erreichbare Tragkraft gibt. Wer Schwerwiegendes aussprechen will, greift zur Dichtung, von verliebten jungen Menschen bis hin zu Staatsoberhäuptern bei feierlichen Anlässen.
Auch wir müssen in diesem Buch immer wieder Dichtung heranziehen, wo wir Wesentliches von solcher Gewichtigkeit vermitteln wollen, dass Prosa unter ihr zusammenbrechen müsste. Nur dem staunenden Herzen zeigt sich das Wesentliche:
«Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.»
Das lernt «der kleine Prinz» vom Fuchs in dem bekannten Buch von Antoine de Saint Exupéry (1900-1944).
Dichtung ist die Sprache des Staunens, die Sprache des Herzens.[2]
«Staunen, Du staunenswürdiges Geheimnis,
ist meine Grundhaltung vor Dir ‒
ein Staunen, das nichts als gegeben hinnimmt
und in allem letztlich Dich betrifft, Dich erkennt.
Alles Gegebene hat ja in Dir seinen geheimnisvollen Grund.
Und das ist auch der Grund meiner Freude.
‹Staunen nur kann ich und staunend mich freu’n›:[3]
über die Bäume, die bläuliche Ferne, die Blumenwiese
und alles, was mich selber betrifft.
Alles ist ja Dein erstaunliches Geschenk.
Lass nicht zu, dass ich dieses Erstauntsein verlerne.
Lass es immer tiefer werden, immer aufmerksamer,
dieses freudige Staunen,
Du meine staunenswerte Freude. Amen.»[4]
Die Freude an Bildern und Namen für Gott kann unser Innenleben ungemein bereichern ‒ die islamische Mystik beweist dies. Aber das Sich-Festklammern an solchen Bildern und Namen bleibt eine ständige Gefahr.
Wie Liebende, die immer neue Namen füreinander erfinden, dürfen wir unsre Gottesbeziehung in zahllosen Gottesnamen feiern, solange wir sie «leicht nehmen».
Aber festes Anklammern an Vorstellungen bedroht unsre persönliche Beziehung zu Gott, die nur gedeihen kann, wenn wir zulassen, dass das Unvorstellbare uns immer wieder neu und anders ergreift. Darüber hinaus führt die zu starke Betonung von Namen und Bildern Gottes schnell zu Meinungsverschiedenheiten zwischen uns, weil wir zu leicht vergessen, dass sie alle auf ein und dieselbe mächtige vereinigende Lebenskraft hinweisen.
In der christlichen Bibel (Apg 17,28) heißt es, dass wir in Gott «leben und weben und sind» ‒ nicht nur wie Fische im Wasser, sondern wie Tropfen im Meer. Und doch lösen wir uns nicht auf in diesem «Meer» wie in einem unpersönlichen Etwas. Wir sind eins damit und stehen doch gleichzeitig in einer persönlichen Beziehung dazu ‒ als zu dem großen Du unsres kleinen Ich.[5]
Bruder David: «In Gott s i n d wir, weil das Mysterium alles Seiende durchwaltet – uns selbst sowie die Welt um uns und in uns. In Gott w e b e n wir, wie Luther so schön übersetzt, denn mit allem was wir tun, weben wir mit am Teppich des Lebens, in dem alles mit allem verwoben ist – und letztlich mit Gott als seinem innersten Mysterium.
Niemand kann herausfallen aus diesem i n G o t t S e i n . Diese unverlierbare Geborgenheit schenkt mir tiefes Lebensvertrauen. Aber diese Bibelstelle gilt für alle Menschen. Paulus spricht ja hier zu Leuten, die von der christlichen Lehre nie gehört haben. Er sagt:
‹wie auch einige eurer Dichter gesagt haben.›
Er stützt sich nicht auf Philosophen und Theologen, sondern auf Dichter.
Nur Dichter finden Bilder und Worte, die uns gemeinsam ergreifen. Das aber brauchen wir heute dringend:
Gemeinschaftssinn durch Ergriffenheit vom einen Gott,
in dem wir leben und weben und sind.»[6]
«Worte, die aus der Stille kommen, reden ‒
von was immer sie auch sonst noch reden mögen ‒
von Dir, Du großes Geheimnis.
Sie weisen auf Unaussprechliches hin.
Sie offenbaren ein flüchtiges Glänzen von einem Ganzen,
das dunkel im Schweigen ruht.
Mach mich hellhörig für das Unsägliche,
das in allem Ausgesagten mitschwingt ‒
für den unfasslichen Überfluss.
Zugleich aber möchte ich auch auf die Fasslichkeit achten,
die Worte uns zeigen, indem sie Fließendes einfassen,
bevor es wieder überfließt.
Dankbar für alles in ihren Schalen erfasste,
will ich Worte achtsam hören und sorgfältig nutzen ‒
achtsam, gewissenhaft und dankbar für diesen Schatz,
unseren Wortschatz.
Danach nimm mich wieder auf in Deiner Stille. Amen.»[7]
Das Wort Orientierung kommt wie «Orient» aus dem Lateinischen, wo «oriens» auf den «Sonnenaufgang», den «Osten» hinweist. Wenn wir wissen, wo die Sonne aufgeht, können wir alle andren Himmelsrichtungen bestimmen und uns auf unser Ziel ausrichten.
Manche Wörter können uns auf ähnliche Weise den Weg weisen. Sie strahlen auf wie Leuchtturmlichter und leiten uns verlässlich durch stürmische See. Solche leuchtenden Wörter können zu Schlüsselwörtern werden, die uns neue Erkenntnisse eröffnen. Wir müssen nur «der Sprache nachdenken» lernen, wie man einem Pfad durch Wiesen nachgeht und sich dabei Blume um Blume an neuen Entdeckungen freut.
«Der Sprache nachdenken» ist ein Ausdruck, den der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) geprägt hat.[8]
Ich habe schon vor langer Zeit die Freude entdeckt, die diesem Nachdenken entspringt. Es lehrt uns, den Einsichten große Aufmerksamkeit zu schenken, die unsre Vorfahren als Spuren ihres Denkens in der Sprache zurückgelassen und uns so vererbt haben. So wie wir versuchten ja auch sie, sich in der Welt und im Leben zurechtzufinden. Auch sie suchten nach verlässlichen Koordinaten für innere Ausrichtung und spirituelle Orientierung.
Deshalb steckt in der Sprache, die sie uns hinterlassen haben, ein Schatz an wegweisender Weisheit. Und weil Dichtung die Sprache um ein Vielfaches verdichtet, enthüllen oft Gedichte diesen Schatz in seiner reinsten und strahlendsten Erscheinungsform.[9]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 4-7, 9]
[Ergänzend:
1. Clown fragt Mönch (2024): Interview von Reinhard Horstkotte mit Bruder David:
«Was haben Mönche und Clowns gemeinsam?»
«Sowohl der Clown wie der Mönch sind Außenseiter der Gesellschaft. Sowohl für den Clown wie für den Mönch ist Achtsamkeit oder spielerische Wachsamkeit im Hier und Jetzt zentral.
Beide folgen einem inneren Ruf und sind bereit, auf ihrem ungewöhnlichen Weg Entbehrungen freudig in Kauf zu nehmen.
Beide spielen gern – der Clown beim Mitspielen in der Show, der Mönch beim heiligen Spiel der Liturgie. Und sie nehmen ihr Spielen so ernst wie wahres Spielen das verdient – nicht todernst, sondern viel ernster: mit dem Ernst des lebendigsten Lebens, das über sich selber lachen kann.»
2. Worum sich letztlich alles dreht (2021): Interview geführt vom Tyrolia-Verlag mit Bruder David:
«Sie benennen in Ihrem Buch Orientierung finden (2021) fast 100 Schlüsselworte für Ihr Leben – gibt es auch ein besonderes Schlüsselerlebnis oder eine Schlüsselbegegnung für Sie?»
«Martin Heidegger hat mir so ein Schlüsselerlebnis geschenkt, für das ich zutiefst dankbar bin. Er spricht davon, dass wir ‹der Sprache nachdenken› können, wie man etwa einem Feldweg nachgeht. Das hat mich zutiefst berührt, als ich es zum ersten Mal las. Es hat mir bewusst gemacht, dass das Denken unsrer Vorfahren unsre Sprache geformt hat und dass wir uns unbewusst in diesen Denkbahnen bewegen – dass wir dies aber auch mit großem Gewinn bewusst tun können.
Heidegger hat mir durch diese Einsicht einen Schlüssel in die Hand gegeben, der mir in unsrer Muttersprache Tür um Tür aufgeschlossen und immer neue Einsichten geschenkt hat. Auch an andren Sprachen durfte ich dies erfahren, besonders im Englischen, wo ich mich ja ebenso zuhause fühle wie im Deutschen. ‹Der Sprache nachdenken› wurde zur Grundhaltung meines Denkens und hat auch mein neues Buch Orientierung finden, entscheidend beeinflusst.»
3. Religionen ‒ drei Ausdrucksformen: Ergänzend: 3.1.: zwei Abschnitte im Buch Orientierung finden (2021), 66f.:
«Erinnern wir uns an einen Augenblick höchster Lebendigkeit. … Nun haben wir aber etwas erlebt, was sich nicht in Begriffe fassen lässt. Wie sollen wir also darüber sprechen? Wie können wir uns selbst klarmachen, was wir erlebt haben, und die Freude daran mit anderen teilen? Dichtung ist der Ausweg, den Menschen in dieser Lage immer wieder finden. Nur Dichtung kann Ahnungen ausdrücken, die nur wie ein Duft an den Worten hängen.»
4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 18f.:
«Die Glaubenssätze sind uns schon von Kindheit an als sehr vertrauenswürdig und fest vorgestellt worden, und jetzt klammern wir uns an sie. Und in dem Augenblick sind wir wieder auf dem Holzweg.
Denn an den Glaubenssätzen ist nichts falsch, die sind schon Ausdruck ‒ wenn man tiefer wird, geduldig nachforscht ‒ sind die immer radikaler Ausdruck aufs Leben.
Aber alles ist falsch mit sich an sie anklammern.
Wir müssen auch die Glaubenssätze im Credo z.B. leicht halten. Fest, aber leicht: So wie man mit einer Feder schreibt: Wenn man sie zu leicht hält, kann man nicht schreiben, aber wenn man sie zu fest hält, kann man auch nicht schreiben. Fest und leicht. So müssen wir die Glaubenssätze halten.»
5. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren ‒ Vortrag und Dialog:
Teil 1 in folgende Themen zusammengefasst:
(17:09) Die Antwort des Schöpfungsmythos
Der Vortrag in Teil 1 erschien ebenfalls unter dem Titel Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 59-71; Bruder David in diesem Vortrag S. 62, wie auch in Heldenmythos, Opfer, Dankbarkeit:
«Mythos in diesem Sinn ist keineswegs etwas Unwahres. Oft verwenden wir das Wort falsch und sagen: Das ist ja gar nicht wahr, das ist nur ein Mythos. Wenn es wirklich Mythos ist im vollen Sinn des Wortes, dann ist es nicht nur wahr, sondern überwahr; dann ist es Ausdruck dessen, was sich in logischer Sprache nicht mehr fassen lässt.»
6. Wie Bruder David Dichtung in seinen Vorträgen einbezieht:
6.1. Video Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017); siehe auch Mitschrift:
(00:50) «Nach so ergreifender Musik fühlt man fast, dass man sich entschuldigen muss, die Stille jetzt durch Worte zu unterbrechen. Aber vielleicht gelingt es uns stattdessen, die Stille, die aus der Musik kommt, zu Wort kommen zu lassen. Und das gelingt am ehesten durch Dichtung. Und darum bin ich auch eingeladen worden, ein paar Worte zu sagen zu den vier Zeilen, die im nächsten Stück aus einem Sonett von Rilke vertont werden. Die Zeilen lauten:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.›[10]
Ich glaube, das ist eine der schönsten Strophen, die ich in der deutschen Sprache überhaupt kenne, schon der Musik nach, und ich habe öfters vor einem Publikum, das nicht Deutsch versteht als Beispiel, wie schön die deutsche Sprache sein kann, gerade diese vier Zeilen zitiert. Das ist fast reine Musik. Und ich möchte jetzt diesen Beginn des Gedichtes weiter ausdeuten, wie Rilke das selber tut im Rest seines Sonettes. Und dann werde ich es am Ende noch einmal lesen.»
6.2. Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010): Audio und Mitschrift des Vortrags in Freiburg i. Br. (DE):
(33:11) Ein zweiter Punkt, was wir haben müssen, um diese gläubige Verbundenheit zu finden und zu pflegen, ist
ein Verständnis für Dichtung.
Das wird Sie vielleicht überraschen, aber es ist ungeheuer wichtig, denn die wichtigsten Texte aller religiösen Traditionen sind in dichterischer Sprache ausgedrückt, auch unsere eigenen als Christen. Und wir sind uns oft dessen gar nicht bewusst. Und darum fallen wir oft in die Falle und nehmen sie wörtlich. Das wäre so, wie wenn wir ein ganz tiefes Erlebnis haben, dass sich nur in dichterischer Sprache ausdrücken kann, und es dann wörtlich nehmen. Und wenn wir ganz tiefe ‒ nicht nur religiöse ‒, sondern auch tiefe emotionale Erlebnisse haben, drücken wir sie immer ganz spontan dichterisch aus. Jeder Liebende wird sagen: ‹Ich schenke dir mein Herz›. Das hat nichts mit Herzchirurgie zu tun, und das wissen wir, das ist uns völlig offensichtlich. Aber wenn wir zu religiösen Texten kommen, die so etwas ähnliches sagen, dann nehmen wir sie plötzlich wörtlich.
Es ist uns gar nicht bewusst, zum Beispiel im christlichen Bereich: Ich nehme das nur als ein Beispiel hier, weil ich annehmen kann, dass doch die meisten von uns entweder Christen sind oder vertraut sind mit diesen Texten; und es hat wenig damit zu tun: Die Kritiker der Religionen sind ebenso oft Opfer des Wörtlichnehmens von dichterischen Texten wie die Gläubigen selbst.
Christen ist es sehr selten bewusst, dass Vater ‒ das Wort für Gott als Vater ‒ ein dichterisches Wort ist. Das heißt nicht, dass es weniger wahr ist. Es heißt nur, dass es viel mehr wahr ist als wir es anerkennen können, wenn wir es wörtlich nehmen. Oder, dass der Sohn, unsere Sohnschaft, unsere Gotteskindschaft: dass das dichterische Wörter sind. Ja, dass das Wort Gott selbst, ein ‹Wort› ist, ein mit dichterischen Werten völlig angefülltes Wort, aber ein Wort und nicht jemand. Es ist nicht so etwas wie Tisch oder Hund oder Baum, sondern es ist ein dichterisches Wort, das in eine Richtung weist.»
6.3. Audio 2.1, in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991) und Mitschrift:
(00:00) «Wenn man zu einem Vortrag kommt, der den Weg zu ‹Fülle und Nichts› im Titel hat, dann ist es schon klar, dass es hier nicht um eine vorwiegend akademische Abhandlung gehen kann, sondern, dass der Titel selbst schon dichterisch ist. Und für uns ist es nicht so leicht, aus unserem alltäglichen Leben in das Dichterische einzutreten. Manchen fällt es weniger schwer, andern mehr, aber wir alle müssen eine gewisse Bemühung machen, dorthin zu kommen.
Ich würde vorschlagen, dass wir, was ich Ihnen zu sagen habe, mit einem Gedicht verbinden. Und zwar mit einem der Sonette an Orpheus von Rilke, das mir schon lange sehr lieb ist, und das uns wirklich in diese Welt einführt.[11] Und um uns auf das Dichterische einzustimmen, würde ich vorschlagen, dass wir die ersten paar Zeilen dieses Gedichtes anhören, aber noch ohne uns über den Inhalt Gedanken zu machen. Nur reine Musik. Es ist das 13. der Sonette an Orpheus aus dem zweiten Teil: die ersten vier Zeilen gehören zum Schönsten und Musikalischsten in der deutschen Sprache. So könnten wir uns vielleicht zunächst nur die Musik anhören; ich lese sie Ihnen mal vor, aber bitte nur zuhören und nicht … wenn Sie’s können, nicht zu sehr darüber nachdenken. Nur der Klang …
Ich habe das öfters schon Leuten vorgelesen, die gar nicht Deutsch können, und schon der Eingang ist bezaubernd, im wahren Sinn des Wortes bezaubernd, denn wir wollen uns eben bezaubern lassen und durch diesen Zauber hineinführen in eine Welt, in der allein wir eine Sprache sprechen können, die dem gewachsen ist, wovon wir hier sprechen wollen.
Die dichterische Sprache ist tragkräftiger für Wahrheit als irgend eine andere Ausdrucksweise.
Die abstrakte logische Sprache wird zu gebrechlich, lange bevor wir noch das gesagt haben, was wir eigentlich wirklich sagen wollen. Die dichterische Sprache ist tragfähig. Das wissen wir alle aus unserer eigenen Erfahrung: Wenn wir wirklich von Einsicht und Lebenserfahrung und Liebe überwältigt werden, werden wir plötzlich dichterisch in unserer Ausdrucksweise. Das zeigt uns schon, dass unser gesunder Instinkt uns in diese Richtung weist.
Diese ersten vier Zeilen des Sonettes lauten:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.›
Um noch tiefer einzudringen, schlage ich jetzt vor, wir machen es gemeinsam. Ich lese die erste Zeile, Sie sprechen sie nach. Ich lese die zweite Zeile und Sie sprechen sie nach …»
6.4. Retreat-Woche in Assisi (1989); siehe auch Heldenmythos, Opfer, Dankbarkeit: Ergänzend: 4.3.:
Audio: ‹Nur die dichterische Sprache ist tragfähig genug, um so viel Wahrheit zu tragen›: Das Glaubensbekenntnis im Licht der großen Menschheitsmythen]
________________
[1] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹40 ‒ Dichtung›, 49
[2] DICHTUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 132
[3] Johann Philipp Neumann (1774-1849), Liedtext aus dem Gloria in Franz Schuberts ‹Deutscher Messe›
[4] Erwachende Worte (2023): 2 ‒ Staunen, 21
[5] Orientierung finden (2021): Gott ‒ das geheimnisvolle ‹Mehr-und-immer mehr›, 56
[6] Meine BESONDERE Bibelstelle ‒ ‹In ihm leben wir› (2023)
[7] Erwachende Worte (2023): 13 ‒ Worte, 43
[8] Martin Heidegger: ‹Unterwegs zur Sprache›, Stuttgart, Klett-Cotta 2022; siehe auch die Transkription des Vortrags Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014), 5, wie auch die Einleitung in allen drei Vorträgen zum Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
[9] Orientierung finden (2021): Der erste Schritt ‒ Orientierung, 15f.
[10] In Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II: 140-148, 150f., den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014, bildete dieses Sonett ‒ wie auch das vorhergehende: ‹Wolle die Wandlung› ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage.
Die Beziehung von Bruder David zu Rilke und besonders zu ‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter/dir› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) ist einzigartig und spürbar in allen seinen Büchern und Vorträgen; siehe den Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (40:06)
Abschied, der Klang des Lebens enthält wegweisende Passagen zu diesem Sonett aus dem Buch Credo (2015) und dem Vortrag Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017). In Ergänzend: 2.-4. sind weitere Vorträge zusammengestellt, in denen Bruder David dieses Sonett vorträgt und deutet.
[11] Bruder David spricht vom gleichen Sonett wie in Anm. 10
Doppelbereich Ich-Selbst
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Arijana Somolanji Kurbanović
[Audio Tag 4 ‒ Nachmittag (21:24)] «Wie können wir leben und sterben lernen? Und da hat Rilke einen Begriff eingeführt, einen bildlichen Begriff: den Doppelbereich.
Das ist für ihn etwas ganz Wichtiges, dieses Wort der Doppelbereich. Das heißt: Zwei Bereiche sind eins, nicht ein Doppelbereich in dem Sinn, dass die nebeneinanderstehen, sondern sie sind eins, und doch zwei.
In einem der Sonette an Orpheus (1. Teil, IX) erwähnt Rilke den Ausdruck ‹Doppelbereich› im Zusammenhang mit ‹rühmen›:
‹Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.›
Was ist unsere Lebensaufgabe? Die große Aufgabe des Menschen ist für Rilke mit einem Wort: Rühmen. Und mit dem Zitat von Augustinus wird klarer, was damit gemeint ist:
‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus).
Jedes Detail ist nur ein kleiner Teil. Rilke spricht in einem seiner Sonette (2. Teil, XXI) von einem gewobenen Teppich:
‹Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.
Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, dass der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.›
Nur wer rühmen kann ‹auch unter Schatten›, kann das unendliche ‒ nicht das endliche ‒ Lob ahnend erstatten. Und dann kommen Bilder, die einfach heißen: Nur wer den Tod integriert, ‹wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren›:
‹Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.
Nur wer mit Toten vom Mohn
aß, von dem ihren,
wird nicht den leisesten Ton
wieder verlieren.
Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
W i s s e d a s B i l d.
Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.›
Mild im Sinn von ‹compassion› ‒ ‹mifühlen›: Also Weisheit und Mitgefühl bekommen erst Raum, wenn man im Doppelbereich lebt.
Und dieser Doppelbereich ist offensichtlich für Rilke das Leben und das Sterben. Die gehören ebenso zusammen, dass es eins ist. Wer wirklich lebt, lebt voll im jetzigen Augenblick und ist schon gestorben für die Vergangenheit.
Und dieses Einüben Schritt für Schritt: im Augenblick, im Jetzt leben, und so lernen loszulassen, das ist Sterben lernen.
T. S. Eliot sagt in den Four Quartets:
‹Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.› ‒ ‹And the time of death ist every moment.›[1]
Dieser Doppelbereich ist nicht einfach Einheit, aber auch nicht Zweiheit[2] ‒ das ist immer die Gefahr, wenn man sagt ‹Doppelbereich›, es sind zwei Seiten einer Münze ‒ viel mehr noch wie zwei Seiten ‒, ganz eng verbunden. Aber man kann sie doch unterscheiden ‒ sie sind untrennbar ‒, aber unterscheidbar.
(26:32) Ich-Selbst ist ebenso ein Doppelbereich, solange wir leben. Und ganz eng verbunden mit dem Doppelaspekt von Leben und Sterben, denn das Selbst lebt, das kann nicht sterben. Es ist nicht in der Zeit.
Und das Sterben kann definiert werden: ‹Wenn meine Zeit um ist›. Das ist eine ganz gute Definition: Ich sterbe, wenn meine Zeit um ist. Meine Zeit beginnt zu einem gewissen Punkt und ist dann zu einem gewissen Punkt um.
Und Zeit und Raum hängen so eng zusammen, dass mein Leib stirbt, wenn meine Zeit um ist, aber was davon gar nicht berührt wird, ist mein Selbst.
Wir vergessen halt das Selbst immer, aber je mehr wir lernen im Ich-Selbst zu leben ‒ und das heißt im Augenblick zu leben: wir brauchen uns gar nicht um das Selbst zu kümmern, wir brauchen gar nicht an das Selbst zu denken, dann leben wir schon im Selbst.
Und je mehr wir lernen, das zu tun, umso mehr wird dann der letzte Augenblick der Augenblick sein, in dem das Ich stirbt, aber das Selbst bleibt: ewig, über der Zeit erhaben.
Es kommt für Rilke noch etwas sehr Wichtiges: Warum denn nicht gleich das Selbst? Warum dieser ganze Umweg über das Ich?
Und da hat er in einem Brief dieses wunderschöne Bild geprägt:
‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.›
Das Sichtbare ist alles, was mit dem Ich zu tun hat in Raum und Zeit, das Unsichtbare ist das Selbst. Und wir sind die Bienen des Unsichtbaren, die Honigbienen und eifrig ‒ ‹éperdument› ‒, er schreibt das in Französisch[3]: ganz hingegeben sammeln wir den Nektar des Sichtbaren ‒ also alles, was wir mit den Sinnen erfassen ‒, in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.
Das ist unsere Lebensaufgabe. Und das heißt, dass nichts verlorengeht.
Es kann nicht verloren gehen, denn ‹Alles ist immer jetzt› (T. S. Eliot).[4]
Und wenn wir im Jetzt leben, ist es und ist und ist: Es hat Anteil an der Zeit ‒ wir erleben es in der Zeit ‒, aber alles, was ist, ist zugleich in diesem Doppelbereich, zugleich in der Zeit und über die Zeit hinaus, weil ‹Alles ist immer jetzt› ist, alles! Und das ist nicht nur der Mensch, der immer ist.»[5]
«Doppelbereich nennt Rilke die Einheit von Diesseits und Jenseits und sagt:
‹Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten.›[6]
Nur wenn ich mich bewusst in diesem Doppelbereich von Vergänglichem und Bleibendem bewege, kann ich in allem Vergänglichen das Bleibende miterfahren und in allem Bleibenden Dich, Du Ursprung bleibenden Seins.
Erweitere Du die Reichweite meiner Sinne; öffne sie für das Übersinnliche im Sinnlichen. Lass mich ‹die Spiegelung im Teich› als ein Ganzes sehen und dieses Bild niemals vergessen. Lass mich jetzt schon das vertrauliche Nahsein der uns Vorangegangenen erfahren. Und wenn meine Zeit kommt, heimzugehen, dann schenk mir einen sanften Übergang. Amen.»[7]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5 und 7]
[Ergänzend:
1. ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› und unsere Aufgabe: Rühmen, Er-innern, Aufheben
2. Den einen Pol im andern sehen:
Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 190f.; siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild
Johannes Kaup: «Das Geistige und das Emotionale, das Leibliche und Seelische, das Profane und das Heilige, das Zeitliche und das Ewige: Wie hängen diese Doppelbereiche zusammen bzw. wie existieren Sie in diesen Doppelbereichen so, dass Sie nicht an einer Gespaltenheit leiden?»
Bruder David: «Diese Gegensätze begegnen uns überall, und die wichtige Einsicht ist, dass wir sie zwar unterscheiden können, aber nicht trennen dürfen. Sie bleiben Gegensätze, gehören aber innig zueinander und bedingen einander. Sie polarisieren nicht das Leben, sondern sind Pole einer unteilbaren Einheit.
Clemens Brentano weist an einer wichtigen Stelle seiner Dichtung auf Pole jeder vollen Lebendigkeit hin:
‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.›
Rilke hat dafür den schönen Begriff Doppelbereich geprägt.
Wir können Polarisierung dadurch vermeiden, dass wir den einen Pol anschauen und in diesem Pol schon den anderen sehen. Ich schaue z. B. auf die Zeit und erfahre in der Zeit die Ewigkeit, eben das Jetzt, das über die Zeit hinausgeht. Oder ich schaue auf das Leid und sehe darin das irdische Antlitz der Liebe. Ich schaue auf den Stern und sehe darin die Blume oder ich schau die Blume und sehe darin den Stern. Der ganze Kosmos ist ein Doppelbereich.»]
________________
[1] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III
[2] A-DWAITA, in: Das ABC der Schlüsselworte, 128: ‹A-Dwaita ist ein zentral wichtiges Wort im Hinduismus und bedeutet wörtlich Nicht-Zweiheit›; siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 3.1.
[3] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: ‹Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’dor de l’Invisible.›
[4] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten
[5] Sinngemäße Wiedergabe des Vortrags von Bruder David in Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere› (21:24-31:31)
[6] Rilke, aus der Ersten Duineser Elegie
[7] Erwachende Worte (2023): ‹Doppelbereich›, 35
Dreifaltigkeit
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Mehr als achttausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. Mit dem ersten Parlament der Weltreligionen 1893 war Chicago zum Geburtsort des weltweiten interreligiösen Dialogs geworden, der damals etwas Unerhörtes war. Seitdem hatte dieser Austausch nach und nach Schwung gewonnen, aber erst jetzt, hundert Jahre später, war die Zeit reif für ein zweites solches Treffen. Jetzt war dieser historische Augenblick gekommen. Und da war ich nur ganz überwältigt von der Ehre, zu diesem Ereignis beitragen zu dürfen. Spannung lag in der Luft. Die Frage, worüber ich vor einer so achtunggebietenden Zuhörerschaft sprechen sollte, ließ mich in dieser Nacht nicht schlafen.
Zweierlei war mir klar: Was ich sagen würde, musste meine eigene christlich-katholische Tradition getreu darstellen und musste zugleich für die Vertreter anderer Traditionen verständlich sein.
Ich hatte also vom Herzen meiner Tradition zum Herzen aller anderen zu sprechen.
Das Herzstück der christlichen Tradition ist ohne Zweifel die Dreieinigkeit Gottes ‒ Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Wie konnte ich aber hoffen, diese tiefgründigste Lehre der christlichen Tradition den anderen nahezubringen?
War gegenseitiges Verständnis im interreligiösen Dialog überhaupt möglich, wenn es um den kennzeichnenden Glaubensinhalt weit auseinanderliegender Traditionen ging?
Diese Fragen waren entscheidend und sie plagten mich in dieser schlaflosen Nacht.
Zwei Begriffe schoben sich langsam immer mehr in den Vordergrund meines Denkens ‒ Glaube und Lehre.
Glauben haben wir alle, aber unsere Lehren gehen weit auseinander.
Unsere Herzen verstehen die innere Haltung des Sich Verlassens, die glauben heißt, aber unsere Vernunft ringt mit den so unterschiedlichen Lehren, in denen der Glaube sich ausdrückt; sie scheinen unüberbrückbar.
Glaube vereint, Lehren trennen uns.
Es wurde mir klar, dass ich tiefer gehen müsste und fragen: Wie stehen Glaube und Lehre eigentlich zueinander?
In welchem Verhältnis steht mein eigener Glaube zu den Lehren, die ich gläubig bekenne?
Da war die Antwort leicht: Die Lehren sind Ausdruck meines Glaubens. Sobald mir das klar war, hatte ich den Ansatz für gegenseitiges Verständnis:
Ich würde appellieren müssen an den Glauben, der uns eint, trotz der Lehren, die uns trennen.
Was aber ist dieser uns allen gemeinsamer Glaube, bevor er sich in dieser oder jener Lehre ausdrückt? Wie erleben wir ihn?
Hier muss ich meine Leser einladen, diese Frage selber zu beantworten. Wie und in welchem Zusammenhang wird dir dein tiefstes Vertrauen auf die Vertrauenswürdigkeit des Lebens bewusst?
Meine eigene Antwort begann sich abzuzeichnen, als ich die größte Herausforderung an meinen Glauben ins Auge fasste:
Hat überhaupt irgendetwas Sinn?
In meinen dunkelsten Stunden bezweifle ich das. Nur mutiges Vertrauen ‒ und das ist ja die Essenz des Ur-Glaubens ‒ kann universellen Zweifel überwinden.
Der allen Menschen gemeinsame Glaube ist also das tapfere Vertrauen, das wir beweisen durch unsere nie endende Suche nach letztem Sinn.
Sinnsuche ist die Triebkraft, die alle Menschenherzen bewegt. Das haben wir alle gemeinsam.
Sobald mir das bewusst wurde, war mir klar, worüber ich vor dem Parlament der Weltreligionen sprechen müsste: Über unsere Aufgabe, die uns gemeinsame Sinnsuche besser zu verstehen; und es würde meine Aufgabe sein, gemeinsam mit meinen Zuhörern damit zu beginnen.
Jetzt begann sich auch eine klare Struktur für meinen Ansatz herauszukristallisieren.
Sinn hat immer drei Aspekte: Wort , Schweigen und Verstehen.
Wenn eines von den dreien fehlt, fehlt auch Sinn.
Das müsste ich erklären im Hinblick auf die allgemeinmenschliche Erfahrung der Sinnsuche, und zwar unter den drei Gesichtspunkten von Wort, Schweigen und Verstehen.
Dass Wort und Sinn zusammengehören, leuchtet vielleicht am schnellsten ein.
Wenn wir etwas sinnvoll finden, dann sagen wir, dass es uns etwas sagt. Es ist also Wort in der weitesten Bedeutung ‒ nicht ein Wort aus einem Wörterbuch, aber doch Wort, dadurch, dass es Sinn vermittelt.
Jedes Wort aber, das wirklich sinnträchtig ist, kommt aus dem Schweigen ‒ aus dem Herzen der Stille; nur so kann es zur Stille des Herzens sprechen. (Alles andere ist nur Geschwätz.)
Weder Wort noch Schweigen können aber das «Aha!» der Sinnfindung auslösen, wenn Verstehen fehlt.
Verstehen ist ein dynamischer Vorgang.
Wenn wir so tief hinhorchen auf ein Wort, dass es uns in das Schweigen führen kann, aus dem es kommt, dann ereignet sich Verstehen.
Schweigen kommt zu Wort und das Wort kehrt durch Verstehen heim ins Schweigen.
Die Delegierten in Chicago waren eine buntgemischte Schar und boten einen farbenreichen Anblick ‒ von den safranfarbenen Roben der buddhistischen zu den schwarzen Soutanen der orthodoxen Mönche; von den hohen Kopfbedeckungen der ostkirchlichen Archimandriten zu den Gebetskäppchen der Rabbiner, den Turbanen der Derwische und dem Federschmuck der Indianerhäuptlinge.
Während sich meine Augen an dieser großen Vielfalt weideten, wusste ich, dass unter all diesen Hüllen ein und dieselbe Sehnsucht diese Menschen hier zusammengeführt hatte und in ihren Herzen brannte: Sehnsucht nach Sinn.
Wenn jede spirituelle Tradition Ausdruck der unstillbaren Sinnsuche des Menschenherzens ist, dann müssen die drei charakteristischen Aspekte von Sinn ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ jede Religion auf eigene Art kennzeichnen.
Freilich sollten wir Unterschiede in der Betonung des ein oder anderen Aspektes erwarten, und die finden wir auch tatsächlich.
In den uralten ursprünglichen Religionen ‒ z. B. in Australien, Afrika und Amerika ‒ sind die drei noch gleichbetont und eng miteinander verwoben in Mythos, Ritual und Gemeinschaftsleben.
Als aber Hinduismus, Buddhismus und die Amen-Traditionen des Westens aus der gemeinsamen ur-religiösen Matrix herauswuchsen, begann der Nachdruck immer stärker auf einen oder den anderen Bereich zu fallen, obwohl alle drei ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ in keiner Tradition ganz verloren gehen können.
Hier beim Parlament der Weltreligionen zeigte sich mir aber etwas Wichtiges:
Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn.
Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam.
Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes drängte sich mir dabei auf, und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.
Schon im 4. Jahrhundert verwendeten die griechischen Kirchenväter das Bild des Reigens oder Rundtanzes ‒ so wie Kinder ihn tanzen, einander bei den Händen haltend und «Ringa ringa reia» singend ‒, um tiefe theologische Einsichten über Gottes Dreieinigkeit auszusprechen:
Der Sohn ‒ Christus als «Choryphaeos», als Anführer des Tanzes ‒ kommt aus der Verborgenheit des Vaters hervor und kehrt im Schwung des Heiligen Geistes zum Vater zurück.
Wenn mein christlicher Glaube an Gott als dreieinig ‒ nicht eins und nicht drei, sondern eins in drei und drei in eins ‒ wirklich Ausdruck des Ur-Glaubens ist, dann musste selbst eine so spezifische Lehre wie die von Gottes Dreifaltigkeit keimhaft in dem Glauben enthalten sein, den ich mit allen Menschen gemein habe.
Andersgläubige sind eben auch gläubig Sinnsuchende.
Und dieser keimhafte Ansatz liegt tatsächlich in der Bedeutung, die Wort, Schweigen und Verstehen bei der Sinnsuche zukommt.
Aus dieser Sicht ist menschlicher Ur-Glaube zumindest implizit trinitarisch.
Es begann mir zu dämmern, dass die «Offenbarung» der Trinität, die ich immer für ausschließlich christlich gehalten hatte, das Herzstück des Glaubens schlechthin war.
So konnte ich also hoffen, andersgläubige Schwestern und Brüder zu erreichen, wenn ich von dieser Trinität aus meiner christlichen Perspektive sprach.
Das entschied ich mich also zu tun. Ich würde über das menschliche Streben nach Sinn sprechen und das Bild eines festlichen Reigens ausmalen, bei dem die vom Wort Lebenden Hand in Hand mit denen, die ins Schweigen tauchen, und mit denen, die den Pfad des Verstehens gehen, tanzen.
Ein Rundtanz hat etwas Faszinierendes an sich. (Wir müssen da unsere Vorstellungskraft zu Hilfe rufen.)
Solange wir außerhalb des Kreises stehen, wird es uns immer so vorkommen, als ob die uns am nächsten Tanzenden in die eine Richtung gingen, die uns am fernsten aber in die Entgegengesetzte.
Solange wir von außen zuschauen, bleiben wir in dieser Illusion gefangen; wir können es nicht anders sehen, selbst wenn wir wissen, dass es nur eine Illusion ist.
Im Augenblick aber, in dem wir selber in den Kreis eintreten und die Hände unserer Mittänzer halten, ist es klar, dass alle in die gleiche Richtung gehen.
Kaum hatte ich dieses Bild verwendet, konnte ich das «Aha!» der Anwesenden beinahe hören. Jetzt war, was ich zu sagen hatte, angekommen.
Es war einer der großen Augenblicke meines Lebens ‒ ein Höhepunkt, Gipfel-Erlebnis, Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit und weltweiter Gemeinschaft, Vorgeschmack des ewigen Jetzt.
Ich schaute über die Versammlung hin und konnte innerlich aus vielen Herzen ein Amen aufsteigen hören.
Gott ist die Treue im Herzen aller Dinge,[1] unser Glaube ist das Vertrauen darauf, und das Wort, das all das zusammenfasst, ist Amen.
Unser innerstes Wesen (die Christuswirklichkeit in uns) sagt Amen zur Treue (des verborgenen Gottes), und dieses Amen-Sagen ist die Dynamik des Glaubens (Werk des Heiligen Geistes).
So schwingen im Wort Amen selbst Obertöne des Glaubens an den dreieinigen Gott mit, wie auch von der heiligen Silbe Om gesagt wird, dass in ihr Einheit in Dreiheit und Dreiheit in Einheit anklinge.
Was sollten die Tänzer im großen Reigen der Religionen singen? «Amen, Amen und nochmals Amen!»
[Aus dem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 232-235, 237-239]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(27:13) Der Rund- oder Reigentanz der Trinität
1.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Vertiefungsseminar:
(42:49) Darbringung, Opfer und der Reigentanz der Trinität: der Reigentanz der Dankbarkeit
Spiritualität und Ökumene:
(01:06:48) Trinitarische Erfahrung: Das Gebet der Stille ‒ ‹Von jedem Worte Gottes leben›: Brot heißt Leben und Stein heißt Tod: Die Versuchung Jesu in der Wüste und im Garten Gethsemane ‒ ‹Contemplatio in actione›: Gott im liebenden Tun erfahren / (01:12:38) Der römische Brunnen (C.F. Meyer)
1.3. Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
Fragerunde nach dem Vortrag in der evangelischen Ludwigskirche in Freiburg (DE):
(13:39) Der dreifaltige Gott – ein Kreislauf von Beziehungen
1.4. Audio-Vortrag Das Gottesbild der modernen Menschen (2009):
(33:17) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens. Unsere Gottesbeziehung im statischen Bild eines mit Wasser gefüllten Gefäßes, eingetaucht ins Meer, und im dynamischen Bild des Reigentanzes der Trinität.
1.5. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Fragen im anschließenden Gespräch an Bruder David in den folgenden 9 Audios:
Kirchliche Lehre über die Dreifaltigkeit
Kirchliche Lehre und Dreifaltigkeit als Archetyp
1.6 Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(30:12) Sich der Dreiheit von Wort – Schweigen – Verstehen hingeben ist dreifaltige Gotteserfahrung: Erfahrung des Mysteriums des dreifaltigen Gottes und zugleich Erfahrung jedes Menschen. Bruder David spricht mit Gerhard Tersteegen und C.F. Lewis vom Abgrund Gottes, von Gott, der mir näher ist als ich mir selber bin (hl. Augustinus) und bezieht sich auf den hl. Paulus in 1 Kor 2,10-12, sowie auf den biblischen Schöpfungsbericht: Wir verstehen Gott mit seinem eigenen Selbstverständnis – Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem
(51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind
1.7. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(49:55) «Was könnte sich mehr unterscheiden als Wort, Schweigen und Verständnis, drei Begriffe, für die wir überhaupt keinen Oberbegriff haben. Wir können es kaum ‹drei› nennen, und das ist ja auch sehr passend, denn auch in der Trinität soll man ja eigentlich letztlich nicht von ‹drei› sprechen. Der hl. Augustinus sagt schön: ‹Wenn du anfängst zu zählen, bist du schon in Häresie gefallen. Zu zählen ist da nichts. Aber es handelt sich um drei Grunderlebnisse.»
2. Texte
2.1. Tanz ‒ der Sinn des Ganzen, Texte im Buch Orientierung finden (2021): Teil 1 und Teil 2: Das ABC der Schlüsselworte:
Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun
2.2. Stille leben, Text aus: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159:
«Uns vom Wort führen lassen, heißt verantwortlich handeln.
Im Alltag bedeutet das, dass alle, die ‹durch den Geist Gottes geführt werden›, mit kindlicher Unbefangenheit in jeder Lage die rechte Antwort finden können in Wort und Tat.
In der weitesten Sicht bedeutet es Teilnahme an dem göttlichen Reigentanz, den die christliche Vorstellungskraft aus Johannes 16,28 herausliest, wo der Logos spricht:
‹Ausgegangen bin ich vom Vater und gekommen bin ich in die Welt; ich verlasse wieder die Welt und gehe zum Vater.›
Aus dem Schweigen kommend, kehrt das Wort durch liebendes Verstehen ins Schweigen zurück.
Mitzutanzen in diesem Reigen ist die höchste Erfüllung dessen, was wir ‹Leben aus der Stille› nennen.
Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.
Im trinitarischen Rundtanz dürfen wir den Kreislauf der Dankbarkeit sehen. Wir erleben den Urgrund der Wirklichkeit als den Ursprung all dessen, was «es gibt».
Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, zeigt sich uns immer als Gegebenheit ‒ also als Gabe. Unser eigenes Leben ist uns zugleich gegeben und aufgegeben. Die Aufgabe, die in dieser Gabe liegt, heißt Leben in Dankbarkeit. Und worin besteht das? Einfach darin, dass wir uns dem Leben stellen.» (157f.)
2.3. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):
«Unser Verständnis benediktinischen Gehorsams in seinem Dreischritt ist also zutiefst trinitarisch:
Durch lnnehalten und Horchen lassen wir uns hinab in das Schweigen des Vaters, aus dem das Wort seinen Ursprung nimmt.
lm lnnewerden und Hören stellen wir uns durch Christus und mit ihm und in ihm dem Willen des Vaters.
Den Anspruch, den wir da hören, verstehen wir aber erst wirklich durch gehorsames Tun im Heiligen Geist.
Sooft wir die Doxologie beten – und immer wieder will sie der heilige Benedikt (aus Ehrfurcht stehend) wiederholt wissen (RB 9,6f) – sooft werden wir an die tiefste Bedeutung gehorsamen Lebens erinnert: Leben im Gehorsam ist Ausdruck unseres Lebens im dreieinigen Gott.
Das drückte die ursprüngliche, weitaus dynamischere Form der Doxologie besser aus, als die heute übliche. Sie lautete:
Ehre sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geiste.»
2.4. Den großen Tanz beten (1998) [derselbe Text aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, in: Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 «Der Mystiker in uns», 18-21]:
«Eines der Geschenke, für das ich in meinem Leben sehr dankbar bin ist die Art, wie ich von der Heiligen Dreifaltigkeit erfuhr. Andere erzählten mir, dass sie, als sie erfuhren, dass wir die Dreifaltigkeit nie verstehen könnten, schon früh entschieden hätten: ‹was soll’s!› Wenn man mir von diesem Geheimnis erzählte, war es immer in einem Ton, der mich einlud, dieses Geheimnis zu erkunden – eine Aufgabe nicht nur für ein ganzes Leben, sondern für die Ewigkeit, des Lebens jenseits von Zeit. Mein Gebetsleben war genau diese Entdeckungsfahrt und ist es immer noch. Mittlerweile bereits in den Siebzigern habe ich tatsächlich das Gefühl, noch kaum begonnen zu haben.
In einer Predigt unseres Studentenkaplans, des Dominikaners P. Diego, erlebte ich einen Höhenflug, außer mir durch die Erkenntnis, dass wir Gott als dreifaltig erkennen können, gerade weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Hl. Geist hineingezogen sind.
Für Wiener Studenten ist es keineswegs frivol, von Gott als tanzend zu sprechen. Tanzen ist etwas Ernsthaftes, natürlich nicht todernst, aber lebens-ernst. Viel später lernte ich den Hymnus der Shaker über Christus als ‹Herr des Tanzes› kennen.[2]
Ich lernte auch, dass weit zurück im 4. Jahrhundert der hl. Gregor von Nyssa vom ‹Kreistanz der Hl. Dreifaltigkeit› gesprochen hatte: der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns mit der ganzen Schöpfung im Hl. Geist zum Vater zurück.
Wir können auch von diesem Großen Tanz in den Begriffen Wort, Schweigen und Tun sprechen: der Logos, das Wort Gottes kommt aus Gottes unergründlichem Schweigen hervor und kehrt zu Gott zurück, reich an Ernte im Hl. Geist, der zu liebendem Tun inspiriert.
Mein höchstes Ziel beim Gebet ist es, in diesen Tanz einzugehen durch alles, was ich tu oder denke oder leide oder sage. Nach diesem Ende-ohne-Ende sehne ich mich, wann immer ich bete:
Ehre sei dem Vater,
durch den Sohn,
im Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit,
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.»
2.5. Bruder David im Gespräch mit Fritjof Capra in: Wendezeit im Christentum (2015): TEIL 3, 152f. [und 168, siehe auch: TEIL I, 92-95]:
«Warum spricht man von Gott als Dreifaltigkeit?
Jetzt legen Sie den Finger auf die Entscheidende Stelle, wenn Sie sagen, Gott steht nicht zu irgendetwas anderem in Beziehung.
In unserem tiefsten Verhältnis zu Gott steht Gott letztendIich zu Gottes eigenem Selbst in Beziehung.
Dessen werden wir in unseren mystischen Augenblicken gewahr.
Unser wahres Selbst, das Beziehung zu Gott hat, ist einfach Gott-in-uns.
Diese Erfahrung impliziert, dass man von Gott als Dreifaltigkeit sprechen kann: Gott-in-uns, der unser tiefinnerstes Selbst darstellt; Gott als Horizont, zu dem wir letztendlich in Beziehung stehen; und Gott als lebendige Beziehung zwischen diesen beiden Polen unseres eigenen Lebens.
Das sind natürlich nicht drei, sondern ein Gott.
Alles Nachdenken über die Dreifaltigkeit beruht letzten Endes auf mystischer Erfahrung. Weniger begabte Theologen mögen allein mit Worten spielen; die großen Theologen haben jedoch stets gewusst, dass wir an Gottes eigenem Leben teilhaben.
Was wir nicht sagen können, ist, dass wir ein Teil Gottes sind. Denn was wir Gott nennen, ist zu einfach, um Teile zu haben. Deshalb sprechen wir von den vielen Dingen, Pflanzen, Tieren, Menschen nicht als Teilen von Gott, sondern sie sind ebenso viele Worte Gottes. Das meint die Bibel, wenn sie vom ganzen Universum sagt: ‹Gott sprach, und es entstand.›
Tatsächlich ist Gott auch zu einfach, um viele Worte zu sprechen. Es ist vielmehr so, als habe die Liebe, die Gott darstellt, sich von jeher in einem einzigen Wort so vollkommen ausgedrückt, dass man es auf zahllose Weise immer wieder neu aussprechen muss.
In diesem Sinne ist jeder von uns eine neue Art des Aussprechens von Gottes einem Wort. Hier jedoch machen wir die erregende Entdeckung, dass wir nicht nur ausgesprochen, sondern von Gott auch angesprochen werden.
So wird also Shūnyatā, Gott, ‹kein Ding›, das Große Schweigen durch ein Wort ausgedrückt, das so vollkommen ist, dass es alles aussagt und in jeder neuen Bedeutung von Gottes eigenem Selbstverständnis verstanden werden kann ‒ in unserem Innern, wie wir vorhin sagten.
Auf diese Weise sind wir selbst tief in diese Beziehung eingebunden ‒ durch uns Menschen nimmt diese Welt bewusst am dreifaltigen Leben Gottes teil.
Schweigen, Wort und Verstehen sind ‹Personen› des einen Gottes, jedoch eindeutig nicht in dem Sinne, in dem wir normalerweise von Personen sprechen.»
2.6. Interview Gelebte Dankbarkeit (2014) von Ingeborg Szöllösi mit Bruder David:
«Im Buch ‹Wendezeit im Christentum›, das ein Gespräch zwischen Ihnen und Fritjof Capra dokumentiert, beschreiben Sie die christliche Idee der Dreifaltigkeit sehr anschaulich: Gott ist Schweigen, Jesus ist Wort und der Heilige Geist Verstehen – oder wie Sie es vorhin ausdrückten: Fluss …»
«Ja, genau. Und was wir in der christlichen Tradition ‹Vater› nennen, ist die Quelle von allem, was es gibt. Es gibt, heißt: Gott gibt – demnach ist alles, was es gibt, gegeben – ein Geschenk. Wir selbst sind uns in diesem Sinne eine ‹Gegebenheit›: Wir haben uns nicht gemacht oder gekauft oder verdient, wir sind uns ‹gegeben› – daher ist ein Leben in Dankbarkeit ein göttliches Leben, ein Leben, das tagtäglich ‹Göttliches› wirkt und webt.
Und in Dankbarkeit gibt das Gegebene, der Sohn, sich selbst dem Geber, dem Vater.»
«Das, was im Zen als ‹Leere› bezeichnet wird, wäre das dann die Entsprechung von dem Gott, den Sie als das Schweigen begreifen?»
«Ja, das Schweigen oder die Quelle – das ist Gott. Die Quelle ist ‹Nichts› – und diese ‹Gottheit› jenseits des Vaters, von der auch Meister Eckhart und viele andere Mystiker sprechen, dieses Nichts als Fülle zu erfahren, dazu hat mir Zen verholfen.»
«Also muss man selbst seinen eigenen Gottesbegriff loslassen, um ihn mit neuer Kraft zu beleben?!»
«Selbstverständlich. Man erlebt das Durchdrungensein von Gott – und dann spürt man, dass man keinen erstarrten Gottesbegriff braucht. Wenn man an etwas klammert, dann ist man schon jetzt im Leben tot. Man kann dann nicht mehr im Fluss sein.»
2.7. Vortrag: An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«… Die drei großen Traditionen drücken das aus. Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen.
Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht. Wort, Schweigen und Verstehen.
Das Wort, das haben schon die griechischen Väter so gesehen, das Wort kommt aus dem Schweigen und geht durch das Verstehen ins Schweigen zurück.
Sie haben das den großen ‹Reigentanz der Trinität› genannt. Und wir sind in diesem Reigen und können teilnehmen an diesem Tanz. Das Wort ist der Anführer des Tanzes, der Koryphaios in diesem trinitarischen Tanz.»
2.8. Religionen und heiles Gottesbild, Text aus: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis, im Buch: MYSTIK ‒ Spiritulität der Zukunft: Erfahrung des Ewigen (2005), 80-83:
«Die Trinität Gottes ist ja kein christliches Monopol, sondern vielmehr ein Modell, das der Mystik aller Traditionen vertraut ist.»
2.9. Der theologische und religionswissenschaftliche Schlüsseltext von Bruder David zum Thema Dreifaltigkeit (Dreieinigkeit, Trinität) ist sein Beitrag in der Zeitschrift «Christ in der Gegenwart» (CIG) Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Die anfangs gestellte Frage: ‹Was schätze ich am Christentum› spitzt sich also für mich auf folgende zu: Was bewegt mich dazu, mich zur christlichen Lehre von Gottes Dreieinigkeit mit Überzeugung zu bekennen?
Die Kurzantwort lautet: persönliche Erfahrung - eine Erfahrung, die so tief wurzelt, dass sie über individuelles Erleben hinausreicht und Allgemeingültigkeit beansprucht. Meine längere Antwort wird zu zeigen haben, auf welchem Erfahrungswege ich zu dieser Überzeugung gekommen bin, was sie beinhaltet, und was sie für die Zukunft verspricht.»
«In vielen Gesprächen sagten mir nicht nur Christen, sondern auch Menschen, die dem Christentum fernstehen, dass die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ihrer eigenen mystischen Erfahrung entspricht. Hier haben wir es mit Allgemeingut der Menschheit zu tun, weil es um mystische Einsichten geht, die allen Menschen zugänglich sind. Hindus, Buddhisten, ja Menschen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, haben mir das bestätigt.»
2.10. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit[3]. Wir werden dadurch sehen, wie alles das hinzielt auf das innerste Geheimnis des Christentums, nämlich das Geheimnis der Trinität. Und erst von dort, von unserem eigensten Zentralgeheimnis aus können wir hoffen, irgendwie zu verstehen, dass andere Traditionen der Menschheitsgeschichte ebenso sehr im Schweigen das Zentrum ihrer Sinnsuche finden oder in der Ergriffenheit, wie wir es im Wort finden.» (16f)
«Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen.
Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens.
Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz.
Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]
____________________
[1] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]
[2] Die Shaker («Schüttler») waren eine im 18. Jahrhundert aus den Quäkern hervorgegangene Freikirche in den USA, in der man ekstatische Schütteltänze pflegte.
[3] Ergriffenheit im Unterschied zum Begreifen ist Verstehen in Ergriffenheit, liebendes Verstehen im Tun: «Was geschieht denn eigentlich, wenn wir verstehen? Wir hören ein Wort, öffnen uns dem Wort, stellen uns diesem Wort; das Wort ergreift uns, ergreift uns bis zur Sprachlosigkeit, wenn es uns wirklich zutiefst ergreift, und führt uns dadurch in das Schweigen. Verstehen ist also ein dynamischer Vorgang, der Wort und Schweigen miteinander verbindet.» (49f.)
Dunkelstunden
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Wie können wir über innere Erfahrung von innen her sprechen? Die Antwort lautet: durch Dichtung. Wie die Sufis ‒ Professor Nasr nannte sie «Leute, die durch Andeutung reden»[1] ‒, so müssen wir uns in den Bereich vorwagen, von dem Rilke sagt: Das ist der Bereich der Dichtung.
Die Dichtung verdichtet unser Erlebnis und zerredet es nicht.
Darum möchte ich mit Ihnen ein paar Gedichte lesen. Die meisten sind von Rilke. Oft sind es nur Stellen aus Gedichten, aus Gedichten, die Ihnen wahrscheinlich gut bekannt sind, die Sie vielleicht sogar auswendig können. Anhand dieser Gedichte können wir vielleicht etwas aussprechen, was die Sache nicht zerredet, sondern verdichtet.
Gedichte lassen unser Erleben zu Wort kommen.
Sie brechen das Schweigen nicht, sondern das Schweigen kommt zu Wort im Gedicht.
So möchte ich beginnen mit ein paar Zeilen aus Rilkes Stundenbuch.
Rilke ist Mystiker, obwohl er meistens nicht so verstanden wird, und er sagt:
«DU Dunkelheit, aus der ich stamme,
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.
Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich,
wie sie's errafft,
Menschen und Mächte ‒
Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.
Ich glaube an Nächte.»
So spricht der Mystiker. Nicht, dass wir Schweigen und Wort, Versenkung und Erhebung, Dunkel und Licht trennen könnten.
Aber wir müssen in der Dunkelheit verwurzelt sein.
Wir müssen in der Tiefe verwurzelt sein.
So sagt Rilke auch:
«Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.
Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.[2]
Die Weite, der Raum, die Leere ‒ diese Wirklichkeit erleben wir in unseren Dunkelstunden, die keineswegs verdunkelt sind, sondern die ein Leuchten hervorrufen, das unser ganzes Leben erhellt.
In unseren Dunkelstunden erfahren wir, dass wir ein zweites, zeitlos breites Leben haben. Aus diesen Stunden erwächst unsere Gotterfahrung. Ich verwende das Wort Gott hier zögernd.
Allzuoft ruft man damit Missverständnisse hervor. Ich möchte es aber erwähnen, damit alle jene, die sich mit dem Wort Gott wohlfühlen, wissen, worum es hier geht. Wir sprechen aber über ein Erlebnis, das auch all denen zugänglich ist, die sich mit dem Wort Gott nicht wohlfühlen. In unseren Dunkelstunden erleben wir das, was jene, die das Wort Gott richtig verwenden, Gott nennen. Unsere Dunkelstunden sind Stunden unserer eigenen mystischen Erfahrung
Ich wende mich hier jetzt an Ihre Erfahrung, an Ihre mystische Erfahrung, und niemand darf sagen, ich bin ja kein Mystiker.
Mystik heißt Erfahrung unserer letztlichen Zugehörigkeit.
Wer aber hat letzte Zugehörigkeit noch nie erfahren?
In Dunkelstunden, in wahren Herzstunden erleben wir diese tiefste Zugehörigkeit.
Und Gott, wenn das Wort richtig verwendet wird, ist der Bezugspunkt, der äußerste Bezugspunkt für unsere Zugehörigkeit.
Selbstverständlich ist das nur der kleinste gemeinsame Nenner. Von hier aus können wir den Gottraum erforschen, so wie man den Weltenraum erforscht. Ja, wir können in vielen verschiedenen Richtungen, von vielen verschiedenen Seiten her alle denselben Raum erforschen. Wir können auch Karten anfertigen aufgrund dieser Gottraum-Erforschungen. Karten sind nicht notwendigerweise ein Hindernis, im Gegenteil, sie sollen uns Hilfe sein auf unserer Gottraumfahrt. Wir dürfen nur die Karte nicht mit dem Abenteuer selbst verwechseln, und diese Gefahr besteht immer.
Darum sagt Rilke:
«Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.
Nur, dass ich mich aus seiner Wärme hebe,
mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige
tief unten ruhn und nur im Winde winken.»[3]
Das ist der Gott, den wir alle gemeinsam haben, von dem wir nicht mehr wissen, als dass tausend Wurzeln aus ihm trinken, aus ihr trinken und dass wir uns aus dieser Wärme heben.
Und damit sind wir schon bei der Arbeit, bei der Verbindung von Arbeit und Schweigen.
Denn die Tiefe, das Schweigen, das Mysterium, der Mythos, das Dunkel muss sich aussprechen in Wort, Logos, Erhebung, Licht, Auge.
Die beiden Bereiche gehören zusammen. Sie zusammenzubringen, das ist unsere eigentliche Arbeit.
Jede andere Arbeit ist unbedeutend, oberflächlich, aber hier ist unsere wahre Arbeit. In der biblischen Sprache heißt sie Schöpfung.
Rilke spricht davon, wenn er zu Gott betet:
«Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, ‒
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
dass du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.»[4]
[Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 290-292, 294]
«Was kann uns trösten?» ‒ in der Dunkelheit der Nacht, im Winter. Was tröstet uns?
Meine Antwort, das können Sie wahrscheinlich schon voraussehen, wenn Sie meine Bücher kennen, ist:
«Was uns tröstet, das ist die Dankbarkeit.»
Dankbarkeit ist immer die große Antwort, der große Trost.
Eichendorff betitelte eines seiner Gedichte «Dank».
Es ist ein Lebensabendgedicht. Er schreibt:
«Mein Gott, dir sag ich Dank,
Dass du die Jugend mir bis über alle Wipfel
In Morgenrot getaucht und Klang...
Und auf des Lebens Gipfel,
Bevor der Tag geendet,
Vom Herzen unbewacht
Den falschen Glanz gewendet,
Dass ich nicht taumle ruhmgeblendet,
Da nun herein die Nacht
Dunkelt in ernster Pracht.»
Die Dunkelheit der Nacht versöhnt.
Schon die Musik dieses Gedichtes ist unglaublich schön.
‹Da nun herein die Nacht dunkelt in ernster Pracht.›
In dem Rilke-Gedicht, das ich zu Anfang zum Morgen gelesen habe, heißt es:
«Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste.»[5]
Hier wird es erkannt: Dunkel und ernst kommt die Nacht, sie dunkelt in ernster Pracht.
Ich verstehe das Wort Dunkelheit in bewusstem Kontrast zu ‹Finsternis›.
Die Finsternis droht, die Dunkelheit aber versöhnt.
Die Finsternis ist etwas Bedrohliches, nicht aber die Dunkelheit.
Rilke im Stunden-Buch:
«DU Dunkelheit aus der ich stamme …
Aber die Dunkelheit hält alles an sich …
Ich glaube an Nächte.» ‒
Wenn wir uns auf diese große Nacht verlassen, die alles an sich hält, wenn wir vertrauend uns auf diese Nacht einlassen, dann finden wir darin Trost. Sehr tiefen Trost.
Aber zur Dunkelheit gehört beides: im Jetzt sein … alles umfassend … und still sein. Niemanden ausgrenzen und ganz still werden.
[Und ich mag mich nicht bewahren (2012), 33-36, Und ich mag mich nicht bewahren (Audio-CD) (2012) und Audio-Vortrag: Fragen, die uns bewegen[6] (2005)]
[Ergänzend:
1. Texte
1.1. Impulskontrolle finden (2022), zugleich Auszug aus: Orientierung finden (2021), 96-99:
«‹Ich sprach zu meiner Seele, sei still und warte›, sagt T. S. Eliot. Aber er weiß auch, dass Stille beängstigend werden kann, weil sie uns des Lärms beraubt, mit dem wir uns gern ablenken von der Dunkelheit, die in uns aufsteigt, wenn wir still werden. Fürchte dich nicht, sagt daher der Dichter, du kannst der inneren Stille und Dunkelheit vertrauen. Und er schließt mit den tröstlichen Worten: ‹Die Dunkelheit wird das Licht sein und die Stille das Tanzen.›»
1.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 10, 14-22, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 2: DU Dunkelheit, aus der ich stamme
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015):
Schweigen:
(52:10) Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden – DU Dunkelheit, aus der ich stamme – Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (Das Stunden-Buch)
2.2. Vertrauen in das Leben (2014):
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(27:09) Hineinhorchen in DU Dunkelheit, aus der ich stamme (Rilke)
2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen – Goldegger Dialoge (18.-20.06.1992):
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(15:19) Das Leben führt uns immer wieder in Krisen:
«Man kann das vielleicht auch so sehen, dass zu einer Krise immer drei Phasen gehören, drei Elemente und das erste ist das Erlebnis: So geht es nicht weiter!
Diese Phase drückt sich meistens auch in Dunkelheit aus, ‹des Lebens Dunkelstunden›, wie Rilke das nennt.»]
___________________
[1] Seyyed Hossein Nasr: «Mystik und Rationalität im Islam», in: Geist und Natur (1989), 232
[2] «Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[3] «Ich habe viele Brüder in Sutanen» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[4] «Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[5] «Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.»
(Rilke, Das Stunden-Buch)
[6] Fragen, die uns bewegen (2005):
(33:17) In der Lebensneige, in der Dunkelheit der Nacht, im Winter: Was tröstet uns?
Mein Gott, dir sag ich Dank (Eichendorff, Dank) ‒ DU Dunkelheit, aus der ich stamme ‒ Wenn es nur einmal so ganz stille wäre
(Rilke, Das Stundenbuch)]
Ehrfurcht
Text und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Das Wort weckt in mir eine Assoziation mit Kokosnüssen. Dahinter steht eine Kindheitserinnerung. Eine Kokosnuss war eine Seltenheit in unserem Dorf. Von uns Kindern wurde dieser nasenlose Koboldskopf, der uns aus der Einkaufstasche der Mutter anguckte, fast mit der gleichen Begeisterung begrüßt wie das Murmeltier, von dem wir im Sommer auf der Alm manchmal einen kurzen Blick erhaschen konnten. Eines jedenfalls haben Kokosnüsse den Murmeltieren voraus: Sie gaben Milch. Und nicht wie die Kühe. Kokosnüsse melken hieß, ihnen den Kopf anbohren. Bei diesem Anzapfen erreichte unsere freudige Erregung stets ihren Höhepunkt. Diesmal ‒ an dem Tag, seit dem Ehrfurcht und Kokosnüsse in meiner Erinnerung untrennbar verbunden sind ‒, diesmal überraschte der Jüngste die ganze Familie gerade in dem Augenblick, als wir alle erwarteten, die Kokosmilch herausschießen zu sehen. «Wegschauen!» rief er plötzlich. «Wegschauen! ‒ Niemand darf hinschauen, nur ich.» Ihm zuliebe, der als Einziger von uns drei Brüdern noch nicht zur Schule ging, und weil die Kokosnuss eigentlich ein Geburtstagsgeschenk für ihn war, schauten wir wirklich weg oder taten zumindest so, als ob wir wegschauten. Es wurde ganz still. «Jetzt hab ich etwas gesehen», erklärte er fast feierlich, «was vor mir noch niemand gesehen hat, nur Gott.»
Dieses begeisterte Erschaudern, das wir schon als Kinder ‒ vielleicht besonders als Kinder ‒ erleben, drückt wohl das innerste Wesen der Ehrfurcht aus.
Von da her möchte ich versuchen, drei Fragen zu beantworten: Wo liegt der Ursprung der Ehrfurcht? Was ist ihr Sinn? Und: Wie können wir sie pflegen?
Auf einen zwiefältigen Ursprung der Ehrfurcht weist schon das zusammengesetzte Wort selbst hin. Die Furcht, um die es hier geht, ist achtungsvolle Scheu vor dem Erhabenen; mit ihr paart sich aber die Wertschätzung, Achtung, ja die Bewunderung, die der erste Teil des Wortes ausdrückt. Wir sollen hier nämlich nicht so sehr an die Ehre in ihrer heutigen Bedeutung denken, sondern an das ältere Zeitwort «ehren», das für liebendes Anstaunen steht. Ehrfurcht geht also aus der Spannung zwischen heiligem Schaudern und anbetender Verehrung hervor. Sie bezieht sich auf die beiden Elemente des Heiligen, die Rudolf Otto als «Tremendum» und «Fascinosum» identifiziert. Was das Gefühl der Ehrfurcht auslöst, ist das Heilige.
Wir haben es hier mit einem menschlichen Urgefühl zu tun. Gefühle steuern unser Verhalten. So löst Hunger Nahrungssuche aus und Müdigkeit Schlaf. Urgefühle zu den grundlegenden Welten, in die wir als Menschen gestellt sind: Überwelt, Mitwelt und Innenwelt. Ehrfurcht, Mitgefühl und Scham nennt sie Vladimir Solovjew. Er ordnet der Innenwelt die Scham zu, mit der wir die Heiligkeit unserer Intimsphäre hüten; Mitgefühl ehrt die heiligen Bande, die uns mit unserer Mitwelt verbinden; Ehrfurcht wird durch das Heilige selbst ausgelöst; durch jenes grenzenlose Mehr, das uns jenseits des durch Raum und Zeit Begrenzten entgegenwartet ‒ in der Musik, manchmal in Gipfelerlebnissen, unter dem Sternenhimmel vielleicht.
Weil das Heilige eine so entscheidende Rolle spielt für die rechte Einbettung in unsere drei menschlichen Grundbereiche, darum eben auch die Ehrfurcht als das Gefühl, das vom Heiligen ausgelöst wird.
Darin liegt auch schon die Antwort auf unsere zweite Frage, was der Sinn der Ehrfurcht sei. Ehrfurcht gibt unserem Leben Orientierung. Die berühmten Zeilen des mystischen Dichters Teerstegen verbinden Ehrfurcht mit dem letztgültigen Orientierungspunkt:
«Gott ist gegenwärtig; Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte; alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge!»[1]
Auf die göttliche Mitte hin orientiert die Ehrfurcht das menschliche Leben. Kein Wunder, dass wir mit der Ehrfurcht in zunehmendem Maß auch die Orientierung verlieren und unsere Welt aus den Angeln fällt.
«Ehrfurcht ist der Angelpunkt der Welt», Goethe wusste das noch, und er meinte damit «Ehrfurcht gegenüber der Natur, den Mitmenschen und Gott».
Zur Ehrfurcht vor der Natur rief, wie kein anderer, Albert Schweitzer uns auf. Er sah das Grundprinzip aller Ethik darin, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen.»
Als Prophet der Ehrfurcht vor der Natur lebte er sie uns konkret vor. Der Ehrfürchtige, so sagte Schweitzer «reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat Acht, dass er kein Insekt zertritt».
Wenn die Ehrfurcht uns so das Herz weitet, dass wir in Blumen und Insekten dem Heiligen begegnen, werden wir auch für unsere Mitmenschen ein weites Herz haben.
«Die Ehrfurcht schafft eine Atmosphäre von Feingefühl, Zartheit und Lebensschutz», sagt Anselm Grün.[2] Sein «Engel der Ehrfurcht» schützt die Würde auch des geringsten Menschen nicht nur gegen Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung, sondern auch gegen zynische Neugier, etwa der Medien. Den Mitmenschen ernst nehmen heißt ja, an das Heilige rühren.
«Religion ist Ehrfurcht», sagt Thomas Mann, «die Ehrfurcht zuerst vor dem Geheimnis, das der Mensch ist.»
Das Menschliche ist eben, im Sinne Pascals, unendlich mehr als das Nur-Menschliche. Und das Natürliche ist unendlich mehr als das Nur-Natürliche.
Dafür legt Einstein als Naturwissenschaftler, aber auch als Mensch Zeugnis ab: «Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.» Ehrfurcht macht das Herz weit und lebendig.
Wie aber ‒ so lautete unsere dritte Frage ‒ wie können wir Ehrfurcht pflegen, zur Ehrfurcht erziehen?
Dazu gehören Stille und Gelassenheit. Ehrfurcht als menschliches Urgefühl klingt in uns an, wenn wir sie nur nicht mit Lärm und Ablenkung übertönen.
Zu «Gott ist in der Mitte» fügt Teerstegen gleich hinzu:
«Alles in uns schweige.»
Nur wenn wir den Kompass unseres Herzens stillhalten, kann die Kompassnadel sich auf den rechten Orientierungspol einspielen.
Stille schafft Raum, in dem Ehrfurcht sich entfalten kann. Ein Kind, dem nicht viel Stille geschenkt wurde, wird kaum ehrfürchtig auf Kokosmilch schauen. Die Indianer wussten das. Sie sagten:
«Ein richtig erzogenes Kind kann sitzen und schauen, wenn nichts zu sehen ist; es kann sitzen und horchen, wenn nichts zu hören ist.» Uns auf dieses Nichts immer wieder auszurichten ‒ auf das Nichts, aus dem alle Stille des Daseins entspringt ‒, das heißt Ehrfurcht pflegen.
Gibt es etwas, das besser geeignet wäre, unsere Welt zu erneuern?[3]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 3]
[Ergänzend:
1. Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht
2.1. EHRFURCHT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 133:
«Nach allem, was wir über Furcht und Angst geschrieben haben, verlangt der zweite Teil dieses Wortes nach einer Erklärung. Die Ehrfurcht weigert sich ‒ denn Weigerung ist die Haltung der Furcht ‒, Ehre anzutasten. Ehrfurcht ist ein Erkennungsmerkmal eines spirituell wachen Menschen. Dieses Wachsein ist verlangt, um die Gegenwart des Geheimnisses zu spüren. Da das Geheimnis in allem, was uns begegnet, gegenwärtig ist, ist Ehrfurcht eine Lebenshaltung spiritueller Menschen. Diese Ehrfurcht zeigt sich in der Begegnung mit allen Lebewesen als Anerkennung der Würde, die ihnen zukommt. Von größter Bedeutung ist heute Ehrfurcht vor der Menschenwürde.»
2.2. WÜRDE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164f.:
«‹Würde› ist mit dem Wort ‹Wert› wurzelverwandt. Dingen, die nur vereinzelt vorkommen, messen wir Seltenheitswert bei. Wer erkennt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen, jedes Ereignis nicht nur selten, sondern einzigartig ist, wird sich der Würde bewusst, die allem, was es gibt, zukommt, und wird ehrfürchtig durch das Leben gehen. Auch jedem Menschen steht diese Grundwürde zu. Wer dies erst einmal entdeckt, wird sich seiner eigenen Würde bewusst und weiß, dass sie nicht von der Anerkennung andrer abhängt. Ein solcher Mensch hat Rückgrat, geht aufrecht und weiß, was unter seiner Würde ist. Das ist die Innenansicht von Menschenwürde. Es gilt dieses Grundverständnis von Würde festzuhalten, zugleich aber oberflächlichere und doch sehr wichtige Wertunterschiede anzuerkennen. Nur so können wir öde Gleichmacherei vermeiden. Es gibt eine Hierarchie der Werte. Für diese in vielen Bereichen der Kultur feinfühlig zu werden, kann unser Leben nachhaltig vertiefen und bereichern.»
3. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 56-58:
«‹Nichts ist, was dich schrecken darf,
und du bist daheim.›[4]
Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf.
Darum blickten unsere Augen noch mit ‹hellem Mut›.
Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe.
Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick?
Wir fürchten, uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen.
Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen.
Gerhard Teerstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende der Ehrfurcht hingewiesen. Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte; alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge!›
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht.
Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existenzieller Angst zum Opfer.
Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.
Ehrfurcht ist eine eigenartige Furcht, eine Furcht, zu der man Mut braucht, den Mut, der auch der Demut eigen ist; ‹Dien-Mut›, Mut zu dienen; Mut sich zu verschenken.
Nur was wir verschenken, wird so wirklich unser eigen.
Aber unsere größte Angst ist es, uns selbst zu verlieren.
Daher ist auch der Mut, der diese Angst überwindet, Groß-Mut. So groß ist der Mut der Ehrfurcht, dass er jede Furcht austreibt.
Die Ehrfurcht findet sich im Sichverschenken.
Und weil sie sich so gefunden hat, weiß sie, dass nichts uns schrecken darf; weiß, dass wir daheim sind, hier und dort und überall.»
4. Terroismus oder Humanisms (2015)
Der Verlust der Ehrfurcht:
«In der christlichen Jugendbewegung setzten wir uns Mitte der 1930er-Jahre sehr bewusst für gesunde Werte ein. Wir hatten offene Augen für die fortschreitende Zersetzung von Werten in der abendländischen Gesellschaft, teils von innen her, teils durch Einflüsse ‹von außen›. Der Nationalsozialismus spielte sich als Bollwerk gegen diese Dekadenz auf und es gelang ihm dadurch ‒ anfangs zumindest ‒ viele der besten jungen Menschen zu verführen, die bereit waren, für hohe Ideale sogar ihr Leben einzusetzen. Eine ähnliche Gefahr droht heute offenbar jungen Muslimen.
Was die Terroristen in Paris[5] aufstachelte, war nicht die Pressefreiheit, sondern ihr schamloser Missbrauch: ehrfurchtslose Verletzung religiöser Sensibilität. Wache junge Muslime haben ein gesundes Gefühl für traditionelle Werte ihrer Kultur. Sie sehen sich bedroht, weil unsere Gesellschaft Werte missachtet, die ihnen heilig sind ‒ etwa die Ehrfurcht. Unser Werteverlust muss ihnen dekadent erscheinen ‒ und ist es leider tatsächlich. So spielen wir selber, wenn auch unabsichtlich, eine entrüstete Jugend radikalen Elementen in die Hände.
Je höher ein Wert, umso höher ist auch der Grad der Verantwortung, die er uns auferlegt. Pressefreiheit ist ein hoher, ein in der Geschichte teuer erkaufter Wert. Wir schulden denen, die uns ein so kostbares Erbe hinterlassen haben, ein Doppeltes: diese Freiheit unversehrt zu erhalten, sie aber auch verantwortungsbewusst zu gebrauchen.
Die Menschenmassen, die nach dem Pariser Anschlag für Pressefreiheit demonstrierten, sich für den Anspruch der Ehrfurcht aber blind zeigten, übersahen offenbar eine Hälfte unserer Aufgabe. Sie übersahen den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung. Wie können wir Pressefreiheit verteidigen, wenn wir nicht zugleich die Ehrfurcht verteidigen?
Zum Glück gibt es aber Unzählige, denen grundlegende Werte wie Ehrfurcht auch heute noch Halt und Richtung geben. Solche Menschen finden sich auch in unserer Gesellschaft, hüben und drüben aller Grenzlinien ‒ der politischen, der kulturellen, der religiösen. Wenn diese wahren Humanisten erst einmal über die Grenzen hinweg einander zurufen, einander finden und zu gemeinsamer Tatkraft erwachen, dann haben wir endlich ein weltweit gemeinsames Fundament gefunden für Hoffnung auf eine friedliche Welt.»
5. Mit Ehrfurcht abwaschen (1968): Bericht über David Steindl-Rast OSB:
6. Interviews und Dialog
6.1. Vom mythischen Wasser kosten (2019): Interview von Josef Bruckmoser mit Bruder David:
«Was können Christen aus den 99 Namen Gottes im Islam erfahren?»
Bruder David: «Den Islam zeichnet eine große Ehrfurcht vor dem überwältigenden Geheimnis Gottes aus. Dieser Schauder vor dem Heiligen sollte auch uns Christen wieder ergreifen.»
«Geht es dabei auch um die Ehrfurcht vor unserer Mitwelt, um die Ehrfurcht vor dem Leben auf dieser Welt?»
Bruder David: «Selbstverständlich. Es geht um Ehrfurcht vor dem Leben – im anderen Menschen, in der Natur und in mir selbst. Könnten wir die Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes, das uns im gelebten Leben bewusst wird, wiedergewinnen, dann hätten wir auch Ehrfurcht voreinander, und wir würden mit unserer Welt anders umgehen.»
6.2. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
«Sie haben eine lange Lebenserfahrung. Was, denken Sie, ist das Wichtigste im Leben?»
Bruder David: «Wach bleiben, bewusst und dankbar leben und den Menschen mit Ehrfurcht und Liebe begegnen.»
6.3. Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019)
Ehrfurcht lernen:
Bruder David: «Das bedeutet aber auch, dass wir eine neue Haltung innerhalb der Wissenschaft brauchen, wir brauchen eine Wissenschaft mit Ehrfurcht vor unserer Umwelt. All das, was Wissenschaft uns lehrt, kann Heranwachsenden auf solche Art vermittelt werden, dass es ihre Ehrfurcht stärkt. Das ist dann eine große Bereicherung. Es ist auch eine wundervolle Art, den Menschen, die keine Verbindung mehr zu einer Kirche haben, etwas zu vermitteln, was früher die Kirchen ihren Gläubigen zu geben vermochten: ein Gefühl von Ehrfurcht und Verantwortung.
Diese Ehrfurcht in der Wissenschaft ist auch ein Ausdruck des religiösen Impulses, wenn wir ihn aus mythisch-wörtlichen Interpretationen befreien. Die Ehrfurcht vor dem Geheimnis ist eine Ehrfurcht, die auch offen ist für einen Agnostiker oder Atheisten, denn wir müssen keinen religiösen Hintergrund haben, um Ehrfurcht zu empfinden.»]
________________________
[1] Gerhard Tersteegen im Kirchenlied: GOTT IST GEGENWÄRTIG. Lasset uns anbeten / und in Ehrfurcht vor ihn treten. (Zugriff: Juli 2022), siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I, 64
[2] Anselm Grün: «50 Engel für das Jahr: ein Inspirationsbuch», Freiburg / Basel / Wien, Herder 2006
[3] Ehrfurcht ‒ Kompass des Herzens in den Büchern Von Achtsamkeit bis Zuversicht (2015) und Mit einem weiten Herzen (2005)
[4] Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, Die Arche 1961: «Poeta Creator: ein Glückwunschgedicht», 158-162.
Siehe auch Audio: Mit allen Sinnen leben (1993):
(45:17) Wo wir uns vor nichts fürchten müssen: Bruder David schließt mit den letzten Zeilen des Gedichts «Poeta Creator» von Werner Bergengruen
[5] Bruder David bezieht sich in der Wochenzeitung Die FURCHE vom 5. Februar 2015 auf den Anschlag auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» in Paris am 7. Januar
Eins mit dem Göttlichen
Interview, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Mir persönlich hat Zen geholfen, mein christliches Gottesverständnis zu vertiefen. Die entscheidende Schwelle war für mich die: Zu erleben, dass für mich selbst, aber auch für die Mehrzahl der aufgeweckten Menschen das alte Gottesbild oder die überlieferte Gottesvorstellung nicht mehr greift. Sie entspricht unserem heutigen Erleben nicht mehr. Wir leben heute in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, und zwar in allen Lebensbereichen, ob das nun Biologie oder Physik, Politik oder Wirtschaft ist.
Alles hängt mit allem zusammen ‒ das ist unsere Erfahrung tagtäglich. Wie sollen wir uns da mit einem Gott abfinden, der von der Welt und von uns getrennt sein soll? Der von uns getrennte Gott ‒ das geht nicht mehr! Doch das war schon in der echten lebendigen christlichen Tradition nicht anders ‒ kein Mystiker hätte das anders gesehen: Gott ist mit jedem von uns ganz intim verbunden, er ist nicht jenseits, er ist meine lebendige Gegenwart!
Im mystischen Erleben Gottes erfahren wir uns nicht als Wesen, die von Gott getrennt sind, sondern als Wesen, die mit dem Göttlichen eins sind. Das wird von allen Menschen ‒ ganz gleich, wie sie religiös eingestellt sind ‒ in einer innigen Weise erlebt. Da gibt es keine Glaubenssätze mehr, und der Mensch erlebt, dass sein innerstes Geheimnis eine göttliche Wirklichkeit ist: Ich kann mein Tiefstes nicht ausloten, denn diese tiefste Wirklichkeit ist meine göttliche Wirklichkeit.
Das ist schon in der Bibel gut ausgedrückt: Der Mensch ist Gottes Ebenbild ‒ Gott ist es, der durch uns hindurch atmet, wir sind durch Gottes eigenes Leben lebendig und genauso unauslotbar wie er. (archiviertes Interview 2014: Gelebte Dankbarkeit)
Wie ist es im biblischen Schöpfungsbericht dargestellt, dass der Mensch in Gottes Seinsweise versetzt sei? Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt.
Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht.
Es gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.
(aus dem Buch Die Frage nach Jesus (1973), Textauszug Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972)
Siehe auch Audio-Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel (2003)
(28:51) Das mystische Gottesbild einer Welt, in der alles uns anspricht als Wort Gottes, denn ‚das Wort ist Fleisch geworden‘, und das ist das ewige Wort Gottes: Wir sind uns selbst so abgründig, dass die tiefste Tiefe unseres eigenen Lebens göttlich ist.
Ebenso Audio Vortrag Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)
(40:33) Br. David schließt mit unserer Aufgabe: Mensch werden: Mensch sein ist nicht Privatsache, wir hängen alle zusammen. Wir sind das Missing Link zum vollen Menschen Jesus. Die Evolution ist von Anbeginn Menschwerdung Gottes und nach der ersten Seite der Bibel leben wir vom ureigensten Leben Gottes: Wir sind Gottmenschliche Wesen
Ebenso Audio-Vortrag: Retreat Woche in Assisi (1989): «Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn»
(13:16) Der Mensch lebt nach der biblischen Anthropologie vom ureigensten Leben Gottes
Einsiedlerleben
Text, Video und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Shams Kairys
In meinem 6. Lebensjahrzehnt wurde es von großer Bedeutung für mich, dass ich in der Kamaldulenser Einsiedelei an der Big Sur Küste Kaliforniens leben durfte. Diese Mönchsgemeinschaft verbindet eremitische Elemente mit Elementen des Gemeinschaftslebens. Ich wurde, wie schon erwähnt, dorthin eingeladen und brüderlich aufgenommen und fand in dieser Gemeinschaft l4 Jahre lang mein klösterliches Zuhause zwischen vielen Reisen.
Zu meinem Staunen erfuhr ich dort auch, dass der heilige Romuald, der Gründer der Kamaldulenser Benediktiner, schon vor 1000 Jahren ein Modell für das Mönchsleben entwickelte, das sich gerade heute wieder als ungemein zeitgemäß erweist. Unsere Lebenserwartung ist so viel größer geworden, dass ein junger Mensch, der heute ins Kloster eintritt, damit rechnen muss, zwei oder drei Mal so lange Mönch zu sein wie jemand zur Zeit Benedikts. Das Mönchsgelübde gilt zwar ein Leben lang, aber es in ein und derselben Form so viele Jahrzehnte lang zu verwirklichen, kann eintönig erscheinen.
Das Kamaldulenser Modell bietet nun neben dem üblichen Gemeinschaftsleben noch zwei weitere Formen an: Die erste heißt Mission (Aussendung) und umfasst jede Art von Dienstleistung außerhalb des Klosters, zu der ein Mönch ausgesandt wird ‒ etwa Lehrtätigkeit, künstlerische Betätigung, Dienst an alten, kranken Menschen, an Drogensüchtigen, Straßenapostolat oder Gefängnisseelsorge.
Die zweite Alternative zum Gemeinschaftsleben im Kloster ist das Leben in der Einsiedelei.
Zwischen diesen drei Formen ‒ Einsiedelei, Klostergemeinschaft und Sozialeinsatz ‒ abwechselnd kann also ein Mönch sein Gelübde leben. Auch Thomas Merton hielt dies für ein vielversprechendes und zukunftweisendes Modell mönchischen Lebens. Ich begann es in meinem eigenen Leben zu verwirklichen, lange bevor ich davon gehört hatte.
Meine weiten Reisen und meine Zeiten als Einsiedler gehören eng zusammen. Schon früh pulsiert mein Leben in der Spannung zwischen den beiden Beziehungspolen von äußerem und innerem Kontakt. Auch ein Einsiedler, der seine Aufgabe versteht, zieht sich ja nicht von Kontakt schlechthin zurück, sondern von äußerem Kontakt. Und mit welchem Ziel? Gerade um jene tiefe innere Verbundenheit zu erneuern, ohne die jeder äußere Kontakt oberflächlich bleibt.
Eine kurze Fabel stellt das reffend dar: Ein Einsiedler zieht sich jedes Jahr tiefer in seine Höhle zurück. Ein Besucher fragt ihn etwas spöttisch:
«Was erwartest du denn, in der tiefsten Tiefe deiner Höhle zu finden?»
Die Antwort des Einsiedlers:
«Alle Tränen der Welt.»[1]
Wir alle brauchen beides: Weite und Tiefe, Ausfahrt in die fremde Weite und Einkehr in die eigene Tiefe.
Rhythmus und Formen dieser beiden abwechselnden Sehnsüchte sind von Mensch zu Mensch verschieden.
Für mich persönlich sind der Verinnerlichung geweihte Zeiten lebensnotwendig. Das ist wie so vieles andere zugleich Bedürfnis und Begabung. Und als Begabung ist es sowohl Gabe als Aufgabe.
Schon als Kind suchte und fand ich immer wieder Orte, um allein zu sein. Einer meiner Lieblingsplätze war eine einsame Quelle. Ich wurde nicht müde, ganz alleine dort zu sitzen und dem Wasser zuzuhören.
Als Student flüchtete ich mich manchmal mitten in einer Party (so sehr mir das Tanzen Spaß machte!) zum einzigen Ort, an dem ich allein sein konnte ‒ dem WC. In meinem Sommer auf der Alm war mir stille Einkehr inmitten der Nachkriegswirren ebenso wichtig, wie dass ich dort etwas zu essen bekam. Auch als junger Mönch durfte ich manchmal einen Tag oder sogar einige Tage in der kleinen Einsiedlerhütte im Klosterwald verbringen.
Das begann aufgrund eines Traumes, in dem irgendetwas ‒ ich konnte es nicht benennen ‒ mich schwer bedrückte. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Ein langer, enger Tunnel führte mich endlich ins Freie.
Da stand ich nun. In strahlendem Sonnenlicht blickte ich um mich und sah vor mir unsere Einsiedelei. Porta coeli hatten wir sie benannt ‒ «Himmelspforte» ‒, und das wurde sie in der Tat für mich ‒ Ort einer Seligkeit, die sich nicht in Worte fassen lässt.
Als später meine Vortragsreisen begannen, wurden Zeiten des Alleinseins wichtig. Dieses Bedürfnis wird oft von den Mitbrüdern nicht gern gesehen. Der typische Einwand lautet: «Wenn ein Bruder tüchtig genug ist, um alleine zu leben, dann brauchen wir ihn in der Gemeinschaft, wenn nicht, dann braucht er uns.»
Mein Abt aber sagte mir: «Draußen bist du so viel unter Menschen. Wenn du heimkommst, brauchst du nicht wieder Menschen, nicht einmal deine Brüder im Kloster. Die Einsiedelei wird dir da guttun.»
Das stimmte. Zuerst war es die eine oder die andere unserer Einsiedeleien im Klosterwald von Mount Saviour, wohin ich mich zurückzog, dann andere Orte, die sich anboten. Manche, die ich hier näher erwähnen werde, waren recht romantisch, etwa Bear Island, eine winzige Insel im Nordatlantik, auf der ich einen Winter mit Kälterekorden dankbar überlebte, oder Sand Island Light, ein verlassener Leuchtturm im Golf von Mexiko, von dem aus ich nichts sehen konnte als Meer und Himmel.
Man sollte sich aber keine romantischen Vorstellungen machen vom Einsiedlerleben. Letztlich verlangt es nüchterne Konfrontation mit sich selbst und mit allen Tränen der Welt.
Zum Leben als Einsiedler gehört es, freiwillig ausgesetzt zu sein im Sinne von Rilkes dichterischem Bild:
«ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.»[2]
Der äußere Ausdruck dafür, innerlich preisgegeben zu sein und sich verwundbar zu machen, ist ein Aufgeben bürgerlicher Geborgenheit.
Das durfte ich auf Bear Island[3] erleben, einem Inselchen von etwa sieben Hektar, auf dem nur ein Leuchtturm der Küstenwache Platz hat und der 100 Jahre alte Sommersitz der Familie Dunbar. Diese großzügigen Freunde erlaubten mir, mich in einem ihrer Gebäude einzuquartieren. Ich wählte einen Holzbau mit Werkstatt und Holzlager im Erdgeschoss und zwei Räumen darüber, die Rick Dunn mir winterfest machen half. Rick war im Winter 1976/77 dort mein getreuer Helfer. Schon der heilige Franziskus von Assisi wollte, dass einem Einsiedlerbruder immer ein zweiter als Helfer zur Seite steht, und sogar bei den frühen Wüstenvätern finden wir diesen Brauch. Wenn die Zusammenarbeit gelingt, dann gewährt dies dem Einsiedler vermehrte äußere und auch innere Freiheit. Bei uns bewährte sie sich, denn Dick meisterte die Kunst brüderlicher Fürsorge und die noch seltenere Kunst, sich gerade aus Fürsorge zeitweise unsichtbar zu machen.
Mit unserem Holzofen konnten wir uns ganz gut warmhalten. Auf dem obersten Wandbrett war es sogar warm genug, dass Keimsprossen gedeihten. In der Ecke unter dem Bett blies aber der Wind durch ein Loch in der doch nicht ganz winterfesten Wand immer wieder ein Häufchen Schnee herein. Wind gab es viel, und beim ärgsten Sturm dieses Winters mussten wir mitten in der Nacht zum Leuchtturm flüchten. Dort lebten ‒ mit Erlaubnis von «Captain», der Katze ‒ Steve Cancellari von der Küstenwache, Mary, seine Frau, und ihr Töchterchen Maggie und das Baby. Wir sahen sie gewöhnlich nur sonntags, wenn wir im Motorboot gemeinsam nach Southwest Harbor zur Messe fuhren. Sogar im Motorboot konnte das gefährlich werden, wie etwa am Weihnachtstag. Bei der Ausfahrt war das Meer spiegelglatt, nach dem Gottesdienst aber ging die Brandung so hoch, dass Steve erst nach Stunden die Rückfahrt wagte. Und ein Wagnis war es tatsächlich. Rick und ich konnten kaum schnell genug das Wasser aus dem Boot schöpfen, das sich Woge um Woge ergoss, während Mary versuchte, die weinenden Kinder zu beruhigen. Steve war trotz all seiner Mühe und Geschicklichkeit nicht imstande, das Boot an der rechten Stelle an Land zu bringen, sodass wir die letzten Meter, hüfttief im eisigen Meerwasser, die Kinder ans Ufer tragen und dann den Rest des Christtags im Bett feiern mussten ‒ mit dem bisschen, was wir an alkoholischen Getränken aufstöbern konnten. Und wenn schon das motorisierte Übersetzen gefährlich werden konnte, wie gefährlich war dann erst das Rudern. Da meinten wir mehr als einmal, unsere letzte Stunde hätte geschlagen. Aber gerade auch die «Süße reifender Gefahr»[4] gehört zu dieser Art von Einsiedlerleben.
Einen ganz anderen Aspekt lernte ich in der Hochwüste New Mexicos kennen. Dort hatten Mönche von Mount Saviour schon 1964 unter P. Aelred Wall ein Kloster gegründet «Christ in the Desert». Hier durfte ich in einer Lehmziegelhütte ‒ nicht weit vom Kloster, aber allein ‒ eine Fastenzeit erleben. Das Mitfeiern mit den Brüdern wurde in dieser Zeit für mich zur Kraftquelle beim Alleinsein, besonders, weil dort das Stundengebet dem kosmischen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten folgte, so wie Benedikt es vorsah. Unter dem Nachthimmel, an dem wie glitzernde Tautropfen die Sterne standen, durch die eisige Wüste zum Gebet zu gehen und rundum die Kojoten heulen zu hören, das war ein einzigartiger Tagesbeginn. Dann leuchteten je nach Sonnenstand Stunde um Stunde immer andere braune, rote, violette oder orangefarbene Felswände in diesem Canyon auf, bis nach einem letzten Aufflammen bei Sonnenuntergang die Dämmerung das Farbenspiel dämpfte und ausklingen ließ. Dieser stündliche Wandel des Lichtes gab den Tagen äußere, aber auch innere Ordnung.
Ein Einsiedlermönch soll sich zwar keine fixe Tagesregel vornehmen (wer das will, kann ja das Gemeinschaftsleben wählen). Er soll frei bleiben, sich vom Geist leiten zu lassen, der «weht, wo er will»[5].
Einzigartiger Ausdruck dieses göttlichen Lebensatems ist der Rhythmus des Kosmos. Er wird daher den Tagesablauf in der Einsiedelei mitgestalten, wie immer dieser auch sonst im Einzelnen aussieht. Je mehr wir uns innerlich der Natur anpassen, umso widerstandsfähiger werden wir gegen alle Willkür, die in unserer Gesellschaft vorherrscht.
Dieser Aspekt des eremitischen Lebens wurde mir besonders in den Wochen bewusst, die ich (den Namen des Ortes bewahrheitend) mit «Christus in der Wüste» feiern durfte.
(Bruder David erzählt weiter von der Einsiedelei auf Sand Island[6], einer Insel im Golf von Mexiko, gerade groß genug, dass ein Leuchtturm darauf Platz hat. Er war dort mit seinem Freund, dem Franziskaner P. Augustin Gordon. Sie trafen sich täglich nur zur ge-
meinsamen Eucharistiefeier. Die übrige Zeit verbrachte jeder allein auf dem Balkon, der unter der obersten Spitze rund um den 40 m hohen Turm läuft – schweigend und hinausschauend auf Himmel und Meer.)
Meist waren die Orte, an denen ich allein leben durfte, weit weniger außergewöhnlich, aber außergewöhnlich lieb wurden sie mir alle ‒ besonders einer: die Einsiedelei, die ich bei P. John Giuliani einrichten durfte. Mit diesem lieben Freund gemeinsam war ich an der Gründung der «Benedictine Grange» im Staat Connecticut beteiligt. «Grange» nannten wir unser Experiment, weil dieses Wort eine kleine Mönchsniederlassung entfernt vom Kloster bezeichnet, zugleich aber auch einen Speicher für Saatgut.
Zum Saatgut mönchischen Lebens für die Zukunft
gehört auch seine eremitische Seite.
Darum durfte ich mich nun in einer Hälfte unserer kleinen Garage einnisten und sogar ein oberes Stockwerk bauen.
Fast in jeder beliebigen Umgebung sollte das Wesentliche gelingen:
«ausgesetzt auf den Bergen des Herzens»
In deinem Tagesrhythmus ohne Willkür
allein zu sein mit dem All-Einen,
«solus cum Solo»
und das Herz offen zu halten
«für alle Tränen der Welt».
Eine Einsiedelei, in der ich mich besonders zu Hause fühlte, möchte ich noch zum Abschluss erwähnen: Sky Farm Hermitage. Mein Freund, P. Dunstan Morrissey OSB hatte ein großes Stück Land in Sonoma, nördlich von San Francisco, geschenkt bekommen und lebte dort in einer Einsiedelei, die er Himmelsfarm nannte, vielleicht deshalb, weil dort am Tag nicht viel zu ernten ist, der tiefschwarze Nachthimmel sich aber wie eine fruchtschwere Baumkrone wölbt, in der zum Greifen nah die Sterne hängen.
Was ich dort zum ersten Mal erlebe, ist Einsiedelei als «Bleibe». Zwar kann ich nur zwischen Reisen auf Sky Farm Zeit verbringen, aber ich weiß: Ich gehöre dorthin. Das Land und seine Einsiedeleien gehören nicht uns, aber sie sind uns in Treuhand anvertraut, wir sind verantwortlich für dieses kleine Paradies. Wir pflanzen Bäume ‒ Olivenbäume, die vielleicht in 100 Jahren anderen Einsiedlern hier Schatten und Früchte schenken werden. Land, auf dem man Bäume pflanzen darf, wird dem Herzen zur Bleibe.
So wie wir alle den Mönch als Archetyp in uns tragen,
so auch den Einsiedler.
Unsere größte Freude auf Sky Farm ist es,
dieses Geschenk mit Menschen teilen zu dürfen,
die ihrem inneren Einsiedler begegnen wollen,
wenn auch nur für kurze Zeit.
Ist nicht schließlich das ganze Leben nur «auf Zeit»?
Bruder David im Dialog mit Johannes Kaup:
JK: Sie sagen, dass sich der Mönch in seiner Einsiedelei «auf den Bergen des Herzens aussetzt» und zugleich «alle Tränen der Welt» findet bzw. sein Herz dafür offen halten soll. Was meinen Sie damit konkret?
BD: Dass ein Einsiedler dem Leiden nicht ausweicht. Das war im Zusammenhang gemeint. Und dass das Einsiedlerleben keine Flucht ist vor der Gemeinschaft. Wer es richtig lebt, dem schenkt das Einsiedlerleben tiefe Gemeinschaft mit allen, besonders mit den Leidenden.
JK: Wie tut es das? Was meint dann, «die Tränen der Welt» sind bei mir, in der Höhle, in der Hütte oder welche Form die Einsiedelei auch hat?
BD: Das Alleinsein und die Meditation machen uns sensibler und stärken das Mitgefühl für Menschen, Tiere und die ganze Schöpfung.
JK: Aber wie komme ich in der Einsiedelei mit all dem in Kontakt? Wie geht das?
BD: Von innen her durch Meditation, einfach deshalb, weil man nicht abgelenkt wird und sich bewusst nicht ablenken lässt. Die Welt ist voll Tränen. Schon Vergil sagt;
«Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt.»[7]
Das heißt:
«Tränen sind in allen Dingen, und alles,
was dem Tod geweiht ist, berührt unser Herz.»
Wir sind uns dessen meist nicht so bewusst, lassen uns sogar gerne ablenken. Deshalb ist es schwierig, allein zu leben ‒ weil man dann eben keine Ausflucht hat. Man wird sozusagen nackt mit allem konfrontiert, auch mit allem Leid der Welt.
JK: Von den biblischen Propheten bis hin zu Jesus, aber auch von den frühen Mönchen in der ägyptischen Sketis[8] wird berichtet, dass sie ihre Schlüsselerfahrungen oft in der Wüste hatten. Auch Sie waren mehrfach in der Wüste in einer Einsiedelei in New Mexico Ich denke, dass man hier mit einer Leere konfrontiert wird und mit sich selbst. Entweder man gibt durch solche Erfahrungen auf oder man wächst innerlich. Womit wurden Sie in Ihren Wüstenerfahrungen konfrontiert und was haben Sie dort gefunden?
BD: Jeder Mensch, der in die Wüste geht, erlebt wohl, dass es dort, wie schon gesagt, keine Ablenkungen gibt. Man wird mit der Natur in ihrer ganzen Größe konfrontiert, in ihrer überwältigenden Schönheit, zum Beispiel dem Sternenhimmel bei Nacht Man kann die Sterne in der Wüste so viel klarer sehen. Sie erscheinen so groß. Aber auch der Rauheit der Natur stehen wir in der Wüste gegenüber, etwa der eisigen Kälte bei Nacht.
JK: Man ist auch dankbarer für die Ressourcen, die einem zur Verfügung stehen, selbst wenn es nur das lebensnotwendige Wasser ist.
BD: Ja, man wird dankbar für alles. Und das führt zu einer inneren Vertiefung, wenn man es wirken lässt und nicht in irgendwelche Ablenkungen flieht oder einfach weggeht.
JK: Gab es Momente, in denen Sie dachten: Warum tue ich mir das an? Bin ich nicht am falschen Ort? Gibt es auch solche Momente?
BD: Daran erinnere ich mich eigentlich nicht. Ich war immer sehr gerne in der Einsamkeit. Die einzige Zeit, in der ich manchmal gefühlt habe, dass ich nicht dorthin gehöre, war nicht in einer Einsiedelei, sondern in großen Menschenmengen. Auch wenn das nur selten vorkommt, aber etwa bei Empfängen, wo viele Leute sind und oberflächliche Gespräche geführt werden, da fühle ich mich fehl am Platz. So etwas erlebe ich als Zeitverschwendung, das Alleinsein dagegen nie. Es war nicht immer leicht, aber ich habe immer gewusst: Hier gehöre ich hin.
JK: Mich interessiert die Psychodynamik in dem Moment, in dem ich keine Ablenkungen mehr um mich habe, wo mich niemand mehr grüßt, ich ganz auf mich alleine gestellt bin, um zu überleben. Was ist in dieser Situation die ursprüngliche Erfahrung?
BD: Vielleicht so etwas wie: Es wird immer stiller, so wie Wasser, wenn es still wird. Dann klärt es sich und man sieht immer tiefer hinunter.
Man kann freier atmen und es stellt sich so etwas wie ein kosmisches Mitgefühl ein. Man fühlt sich mit allem verbrüdert.
JK: Man ist also in Resonanz mit der Landschaft, den Tageszeiten, vielleicht mit ein paar Tieren, die es auch noch gibt in der Wüste.
BD: Ja, wenn man in der Einsiedelei sonst keine Gesellschaft hat als eine Fliege, dann bekommt man zu dieser Fliege eine ganz persönliche Beziehung. Man hörte auch von irischen Einsiedlern, die zu ihren Mäusen freundliche Beziehungen hatten.
JK: Und sie gefüttert haben?
BD: Ja.
JK: Wie sah denn ein Tagesablauf in der Einsiedelei bei Ihnen aus?
BD: Das war sehr unterschiedlich. Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass sich Einsiedler keinen festen Tagesplan auferlegen. Das heißt jetzt nicht, dass man jeden Tag schläft, so lange man will. Es gibt schon gewisse mönchische Normen. Aber vor allem ist das Leben mit dem natürlichen Tagesablauf sehr wichtig. Man kann bewusst das Morgengrauen sehen und den Sonnenaufgang. Man spürt, wenn es Mittag ist, wenn es so ganz still wird. Man freut sich daran, wenn es kühl wird am späteren Nachmittag und wenn der Abend sich senkt. Es wird einem der natürliche Ablauf des Tages weit mehr bewusst. Diese Natürlichkeit steht im Widerspruch zu der Willkürlichkeit, die unsere Gesellschaft dem Tag aufzwingt. Der normale Tagesablauf in der Stadt ist sehr willkürlich, verglichen mit der Natur. Es ist egal, ob es dunkel wird, weil man dann eben das Licht andrehen und den Tag verlängern kann, so lange man will. An sehr kurzen Wintertagen habe auch ich Licht verwendet in der Einsiedelei, aber sonst habe ich eigentlich am liebsten im Rhythmus des normalen Tageslichts gelebt. Im Winter schläft man länger als im Sommer. Das war auch bei den Mönchen, die in Gemeinschaft leben, ursprünglich so, Benedikt schreibt zum Beispiel ausdrücklich, dass das Abendessen so angesetzt werden soll, dass alles fertig ist, bevor es dunkel wird. Dieses Sich-Einlassen auf den natürlichen Tagesablauf, das ist wichtig. Wie man dann den Tag ausfüllt, zu welchen Zeiten man liest oder schreibt oder Handarbeit verrichtet, das ist im Vergleich weniger wichtig.
JK: Haben Sie verschiedene Projekte in die Einsiedelei getrieben?
BD: Es hat schon Zeiten gegeben, in denen ich mich allein zurückgezogen habe, um an einem Buchprojekt zu arbeiten, aber das würde ich nicht als Einsiedlerleben bezeichnen.
Das einzige Projekt des Einsiedlers ist es, allein und frei zu sein;
dem stehen andere Projekte im Weg.
Allein zu sein mit dem All-Einen,
wie Plotin sagt,
dieses Alleinsein selbst ist das große Projekt.
JK: Und das unterscheidet sich von Einsam-Sein.
BD: Das Alleinsein hat eine positive und eine negative Form. Die negative Form des Alleinseins nennen wir einsam sein.
Einsam sind wir, wenn wir von anderen abgeschnitten sind. Das Abgeschnittensein ist das Negative. Wir können auch mitten in einem ganz gedrängt vollen Raum einsam sein. Es bedeutet nur: Wir sind nicht verbunden mit den anderen, wir fühlen uns innerlich abgetrennt. Für die positive Form des Alleinseins haben wir eigentlich keinen richtigen Namen.
JK: Autonomie vielleicht?
BD: Nein, das klingt viel zu eigenmächtig.
Die ganze Verwundbarkeit des Einsiedlers gehört zum Alleinsein dazu.
Das ist freilich nichts, woran man gewöhnlich denkt. Es kommt vielleicht nicht so darauf an, dass wir einen genau treffenden Ausdruck dafür finden. Der Einsame ist jedenfalls abgeschnitten von der Gemeinschaft mit anderen, der Einsiedler aber ist innig verbunden mit ihnen. Und je tiefer und umfassender diese innere Verbundenheit ist, umso authentischer ist das Einsiedlerleben ‒ und umso glücklicher.
Unser größtes Glück, unsere wahre Freude
ist die Verbundenheit mit anderen.
Unser größtes Leid ist es,
abgeschnitten zu sein von ihnen.
JK: Sie haben vorhin die Verwundbarkeit des Einsiedlers angesprochen. Worin ist der Einsiedler verwundbar?
BD: Bei der Konfrontation mit sich selbst. Die Ablenkung ist eine Art Rüstung, die wir uns anlegen, um diese Verwundbarkeit nicht fühlen zu müssen. Warum will sich jemand verwundbar machen? Weil es eben unsere authentische Lage ist. Wir sind verwundbar. Man muss das zugeben, bevor man mit anderen offen sein kann in einer echten Beziehung. Wer für Beziehung offen ist, ist auch offen für Verwundung.
JK: Aber der Einsiedler hat diese Beziehung zu anderen Menschen zumindest in diesem Moment nicht.
BD: Doch! Nicht nur zu Menschen, sondern zu allem, was es gibt. Es handelt sich bei dieser Verwundbarkeit nicht nur und nicht in erster Linie um Beleidigungen, denen man sich aussetzt, sondern etwa um die Kleinheit, die man erlebt, wenn man unter dem Sternenhimmel in der Wüste steht, diese Nichtigkeit, die man da erlebt: Ich bin ja nichts.
JK: Aber das kann mich auch nur zur Demut bringen und muss nicht zwangsläufig eine Wunde sein. Verwundung, finde ich, ist etwas Stärkeres und hat auch mit unseren Schattenseiten zu tun.
BD: Was ich gemeint habe mit Verwundbarkeit kommt der Demut sehr nahe: keinerlei Rüstung anlegen.
JK: Könnte man das als Sensibilität, als besondere Achtsamkeit bezeichnen?
BD: Ja. Sensibilität, Achtsamkeit, Mitgefühl, das heißt Mitfreude und Mitleid. Das Mit- ist das Entscheidende daran. Nicht abtrennen, sondern verbinden.
JK: Besonders herausfordernd muss Ihre Zeit auf kleinen Inseln gewesen sein. Eine solche ist Sand Island, ein Haufen Steine, darauf ein verlassener Leuchtturm. Sie haben sich dahin mit einem Mitbruder per Boot bringen lassen. Wie geht das, alleine zu zweit zu sein?
BD: In diesem Fall auf Sand Island war Platz genug, auf zwei verschiedenen Seiten des Balkons dieses Leuchtturms den ganzen Tag allein zu verbringen, ohne den anderen auch nur zu sehen. Die Eucharistie haben wir dann gemeinsam gefeiert. Gegessen haben wir wieder allein. Aber die Eucharistiefeier war unsere Zeit der Gemeinsamkeit.
JK: Es gibt zwar heute wenig klassische Einsiedler, aber die Lebensform scheint zur Zeit sehr attraktiv zu sein: sich in eine einsame Berghütte zurückzuziehen oder mit dem Zelt oder einer Plane in der Wildnis zu leben, allen Elementen ausgesetzt ‒ das suchen Einzelne heute immer wieder. Es gibt auch neue Angebote, die an alte spirituelle Traditionen anknüpfen, wie die Visionssuche, die Initiationsriten oder Medizinreisen. Was suchen und finden die Zeitgenossen Ihrer Meinung nach dabei?
BD: Ich glaube, sie suchen und finden, wenn es erfolgreich ist, genau dasselbe, was der sogenannte Einsiedler sucht und findet. Einsiedler, die ihr ganzes Leben lang als Einsiedler leben, gibt es heutzutage wenige und es waren vielleicht nie sehr viele. Aber Einsiedelei auf Zeit ist besonders in unserer Gesellschaft fast eine Notwendigkeit geworden für viele Menschen. Manche gehen alleine wandern, andere haben ein Hüttchen oder eine Unterkunft, wo sie bleiben, und es gibt auch Klöster, die Einsiedeleien zur Verfügung stellen für eine Zeit. Das bewusste Alleinsein ist wohl immer irgendwie religiös gefärbt, ob das in einer klösterlichen Umgebung stattfindet oder bei einer Wanderung im Gebirge. Alleinsein ist für uns Menschen immer eine Gelegenheit zur Begegnung mit dem Großen Geheimnis. Das Alleinsein ein Leben lang durchzuhalten, ist schon etwas recht Ungewöhnliches. Ich kann mir vorstellen, dass das wirklich so etwas wie ein Beruf ist. Für mich war es das jedenfalls nicht.
JK: Sie brauchen den Rhythmus, die Dynamik von Alleinsein, Gemeinschaft und wirken können?
BD: Ja. Viele Menschen ‒ nicht nur Mönche ‒ finden heute, dass sie der Gemeinschaft am besten dienen können, wenn sie sich zwischendurch immer wieder zurückziehen, sich sammeln und selbst finden. Dann haben sie wieder mehr zu geben.
JK: Man bekommt manchmal auch eine ganz klare Sicht auf die Verhältnisse, in denen man lebt. So wie Henry David Thoreau[9] der seine Systemkritik der damaligen amerikanischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert als Einsiedler entwickelt hat. Das war gewaltig. Es wurde auch eine Art Gründungstext, einer der vielen Gründungstexte der Hippiebewegung in den 68er-Jahren.
BD: Ich habe selbst einmal eine Pilgerfahrt gemacht zum Walden Pond, wo Thoreau eine Zeitlang Einsiedler war. Die Hütte steht leider nicht mehr.
JK: Und wie war das?
BD: Berührend. Sein Geist ist immer noch dort.
JK: Er war ein unglaublich anarchistischer Denker, im positiven Sinn.
BD: Er war sogar kurz im Gefängnis. Mein erster Besuch am Walden Pond fiel zufällig ‒ wenn es Zufall gibt ‒ auf einen «Tag der Erde».
[Ich bin durch Dich so ich (2016): 6. Einsiedlerleben: 1976-1986, 116-122 und 6. Dialog, 123-127, 129-131]
Ergänzend:
VOM ICH ZUM WIR ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021) und Mitschrift des Filminterviews, 1:
Egbert Amann-Ölz: «Als Mönch stellt man sich einen Einsiedler vor – üblicherweise –, oder jemanden, der sich zumindest öfters alleine zum Gebet zurückzieht und dann gleichzeitig auch in einer Gemeinschaft lebt.»
David Steindl-Rast: «Zu dem Ersten muss ich sagen, dass man zunächst einmal die Vorstellung von einem Einsiedler korrigieren muss: Ich hab das große Glück gehabt, viel Zeit in meinem Leben in Einsiedeleien verbringen zu dürfen und ich kann aus Erfahrung sprechen:
Der Einsiedler schneidet sich nicht von der Welt ab, im Gegenteil! Das ist sehr schön ausgedrückt in einer kleinen Geschichte, die ein Einsiedler geschrieben hat, und zwar ist es eine erfundene Geschichte: Wenn man Einsiedler ist, wollen ja die Leute einen immer sehen, und dieser Einsiedler war auch bedrängt von vielen Besuchern und musste sich immer tiefer und immer tiefer in die Höhle hinein zurückziehen. Und da haben ihn dann die Besucher gefragt: ‹Was findest du eigentlich, wenn du ganz tief in die Höhle hineinkommst›? Und die Antwort war: ‹Alle Tränen der Welt›.
Alle Tränen der Welt: Also, wenn man sich zurückzieht, so vereinigt man sich mehr mit dem Wir als auf irgendeine andere Weise. Man hat mehr Zeit und Bewusstsein dafür. Das ist einmal die Korrektur von dem Einsiedler.»
2. Löwe, Lamm und Kind (1992); siehe auch Sinne und Kind werden: Ergänzend: 2.3.
Themen der Fragerunde:
Audio: Das Kind in uns und das mönchische Leben
3. Allein ‒ All-Eins, ein Auszug aus Der Mönch in uns (1978) im Buch Die Antwort der Erde (1978); siehe auch die Übersetzung von Eve Landis in Der Mönch in uns (1981), und die Übersetzung von Bernardin Schellenberger im 3. Kapitel «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2023), 43-63]
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[1] Theophane the Monk, aus: ‹Tales of a Magic Monastery›, New York 1981
[2] Rainer Maria Rilke: Fragment, siehe Sinne und Kind werden: Anm. 5
[3] Bear Island ist eine Insel im US-Bundesstaat Maine. Sie ist eine von fünf Inseln der Cranberry Isles.
[4] Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIII:
«Rufe mich zu jener deiner Stunden,
die dir unaufhörlich widersteht:
flehend nah wie das Gesicht von Hunden,
aber immer wieder weggedreht,
wenn du meinst, sie endlich zu erfassen
So Entzognes ist am meisten dein.
Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen,
wo wir meinten, erst begrüßt zu sein.
Bang verlangen wir nach einem Halte,
wir zu Jungen manchmal für das Alte
und zu alt für das, was niemals war.
Wir, gerecht nur, wo wir dennoch preisen,
weil wir, ach, der Ast sind und das Eisen
und das Süße reifender Gefahr.»
[5] Joh 3,8
[6] Sand Island Lighthouse ist ein 40 Meter hoher Leuchtturm, der den südlichsten Punkt des US-Bundesstaates Alabama bildet. Er liegt in der Nähe von Dauphin Island, an der Mündung der Mobile Bay, Alabama.
[7] Siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 117
[8] Sketis ist die Bezeichnung des sketischen Wüstentals (Wadi an-Natrun) in Ägypten. Der Name leitet sich vom Altägyptischen ‹Sechet-hemat› ab und bedeutet Salzfeld. Es beherbergt auch heute noch Einsiedeleien und später erbaute koptische Klöster.
[9] Henry David Thoreau (1817-1862). Der US-amerikanische Schriftsteller und Philosoph ist vor allem durch sein Buch ‹Walden oder das Leben in Wäldern› berühmt geworden.
Einssein
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Wenn unser dankendes Empfangen sich der gegebenen Welt völlig öffnet, dann sind wir plötzlich eins. Wir antworten vom Herzen her, von jener Mitte, wo Einheit und Einigkeit walten.
In der Erinnerung an solche Höhepunkte der Herzenserfahrung können wir leicht erkennen, dass es dabei um das Einswerden geht. Das Erlebnis lässt uns im Tiefsten eins werden. Darüber hinaus wird uns die Erinnerung an diese Erfahrung erkennen helfen, dass das Wort «eins» in diesem Zusammenhang weitaus mehr bedeutet, als wir vielleicht annahmen. Im Herzen unseres Herzens sind wir in einem tiefen, vollen und umfassenden Sinne eins mit uns selbst, und das so umfassend und so tief, dass es gleichzeitig darauf hinausläuft, dass wir mit allen anderen Menschen im Herzen eins sind.
Im Innersten unseres Herzens finden wir uns in einem Bereich, in dem wir nicht nur auf das Innigste mit uns selbst, sondern ebenso mit anderen vereint sind, mit allen anderen. Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen. Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen: «Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin»? Oder: «Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Person, die ich liebe, und doch bin ich mir selbst entfremdet»? Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins. Dann haben wir die Entfremdung überwunden. Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte. [ST 33f., Quelle: FN 1) 28f.; 2-5) 31; 6) 33]
Engel
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
«Man weiß nicht genau, wo Engel wohnen», stellte Voltaire zynisch fest. Da es keine genaue Adresse für sie gibt, zweifelte er überhaupt an ihrer Existenz. Unsere Zeit hat ein aufgeklärteres Verständnis von Engeln, das wir allerdings auf Umwegen nicht zuletzt wieder Voltaire und der Aufklärung verdanken. Dankbar befreit vom Wörtlichnehmen mythischer Bildersprache, fragen wir heute nicht mehr nach dem genauen Ausmaß der Flügelspanne von Engeln, oder danach, wie viele von ihnen auf einer Nadelspitze Platz hätten. Für uns ist ihr Name das Entscheidende, und der bedeutet «Bote».
Als Boten verstanden, sind Engel so wirklich wie eh und je, und es ist gar nicht nötig zu wissen, wo sie wohnen. Worauf es ankommt, ist, dass sie auftauchen wann und wo wir sie am wenigsten erwarten. Was auch immer zum tiefsten Herzen eines Menschen spricht, ist Engelsbotschaft. In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug' in Auge mit einem Tier, können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen. Das Einzige, was wir von Engeln mit Sicherheit aussagen können, ist, dass sie völlig unberechenbar sind ‒ wie alles wirklich Lebendige...
All diese Begegnungen mit Engeln finden nicht in weltfremder Abgeschlossenheit statt, sondern im ganz normalen Alltag. Das ist das Beste daran. Wir müssen keineswegs herauswaten aus dem Fluss unseres täglichen Lebens. Seine Stromschnellen und Wirbel können uns nicht niederreißen, solange wir mit festem Blick auf den Grund schauen. Das will geübt sein, aber es lässt sich erlernen. [ST 35f., Quelle: MS 5) 8 und 11]
Erlösende Kraft
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Noch bevor die Christen als solche bezeichnet wurden, waren sie als die «Weggemeinschaft» oder «die Leute, die auf dem Weg sind» bekannt.
Damit war der Weg der Erlösung gemeint.
Sie nannten ja auch Jesus nicht nur den «Erlöser», sondern auch den «Weg» ‒ den Weg in die Freiheit, könnten wir sagen. Das Ziel dabei ist die Freiheit.
Dieses Wort drückt besser aus, was mit Erlösung eigentlich gemeint ist, nämlich Befreiung.
Schon sich auf den Weg machen, wirkt bereits befreiend.
Stetig voranzuschreiten führt uns aber zu immer größerer Freiheit.
Verbundenheit befreit.
Und gläubiges Vertrauen verbindet uns mit dem Großen Geheimnis.
Hoffnungsvolle Bereitschaft, Schritt für Schritt authentischer zu werden, verbindet uns mit unserem wahren Selbst.
Und unser liebendes Ja zur Zugehörigkeit verbindet uns mit allen Lebewesen.
Diese drei Bande der Verbundenheit aber zerreißt die Sünde.
Erlösung aber erleben wir ‒ als Gabe und Aufgabe zugleich ‒ in drei Formen der Verbundenheit.
Der Glaube befreit unser Herz durch Vertrauen auf die absolute Vertrauenswürdigkeit Gottes.
Die Hoffnung erlöst uns durch die Offenheit für Überraschung auf jedem Schritt des Weges.
Und die Liebe heilt uns durch die Herzenswärme, mit der wir das Ja Gottes empfangen und tatkräftig weiterschenken.
Letztlich geht es um das «Wirklichwerden», dieses Wort fasst eigentlich das Wesen von Erlösung am besten zusammen.[1]
Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.
Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.
Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.
Deshalb sagte Rilke: «Jeder Engel ist schrecklich.»
Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel?
Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.
«Denn das Schöne», sagt Rilke, «ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.»[2]
Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben.
Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.
T. S. Eliot bemerkt: «Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.»[3]
Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben?
Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch «Der Plüschhase»:[4]
Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:
«Tut Wirklichwerden weh?»
Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh?
Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:
«Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.»[5]
Unsere Erlösung beginnt mit der Besinnung und Rückbindung auf das Große Geheimnis, das uns alle verbindet. Aus dieser Verbundenheit heraus erwächst die Kraft des Guten zur Heilung unserer Umwelt sowie auch unserer Mitwelt.
Im privaten Leben heißt das:
Ich muss Verschuldung durch Vergebung gleichsam «auffüllen»,
Unversöhnlichkeit durch Verzeihung
Missmut durch Freudigkeit.
Auch Diskriminierung ist letztlich auf einen Mangel zurückzuführen, den Mangel an Einfühlungsvermögen.
Hier braucht es Aufklärung und Herzensbildung, aber die können wir wohl nur einer neuen Generation durch entsprechende Schulbildung vermitteln.
Erlösung vom Bösen fordert jedenfalls unseren ganzen Einsatz nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern ganz besonders auf der gesellschaftlichen.
Wenn wir mit der gleichen Herzenswärme die uns am nächsten ebenso wie die uns am fernsten Stehenden umarmen, dann schenkt uns das eine ungeahnte innere Weite und Freiheit.
In diesem Sinne können wir alle Vermittler der heilenden Kraft des Großen Geheimnisses sein, einer Kraft, die durch den ganzen Kosmos fließt. Und in diesem Sinne sind wir alle Priesterinnen und Priester.
Je mehr ich diese heilende, erlösende Kraft durch mich selbst hindurchfließen lasse, umso mehr macht mich das auch selbst mehr und mehr heil.
Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn wir diese erlösende Kraft fließen lassen und weitergeben, werden wir also ganz durchlässig für das Große Geheimnis.»
Bruder David: «Dazu fällt mir ein berührendes Beispiel ein. Zur Zeit, als die Schifffahrt noch die einzige Reisemöglichkeit zwischen Amerika und Europa war, stand meine Mutter im Hafen von New York an Deck der «Bremen». Unten am Pier bemerkte sie den tränenreichen Abschied einer großen italienischen Familie, die eine schwerbehinderte junge Frau im Rollstuhl einer Gruppe von Mitreisenden anvertraute. Im Laufe der Überfahrt nahm sich meine Mutter der jungen Frau an, die ihre winzige und überhitzte Kabine am untersten Deck nur mit großer Mühe verlassen konnte. Dabei erfuhr sie, dass sich die Familie nur ein einziges Ticket leisten konnte, und darum musste die Tochter alleine nach Lourdes reisen. In Frankreich angekommen, schiffte sich die Pilgergruppe, der Teresa anvertraut war, mit ihr in Le Havre aus. Meine Mutter blieb noch bis Hamburg an Bord, konnte aber lange nicht vergessen, mit welcher felsenfesten Hoffnung die Kranke um Heilung am Gnadenort gebetet hatte. Nach vielen Monaten kam ein Brief von Teresa: Sie hatte Lourdes nie erreicht. Kein Wort darüber, unter welchen Umständen sie alleine in einem Pariser Hotelzimmer zurückgelassen wurde. Doch schon das armselige Briefpapier schien zu strahlen: Aus dem Brief sprach nichts als überströmende Dankbarkeit für all die Hilfe und Segnungen, die Teresa von unzähligen hilfsbereiten Menschen erfahren hatte. Nichts als Freude, nun wieder mit ihrer Familie in den USA vereint zu sein. Der Brief sprach überhaupt nicht von Vergebung oder Heilung, aber er gab Zeugnis von Erlösung durch Liebe. Und bei Erlösung kommt es letztlich nur auf die Liebe an.[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.
Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:
Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.
Ich bleibe dem Leben etwas schuldig: mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.
Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.
Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒ an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.
Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5-7]
[Ergänzend:
2. Audios
2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(00:49) Verlässlichkeit und Lebensvertrauen in Extremsituationen
2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen / (20:22) Das Glaubensleben ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung / (23:22) Um den Glauben beten heißt, um Lebensvertrauen zu beten: Erlebnisberichte / (27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)
2.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(11:25) ‹Blumenmuskel, der der Anemone Wiesenmorgen› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V) ‒ ‹Meine Seele ist ein Weib vor dir› (Rilke, Das Stunden-Buch) ‒ ‹Was lehrt, was nährt das Leben? Lebendigkeit, Was lehrt, was nährt das Lebendigsein? Das Leben: Dieser Kreis der Liebe: Liebe ist das Ja zum Leben, das Ja zur Zugehörigkeit, das Ja zur Gemeinsamkeit ‒ Die Bekehrung ist der Übergang von der Gewalttätigsein zum Mitspielen, zum Mit-dem-Strich-des Lebens gehen, zur Offenheit, zur Empfänglichkeit›
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
(17:20) ‹O erst dann, wenn der Flug› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXIII): Das ‹reine Wohin› ist, was wir hier Leben genannt haben oder Hl. Geist. Wenn wir mit dem ‹reinen Wohin› gehen, dann gehen wir mit dem Strich, mit dem Fluss, mit dem Strom des Lebens. Und die Bekehrung ist der Übergang von dem gegen den Strich gehen, vom ‹unreinen Wohin› zu dem ‹reinen Wohin›
3. Weitere Texte
3.1. Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 4 «Mit Körper, Denken und Geist lebendig sein», 68f.; siehe auch in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht, Ergänzend: 3.3.:
«Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an die Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.
T. S. Eliot sagte: ‹Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit aushalten.›[8] Aber in verschiedenen Graden können wir die Wirklichkeit aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Wirklichkeit auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen, mit der ganzen Wirklichkeit, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen.»
3.2. Musik der Stille (2023): ‹Vesper: Das Lichteranzünden›, 122f.:
«Der Höhepunkt der Vesper[9] ist das Singen des Magnifikat, jenes Liedes im Lukas-Evangelium, das Maria zur Begrüßung ihrer Base Elisabeth singt:
‹Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.›
Dieses Lied, das Gott für unsere Rettung und letztendliche Versöhnung preist, wird jeden Tag das ganze Jahr hindurch zur Vesper gesungen. Der Abendgottesdienst sieht in der mütterlichen Gestalt Mariens die Mütterlichkeit Gottes, der uns bedingungslos liebt wie eine Mutter. Das Magnifikat zur Vesper entspricht der Hymne des Zacharias, die sich im selben Kapitel bei Lukas findet und in den Laudes gesungen wird. Dort verkündet Zacharias:
‹Gepriesen sei der Herr ... Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.›
Diese beiden großen Hymnen sind die Pfeiler des Morgens und des Abends, die den Tag stützen, und in beiden feiern wir unsere Erlösung.
Die Wurzel der Erlösung ist die Heilung des Grabens, der sich durch die Welt zieht, jener Spaltung, die wir als Entfremdung uns selbst und anderen gegenüber erleben und die uns von unserem Wesenskern fernhält; wir empfinden die Gesänge intuitiv als Gegenmittel.
Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln.
Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns.
Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.»]
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[1] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizia-Gredler mit Bruder David, 105f.
[2] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Erste Elegie
[3] «Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.
Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.»
(T. S. Eliot, Four Quartets, Burnt Norton, I)
[4] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[5] Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 26f.; ebenso in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4.
[6] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 107-109
[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 23
[8] Bernardin Schellenberger übersetzt «reality» mit «Realität». Aber es geht um die numinose Wirklichkeit im Unterschied zu Realität im gängigen Sprachgebrauch des Wortes.
[9] Unter der ‹Vesper› (vom Lateinischen ‹vespera›: Abend) wird das kirchliche Abendlob verstanden. Die Vesper ist jenes Gebet, das nach Abschluss der Arbeit des Tages verrichtet wird.
Erlösung ‒ Sünde und Heil
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen.
Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen:
«Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin»?
Oder: «Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Person, die ich liebe, und doch bin ich mir selbst entfremdet»?
Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins.
Dann haben wir die Entfremdung überwunden.
Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte.
Der zeitgenössische Begriff für Heil ist Zugehörigkeit.
Der Weg von der Entfremdung zur Zugehörigkeit ist der Erlösungsweg von der Sünde zum Heil.
Zugehörigkeit ist andererseits genau das, wonach sich unser ganzes Wesen sehnt.
Ein älteres Wort nannte dies «Erlösung».
«Erlösung» stand einmal für jene Verwirklichung allumfassender Ganzheit, die das Wort Zugehörigkeit für uns hier bedeutet.
Im Innersten unseres Herzens wissen wir, dass Ganzheit grundsätzlicher, ursprünglicher ist als Entfremdung, und so verlieren wir niemals ganz ein eingeborenes Vertrauen darauf, dass wir am Ende ganz und beieinander ‒ eins sein werden.
Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.
Er findet Gott
«die Stelle welche heilt»,[1]
während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.
Entfremdung und Zugehörigkeit sind die zwei Pole unserer allergrundsätzlichsten Wahl, Synonyme für Sünde und Erlösung.
Das Wort «Sünde» wird heute so leicht missverstanden, dass es schon fast unbrauchbar wird.
Die Wirklichkeit jedoch, die einst Sünde genannt wurde, gibt es noch immer, und so musste unsere Zeit ihren eigenen Terminus dafür finden.
Was in anderen Zeiten Sünde genannt wurde, nennen wir Entfremdung. Die Lebendige Sprache hat ein passendes Wort gefunden.
Entfremdung suggeriert eine Entwurzelung vom eigenen wahren Selbst, von anderen, von Gott (oder was sonst von fundamentaler Bedeutung ist), und all das mit einem einzigen Wort.
Auch das Wort «Sünde» suggeriert Entwurzelung und Absonderung.
Es hat den gleichen Wortstamm wie das mittelhochdeutsche «sunder» und das gotische «sundro», die beide «abseits, gesondert, für sich» bedeuten; ein Wortstamm, der heute noch im Wort «Sund», die Meerenge, gefunden wird, die einmal als «das, was Land und Inseln trennt» aufgefasst wurde.
Eine Handlung ist in dem Maße sündig, in dem sie Absonderung, Entfremdung verursacht.
Was aber nicht Entfremdung verursacht, ist keine Sünde.
Daraus die Konsequenzen zu ziehen, könnte sich für viele als befreiend, für andere als beschuldigend erweisen.
Es könnte eine signifikante Gewichtsverlagerung in der Ethik von privater Perfektion zu sozialer Verantwortung bedeuten.
Es könnte uns sehen helfen, dass heute «an unserer Erlösung arbeiten» bedeutet, Entfremdung in all ihren Formen zu überwinden.[2]
«Vergib uns unsere Schuld, bete ich und bemerke, dass ich oft ‹Schuld› sage, aber eigentlich ‹Sünde› meine ‒ also einen Verstoß gegen dein Gebot, gegen deinen ‹Willen›.
Dass ich tief im Herzen weiß, was du eigentlich ‹willst›, das beweist mir mein Schamgefühl beim Anblick der Ungerechtigkeit dieser Welt, wo Kinder hungern und Millionen ein menschenwürdiges Leben verwehrt wird. Doch du willst ‹Leben in Fülle›.
Meine Scham lässt mich fühlen, dass mein Versagen die zarte Vernetzung zerreißt, durch die alles mit allem verbunden ist ‒ verbunden auch mit dir.
Das Wort ‹Sünde› kommt ursprünglich von ‹absondern›.
Sünde meint einen Riss im Gewebe des Ganzen. Sie trennt, was zusammengehört, und das ist buchstäblich herzzerreißend.
Denn das Herz ist ‒ wie Rilke das so wunderbar ausdrückt ‒
‹das ins Ganze Geborne›.[3]
Wenn wir aus unserm Herzen leben, dann gehören wir dem Ganzen, dann werden wir ganz, dann werden wir auch das, was uns am Ganzen so schwierig erscheint, in uns aufnehmen, dann werden wir mit dem Ganzen auskommen.
Das Herz ist jener Bereich, wo wir am tiefsten und innigsten mit allem und allen und mit dem Göttlichen verbunden sind.
Darum findet sich das Herz nicht ab mit der Trennung und es mahnt uns, die Trennung zu überwinden.
Aber auch dort, wo unser Herz uns anklagt, dürfen wir dir vertrauen, denn du bist ‹größer als unser Herz und kennst uns durch und durch› (1 Joh 3,20).
Auf dein grenzenloses Verzeihen lass mich vertrauen und es freigebig weiterschenken. Amen.»[4]
Oft wird gesunder Menschenverstand gebraucht, um herkömmliche Annahmen zu bezeichnen, das genaue Gegenteil von voller Lebendigkeit.
Aber der gesunde Menschenverstand, von dem wir jetzt sprechen, ist so dynamisch, so lebendig, so weit, dass es allem, was wir tun und sind, eine neue Farbe, eine neue Note gibt.
Es ist ein sinnliches Wissen und es entspringt dem, was wir mit der ganzen Schöpfung gemein haben.
Unseren Erfahrungen wohnt die Erkenntnis inne, dass wir nicht getrennte Leiber sind, sondern dass in diesem Universum alles zusammenhängt, alles ist Teil von allem.
Aus diesem Bewusstsein entspringt das einzige Wissen, das Sinn macht.
Dieses Wissen geht so tief, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen hat.
Es ist dem ganzen Universum gemeinsam. Wir müssen uns nur anschließen.
Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun.
Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden.
So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.
Er ist eine vibrierende Lebendigkeit zur Welt, in der Welt und für die Welt.
Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit.
Gesunder Menschenverstand ‒ gerade, weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben ‒, zieht keine Grenzen.
Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschließt.
Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört.
Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten:
Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschließen.
Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein.
Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden.
Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden-Familie sind.
Diese globale, alles einschließende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem «Reich Gottes» meinte.
Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt.
Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff Autorität.[5]
Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.
Laotse bezeichnete sie als Dao[6] und Heraklit nannte sie Logos.
In dem Satz «Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort» (Markus 4,33) verwendet Markus für «Wort» diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.
Wäre der Begriff «Heiliger Geist» nicht die altehrwürdige Bezeichnung einer für uns ganz wesentlichen Erfahrungswirklichkeit, wir würden ihr heute sicher einen anderen, für uns aussagekräftigeren Namen geben.[7]
«Geist» intendiert schnell die Bedeutung Gespenst und das Wort «heilig» hat heute zu viele Anklänge an «scheinheilig»; es lässt kaum noch an «Heil-» und «Ganzsein» denken, es weckt auch nicht mehr das Empfinden des Überwältigenden und Atemberaubenden einer numinosen Wirklichkeit.
Wollten wir heute einen neuen Begriff für jene unendlich schöpferische Lebenskraft und Harmonie finden, die alles mit allem verknüpft und die Quelle des Lebens schlechthin ist, so würde sich die Bezeichnung Common Sense dafür sehr gut eignen.
Auf jeden Fall wäre es eine inspirierende Übung, überall dort, wo man den Begriff «Heiliger Geist» liest oder hört, stattdessen einmal Common Sense einzusetzen. Dann wäre die Tragweite des Gemeinten wieder deutlicher spürbar.
Jesus hielt sich an seine jüdische Überlieferung und sprach von seiner Vision einer neuen, harmonischen Weltordnung als dem «Reich Gottes».
«Reiche» kommen heutzutage fast nur noch in Märchen vor.
Die Vorstellung von Gott als einem im Himmel thronenden «König aller Königreiche» spricht uns nicht mehr an.
Für unser Weltverständnis ist die Autoritätspyramide mit einem König oder Gott an der Spitze ein nicht mehr nachvollziehbares Modell; dem neu aufdämmernden Weltverständnis entspricht eher der Begriff, den der amerikanische Dichter Cary Snyder prägte: Earth Household ‒ «Erd-Haushalt».[8]
In diesem Erd- oder Welt-Haushalt ist Autorität nicht etwas, was von außen und oben einwirkt, sondern sich von innen her meldet:
Der Common Sense gewährleistet, dass alle mit allen harmonisch zusammenarbeiten. Das «Reich Gottes», in das Jesus uns ruft, ist der «Gottes-Haushalt».
Tatsächlich spricht er ja von Gott nicht als unserem König, sondern von Gott als unserem Vater; und der mütterliche Geist (im Hebräischen ist «Geist» weiblichen Geschlechts) ist der alles durchwaltende, kosmische Familiensinn, der Common Sense.
lm Gottes-Haushalt muss die Liebe zur Macht der Macht der Liebe weichen.
«Je kleiner die Eidechse, desto größer ihr Ehrgeiz, ein Krokodil zu werden», sagt ein äthiopisches Sprichwort.
Ob das für Eidechsen stimmt, weiß ich nicht sicher, aber auf uns Menschen trifft das Streben nach mehr jedenfalls zu.
Je mehr Macht einer hat, desto höher steht er in der Autoritätspyramide der ehrgeizigen Welt.
Aber im Himmelreich, im Gottes-Haushalt, gelten die Autoritätsstrukturen eines Haushalts.
Hier bekommt Autorität, wer dient:
«Der Größte unter euch soll der Geringste sein und der Höchste der Diener aller» (Lukas 22,26).
Wer im Gottes-Haushalt Autorität besitzt, muss seine Macht dazu nutzen, alle ihm Untergebenen zu fördern, damit sie eigenständig werden.[9]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 4f., 9]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Spiritualiltät und Ökologie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott / (07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes / (39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)
1.2. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(37:38) Was ist unsere Aufgabe in einer Welt, in der sich die Machtpyramide durchsetzt? Da gibt es nur Widerstand in einer Welt, in dem die Mächtigen ein Klima der Angst schaffen: ‹Fürchtet euch nicht›: Jesus lebt diese völlige Furchtlosigkeit, weil er in Gott eingebettet ist. Und wir sind furchtlos in dem Maß, in dem wir in Gott eingebettet sind. Sünde meint Absonderung, was uns trennt von Gott, von unserer eigenen Tiefe und den Andern, und äußert sich am meisten in Furcht
1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Fragerunde nach dem Vortrag:
Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 3: «Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht» (Angelus Silesius):
(11:51) In der Schule der Wüstenväter und Wüstenmütter: Drei Hauptsünden: 1. Ungeduld, Zorn ‒ 2. Lust im Sinn von ‹sich anklammern› ‒ 3. Faulheit, Acedia, Traurigkeit
1.4. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag; siehe auch die Mitschrift des Vortrags:
(12:17) ‹Das Herz, das ins Ganze geborne› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
Diskussion:
(00:00) Das Herz ausschütten – heil, heilen, heilig ist nicht dasselbe wie Gesundheit, sondern ein Ganzmachen
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(00:28) ‹Immer wieder von uns aufgerissen, ist der Gott die Stelle, welche heilt› (Rilke, Die Sonette an Orpheus, 2. Teil, XVI)
1.5. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
Wir sind erlöst! – der andere Blick auf Gewohntes
1.6. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
4.1 Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche (siehe auch Text Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche):
(50:31) Ursprüngliches Heilsein und Erbsünde
4.2 Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Heilsein, Dukkha, Sündenfall, der Klammergriff der Angst
1.7. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(14:56) Die Entscheidung für das Leben oder für Tod im Mythos vom Sündenfall. Der Baum des Lebens im Paradies und das Kreuz an dem sich die Geister scheiden: ‹Wenn wir uns fürs Leben entscheiden, werden wir von der Welt, die tot ist, aber sehr mächtig, getötet werden früher oder später›
(18:35) ‹Da ging ein Riss durch deine reifen Kreise› (Rilke, Ich lese es heraus aus deinem Wort, Das Stunden-Buch)
(20:12) Der neue Adam hat das Gottgleichsein nicht wie der alte an sich gerissen: Bruder David liest und deutet Phil 2,6-11
2. Das Vaterunser (2022): ‹Schuld als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 80f.:
Brigitte Kwizda-Gredler: «In unseren Gesprächen haben wir immer wieder das Bild des Tanzens zur großen kosmischen Musik verwendet. Da wird dann die Verfehlung zum Nicht-auf-die-Musik-Hören und deshalb zum Schritt, der nicht dem Takt folgt.»
Bruder David: «Diese drei Bilder von Sünde als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen weisen auch recht deutlich darauf hin, wie wir die Verfehlung gutmachen können: durch das sorgfältige Wiederverweben von Beziehungen; durch Wiederherstellung eines ausgewogenen Austausches; durch achtsames Hinhorchen auf die Musik des Lebens.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Und wo passt da die christliche Lehre von der ‹Erbsünde› herein?
Bruder David: «Das Wort ‹Erbsünde› ist entschieden obsolet, schon deshalb, weil es einfach irreführend ist. Die schmerzliche Erfahrung aber, die zur Vorstellung der Erbsünde geführt hat, ist keineswegs auf das Christentum beschränkt. Buddhisten verwenden dafür das Wort ‹dukkha›, hinter dem ursprünglich das Bild von einem Rad steht, das nicht richtig auf der Achse sitzt.
Für Buddhisten bedeutet es, dass das menschliche Dasein seit undenklichen Zeiten gründlich aus der Bahn geworfen ist. Und in diese Situation werden wir hineingeboren. Wir ererben sie, sozusagen. Heute würden wir eher sagen: Wir nehmen am systemischen Übel der Welt teil, ob wir es verschulden oder nicht! Als Einzelne sind wir dem System nicht gewachsen. Darum ist die Antwort der christlichen Tradition: Du musst aussteigen aus dem tödlichen System und einsteigen in das lebensspendende Reich Gottes.»]
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[1] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI; siehe den Text in Stille leben: Anmerkung 1
[2] Der Text ist eine Komposition von Passagen in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 33f. mit 184f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 31f. und 185f.]
[3] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II; siehe die Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.
[4] Das Vaterunser (2022): ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern›, 75f.
[5] Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 4
[6] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:
«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»
[7] Auf dem Weg der Stille (2016), 72f.; siehe auch Hausverstand, Ergänzend: 2.:
«Der Begriff ‹spirit› (‹Geist›) ist schon derart missbraucht worden, dass ich überglücklich wäre, wenn man ihn vollständig fallen lassen und stattdessen immer von ‹common sense› sprechen würde. In unserer heutigen Umgangssprache bezeichnet dieser Ausdruck das Gemeinte viel besser. Er ergibt Sinn; er ist über die Sinne mit dem Körper verbunden; er ist gemeinschaftlich (common), grenzenlos gemeinschaftlich.»
[8] ERDHAUSHALT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134f.:
«Erdhaushalt ist ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (*1930) geprägt hat. Dieses Wort veranschaulicht, dass unsre Umwelt zugleich Mitwelt ist, der wir uns verwandt fühlen dürfen und von der wir ernährt werden. Statt Umwelt Erdhaushalt zu denken und zu sagen, verändert ganz von selbst unsre Haltung, was zugleich zeigt, welche Wirkkraft Worte besitzen.»
[9] Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 55, 59-61
Es gibt mich
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Shams Kairys
Die kleine Tochter eines Freundes sagte eines Morgens zu ihrem Vater:
«Papi, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?»
Kinder wissen intuitiv, wie erstaunlich und erfreulich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Und das Kind in uns stirbt nie. Wir können es einsperren, wir können es vergessen oder stark vernachlässigen, aber solange wir leben, bleibt es am Leben.
Es ist eine unserer großen Aufgaben, dieses Kind wieder zu befreien und es zu ermutigen, solche tiefsinnigen Fragen zu stellen. Dann schauen wir alles durch staunende Augen an und nehmen alles mit einem offenen Herzen auf.
Dieses Erwecken des Kindes in uns ist nicht einfältige Sentimentalität; es macht den Kern der mönchischen Bemühungen und jeder Spiritualität aus. Das eigentliche Ziel ist das, was der Philosoph Paul Ricœur die «zweite Naivität» nennt: die Verbindung der hellen Begeisterung kindlicher Unschuld mit jener Weisheit, die sich aufgrund von Erfahrung einstellt.[1]
Vielleicht erinnerst du dich an einen Augenblick, in dem du das Gefühl hattest, wirklich du selber zu sein, gerade deshalb, weil du irgendwie über dich hinausgehoben wurdest ‒ von Musik, vom hochgewölbten Himmel einer sternklaren Nacht, vom Anblick eines schlafenden Kindes, das an seinem Daumen saugt. Plötzlich verblassen, verschwimmen, verschwinden die scharfen Grenzen zwischen dir und der Welt rundum, ja zwischen dir und dem Urgrund, aus dem alles aufsteigt und in den alles zurückfließt. In solchen Augenblicken verkosten wir flüchtig, was Mystiker die Erfahrung des All-eins-seins nannten. Es scheint fast unmöglich, solches auch nur einmal zu erleben, ohne fürs Leben dadurch bestimmt zu sein, unser innigstes Verlangen weist ja in dieser Richtung. Doch Gipfelerlebnisse gehen vorüber und verblassen in der Erinnerung, das lässt sich nicht aufhalten.
Wir haben dann aber die Wahl: Wir können das Erfahrene vergessen, oder wir können danach handeln, und das heißt, gläubig leben.[2]
Mitwelt nennen wir gewöhnlich jenen Teil unserer Umwelt, mit dem wir uns besonders eng verbunden fühlen ‒ unsre Mitmenschen, unsre Zeitgenossen, unser gesellschaftliches Umfeld, unsern Lebenskreis im engeren Sinn. Diese Einengung übersieht die Tatsache, dass wir mit unsrer ganzen Umwelt[3] ‒ mit dem gesamten Universum ‒ so eng verbunden sind, wie mit dem, was wir als unsere Mitwelt erkennen.
Jedes Atom in unserem Körper ist,
wie es auch oft ausgedrückt wird,
kosmischer Sternenstaub.
Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, dann werden wir unsre Umwelt ganz anders würdigen und ihr mit der Ehrfurcht begegnen, die unsere Mitwelt verdient.[4]
Die Erkenntnis, dass ich von Anfang an in ein Beziehungsnetz eingebettet bin, bereitet mich auf eine wichtige Einsicht vor: Schon das Wort «Ich» drückt Beziehung aus. Es wäre sinnlos, «Ich» zu sagen, wenn ich dadurch nicht von einem Du unterschieden und zugleich auf dieses Du bezogen wäre.
In meiner Umwelt begegnen mir andre, jeder das einzige Ich für sich selbst, jeder ein andres Du für mich. Da draußen begegnet mir unzählige Male ein mir noch unbekanntes kleines Du, in meinem Inneren erlebe ich jedoch darüber hinaus ein einziges, mir von Anfang an bekanntes großes Du ‒ nicht zusätzlich zu all den kleinen Formen des Du, sondern irgendwie sie alle umfassend.
Leidenschaft für ein menschliches Du erweist ihre Echtheit und Tiefe dadurch, dass sie zugleich ‒ nicht zusätzlich! ‒ auf das große Du gerichtet ist.[5]
Wir können dieses Ur-Du nicht in Raum und Zeit verorten. Es stellt eine tiefere Dimension unseres Alltags dar, wie wir durch Übung immer deutlicher erfahren können.
Die Beziehung zum Ur-Du verankert mein Leben im Geheimnis als Tiefe ‒ als dem Quellgrund unbegrenzter Möglichkeit, aus dem alles hervorquellt, was
«Es gibt.»
Sonderbar, dass es kaum jemandem einfällt, nach dem ES zu fragen, das dies und das und alles gibt. Dieses ES schenkt mir auch mein eigenes Dasein, denn
«Es gibt mich.»
Es schenkt mich zugleich auch allen andren. Dass wir hier aber von «geben» sprechen, deutet an, dass alles Gegebene Geschenk ist.
Dem Ur-ES verdanken wir, dass es uns gibt, und dem Ur-Du, dass wir uns persönlich als Ich verstehen können. Sowohl das Ur-Du wie das Ur-ES sind Wirklichkeiten ‒ oder verschiedene Aspekte ein und derselben Wirklichkeit ‒ die wir verstehen, nicht aber begreifen können ‒ also Aspekte des einen großen Geheimnisses.[6]
[Audio Vortrag Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010) im Kardinal Wendel Haus, München]:
(30:00) «Wenn wir sagen: ‹ES gibt m i c h› ‒ und das kann niemand leugnen ‒, dann haben wir schon einen Schöpfungsbericht dichterisch dargestellt, denn auch das ist ja Dichtung:
‹ES gibt m i c h›,
sehr dichterisch ausgedrückt.
Aber wenn wir einen Schöpfungsbericht lesen, ist er dann auch sehr dichterisch ausgedrückt. Das ES wird jetzt plötzlich zu dem Uralten, zu dem Vater oder Großvater, manchmal Großmutter, die zum Ursprung von allem, was es gibt, weisen, zu dem, was nicht hinterfragt werden kann.
Das ES kann nicht hinterfragt werden. So bemühen sich die Mythendichter dann, das Göttliche als das nicht mehr zu hinterfragende Uralte, immer gegebene darzustellen.
Und sie bemühen sich, das Material, aus dem dann alles gemacht wird ‒ mich ‒, so fragil, so klein, so unbedeutend wie nur möglich zu machen.
Das sieht man, wenn man verschiedene Schöpfungsmythen miteinander vergleicht:
Im jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos ist es Staub der Erde, oder Schlamm, aus dem alles gemacht wird, das ist nicht selten in Schöpfungsmythen. Oder ein Indianerstamm sagt: Nur kleine Stöckchen und Steinchen hat der Weltenschöpfer verwendet, um die ganze Welt zu bauen.
Und noch eine schöne Art, die man öfters in ozeanischen Schöpfungsmythen findet, ist ein Traum: Der Schöpfer hat einen Traum, und dann muss er diesen Traum fangen, er entgeht ihm leicht, er muss ihn fangen und fest zusammendrücken und auf ihn treten, bis er fest zusammengepresst wird, diese Traummasse, und dann sagt er:
‹Jetzt habe ich etwas, worauf ich stehen kann,
jetzt werde ich eine Welt schaffen›:
Das ist der Anfang, das ist wunderschön dichterisch ausgedrückt,
einerseits ‹der› oder ‹die›: der nicht zu hinterfragende Urgrund, personifiziert,
das Material, aus dem alles gemacht wird mit einer Bemühung,
es so nah an Nichts heranzubringen, wie nur möglich,
und ‒ was immer dazukommt ‒, die engstmögliche Verbindung.
Und indem man verschiedene Schöpfungsmythen vergleicht, sieht man, wie sie sich immer bemühen, das immer deutlicher zum Ausdruck zu bringen:
Aber alle diese Bilder sind schon enthalten in:
‹ES
g i b t
m i c h.›
(32:58) Einer meiner liebsten, und ich kann nicht umhin, ihnen den zu erzählen, ist ein Schöpfungsmythos der Apachen Indianer.
Es fängt damit an, dass der Weltschöpfer mit seinem Hund herumgeht. Denn ein Apache kann sich nicht vorstellen, dass irgendjemand ohne Hund herumgeht; also geht schon von Anfang an, bevor irgend sonst etwas ist, der Weltschöpfer mit dem Hund herum. Und der Hund beginnt das Ganze und fragt:
‹Großvater, wirst Du immer bei mir sein›?
Und der Schöpfer sagt:
‹Vielleicht wird eine Zeit kommen,
wo ich nicht mehr bei dir sein werde.›
Und darauf sagt der Hund:
‹Oh, dann schaff mir doch bitte einen Herrn›!
Und wir sind also alle hier, weil Hunde Herren brauchen.
Der Weltenschöpfer ist nicht hinterfragt, er ist einfach da, mit seinem Hund. Er legt sich dann auf die Erde, und jetzt bemüht sich dieser Erzähler, so nahe an das Nichts heranzukommen wir möglich: Der Weltschöpfer legt sich auf die Erde und sagt zu dem Hund:
‹Und jetzt zeichne meinen Umriss auf die Erde.›
Und der Hund mit seinen Krallen zeichnet den Umriss und dann sagt der Schöpfer:
‹Und jetzt geh weiter und schau dich nicht um›.
Und der Hund geht weiter, schaut sich natürlich doch sehr neugierig sofort um und sagt:
‹Oh Großvater, da liegt ja jemand,
wo Du gelegen bist.›
Der Schöpfer:
‹Geh weiter, schau nicht, ich sag’s dir doch.›
Der Hund geht weiter, schaut sich wieder um:
‹Da sitzt ja jemand, wo Du gelegen bist.›
Der Schöpfer:
‹Geh doch weiter.›
Der Hund geht wieder weiter, dann sagt der Schöpfer:
‹Jetzt kannst du schauen›!
Der Hund:
‹Ha, Großvater, da steht ja jemand, wo Du gelegen bist.›
Und dort steht der Mensch jetzt, und der Hund läuft und ist ganz begeistert, und der Schöpfer schaut ihn auch an und sagt:
‹Nicht schlecht, nicht schlecht›,
aber der Mensch steht nur einfach dort und tut nichts. Und dann nimmt ihn der Schöpfer so wie eine Mutter das Kind, wenn es gehen lernt, und gibt ihm so einen kleinen Schups:
‹Und jetzt geh›!
Und der Mensch macht einige Schritte, und der Schöpfer gibt ihm wieder einen Schups, und der Mensch läuft weite Kreise, und dann kommt er zurück und der Weltschöpfer sagt:
‹Und jetzt sprich! Sag etwas! Mach Worte›!
Vier Mal muss er ihn aneinfern und dann plötzlich sagt der Mensch:
‹Was jetzt›?
Worauf auch der Schöpfer lacht wie wir, und der Hund bellt und ist ganz begeistert, und der Schöpfer sagt:
‹Jetzt kannst du lachen, jetzt bist du fähig zu leben›!
Und darauf geht der Mensch mit dem Hund fort. Und jetzt erfüllt sich, was der Hund am Anfang schon befürchtet hat, aber nicht, weil der Weltschöpfer weggeht, sondern weil der Mensch mit dem Hund weggeht.
Also es ist eine wunderschöne Geschichte, und alles das ist schon enthalten in:
‹ES gibt m i c h.›»[7]
[Quellenangaben zum obigen Text in 1f., 4-7]
[Ergänzend:
1. Bruder David im gleichen Vortrag in München (09:08-09:51): «Worauf können wir uns verlassen? Und da würde ich Ihnen den ganz einfachen Satz vorschlagen:
‹Es gibt mich›.
Ich glaube, darüber kann man nicht streiten, jeder von uns kann sagen: ‹Es gibt mich›.
In diesem kleinen Sätzchen
‹Es gibt mich›
ist schon a l l e s enthalten:
der Glaube ‒ oder: die Entscheidung,
die hinter dem Glauben steht ‒,
und, wir werden sehen,
die Trinität und unser Verhältnis zu Gott:
alles ist in diesem kleinen Satz enthalten:
‹Es gibt mich›.»[8]
1.1. In allen drei Audio-Vorträgen Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010) fragt Bruder David im ersten Teil seines Vortrages: «Wer ist dieses ES, das alles, ‹mich› gibt?» und führt uns mit dieser Frage in die Tiefendimension dieser drei Worte ES ‒ ‹mich› und ‹gibt›:
Das Wort ES weist auf das Geheimnis als unergründlichen Urgrund, ‹m i c h› erschließt meine Teilhabe am Geheimnis als unbegreifliche Vielfalt, und das Wort ‹g i b t› bringt das Dynamische: die unerschöpfliche Lebendigkeit des Geheimnisses ins Bewusstsein.
Die allgemeinmenschliche Gläubigkeit oder Religiosität antwortet auf diese drei Aspekte des Geheimnisses dreifach mit: sich verlassen auf diesen unergründlichen Urgrund, ehrfurchtsvolle Begegnung mit dem großen Du, und dankbare Haltung dem Leben gegenüber.
1.2. In allen drei Vorträgen geht es Bruder David im letzten Punkt um ein neues Durchdenken unserer eigenen Religion. Darin zeigt er auf, wie der Buddhismus, die Amen-Traditionen (Judentum, Christentum, Islam) und der Hinduismus Ausformungen des allgemeinmenschlichen Urglaubens sind. Die Verschiedenheit liegt in der unterschiedlichen Betonung von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch Tun. Es handelt sich um drei Innenwelten, die uns Bruder David anhand der drei Worte ES, ‹mich› und ‹gibt› berührend nahebringt:[9]
«Unser Glaube sieht all dies im Lichte der Dreifaltigkeit. Für uns Christen sind die Wege des Menschen auf der Suche nach dem tiefsten Sinn nur im Lichte des trinitarischen Geheimnisses verständlich.»[10]
«Und da sehen wir also jetzt, dass einerseits dieses ‹ES gibt mich› den Urgrund: dieses ES, die kosmische Fülle: m i c h, und die unerschöpfliche Lebendigkeit des Gebens zusammenfasst, dass Vater, Sohn und Hl. Geist irgendwie ansatzhaft schon darin stecken, und wir sehen zugleich, dass die großen Traditionen diese dreifaltige Wirklichkeit je in anderer Weise betonen: die Buddhisten, könnte man sagen, die Theologie des Vaters entwickeln, die Amen-Traditionen (Judentum, Christentum und Islam) die Theologie des Wortes, und der Hinduismus die Theologie des Hl. Geistes, des Verstehens.»[11]
«So könnte man fast sagen, dass die einander brauchen: Für das volle Verständnis ‹Es gibt mich› brauchen wir schon die ganze Tradition der Menschheit, alle verschiedenen Formen, Ausformungen dieses einen tiefen menschlichen Glaubens.»[12]
1.3. Im Vortrag in München (21. Oktober 2010) (30:00-35:31) macht Bruder David den Satz ‹Es gibt mich› durchsichtig auf die drei ‹Bestandteile› von Schöpfungsmythen:
ES:
der Schöpfer, die Schöpferin;
m i c h:
das Material: etwa Ackerboden ‒ Möglichkeit des Wachsens ‒, Lehm: ‹reine Möglichkeit› der Formgebung), und das
g i b t:
«Die innige Verbindung zwischen dem, der ist, und uns, die wir reine Möglichkeit sind; die eigentlich nicht sind, aber auf dem Weg sind, göttlich zu werden, auf dem Weg sind, wirklich zu sein. Die dadurch auf dem Weg sind, dass sich das Göttliche in uns entfaltet. Das ist die tiefste Erfahrung unseres Herzens. Und das Herz drückt diese Erfahrung dichterisch aus.»[13]
«Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht. Er gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.»[14]
1.4. Im Buch Orientierung finden (2021): ‹Das ich ‒ mein Dasein als Geschenk›, 18, vergleicht Bruder David den Satz: ‹Es gibt mich› mit dem Satz ‹Ich bin da› und schreibt:
«Die Ausdrucksweise ‹Es gibt mich› für die Einsicht, dass ich existiere, wird in der 3. Person Einzahl formuliert. Dieser grammatische Unterschied ist tiefgreifend:
Die Betonung dieser neuen Formulierung liegt nicht mehr auf meinem Ich, sondern auf dem Es, das mich mir selber und der Welt gibt ‒ schenkt.
Mit dem Satz ‹Es gibt mich› stelle ich diesen Sachverhalt fest, als ob ich ein außenstehender Betrachter wäre. Das vermindert die Gefahr, mich zum Mittelpunkt zu machen und in mir selber steckenzubleiben. Außer mir gibt es noch unzählig viel andres. Und am Gegebensein erkenne ich mein Dasein als Geschenk, als Geschenk des Universums. Ich sehe mich eingebettet in ein Geben und Nehmen, und meine Umwelt wird dadurch zur Mitwelt ‒ zu einem Netzwerk von Beziehungen, das alles mit allem verbindet. Diese Art, mich selbst zu verstehen, ermöglicht die gesunde Entwicklung des Ich-Selbst.»
2. Vom nichtigen zum widerstrebenden Material: Analogie von Schöpfung und Erlösung
Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus Bruder Davids Eröffnungsvortrag der Salzburger Hochschulwochen 1972 Jesus als Wort Gottes, abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 59:
«Aber Gottes Plan erreicht doch sein Ziel; das ist die Frohe Botschaft. Man könnte sagen: Gott erreicht sein Ziel trotz des menschlichen Widerstandes; aber es wäre vielleicht besser und mehr im Sinne der ganzen Heilsgeschichte, zu sagen, dass Gott sein Ziel erreicht unter Verwendung des Widerstandes.
Theodor Haecker (1879-1945) beschreibt es einmal sehr schön, dass der menschliche Künstler mit immer widerstrebenderem Material arbeite: mit Ton, mit Holz, mit Stein, mit Erz ‒ Gott aber mit dem allersprödesten Material, dem freien Willen des Menschen. Und so, wie das große Kunstwerk auch das Material mitsprechen lässt, so zeigt sich in der Heilsgeschichte, dass Gott, ‹auch die Sünden›, wie Augustinus sagt, miteinbezieht. Gott erreicht sein Ziel ‒ und das ist nun die Frohe Botschaft der Bibel ‒ in Jesus.
Die Erlösung wird ja, wenn wir die Bibel richtig lesen, keineswegs als eine Art Flickwerk dargestellt, sondern als Vollendung der Schöpfung.
In Jesus wird der Mensch endlich völlig erschaffen.
Es ist eine recht unzulängliche Auslegung, dass Gott zuerst einen Versuch macht, der misslingt; dann flickt er halt alles wieder zusammen und macht noch einmal einen Versuch, und der zweite Versuch gelingt im zweiten Adam.
Wenn wir es richtig sehen, so beginnt die Schöpfung des Menschen mit dem ersten Adam und ist vollendet im zweiten Adam, in Jesus, in d e m Menschen schlechthin.
Es ist alles aus einem Stück.
Jesus ist Wort und Offenbarung Gottes als der erste richtige Mensch, könnten wir sagen. Er ist der erste erfolgreiche Mensch; erfolgreich von beiden Seiten her, von der Seite Gottes und von der Seite des Menschen. Gott erschafft ja den Menschen nicht von außen, sondern nur unter Mitwirkung des Menschen selbst. Das ist die Freiheit des Menschen. Jesus ist also die Höchstleistung Gottes in der Schöpfung und zugleich die Höchstleistung des Menschen. Die beiden sind untrennbar miteinander verbunden.»
3. Text, Video und Audios mit Schöpfungsmythen
3.1. Sonnenedelstein
3.2. Video Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010) und
Audio des Vortrags Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden
Vortrag
(31:58) Wer bin ich? – der Schöpfungsmythos antwortet mit drei Bestandteilen, die allen Schöpfungsberichten gemeinsam sind / (37:38) Ein Schöpfungsmythos der Apachen / (40:59) Ein Schulkind: ‹Ich bin ein Sonnenedelstein›
3.3. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren ‒ Vortrag und Dialog:
Teil 1 in folgende Themen zusammengefasst:
(17:09) Die Antwort des Schöpfungsmythos / (18:38) Die drei Bestandteile des Schöpfungsmythos / (25:47) Der Genesismythos / (27:12) Ein Apachen Schöpfungsmythos / (31:58) Ich bin ein Sonnenedelstein (achtjähriger Bub)
Der Vortrag in Teil 1 erschien ebenfalls unter dem Titel Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 59-71]
_______________
[1] MUSIK DER STILLE (2023): ‹Laudes ‒ Tagesanbruch›, 55f.
[2] Buch Credo (2015): ‹Ich glaube an Gott›, 28
[3] UMWELT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 159f.:
«Umwelt ‹schafft› sich jedes Lebewesen durch seine Beziehungen zur Außenwelt. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Außenwelt wird auf diese Weise zur Umwelt dieser oder jener Art von Lebewesen.
Die Sinnesorgane, Erfahrungen und Lebensgewohnheiten etwa von Walen knüpfen andersartige Beziehungen zur Außenwelt an als jene von Heuschrecken. Entsprechend andersartig ist auch die Umwelt beider ‒ innerhalb ein und derselben Außenwelt. Ähnliches gilt grundsätzlich auch für uns Menschen. Und doch besteht für die Menschheit heute ein großer Unterschied zu allen andren uns bekannten Lebewesen.
Aufgrund der unvergleichlichen Reichweite unsrer Sinnesorgane und Erfahrungen und dank technischer Instrumente ist ein schier grenzenloser Bereich der Außenwelt zu unsrer Umwelt geworden.
Zugleich aber erkennt menschliches Bewusstsein unsre Verantwortung für unsre Umwelt. Immer mehr Menschen werden sich auch des Unheils bewusst, das unsre Lebensgewohnheiten unsrer Umwelt zufügen. Richtig verstanden, weist also schon das Wort Umwelt selbst auf unsre Verantwortung für Umweltschutz hin.»
[4] MITWELT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 150
[5] Orientierung finden (2021): ‹Immer Du ‒ denn alles Leben ist Beziehung›, 26
[6] Ausschnitte aus Orientierung finden (2021): ‹Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ergreift›, 42, 47, 43
[7] Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010): Audio des Vortrags in München, transkribiert ab (30:00) – (35:31)
[8] Ebd. (09:08-09:51)
[9] Parallel zu den drei Betonungen im Satz: ‹ES gibt mich›, spricht Bruder David von drei Aha-Erlebnissen im Satz: ‹Das ist es›!, wenn er beim Vergleich der Weltreligionen von der Sinnsuche des Menschen ausgeht. Siehe seine Bücher Credo (2015): ‹Amen›, 237, Orientierung finden (2021): ‹Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche›, 71f., Auf dem Weg der Stille (2023), 40, wie auch seine Vorträge Jesus als Wort Gottes (1972), 65, und Wie das Göttliche in uns wächst (2005): Audio ‹Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen› und Mitschrift
[10] Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 65
[11] Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010): Audio des Vortrags in München, transkribiert ab (44:17):
«Nur noch ein letzter Punkt: Wie können wir die Verbundenheit im Glauben, der alle verbindet, mit andern ‒ mit allen ‒, wie können wir die finden? Ein vierter Punkt wäre: ‹Ein neues Durchdenken unserer eigenen Religion›.
Und da finden wir jetzt ‒ weil wir hier in der katholischen Akademie sind, und weil ich annehmen kann, dass Sie wenigstens vertraut sind mit der katholischen christlichen Lehre oder der christlichen Lehre überhaupt ‒, dass dieses ‹ES gibt mich› auch schon die ganze Trinität beinhaltet: die Trinitätslehre, den Glauben, der sich dann in der christlichen Tradition als Trinitätslehre entfaltet und auch seine Gegenstücke in andern Traditionen hat. Sehr deutlich, aber zu kompliziert für uns, das hier aufzugreifen.
Das ES, das es gibt, nennen wir mit Jesus Christus Vater, heute hätte er sicher Mutter gesagt, weil das unserem Verständnis für das, was er mit Vater gemeint hat, heute näher liegt, aber wir nennen es in der Trinitätslehre den Vater, diesen unergründlichen Ursprung, dieses Nichts, dieses Schweigen, aus dem das Wort hervorkommt, das Unsagbare, wie das die Buddhisten nennen. Und die Buddhisten legen das Schwergewicht auf diesen Aspekt des Göttlichen, auf dieses ES.
Die unbegreifliche Vielfalt gehört dem Judentum, Christentum und dem Islam, die ich gerne zusammenfasse als die Amen-Traditionen. Sie haben das Wort Amen gemeinsam. Und das ist nicht so ein Zufall, das ist ein ganz zentrales Wort für den Glauben, der alle verbindet. Amen ist im Hebräischen die Antwort auf Gottes Amunah, unsere menschliche Antwort auf Gottes Amunah. Und die Amunah ist Gottes Verlässlichkeit, die Verlässlichkeit Gottes. Und auf die antworten wir: Amen: Ja. Wir verlassen uns. Mit dem Wort Amen verlässt man sich auf die Verlässlichkeit Gottes hin. Und das haben wir gemeinsam als Christen mit den Muslimen und mit den Juden, alle drei haben das gemeinsam in diesem einen schönen Wort Amen.
Und das ist der Bereich des: ES gibt m i c h, diesen ‹mich›-Bereich des Du, des Gegenüber. Es gibt mich durch dich, das ist unsere westliche, unsere Amen-Antwort im Glauben.
Und die dritte, die wir den Hl. Geist nennen, das ist das ‹ES g i b t›, die Lebendigkeit, das Geben, die Dynamik.
Und da sehen wir also jetzt, dass einerseits dieses
‹ES gibt mich›
den Urgrund: dieses ES, die kosmische Fülle: m i c h und die unerschöpfliche Lebendigkeit des Gebens zusammenfasst, dass Vater, Sohn und Hl. Geist irgendwie ansatzhaft schon darin stecken, und wir sehen zugleich, dass die großen Traditionen diese dreifaltige Wirklichkeit je in anderer Weise betonen:
die Buddhisten, könnte man sagen, die Theologie des Vaters entwickeln, die Amen-Traditionen (Judentum, Christentum und Islam) die Theologie des Wortes, und der Hinduismus die Theologie des Hl. Geistes, des Verstehens.»
[12] Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (24. Oktober 2010): Audio und Mitschrift des Vortrags in Freiburg i. Br. ab (47:32)
[13] Im Paradoxen Sinn erfahren, 64
[14] Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus Jesus als Wort Gottes (1972), 62
Eucharistie
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Ronja Forster
Der Kampf zwischen Furcht und Glaube kristallisiert sich im Bild von Jesus in seinem Seelenkampf. Am Ölberg wird er zum «Pionier unseres Glaubens». Aber dieser Vorausmarsch kostet ihn blutigen Schweiß. Am Ende nimmt er den Kelch entgegen, wie er zuvor die Steine anstelle von Brot entgegengenommen hatte. Besteht da nicht ein Zusammenhang zwischen diesem Brot und Kelch und dem Brot und Kelch des Abendmahls?
Wann immer Christen das Abendmahl feiern,
das Bort brechen und den Kelch teilen, feiern sie Leben in Fülle. Ja, aber im Hinblick auf den Tod, auf den blutigen Seelenkampf, in dem der Glaube die Angst überwindet. So oft wir das Abendmahl feiern, werden wir aufgerufen, mit Christus von unseren Ängsten zum Glauben überzugehen.
Selbst die Symbole des Abendmahls sind doppeldeutige Symbole. Brot ist ein Symbol des Lebens. Das Brechen des Brotes bezeichnet das gemeinsame Leben, das in der Gemeinsamkeit wächst. Und doch bezeichnet das Brechen auch Zerstörung, es erinnert an den im Tod gebrochenen Leib. Der Kelch des Blutes verweist auf den Tod. Aber es ist auch der Kelch, der in festlichen Versammlungen von Freunden zur Feier des Lebens die Runde macht. Es verlangt Mut, sich dieser doppelten Bedeutung zu stellen. Nur gemeinsam können die beiden Aspekte die ganze Fülle ausdrücken.
Den Mut, dessen es bedarf, das Leben unter dem Bild des Todes zu empfangen ‒ das ist der Mut des Glaubens,
der Mut der Dankbarkeit: Vertrauen auf den Geber.
Treten wir zum Altar, um Brot und Kelch zu empfangen, dann verlang das Mut. Es ist eine Geste, durch die wir sagen: «Ich vertraue gläubig, dass ich von jedem Wort leben kann, das aus dem Munde Gottes kommt, selbst dann, wenn es Tod bedeutet.»
Was bleibt, ist diesen Akt des Glaubens ins tägliche Leben zu tragen. Und dies geschieht durch Dankbarkeit. Die christliche Abendmahlsfeier heißt schließlich Eucharistie, Danksagung. Indem wir lernen, für Leben und Tod, für diese ganze gegebene Welt zu danken, finden wir wahre Freude. Es ist die Freude mutigen Glaubens, die Freude, die wir finden, wenn wir uns auf die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge verlassen. Es ist die Freude der Dankbarkeit umarmt von der Fülle des Lebens. [FN 1) 104f.; 2-5) 106f.; 6) 107f.]
[Auszug aus: Vom Worte Gottes leben – Die Versuchung Jesu im Garten (2021)]
Was bleibt, ist diesen Akt des Glaubens ins tägliche Leben zu tragen. Und dies geschieht durch Dankbarkeit. Die christliche Abendmahlsfeier heißt schließlich Eucharistie, Danksagung. Indem wir lernen, für Leben und Tod, für diese ganze gegebene Welt zu danken, finden wir wahre Freude. …
Familie
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Mit dem ganzen Herzen Gott zugewandt, erkennt die Liebe ihre Zugehörigkeit; mit den Händen der Arbeit zugewandt, handelt die Liebe dementsprechend.
Die Römer hatten ein Wort für Liebe, das genau diese Haltung ausdrückt. Es ist das lateinische Wort pietas. Wir könnten es als «Familiensinn» übersetzen, eine Haltung, die dem Wissen um Zusammengehörigkeit entspringt und es entsprechend zum Ausdruck bringt. Pietas ist vor allem die Haltung des pater familias. Die Familie gehört zum Vater, von dem sie ihren Namen bezieht. Pietas gibt dem pius pater Rechte und Pflichten. Aber pietas ist eine Haltung, die von allen Mitgliedern des Haushalts geteilt wird und alle miteinander verbindet. Ehemann und Gattin lieben sich vielleicht auch mit Leidenschaft und Verlangen, das Band aber, das sie am stärksten und tiefsten zusammenhält, ist pietas. Das gleiche Band hält Brüder und Schwestern, Kinder und Eltern zusammen. Aber pietas bezieht auch Diener und Sklaven mit ein, jeden, der zum Haushalt gehört. Als Haushalt sind sie den Vorfahren der Familie und den Schutzgöttern, den lares, verbunden durch die gleiche pietas, die selbst die Haustiere miteinbezieht, das Land, die Werkzeuge, den Hausrat und alles Ererbte. Unsere Sprache kennt keinen vergleichbaren Begriff. Könnten wir die Kraft des lateinischen Wortes pietas in unser Wort «Pietät» übertragen, das sich von ihm ableitet, dann würden unsere Vorstellungen von Mitgefühl und Hingabe sicherlich bereichert werden. Sie alle stehen im Zusammenhang mit der Vorstellung des Zusammengehörens. Ein Wort können wir nicht willkürlich wiederbeleben. Aber wir müssen das Gefühl des Zusammengehörens wiederentdecken, das das Wort pietas prägte.
Die entscheidende Frage lautet: Wie groß ist unsere Familie? Wie groß ist die Reichweite unseres Zusammengehörens? Erreichen wir die entferntesten Bereiche von Gottes Haushalt? Wird sich unsere Sorge und Betroffenheit weit genug ausdehnen, um alle Mitglieder dieses Haushalts der Erde zu umfassen ‒ Menschen, Tiere, Pflanzen, die wir immer noch als fremd betrachten? Unser aller Überleben könnte von der Antwort auf diese Frage abhängen. [ST 40f., Quelle: FN 1) 154f., 2-5) 158-160; 6) 157-159]
Fehler
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Es ist sehr schmerzhaft mitanzusehen, wie auch kleine Unaufrichtigkeiten nach und nach unsere Seele vergiften. So gibt es Menschen, die in ihrem Leben keine großen Fehler begangen haben, vielleicht war da nur die eine oder andere kleine Lüge, in die sie sich mehr und mehr verstrickten, bis sich ihr Leben in einem schrecklichen Durcheinander befand, das genauso schlimm war, wie wenn sie eine furchtbare Untat begangen hätten. Unsere kleinen Verfehlungen ‒ die kleinen Augenblicke, in denen wir unseren Launen oder trägen Gewohnheiten nachgeben ‒ sammeln sich an und können mehr Schaden anrichten, als wir denken. Es geht hier nicht nur um eine Frage der Moral, unsere eigentliche Lebensfreude hängt davon ab. Wenn wir mit dem Augenblick nachlässig umgehen, hastig, unbehutsam, unbedacht in Wort und Tat, dann wird daraus ein vergeudetes Leben.
Und dennoch, ganz egal, in was wir uns hineinmanövriert haben, genau der jetzige Augenblick kann der Beginn eines neuen Lebens sein. Gott hat uns vergeben, bevor wir überhaupt je Fehler begingen. Wir brauchen nur diese Vergebung anzunehmen und uns selbst zu vergeben, um einen völlig neuen Anfang zu machen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung für die Qualität unseres Lebens, dass wir jeden Arbeitstag mit bewusster Klarheit und in der besten Absicht beginnen.
[ST 42, Quelle: MS 5) 71f.]
Fließweg
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
«Bewegung in zahllosen Formen, das ist doch eigentlich, was wir das Leben nennen. Vom Kreisen der Galaxien, Sonnen und Planeten zum Kreisen der Falken, ihrem Hinabsausen und dem Zappeln der Maus; vom plötzlichen Aufblühen der Feuerwerksraketen zum sachten Entfalten der Wiesenblumen; vom Flug des Pfeiles zum Fallen plumper Pflaumen. Bewegung von Fliehen und Erhaschen, von Mühe und Entspannung, Einschlafen und Erwachen.
Aber auch die Bewegung aufsteigender Dankbarkeit, sprießenden Verliebtseins, stiller Verinnerlichung. Verinnerlichung hinein in eine Stille, die nicht Stillstand bedeutet, sondern bis zum scheinbaren Stillstand geballte Bewegung ‒ wie der Flügelschlag des Kolibris.
Aus dieser Mitte lass jede meiner Bewegungen kommen; dann wird jede letztlich ein Empfangen und Weiterschenken werden, ein Geben und Nehmen zwischen dir und mir. Amen.»[1]
Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, «gute Arbeit» ist wie ein kosmisches Ballspiel, «wie ein heiliger Tanz».
Der taoistische Philosoph Huang Tsu (369-286 v. Chr.) verwendet diese Bilder vom heiligen Tanz und von guter Arbeit in seinem Gedicht «Einen Ochsen zerteilen».
Fleischer und ihre Arbeit waren zu Prinz Wen Huis Zeiten in der chinesischen Gesellschaft verachtet. Trotzdem aber schaut der Prinz seinem Koch eines Tages beim Zerteilen eines Ochsen zu und ruft zuletzt begeistert aus:
«Das ist es! Mein Koch hat mir gezeigt, wie ich mein Leben leben sollte!»
Weit mehr als zwei Jahrtausende später können auch wir das ausrufen, denn Huang Tsus Beschreibung zeigt beispielhaft, was immer gültig bleibt:
Rechtes Tun folgt dem Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt».
«Ja, es gibt schon manchmal zähe Gelenke», aber der Koch lehrt uns, wie wir damit umgehen sollen.
«Ich spüre sie kommen, ich werde langsamer» ‒ also geht er zurück zu Stop ‒ «ich schaue genau» ‒ er geht zurück zu Look. Und dann: Ich «halte mich zurück», bewege kaum die Klinge» ‒ sein Go fließt jetzt «mühelos» mit der Energie des Lebens selbst:
«Das Gespür tut die Arbeit ohne Planung; frei folgt es seinem Instinkt.»
Aber geben wir Huang Tsu das Wort:
Der Koch des Prinzen Wen Hui
zerteilte einen Ochsen.
Arm gestreckt,
Schulter gebeugt;
er setzt den Fuß fest auf,
er stemmt sein Knie an,
schon liegt das Tier
in Stücken da.
Das blanke Beil
flüstert wie ein Windhauch.
Rhythmisch! Gemessen!
Wie ein heiliger Tanz ist's,
wie ein Kinderreigen,
wie uralte Harmonien.
«Das nenne ich gute Arbeit!»
ruft der Prinz, «perfekte Methode».
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
Ich folge dem Tao;
jenseits jeder Methode!
Als ich anfing,
Ochsen zu zerteilen,
sah ich das ganze,
schwere Tier vor mir:
eine einzige Masse.
Nach drei Jahren
sah ich statt dieser Masse
die feinen Trennungslinien.
Jetzt aber sehe ich nichts
mit meinen Augen. Mein Inneres
erfasst einfach das Ganze.
Meine Sinne sind müßig. Das Gespür
tut die Arbeit ohne Planung; frei
folgt es seinem Instinkt.
So findet mein Beil mühelos
den verborgenen Spalt, den geheimen Weg,
wie die Natur ihn bahnt.
Ich haue durch kein Gelenk, hacke auf keinen Knochen.
Ein guter Koch braucht jedes Jahr
ein neues Beil. Er hackt.
Ein schlechter Koch braucht jeden Monat
ein neues Beil. Er haut drauflos.
Dieses Beil benutze ich
schon neunzehn Jahre,
tausend Ochsen
hat es zerlegt.
Es ist so scharf
wie am ersten Tag.
Die Gelenke haben Zwischenräume;
die Klinge ist dünn und scharf:
Sie findet diese Zwischenräume.
Mehr Raum braucht es nicht!
Dann geht's widerstandslos.
Deshalb bleibt die Klinge neunzehn Jahre lang
wie frisch geschliffen.
Ja, es gibt schon manchmal
zähe Gelenke. Ich spüre sie kommen,
ich werde langsamer, ich schaue genau,
halte mich zurück, bewege kaum die Klinge,
und plumps! Das Fleischstück fällt herunter
wie ein Klumpen Lehm.
Dann lasse ich die Klinge ruhen,
ich halte inne
und lasse die Freude an der Arbeit
mich ganz durchdringen.
Ich mache die Klinge sauber und verstaue sie.»
«Das ist es!», rief Prinz Wen Hui,
«mein Koch hat mir gezeigt
wie ich mein Leben
leben sollte.»[2]
Auf einer tagelangen Busreise war es mir einmal geschenkt, neben einem Metzger zu sitzen, der mir von seiner Arbeit erzählte. Er hatte sicherlich noch nie vom Taoismus gehört, geschweige denn von Huang Tsus Gedicht, aber ich traute meinen Ohren kaum, so ähnlich war die stolze Beschreibung seiner Fähigkeiten der von Prinz Wen Huis Koch, seines taoistischen Kollegen von vor so langer Zeit. Jetzt überrascht mich das nicht mehr.
Mir ist klargeworden, dass unser Stop ‒ Look ‒ Go keine Methode ist, die jemand erfunden hat, sondern die Gestalt, die allen klassischen spirituellen Methoden zugrunde liegt ‒ der zeitlose Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt», damit wir in Harmonie mit dem Universum leben lernen.
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
«Ich folge dem Tao
jenseits jeder Methode!»
Am Anfang können wir freilich das «Stop ‒ Look ‒ Go» auch als Methode anwenden.
Das Ziel ist aber, dass es uns durch Übung zur zweiten Natur wird.
Dann folgt unser Gespür ohne Planung frei seinem Instinkt und findet den Fließweg «jenseits jeder Methode».
Dazu bedarf es freilich der Übung ‒ wie bei jeder andren spirituellen Praxis.
Alle spirituellen Wege haben dasselbe Ziel: im Jetzt leben. Dieses Ziel will auch «Stop ‒ Look ‒ Go» erreichen.
Ein sehr einfacher Weg, aber einfach ist nicht gleichbedeutend mit leicht, besonders am Anfang nicht.
Dennoch bietet seine Einfachheit einen großen Vorteil im Vergleich mit andren spirituellen Praktiken:
Wir können «Stop ‒ Look Go» an jedem Ort und zu jeder Zeit üben:
am Arbeitsplatz genausogut wie an einem Ort der Stille; in der U-Bahn genauso gut wie bei einer Wanderung in den Bergen.
Und wann immer wir diesen einfachen Dreischritt üben, bringt er uns ins Jetzt. Und warum ist das so wichtig?
Weil im Jetzt das Ego nicht überleben kann. Das Ego ist immer in die Vergangenheit verwickelt, fühlt sich als Opfer, müht sich ab mit vergangener Schuld oder sehnt sich nach der «guten alten Zeit».
Oder es ist in der Zukunft verfangen und wartet ungeduldig auf sie oder hat Angst vor ihr.
Um ins Jetzt zu finden, muss ich mein über Vergangenheit und Zukunft zerstreutes Ego in meine «Mitte des Immer»[3] sammeln.
Weil das «Stop ‒ Look ‒ Go» mich ins Jetzt bringt, bringt es mich zu mir selbst.
Ich komme aus der Ego-Illusion in die Wirklichkeit des Ich-Selbst zurück.
Dadurch wird jetzt Orientierung möglich: Orientierung in Bezug auf die Wirklichkeit und dadurch auch auf die letzte Wirklichkeit, das große Geheimnis.
So oft wir innehalten, sei's auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis als Schweigen.
So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unsres Herzens für das Geheimnis als Wort.
Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.
Im Tanzen kommt unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» ins Fließen ‒ er zeigt sich als Fließweg.[4]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Erst, wenn ich auf den großen Tanz der Dinge achte, wird mir bewusst, wie steif ich innerlich bin. Selbst leblose Dinge rollen, fließen, gleiten; auch wo sie knirschen, holpern, sich spießen, sind sie gemeinsam dem Gesetz der Gegenseitigkeit gehorsam. Tiere erst recht. Noch bei ihrem letzten Sprung tanzt die Maus mit der Katze.
Nur wir ‒ teilnahmslos gegeneinander. Um so mehr bewundere ich Menschen, deren jede kleinste Geste Begegnungsbereitschaft ausdrückt, Hinhorchen, Hilfsbereitschaft, Aufforderung zum Tanz. Das muss von innen kommen. Mach mein Herz tanzbereit. Amen.»[5]
In höchster sprachlicher Verdichtung hat Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) in seinem Gedicht «Der römische Brunnen» das Ruhen im Fließen in ein Bild gefasst.
Wenn wir – ohne es intellektuell zu analysieren ‒ diesem Sinnbild gestatten, uns zu ergreifen, dann kann uns bewusstwerden, dass der Fließweg durch die drei Schalen zugleich der Weg der Sinnfindung ist, denn «jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht.»
Sinn aber ist das, worin das Herz Ruhe findet.
Auf steigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Im Strömen das Ruhen finden, das heißt auch Sinn finden.[6]
«Weg und Ziel zeigst du mir nicht nur an, DU großes Geheimnis im Herzen des Lebens, du b i s t mir beides.
Als Weg erfahre ich dich am richtungweisenden Fließweg des Lebens, dem ich mich anvertrauen darf wie ein Schwimmer dem Strom.
Als Ziel erkennt dich die Strömung in meinem Inneren mit ihrem geheimnisvollen Sog, der mir zuraunt:
‹Heim zum Vater!›
Lass mich nicht erschlaffen beim Schwimmen, nicht schlapp dahintreiben wie Schwemmholz, sondern wendig werden wie ein Fisch.
Mach mich achtsam für den leisesten Hinweis, den mir das Leben ‒ den du mir gibst. Und lass mich täglich fröhlicher werden, weil ich ja auf dem Heimweg bin zu dir. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4-7]
[Ergänzend:
1. FLIESSWEG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 136:
«Fließweg ist ein schönes, aber nur selten, meist in technischer Fachliteratur gebrauchtes deutsches Wort. Es bietet sich an, um im übertragenen Sinn die Grundhaltung des Taoismus zu kennzeichnen: die Bereitschaft, sich bewusst und bereitwillig dem Fluss des Lebens zu überlassen. Die Silbe «Weg» hat dann in diesem zusammengesetzten Wort eine Doppelbedeutung. Einerseits weist sie auf die Wegrichtung fließenden Wassers hin, den Fluss des Lebens, andererseits auf den Lebensweg des Weisen, der sich wie ein Schwimmer, keineswegs wie Treibholz, dem richtungweisend fließenden Strom des Lebens anvertraut.»
2. Audio zu: ‹Die Mitte des Immer›
Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(39:16) ‹Von der Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (R. M. Rilke, Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)
3. Audios zu: ‹Der römische Brunnen›
Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(55:30) ‹Der römische Brunnen› (C. F. Meyer) und ‹Römische Fontäne› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(01:12:38) ‹Der römische Brunnen› (C.F. Meyer)
Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag
4. Audio zu ‹Heim zum Vater›
Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(31:54) «In ihm und durch ihn und mit ihm ‒ Jesus Christus ‒ gehen wir wieder zurück zum Vater: Wir als Christen drücken das so aus und erleben das so, aber alle Menschen erleben das so, können es verstehen, wenn man es ihnen nahebringt. … Einer der ganz frühen Kirchenväter sagt: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater.› Das ist etwas, das jeder Mensch erlebt, einfach als Mensch. Diese Quelle haben wir in unserem Herzen und hören diese Stimme, die sagt: ‹Heim zum Vater.›»]
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[1] Erwachende Worte (2023): ‹44 Bewegung›, 105
[2] Thomas Merton (Hrsg.): ‹Sinfonie für einen Seevogel und andere Texte des Tschuang-tse›; mit einem Vorwort von Bernardin Schellenberger. Neuausgabe, Düsseldorf, Patmos Verlag, 1984, 23-25; siehe auch die Übersetzung des Altmeisters der klassischen chinesischen Texte Richard Wilhelm: Dschuang Dsi: ‹Das wahre Buch vom südlichen Blütenland›; aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm (= Diederichs Gelbe Reihe; 14: China), Kreuzlingen / München, Hugendubel 112000: Buch III. Pflege des Lebensprinzips, 2. Der Koch, 54f.
«1960 stieß der amerikanische Mönch und Schriftsteller Thomas Merton auf die Schriften des großen Chinesen Tschuang-tse († um 300 v. Chr.), der gegen Ende der Blütezeit der chinesischen Philosophie lebte und als der spirituellste unter den chinesischen Philosophen gilt. Nach jahrelanger, intensiver Beschäftigung mit seinen Schriften legte Merton diese Sammlung charakteristischer Texte vor, wobei er auf höchst persönliche Weise Übersetzung und Interpretation miteinander verband. So gelingt in diesem Büchlein ein Brückenschlag: Tschuang-tse mit den Augen eines modernen Amerikaners gesehen, aber auch den Augen eines modernen Mystikers betrachtet, der bei dem alten chinesischen Philosophen Elemente entdeckte, die allen meditierenden Geistern aller Zeiten gemeinsam sind.» (aus dem Klappentext des Buches von Thomas Merton)
[3] R. M. Rilke: ‹Elegie an Marina Zwetajewa-Efron› (Aus dem Nachlass, Widmungen)
[4] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 108-113
[5] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 33
[6] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 114
[7] Erwachende Worte (2023): ‹11 Weg›, 39
Fließweg und Entscheidung
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
Beginnen wir mit einer Art von Erfahrung, die mehr Beachtung verdient, als man ihr gewöhnlich schenkt.
Es handelt sich dabei um oft dramatische Ereignisse, bei denen wir gar nicht Zeit haben, Entscheidungen zu treffen, und doch spontan genau das tun, was die Situation verlangt ‒ manchmal mit ganz außergewöhnlicher Kraft und Geschwindigkeit:
Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem heranrasenden Schnellzug von den Schienen.
Später weisen beide jede Anerkennung zurück:
«Es war schon geschehen,
bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken»,
sagen sie.
«Sie hatten nicht Zeit» nachzudenken.
Das ist der erste springende Punkt.
Wir dürfen den Satz auch umkehren und sagen:
«Die Zeit hatte sie nicht»
in ihrem Netz, denn sie waren ganz im Jetzt. Darum war die Entscheidung einfach da.
Und das ist der zweite springende Punkt: Wenn wir im Jetzt sind, ist die Entscheidung schon Tatsache ‒ auch in dem Sinn, dass die Scheidung von Ich und Selbst, die mich zum Ego macht, aufgehoben ist.
Sobald ich im Jetzt bin, kann die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließen.
Das ist wahre Freiheit.
Sobald ich im Jetzt bin, steht die angemessene Vorgehensweise klar vor mir und ich bin dafür bereit.
Was im entscheidenden Augenblick der Feuerwehrmann und die Mutter auf so außergewöhnliche Weise erlebten, das können wir alle, wenn auch weniger auffällig, im Alltag erleben, wann immer wir wirklich im Jetzt sind:
Ich und Selbst handeln dann als eine Einheit ‒ die Entscheidung entspringt wie von selbst den Gegebenheiten.
«Wie ist das gemeint?», wird sicherlich jemand fragen.
«Muss ich überhaupt noch entscheiden, wenn die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließt?»
Die Lebenskraft bewerkstelligt täglich tausende lebenswichtige Aufgaben für dich, die weit über deinen Verstand hinausreichen.
Sie reguliert deine Körpertemperatur, deinen Blutdruck, deinen Stoffwechsel und trifft unzählige andre dir unbewusste Entscheidungen.
Dich bei bewussten Entscheidungen in diese Wirkkraft einzublenden, kann Mühe kosten.
Wenn es sich um gewichtige Entscheidungen handelt, kann es sogar schwierige Erwägungen erfordern und langwierige Besprechungen mit andren, die von deiner Entscheidung betroffen werden.
Aber die eigentliche Entscheidung ist schon getroffen. Sie lautet:
«Ich will mich auf die Weisheit des Lebens verlassen.»
Daher geht es nun nur noch um ein fragendes Hinhorchen:
«Was will das Leben jetzt von mir?» ‒
Es geht um ein vertrauensvolles Sich-Verlassen auf die Weisheit des Lebens.
Und es geht darum, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren.
Wenn du deine Aufgabe so verstehst, kannst du die «Qual der Wahl» dem Leben überlassen und die Last der Entscheidung fällt von deinen Schultern.
«Sich auf die Weisheit des Lebens verlassen»
und «ins Jetzt zurückkehren» ist ein und dasselbe.
Denn was du verlässt, wenn du «dich verlässt», ist das Ego.
Es gibt freie und unfreie Handlungen.
Ich-Selbst bin immer frei; mein Ego nie.
Das Ego will mit Gewalt starr und eigensinnig seine Pläne durchsetzen, wird dabei aber von der Strömung des Lebens überrollt.
Das «lch-Selbst» schwimmt in dieser Strömung, sie vertrauensvoll, zielbewusst, geschickt und vor allem gewaltfrei nutzend.
Die einzig wahre Freiheit ist Gewaltfreiheit ‒ das lch-Selbst tut der Wirklichkeit keine Gewalt an.
Die einzig freie Entscheidung ist die Heimkehr des Ich zum Selbst ‒ seine Befreiung aus der Scheidung zwischen den beiden, die es zum Ego machte.
Furcht will sich an die Vergangenheit klammern, Wunschträume schweben in der Zukunft herum, aber nur im Jetzt können wir uns nüchtern den Forderungen des Lebens stellen.
Das Ego ist niemals im Jetzt; es ist immer in Vergangenheit oder Zukunft verfangen.
Aber indem ich mich im Jetzt sammle, komme ich heim zu mir selbst ‒ zum lch-Selbst.
Das Selbst ist eins und macht uns alle eins.
Als «lch-Selbst» handle ich aus dem Bewusstsein dieses Eins-Seins mit allen.
Aber dieses «radikale Ja zur Zugehörigkeit» ist unsre Definition für Liebe.
Kein Wunder also, dass das Wort «frei» ‒ wie auch «Freund» ‒ von einer indogermanischen Wurzel stammt, die «lieben» bedeutet.
Und kein Wunder, dass der heilige Augustinus sagen kann:
«Liebe und tue, was du willst.»
Freiheit ist nicht die Fähigkeit des Egos, das zu tun, was ihm in den Sinn kommt ‒ willkürlich.
Echte Freiheit stellt sich ‒ bereitwillig ‒ auf das innerste Leitprinzip des Lebens ein.
Sie sagt in Liebe «ja» zur Gemeinschaft aller mit allen und kann daher tun, was sie will.
Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das Tao.
«Watercourse Way» nennt Alan Watts das Tao auf Englisch.
Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden, obwohl es nur Fachwörterbücher zu kennen scheinen.
Um mit dem Tao zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum «Anfängergeist» des Kindes zurückfinden.
Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt.
«Du hast noch kein lch, das sich von dem,
was geschieht, unterscheidet»,
wie Alan Watts es ausdrückt.
«Deshalb geschieht dir auch nichts. Es geschieht einfach.»
Du nimmst teil, sagt er, an
«den wundervollen Tanzfiguren... fließenden Wassers.»
Später gewinnen wir ein reflektiertes Bewusstsein von Ich und Selbst, aber gleichzeitig verlieren wir dieses Im-Fluss-Sein.
Dieser Verlust lässt sich jedoch vermeiden.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im «Fließweg».
Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.
Wie beim Baby «geschieht einfach» das Lebensbejahende, aber wie bei der oben erwähnten Mutter und dem Feuerwehrmann geschieht es mit unsrer Zustimmung.
Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.
Wie können wir aber sicher sein, dass wir im Einklang mit dem Universum entschieden haben?
Leider lautet die ernüchternde Antwort: 100% sicher zu sein, können wir niemals erwarten.
Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, wie vieles in jede Entscheidung hineinspielt und wie geschickt wir uns selber, beeinflusst von schlechten Gewohnheiten, etwas vormachen können, dann werden unsre Erwartungen bescheidener ausfallen.
Wir werden uns ehrlich bemühen, unser Bestes zu tun, und alles Übrige vertrauensvoll dem Leben überlassen. Erst dann sind wir wahrhaft frei.
Diesen Befreiungsprozess immer besser verstehen und ihm immer getreuer folgen zu lernen, ist eine lebenslange Aufgabe.[1]
«Und was du über die Zeit gesagt hast, das gibt den meisten Menschen einen verhältnismäßig leichten Einstieg zu dem, denn wir sind uns dessen bewusst, dass wir sehr selten wirklich im gegenwärtigen Augenblick sind.
Wir hängen an der Vergangenheit und wir strecken uns auch aus auf die Zukunft und es bleibt sehr wenig von unserem Bewusstsein übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.
Wenn wir lernen können, einfach hier zu sein, nicht viel zu denken, — unser Denken führt uns nicht dorthin, unser Denken lenkt uns ständig ab vom Bewusst-sein.
Wir sprechen vom Bewusstsein und denken ans Denken, wir sollten die Betonung auf das Sein legen, das bewusste Sein, wo das Denken keine große Rolle mehr spielt.
Wir können das Denken verwenden wie ein Werkzeug, aber jetzt ‒ wie die meisten von uns das erleben ‒ werden wir das Werkzeug des Denkens.
Alle großen Erfindungen werden gemacht, ohne dass der Erfinder denkt.
Er denkt sehr viel vorher und nachher, aber die wirkliche Erfindung bricht durch in einem Augenblick, in dem man nicht denkt.
Alle großen künstlerischen Schöpfungen kommen von irgendwo, aber jedenfalls nicht aus dem Denken.
Und so auch für uns.
Wenn wir lernen können, das Denken als Werkzeug zu gebrauchen, und nicht immer vom Denken versklavt zu sein, dann können wir auch im gegenwärtigen Augenblick bewusst sein.»[2]
(Eröffnungsvortrag 24:59:) Und die Lebensreise ist das Leid. ‒
Das überrascht uns ‒ vielleicht ‒, besonders, wenn wir noch jung sind. Es ist aber auch in der Philosophie, die in unserer Sprache enthalten ist, völlig klar angelegt.
Denn «Leiden» heißt ursprünglich: «gehen», «fahren», «reisen».
Leiden hat ursprünglich überhaupt nichts zu tun mit erleiden.
Und wenn das Leben der Leib[3] ist, dann gehen die, die wirklich im Leib leben weiter und erfahren in ihrer Lebendigkeit das Leben.
Die aber nicht im Leib leben, die bleiben nur am Leben picken und sind die noch nicht Gestorbenen: Die pickenbleiben.[4]
Und das bringt uns zu der weiteren Frage: Was ist denn dann eigentlich das Leidige am Leid?
Und da zeigt sich, dass «Leid» im Sinn von «das Leidige» überhaupt nicht verwandt ist mit dem Wort «Leiden». Das sind zwei völlig verschiedene Wortwurzeln.
Das «Leiden», das ursprünglich «leben», «fahren», «reisen» bedeutet ‒ «gehen» auch ‒, kommt von einer Wurzel her, und das «Leid» ist ein anderes Wort, das ursprünglich das «Widerwärtige» bedeutet.
Und erst langsam, langsam vermischen sich die beiden, denn heute, wenn jemand sagt das «Leiden» und das «Leid», so ist das fast nur ein stilistischer Unterschied. Man kann das vollkommen mischen.
Wir haben die beiden eben irrtümlich so vermischt. Und erst, wenn wir die wieder auseinandernehmen, und sehen, dass «leiden» gar nicht unbedingt etwas Leidiges sein muss, weil es ursprünglich nicht das «Leidige» bedeutet, dann beginnen wir darüber nachzudenken, was denn eigentlich das Leiden leidig macht.
Das Wort «leidig» bedeutet ursprünglich «hässlich», «ungut», «unangenehm», hauptsächlich aber «widerwärtig».
Und «leider» ‒ wenn wir sagen «leider» ‒, das ist eine Steigerungsstufe: «Leid und noch Leider». Das gehört alles zusammen.
Und das «Widerwärtige» ‒ «wider» heißt «gegen» und «wärtig» ist so wie wir sagen «ostwärts» und «westwärts»: das ist die Richtung ‒ das «Widerwärtige», also das «Leid», ist das, was gegen den Strich geht.
«Leidig» ist alles, was gegen den Strich geht, was uns widerwärtig ist.
«Leiden» ‒ gehen, fahren, reisen, erfahren, erleiden ‒, ist das mit dem Strich gehen.
Das ist unsere große Herausforderung:
Wir können im Leben entweder mit der Maserung hobeln oder gegen die Maserung hobeln.
Wir können mit dem Strich gehen oder gegen den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:
Wir können mit dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.
Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die mit dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben gegen den Strom schwimmen müssen.
Und darum schwimmen so wenige mit dem Strom des Lebens.
Zu dem Wort «Leid», «leidig» ‒, wenn wir sagen: «Das tut mir leid» oder «ich hab‘s leidig» ‒, gehört die «Widerwärtigkeit». ‒
Zu dem Wort «leiden»: leben, erfahren, fahren, gehört das Veranlassungswort «leiten», das auch zu «Lotse» gehört:
Eigentlich heißt das «gehen machen» ‒ «Leiten» ist «gehen-machen», veranlasst uns zu gehen.
Und da, wenn wir sehen, dass etwas uns leiten kann im Leiden ‒ durch das Leben gehen und das Leben erleiden ‒, dann müssen wir uns fragen:
Was ist denn dann die leitende Kraft?
Und da ist die Antwort:
Die leitende Kraft ist das Leben selbst.
Wenn wir wirklich uns dem Leben hingeben, dem Lebensstrom, der in der Quelle des Herzens aufspringt, dann werden wir durch das Leben geleitet.
Das Leben selbst leitet uns, wenn wir uns nicht diesem Lebensstrom verschließen, abkapseln, stehenbleiben, steckenbleiben und unser Herz verschließen.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f. und 5]
[Ergänzend:
1. Krise
2. Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019) und Mitschrift 10f.:
(47:43) «Eine Frage, die man sich stellen könnte ‒ so wie:
Habe ich das Leben oder hat das Leben mich? ‒
Führe ich mein Leben oder führt mich etwas im Leben?
Und natürlich die ganze Idee von Augenblick für Augenblick hinhorchen, stillwerden ‒ hinhorchen und dann antworten.
Und das heißt, dass das Leben mich führt.
Und Lebensvertrauen ist das Vertrauen darauf, dass das Leben mich führt.
Je älter ich werde, umso klarer ist es mir, dass alles Pläne machen, ungeheuer gefährlich ist.
Augenblick für Augenblick gibt uns das Leben ja schon alles, was wir brauchen für den nächsten Augenblick, und wenn wir da unsere eigenen Ideen haben, kommen die so leicht in den Weg.
Alan Watts ‒ vielleicht kennt Ihr seine Bücher ‒, er hat auch sehr viel getan, den Buddhismus im Westen verständlich zu machen, und er hat seine Autobiographie genannt: In my own way:
Das kann einerseits heißen: Ich bin meinen eigenen Weg gegangen, aber es kann auch heißen: Ich bin mir ständig in den Weg gekommen. ‒ Absichtlich hat er so formuliert.
Also sich vom Leben führen lassen: Wie kann man das?
Das ist so ein leuchtendes Beispiel: Menschen, die sich vom Leben führen lassen: Das führt dann viele andere einfach durch die Leuchtkraft schon.»
3. Audios
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:
(01:32:46) Das Leben durch uns fließen lassen, dann ereignet sich Lebensbejahendes ‒ Sehr häufig kommt das zustande, was wir wollen, wenn wir nicht mehr drücken ‒ Situationen, in denen wir nicht Zeit gehabt haben, uns etwas zu überlegen und ganz genau das Richtige getan haben
(01:36:02) Was will jetzt das Leben? ‒ Gerade die Bemühungen können in den Weg kommen: Vielleicht hat das Leben etwas anderes vor ‒ Tun, was wir freudig tun, wozu wir begabt sind ‒ Was bietet mir das Leben für eine Gelegenheit an? ‒ Bruder David bringt ein witziges Beispiel und lobt den Willen und die Hingabe von Menschen, die im Leben immer wieder anstoßen
Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
‹Jeden Tag stehen wir vor der Entscheidung›]
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[1] Orientierung finden: ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 86-89
[2] Transkription des Gesprächs von Willigis Jäger mit Bruder David in Video 1 der DVD ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Aurum Verlag in
J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH und Benediktushof 2006
[3] Siehe im Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(19:04) leben, kleben und Leben, Leib
[4] Sitzen bleiben, zurück bleiben, hängen bleiben, kleben bleiben (Bruder David sagt: «bickenbleiben»)
[5] Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(24:59) Was die Sprache uns lehrt anhand der beiden Wortwurzeln ‹Leid› im Sinn von ‹gehen›, ‹fahren›, ‹reisen› und ‹Leid› im Sinn von ‹das Leidige›, ‹Widerwärtige›
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 23f.
Fragen
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Ist es nicht höchst unwahrscheinlich, dass wir jemals ein Gottesverständnis finden könnten, das die Konfessionen übersteigt und verbindet? Dieses Gottesverständnis gibt es schon und wir können es jederzeit entdecken, indem wir auf unsere innere Erfahrung achten und auf das Mehr, das unserem Leben Sinn gibt. Wir stoßen auf dieses Mehr, wenn wir die drei großen Fragen stellen, die uns als Menschen kennzeichnen.
Menschen aller Zeiten und Zonen fragen: «Was ist wirklich wirklich?» und begegnen dabei einem Geheimnis, das wirklicher ist als alles, was es gibt ‒ dem unerschöpflichen «Es», das wir aus der Wendung «es gibt» kennen.
Menschen fragen immer und überall: «Wer bin ich?» und stoßen auf das Mehr in der Tiefe ihres eigenen Herzens, ein Mehr, das Gedanken nicht ausloten und Worte nicht ausdrücken können.
Die dritte Frage lautet: «Worum geht es im Leben?» Wir finden die Antwort in einem unerschöpflichen Mehr an Liebe und Leben, an dem unser eigenes Lieben und Leben teilnimmt.
Unser geistiges sowie unser physisches Gesundsein hängt davon ab, dass wir uns auf die Antworten zu diesen letzten Fragen einlassen ‒ Antworten, die wir nicht in Worte fassen können. [ST 43, Quelle: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis 81]
Fragen des Lebens
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Es gibt viele Fragen. Doch nicht alle Fragen bewegen uns. Viele Fragen beunruhigen uns vielmehr. Und die Fragen, die uns beunruhigen, die lassen uns zum Stillstand kommen. Wir sind fast eingefroren von Fragen, die uns beunruhigen. Und die Furcht macht uns erstarren.
Die Fragen, die uns beunruhigen, haben meist mit der Vergangenheit zu tun oder mit der Zukunft. Das sind Fragen wie «Wie konnte so etwas nur geschehen?», «Wie konnte ich nur das tun?» «Wie konnte man mir das nur antun?»
Oder Fragen über die Zukunft, «Was kommt da noch alles auf uns zu?» ‒ Angstfragen sind es, die machen uns starr.
Aber dann gibt es auch Fragen, die uns bewegen. Fragen, die uns in Bewegung setzen. Und das sind Fragen in der Gegenwart. Fragen, die wir nur in der Gegenwart stellen können. Nur in diesem Augenblick. Nur in dem Jetzt, auf das alles ankommt.
Denn dieses Jetzt ist der Schnittpunkt der Zeit mit der Ewigkeit.[1] Die Ewigkeit ist ja keine lange, lange Zeit, die Ewigkeit ist, wie Augustinus das definiert, das «Nunc stans»[2] ‒ Das Jetzt, das nicht vergeht.
Dieses Jetzt ist uns in jedem Augenblick geschenkt. Und in diesem Jetzt ist uns die Begegnung mit unserem großen und ewigen Du geschenkt. Wir aber sind meistens beschäftigt mit der Vergangenheit und mit der Zukunft. Wir sind abgelenkt durch die Zeit vom Jetzt. Das Jetzt aber ragt über die Zeit heraus, denn das Jetzt ist nicht eigentlich in der Zeit.[3]
Und diese großen Fragen, die uns da beschäftigen, die uns wirklich bewegen und die uns heute beschäftigen sollen, die stehen auf diesem Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit, die stehen im Jetzt. Das sind Fragen, die wir im Jetzt stellen und nur im Jetzt stellen können.
Und dieses Jetzt geht mit uns durch den Tag, durch das Leben. So wie auf einer Wanderschaft der Mond mit uns zu gehen scheint. Oder wenn der Mond auf einen See scheint: Immer zielt die Bahn des Lichtes auf uns, wohin wir auch gehen. Dieses Jetzt geht mit uns durchs Leben, durch den Tag.
Die vier Fragen:
Und so möchte ich nun vier von diesen Fragen herausgreifen: Fragen, die uns im Jetzt bewegen. Zunächst eine Frage, die mit unserer Jugend zu tun hat, damit, wie wir durchs Leben gehen, mit dem Morgen.
Und das ist eine Frage, die sich jeden Morgen neu stellt. Oder sich jedes Jahr mit dem Frühling erneuert. Diese Frage am Morgen heißt: «Wonach sehnen wir uns?» Wonach sehnen wir uns eigentlich?
Die Frage, die sich uns dann in der Lebensmitte stellt, am Mittag, im Sommer unseres Lebens, das ist die Frage: «Wie können wir überstehen?» ‒ Wenn alles auf uns hereinbricht, wenn alles unter uns zusammenbricht: Wie können wir überstehen?
Und dann eine dritte Frage, die Frage der Lebensreife, des Herbstes, des Abends: «Woran reifen wir?» ‒ Nicht in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit, sondern jetzt, im gegenwärtigen Augenblick: Was macht uns jetzt reifen?
Und schließlich für die Lebensneige, für den Winter, für die Nacht die Frage: «Was tröstet uns?»
Wonach sehnen wir uns?
Um uns solche Fragen ganz persönlich nahezubringen, dafür gibt es kaum einen besseren Weg als die Dichtung. So möchte ich hauptsächlich Gedichte mit Ihnen teilen, und zwar von zwei Lieblingsdichtern von mir: von Rainer Maria Rilke und von Joseph von Eichendorff. Ich hoffe, dass wir diese Liebe zu diesen beiden Dichtern ‒ Eichendorff aus dem 19. Jahrhundert, Rilke aus dem 20. Jahrhundert ‒ auch wirklich teilen.
Und so möchte ich zunächst zu der Frage «Wonach sehnen wir uns?» mit Eichendorff beginnen, aus dem Gedicht «Der Pilger»:
«Man setzt uns auf die Schwelle,
Wir wissen nicht, woher?
Da glüht der Morgen helle,
Hinaus verlangt uns sehr.
Der Erde Klang und Bilder,
tiefblaue Frühlingslust,
Verlockend wild und, wilder,
Bewegen da die Brust.
Bald wird es rings so schwüle,
Die Welt eratmet kaum,
Berg’, Schloss und Wälder kühle
Stehn lautlos wie im Traum,
Und ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn:
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?»
Das ist der Lebensanfang.
«Man setzt uns auf die Schwelle, wir wissen nicht, woher?»
Das ist zugleich die Schwelle in das Leben und von woher. Und wir wissen nicht, von woher wir in dieses Leben kommen. Es ist nicht nur die Schwelle, über die hinaus wir jetzt ins Leben gehen. Es ist auch die Schwelle, über die wir in das Leben hereinkommen. Und wir wissen nicht, woher.
Da ist das große Verlangen: die Sehnsucht. Es verlockt uns etwas, hinaus verlangt uns sehr. Aber dann kommt ein geheimes Grausen!
Kennen wir dieses geheime Grausen, wenn wir uns fragen:
«Wonach sehnen wir uns denn eigentlich?»
Im Gedicht reimt es sich hier nicht ganz genau. Und das ist immer sehr bezeichnend, wenn ein Dichter ungenaue Reime verwendet. Nicht, weil er es nicht besser kann, sondern weil er eben diese Ungenauigkeit will: Ein «geheimes Grausen» reimt sich auf «Wir sehnen uns nach Hause».
Das Haus, nach dem wir uns sehnen, das nimmt das Grausen weg:
«Und. ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn :
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?»
Auch Rainer Maria Rilke spricht in einem Gedicht aus dem Stundenbuch von dem, was vor der Schwelle geschieht, auf die man uns setzt. Und er stellt sich das so vor:
«Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.»
«Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand!»
Das, wovon Eichendorff als «verlockend, wild und wilder» spricht, das ist die Schönheit, die uns anzieht.
«Lass dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken»,
heißt es bei Rilke.
Und der Schrecken ist dieses geheime Grausen, das auch zum Leben gehört.
«Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.»
Lass dich von mir nicht trennen ‒ das heißt, in der Zeit, in die du jetzt hinausgehst, sei immer bei mir, gib mir die Hand ‒ jetzt!
Jetzt, an diesem Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.
Jetzt noch ein Gedicht von Eichendorff zu dieser Frage:
«Wonach sehne ich mich?»
Und das ist ein Jugendgedicht von ihm, ein frühes. Es heißt «Frische Fahrt»:
«Laue Luft kommt blau geflossen,
Frühling, Frühling soll es sein!
Waldwärts Hörnerklang geschossen,
Mut’ger Augen lichter Schein;
Und das Wirren bunt und bunter
Wird ein magisch wilder Fluss,
In die schöne Welt hinunter
Lockt dich dieses Stromes Gruß.
Und ich mag mich nicht bewahren!
Weit von euch treibt mich der Wind,
Auf dem Strome will ich fahren,
Von dem Glanze selig blind!
Tausend Stimmen lockend schlagen,
Hoch Aurora flammend weht,
Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
Wo die Fahrt zu Ende geht!»
So gehen wir dann in die Welt hinein, in das Wirren, in den wilden Fluss, in den Strom. Wir lassen uns treiben vom Wind
«... selig blind ...»
Und wir wollen nicht fragen, wo die Fahrt hinführt. Wir wollen nicht fragen. Das ist unsere Verwirrung, das ist der Übergang von der Jugend zur Lebensmitte.
Doch lange bevor die Fahrt zu Ende geht, kommen wir an eine Stelle, an der wir uns fragen müssen:
«Wie kann ich das überstehen?»
Weil wir uns eben «selig blind» auf den Lauf der Zeit eingelassen haben, «selig blind» der Zeit verfallen sind und das Jetzt vergessen, können wir mit dem Wandel nicht umgehen.
Und so schreibt Eichendorff:[4]
«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.
Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.
Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!
Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»
Alles, was wir schauen, wandelt sich, ständig. Vielleicht erinnern Sie sich, wie uns das auf der Lebensmitte bewusst wird. Vielleicht gerade mitten im Getriebe. Irgendwann in einem Augenblick, wenn wir uns wirklich einmal aus der Zeit herausraffen, wird es uns bewusst:
«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.»
Dieses eigene Grauen ist das Grausen, von dem Eichendorff schon vorher gesprochen hat im Gedicht «der Pilger»:
«Und ein geheimes Grausen
beschleichet unsern Sinn.»
Dieses Grausen, das wir fühlen. Und jetzt geht das Gedicht weiter:
«Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.
Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!»
Und das ist nun das Haus, in dem wir zuhause sind. Jetzt plötzlich beginnt die Frage zu dämmern: «Wie können wir überstehen?»
Die letzte Strophe lautet:
«Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»
Wie können wir überstehen?
Hier und jetzt im Vertrauen. Nicht im Bedauern über die Vergangenheit, nicht in der Furcht vor der Zukunft, sondern durch Vertrauen im Jetzt. Das scheint mir die Antwort zu sein, die der Dichter hier auf diese Frage gibt.
Wenn unsere jüdischen Schwestern und Brüder das Laubhüttenfest feiern, einmal im Jahr, dann bauen sie sich kleine Laubhütten, um sich an den Weg durch die Wüste zu erinnern. Die Laubhütten erinnern an die Zeit, als das Volk Israel in der Wüste lebte. Das ist ein sehr freudiges Fest und es dauert eine ganze Woche. Die gesamte Familie sitzt zusammen in diesen Laubhütten, morgens und abends, und singt und isst und trinkt und feiert. Die Baubestimmungen für diese Laubhütte sagen:
«Baue die Wände so dünn, dass du die Nachbarn sehen kannst. Und baue das Dach so dünn, dass du die Sterne sehen kannst.»
Wenn wir so fest bauen, wie wir das gewohnt sind zu tun, dann muss Gott milde über uns zerbrechen, dass wir den Himmel schauen.
[Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 5-21; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (00:22-20:48)]
[Ergänzend:
1. Siehe die Fortsetzung des Textes / Vortrags mit der Frage: «Woran reifen wir?» in Reifen
2. ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke: Das Stunden-Buch):
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 ‒ Nachmittag:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(02:32) ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke, Das Stunden-Buch)
Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
1. Vortrag in thematische Brennpunkte aufgeteilt:
‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke)
Musik der Stille (2023): Laudes ‒ TAGESANBRUCH: 48f.; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 31-35:
«Die klösterliche Stunde der Laudes führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.
In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte. Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht:
‹Von deinen Sinnen hinausgesandt›, weist er uns an,
‹geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand›.
Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.
Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:
‹Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken
… Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.›
Und zum Abschied sagt er uns:
‹Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.›
Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: Sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.»
3. ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff):
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(18:46) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) und ein Brauch im jüdischen Laubhüttenfest
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat:
(30:39) Es wandelt, was wir schauen (Joseph von Eichendorff)
Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen — ‹Du bist’s, der, was wir bauen, mild über uns zerbricht› (Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen›): Die Hütten am Laubhüttenfest sind durchsichtig zu den Nachbarn und den Sternen
Erwachende Worte (2023): ‹Leiden›, 25:
«Leiden macht mir Angst, Du Quell der Seligkeit. Wo kommt es her? Doch nicht von Dir?
‹Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.›
Soll ich dann n i c h t lieben, um nicht leiden zu müssen am Scheiden?
Nein, ich will lernen, so zu lieben, dass meine Liebe furchtlos das Scheiden vorausnimmt, mit-liebt und so das Leiden ‹aufhebt› ‒ schultert, aber erlöst, hinaufgehoben zu Dir.
‹Du bist’s, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.›
Alles Schwere am Leid aus Liebe zu anderen mitzutragen, ist wohl jener Himmel. Ihn zeig mir. Amen.»]
_____________________
[1] Jetzt und ewiges Leben: Ergänzend 3.3.
[2] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8
[3] Siehe Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3. und 3.1.
[4] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 4.
Freude
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Freude ist jene Art von Glück, das nicht davon abhängt, was uns zustößt. Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt. Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist? Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein. Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade Jetzt geschenkt ist. Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.
Diese dankbare Freude macht uns glücklich, was immer auch sonst noch geschehen mag. Manchmal verstehen wir das falsch. Wir denken, Menschen seien dankbar, weil sie glücklich sind. Aber stimmt das denn auch? Wenn wir genauer hinsehen, werden wir feststellen, dass Menschen glücklich sind, weil sie dankbar sind. Wenn wir für alles dankbar sind, was uns gegeben wird, gleichgültig, wie schwierig, gleichgültig, wie unwillkommen es auch sein mag, dann wird die Dankbarkeit selbst zur Quelle unseres Glücks. Die Heiligen lehren uns das: Sie sind voll des demütigen Dankes für alles, was ihnen das Leben bringt. Selbstverständlich ist es oft schwierig, diese Haltung einzunehmen, wenn wir uns plötzlich in einer unangenehmen oder gar tragischen Situation befinden. Wenn wir aber mit einfachen Dingen beginnen, dann wird uns die Haltung der Dankbarkeit nach und nach zur zweiten Natur. Haben wir nicht Augen, die wir im Morgenlicht öffnen können? Haben wir nicht Ohren, um auf Geräusche zu hören, und Füße, um zu gehen, und Lungen, um zu atmen? Was für Geschenke! Sollten wir nicht dankbar sein und uns an ihnen erfreuen?
[ST 44f., Quelle: MS 5) 50f.]
Friede
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Was ist denn eigentlich «Friede»? Ist es nicht, wie die abendländische Philosophie des Mittelalters diesen Begriff verstand «tranquillitas ordinis», Stille, die aus Ordnung entspringt?
Freilich dürfen wir da nicht an Friedhofsstille denken und nicht an ein schulmeisterliches «Ordnung muss sein!»
FRIEDE ähnelt mehr der dynamischen Stille einer ruhig brennenden Kerzenflamme und wurzelt in jener allumfassenden Ordnung, deren Ordnungsprinzip die Liebe ist:
Liebe als gelebtes «Ja» zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller mit allen. Friede, so verstanden, bezeichnet weit mehr als eine geschichtliche Periode ohne Krieg. Wahrer FRIEDE bedeutet die harmonische Entfaltung der ganzen Fülle des Daseins. So wie in der Musik das Können eines Komponisten dissonante und konsonante Akkorde zu einer höheren Harmonie verbindet, so überbrückt und versöhnt der göttliche FRIEDE alle Widersprüche. Selbst Zwist und Eintracht dienen gemeinsam einem höheren Ganzen. Aus dieser Sicht können wir Gott den FRIEDEN nennen.
Und wir können diesen Frieden nicht nur in geruhsamen Zeiten erleben, sondern gerade auch dann, wenn im persönlichen wie im öffentlichen Leben «Blitz aus Blitz sich reißt», wie Joseph von Eichendorff singt:
«Schlag mit den flamm'gen Flügeln!
Wenn Blitz aus Blitz sich reißt:
steht wie in Rossesbügeln
so ritterlich mein Geist.
Waldesrauschen, Wetterblicken
macht recht die Seele los,
da grüßt sie mit Entzücken,
was wahrhaft, ernst und groß.
Es schiffen die Gedanken
fern wie auf weitem Meer,
wie auch die Wogen schwanken:
die Segel schwellen mehr.
Herr Gott, es wacht Dein Wille,
ob Tag und Lust verwehn,
mein Herz wird mir so stille
und wird nicht untergehn.»
Wenn ich fühle, «mein Herz wird mir so stille», dann habe ich meinen persönlichen Bootssteg gefunden fürs Hineinsegeln in den FRIEDEN Gottes. Mögen auch die Wogen dann schwanken, die Segel schwellen: Wo kann ich in meinem Alltag solche Bootsstege finden? Sie sind leicht zu übersehen und doch ist es so wertvoll, wenn wir sie entdecken.[1]
«So wünsche ich Euch also tiefe innere Stille.
Stille, tief genug, um zu hören, wie Erdreich sich zurechtlegt für die lange Winterruhe; dann wird auch Euer Seelengrund fest und ruhig werden.
Stille, tief genug, um zu hören, wie Wasser rieselt und in den Boden sickert; dann wird auch Euer Sinn sanft werden, gefügig und geheilt.
Stille, tief genug, um zu hören, wie von Sternen am Winterhimmel Silberfunken stieben und tief im Erdinneren Feuer tost; dann wird auch Euer Innerstes erglühen.
Stille, tief genug, um das Fallen einer einzigen Schneeflocke durch die stille Winterluft zu hören; dann wird die Stille in Euch sich verwandeln in eine große Erwartung.
‹Frieden!› verkündigte der Engel, aber Frieden nicht nur als Gabe, sondern als Aufgabe.
Nur wenn Stille uns beständig macht wie Erde,
wendig wie Wasser
und glühend wie Feuer
werden wir uns der Aufgabe stellen können, Frieden zu schaffen, und die Luft um uns wird rauschen von Flügeln helfender Engel.
Deshalb wünsche ich Euch jene tiefe innere Stille, die allein es uns erlaubt, ohne Ironie ‹Frieden auf Erden› zu erhoffen und uns ohne Verzweiflung dafür einzusetzen.»[2]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]
[Ergänzend:
1. Stillehalten, Stille zulassen, Tanz, der Sinn des Ganzen [Ergänzend: 3.2], und Ordnung, mit Auszügen aus Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Die Umwelt als Guru», 30f. und Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein», 103-105, 109:
«Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als ‹tranquillitas ordinis›, die Stille der Ordnung.»
2. Audios
2.1. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen (Königsfeld im Schwarzwald)
Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben und Diskussion
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2:
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort
2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›
3. Weitere Texte
3.1. «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Video Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]
3.2, Kann man die Bergpredigt in Realpolitik umsetzen?: Bruder David im Gespräch mit Mario Quintana im Buch Ambivalenzen: Im Spannungsfeld zwischen Kirche und Gesellschaft (2021):
«Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes heißen» (84f.)
«Freut euch, ihr Friedensstifter, denn ihr werdet Gottes Kinder heißen» (85f.)
3.3.. Bruder Davids Vorwort im Buch Brot und Gesetze brechen (2021):
«Die Sterne der Pflugscharbewegung, die in diesem Buch aufleuchten, können uns auf dem Weg zum Überleben der Menschheit zu Leitsternen werden, denn dazu brauchen wir heute dreierlei, und das verkörpern diese oft ganz einfachen Menschen vorbildlich: Einsicht, Betroffenheit und tatkräftigen Einsatz.»
3.4.. Der menschliche Geist ist eins (2021): Meditation von Bruder David 1975 im Dag Hammarskjöld-Auditorium der UN in Anwesenheit von führenden Persönlichkeiten der Weltreligionen; der Text ist dem Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Meditation «Der menschliche Geist ist eins», 147-152, entnommen:
«‹Einer ist der Menschen Geist›, aber der Menschengeist ist mehr als nur menschlich, denn das Herz des Menschen ist unauslotbar. In diese Tiefe lasst uns still unsere Wurzeln senken. Darin liegt unsere einzige Quelle des Friedens.
Nach einem kurzen Augenblick werde ich Sie einladen, wieder die Augen zu öffnen, und zugleich auch, sich in diesem Geist der Ihnen am nächsten stehenden Person zuzuwenden und ihr den Friedensgruß zu entrichten. Lasst unsere Feier in dieser Geste gipfeln und zum Abschluss kommen. Wir ermächtigen einander mit dem Friedensgruß in der Welt als Botschafter des Friedens zu wirken.
Der Friede sei mit Ihnen allen!»
3.5. Innerer und äusserer Frieden: Vortrag mit anschließendem Gespräch in Königsfeld (1992):
«Das wäre der erste Schritt: Was ist eigentlich Frieden im Verständnis unserer westlichen Tradition?
Der zweite Punkt wäre: Was steht dem Frieden entgegen? Was steht ihm gerade heute entgegen in der spezifischen Situation, in der wir uns heute befinden, in der Welt und in unserer Kultur, in unserer Welterfahrung, in unserem Welterleben?
Dann kommen wir zum dritten Punkt, und das ist eigentlich unsere Hauptfrage: Lässt sich der Frieden doch verwirklichen? Und wenn ja, dann wie?
Und wie gesagt, die Fragezeichen bleiben bestehen, aber durch Nachdenken können wir denen wahrscheinlich schon näherkommen.»]
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[1] 99 Namen Gottes (2019), 5 as-Salām, der FRIEDE, die Quelle des Friedens, 16f
[2] Weihnachtsgrüße 2004; der Text ist auch abgedruckt in Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Ein Wunsch», 160
Furcht
Text, Video und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Wir können dem Leben Vertrauen schenken oder uns fürchten. Die Wahl zwischen diesen beiden Grundhaltungen steht uns frei.
Zu welcher Option wir neigen, erweist sich ganz praktisch an unsrem Lebensmut im Alltag.
Das Gegenteil von Glauben ist ja nicht Zweifel oder Unglaube, sondern Furchtsamkeit.
Hier müssen wir wieder eine wichtige Unterscheidung beachten - nämlich zwischen Angst und Furcht.
Angst ist im Leben unvermeidlich, Furcht wählen wir selbst.
Das Wort «Angst» hat die Grundbedeutung «würgen» und ist mit dem lateinischen Wort «angustia» verwandt, das «Enge» bedeutet.
Das Leben treibt uns immer wieder einmal in die Enge. Dann können wir würgende Angst empfinden und stehen vor der Wahl zwischen Vertrauen und Furcht.
Das Vertrauen sagt, «Auch dies gehört zum Leben», erkennt die Gefahr und geht so ruhig wie möglich mit ihr um.
Im Gegensatz dazu gerät die Furcht in Panik und verschwendet ihre Energie daran, sich gegen die Angst zu sträuben: aus Furcht stellen wir unsre Widerstandsborsten auf ‒ und bleiben dadurch in der Enge stecken.
Wir dürfen aber dem Leben vertrauen; es wird uns schon irgendwie durch den Engpass durchbringen.
Wir sind ja auch durch einen engen Geburtskanal in diese Welt gekommen. Und jede noch so beängstigende Enge unsres Lebensweges kann zu einer neuen Geburt führen.
Im Rückspiegel unsres Lebens können wir sehen, dass aus Schicksalsschlägen, die uns erst große Angst bereiteten, dann doch ganz unerwartet gutes Neues geboren wurde.
Wir können, rückblickend auf solche Erfahrungen, Mut schöpfen, wenn unser Blick nach vorne keinen Ausweg erspähen kann.
Letztendlich läuft alles darauf hinaus, entweder darauf zu bestehen, dass das Leben so sein müsste, wie wir es uns wünschen, oder uns der Strömung des Lebens, wie es ist, anzuvertrauen ‒ nicht aber willenlos wie Treibholz, sondern wie Fische, die mit jeder Bewegung hellwach der Strömung antworten. [Orientierung finden (2021), 74f.]
(Video 39:31) Frage: «Wie erkenne ich, ob ich jetzt in Angst bin oder in Furcht?»
Bruder David: «Furcht sagt ‹Nein›, Furcht sagt immer ‹Nein›! ‒ ‹Nein, Nein, Nein, das will ich nicht›!
Angst sagt ein oft sehr zaghaftes ‹Ja›, aber doch ‹Ja ‒ es wird schon gehen ‒ es wird schon gehen› ‒ mindestens: Es ist ein Ausdruck des Vertrauens.
Den Unterschied fühlt man schon selber:
Sage ich jetzt mehr ‹Ja›, oder mehr ‹Nein› in diesem Augenblick?
Und wenn ich finde, dass ich mehr ‹Nein› als ‹Ja› sage, dann ist es Zeit zu sagen:
‹Erinnere dich doch! Du warst schon in so ähnlichen Situationen. Sträuben hilft nichts. Vertrauen bringt dich durch und kommt was Besseres heraus›.
Sich daran zu erinnern ist wichtig.» [Bruder David im Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019); Mitschrift des Vortrages]
(Videointerview 26:47) «An dem Beispiel der Flüchtlinge und der Flüchtlingskrise, in der wir leben, zeigt sich eigentlich recht schön, wie das im Praktischen ausschaut:
Aus der Furcht ‒ Furcht vor den Andern: Fremdenfurcht und Furcht, wir können es nicht bewältigen ‒ das ist ja auch eine Furcht ‒, sträubt man sich.
Die Angst ‒ ‹Wie sollen wir mit so Vielen auskommen, wie können wir das lösen?› ‒ diese Angst ist ganz verständlich, die sollten wir auch anerkennen.
Und zu behaupten: ‹Ich habe keine Angst›: Das ist auch nur eine Form, sich gegen die Angst zu sträuben, das ist auch Furcht.
Aber zuzugeben: ‹Ja, das ist wirklich beängstigend›, und dann zu sagen:
‹Aber das Leben hat uns in diese Situation gebracht, das Leben wird uns auch schöpferische Wege zeigen, mit dieser Situation umzugehen›:
Das ist schon der Ansatzpunkt, das ist schon ein ganz anderer Ansatzpunkt, der Kreativität erlaubt.
Es heißt noch nicht: ‹Ich weiß schon, was man da machen muss ‒, ich habe schon alles ausgedacht› ‒
‹Keine Ahnung, ich habe sogar Angst, dass mir gar nichts einfallen wird. Aber ich vertraue, ich sträube mich nicht. Diese Situation ist gegeben. Ich baue keine Zäune, das ist das Sträuben. Ich setze mich damit auseinander und gemeinsam werden wir irgendeine Lösung finden.›
Man braucht noch nicht das Rezept zu haben, man muss nur die Haltung haben, aus der früher oder später die Lösung sich entwickelt.
Vielleicht ganz ohne Rezept sich einfach entwickelt, weil man gewisse Grundsätze, zum Beispiel Ehrfurcht vor dem Andern: Das ist ja nicht nur Nummer 50364 von den Flüchtlingen, das ist ein Mensch mit einem ganz eigenen Schicksal ‒, dem trete ich ehrfürchtig entgegen und versuche gemeinsam:
‹Was können wir da machen?›
Und wenn genügend Leute fragen: ‹Was können wir da machen?› ‒ das ist schon ein Weg auf eine Lösung hin, wenn genügend Leute fragen.
… Aber das Gegenteil ist, zu sagen: ‹Abschließen, Mauern, Zäune, niemanden mehr hereinlassen› …» [Videointerview mit Bruder David von Ramon Pachernegg (2017), siehe auch Transkription]
[Ergänzend:
1. FURCHT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 138:
«Furcht ist unser willkürliches Sträuben gegen unwillkürliche Angst. Auf den ersten Blick erscheint uns dieses Sträuben so selbstverständlich, dass wir es als unwillkürlich einschätzen.
Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass Angst unumgänglich ist, Furcht uns aber freisteht.
Zwar stimmt es, dass Angst spontane Körperveränderungen auslöst, die Lebewesen zu Kampf- oder Fluchtreaktionen bereitmachen. Kampf bezieht sich hier aber auf die Abwehr der Gefahr, nicht auf den Kampf gegen Angst, wie die Furcht es ist.
Durch Übung unsres Lebensvertrauens können wir lernen, Furcht gar nicht erst aufkommen zu lassen, wenn uns Angst ergreift.
Furcht bleibt in der Angst stecken und kann leicht zu Panikreaktionen führen. Eine furchtlose Lebenshaltung hingegen ermöglicht uns besonnenes und nüchternes Verhalten in beängstigenden Lagen und trägt viel dazu bei, diese zu bewältigen.»
2. Audio Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün und Johannes Kaup
Teil 2: Wer bin ich? ‒ Die Entdeckung des Selbst über Kontemplation:
(16:58) Hilfreich ist, Angst und Furcht zu unterscheiden
3. Weitere Texte
3.1. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview mit Bruder David von Evelin Gander:
«Die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht, die ich bei Ihrer Frage über Angst vor dem Tod angesprochen habe, kann jungen Menschen helfen. Die Lebensangst der Jungen entspricht der Todesangst der Alten.
Für beide gilt: Furcht sträubt sich gegen die Angst, stellt die Borsten auf, und bleibt so in der beängstigenden Enge stecken.
Wenn wir aber mutig auf die Angst zugehen und sie durchstehen, dann führt uns das Leben in ungeahnte, neue Weiten.
Dieses Erlebnis stärkt, wie kaum sonst etwas, unseren Lebensmut, aber in der Jugend haben wir vielleicht noch nicht bewusst diese Erfahrung gemacht. Wir brauchen Ältere, die uns darauf hinweisen – Lehrer.»
3.2. Von Augenblick zu Augenblick (2019): Interview mit Bruder David von Ester Platzer:
«Furcht ist das Gegenteil von Vertrauen und Glauben. Sie wird oft mit Angst verwechselt. Angst ist aber im Leben unvermeidlich. Wenn wir Angst haben, fühlen wir uns beengt. Es gibt jedoch die Möglichkeit, sich vor der Enge nicht zu fürchten und vertrauensvoll in diese hineinzugehen. Furcht fühlt sich an, als würde man Widerstand leisten, da stellt man die Borsten auf und bleibt stecken. Wenn man jedoch vertrauensvoll in eine beängstigende Situation hineingeht, kommt man auf der anderen Seite mit neuer Stärke hinaus.»
«Spiritualität ist Vertrauen ins Leben und damit das genaue Gegenteil von Lebensfurcht. Denn sich vor dem Leben zu fürchten, bedeutet auch, sich gegen das Leben zu sträuben. Der Dialog mit dem Leben ist letztlich also immer ein Dialog mit Gott.»
«Wenn wir ins Leben vertrauen, dann haben wir auch keine Furcht vor dem Tod oder dem Sterben. Der Tod gehört zum Leben dazu. Heutzutage ist das Sterben meistens verbunden mit Dingen, für die wir nicht dankbar sein können. Oft findet eine Entpersonalisierung statt, man wird einfach zu einer Nummer in einem Spital. Sterben gehört aber einfach zum Leben dazu, auch der letzte Augenblick wird nur ein Augenblick.»]
Fürchte Dich nicht
Interviews, Video, Text, und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Ronja Forster
«Eine der wichtigsten Unterscheidungen, auf die ich immer wieder hinweisen muss, ist die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht.
Angst ist unvermeidlich, besonders wenn wir es mit großen Gefahren wie dem Virus zu tun haben.
Sich fürchten heißt, sich gegen die Angst zu sträuben.
Das ist nutzlose Verschwendung von unserer Energie. Das können wir uns nicht leisten. Wir benötigen gerade bei hoher Gefährdung all unsere Energie, um konstruktiv mit der Gefahr umgehen zu können.
Wenn man mir sagt: ‹Hab‘ keine Angst!›, dann bemerke ich oft erst, dass reichlich Grund für Angst vorhanden ist.
‹Fürchte dich nicht!› ist etwas ganz anderes.
Je grösser die Angst, umso grösser der Mut, der sie furchtlos durchzustehen wagt.
Jede Gefahr fordert uns heraus, furchtlos durch die Enge unserer Angst hindurchzugehen, wie wir ja schon bei unserer Geburt die Enge des Geburtskanals überstehen müssen.
Durch Mut werden wir zwar die Angst nicht los, aber die Furcht bleibt uns erspart. Wir vertrauen auf etwas, das sich durch Lebenserfahrung immer wieder bewahrheitet:
Angst ist ein Tunnel, an dessen Ausgang uns eine neue Geburt bevorsteht.
Wenn wir heute mutig mit der Gefahr der Pandemie umgehen, dann ist noch gar nicht abzusehen, wieviel gutes Neues wir gemeinsam daraus machen können.
Der dringende Rat also, den ich Menschen mitgeben möchte, die sich vor dem Virus fürchten ist dieser:
‹Fürchte dich nicht!›
In der Bibel soll dieser Aufruf 365mal vorkommen. Ich hab’s nicht nachgezählt, aber es kann nicht schaden, uns an jedem Tag des Jahres mindestens einmal zuzurufen:
‹Fürchte dich nicht!›»
[Worum sich letzlich alles dreht: Bruder David im Interview vom Tyrolia Verlag kurz vor seinem 95. Geburtstag am 12. Juli 2021]
(Videointerview 34:44) «Mein innigster persönlicher Wunsch ist eigentlich, inmitten aller Angst die Furcht in mir selber zu überwinden und andern Menschen zu helfen, sich nicht zu fürchten.
Denn alles, was schief geht, entspringt dieser Furcht. Und wenn man zu Menschen freundlich ist – richtig freundlich sein –, dann nimmt man ihnen irgendwie die Furcht weg.
Die Angst kann man niemandem wegnehmen, nur die Furcht:
‹Sträube dich nicht!›
Und darum kommt es mir sehr viel drauf an, freundlich zu sein.
Ich hoffe immer, wenn ich in der Früh die Augen aufschlage, dass ich heute einmal Gelegenheit habe, wirklich jemandem was recht Liebes zu tun, was sie freut.
Und wenn wir uns freuen, bricht dieser Sträube-Mechanismus irgendwie zusammen und dann fürchten wir uns nicht.
Das ist schon der wichtigste Satz:
‹Fürchte dich nicht!›
Und den möchte ich selber verwirklichen und Andern dazu helfen.» [Videointerview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription]
[Ergänzend:
1. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Interview mit Bruder David von Evelin Gander:
«Sterben gehört ebenso zum Leben, wie Geborenwerden. Deshalb habe ich keine Angst vor dem Tod als solchem. Wenn der Apfel reif ist, fällt er ab vom Baum. Ausreifen zu dürfen ist ein großes Geschenk. Ich bin dankbar für die Gelegenheit, auch jetzt noch dazulernen zu dürfen im hohen Alter.
Was mir Angst macht, ist das Drum und Dran beim Sterben – das Kranksein, das ja meist dazugehört, vielleicht Schmerzen und jedenfalls der zunehmende Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten, der schon jetzt beginnt.
Aber ich weiß aus Erfahrung, dass wir uns nicht fürchten müssen vor den Engpässen, durch die das Leben uns führt. Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt dadurch in der Enge stecken.
Wenn wir aber unsere Angst zulassen und vertrauensvoll auf sie zugehen, dann führt das Leben uns hindurch, wie durch einen engen Geburtskanal. Wir können uns in diesem Vertrauen üben. Das ist eine gute Vorbereitung auf den Tod.»
2.1. Musik der Stille (2023): 129, 131, 136f.
«Wir haben Schwierigkeiten, uns die Angst vor der Nacht vorzustellen, unter der Menschen früherer Jahrhunderte litten. Wir machen einfach Licht, und die Dunkelheit ist weg. Aber wir wissen, wie Kinder unwillkürlich Angst vor der Dunkelheit haben, und manchmal überkommt auch uns die Angst, von der Schwärze verschluckt zu werden, wenn etwa der Strom ausfällt oder uns die Dunkelheit bei einer Wanderung in einer unwegsamen Gegend überrascht.
Im Wesentlichen ist unsere Furcht vor der Dunkelheit die Furcht vor dem Unbekannten. Und genauso, wie wir die äußere Dunkelheit fürchten, fürchten wir auch die Dunkelheit in den verborgenen Winkeln unserer Seele.
Die Furcht ist der Maßstab des Glaubens.
Furcht an sich ist nichts, solange ihr der Glaube um eine Nasenlänge voraus ist.
Je größer die Furcht, desto herrlicher der Mut des Glaubens, der sie überwindet.
Wenn wir die Höhen des Glaubens erklimmen wollen, müssen wir unsere Ängste geradewegs anschauen und sie auf die einfache, aber direkte Frage zurückführen:
‹Was macht mir eigentlich Angst›?
Wenn wir diese Frage stellen, geben wir unseren Ängsten Gestalt und definieren sie, und das nimmt ihnen die Macht. Alpträume üben nur so lange Macht über uns aus, wie sie undefiniert bleiben.»
2.2. Musik der Stille (2015): 134-136
«Das zentrale biblische Thema vom Reich Gottes ist ein Archetyp für die Welt, wie Gott sie wollte: ein Ort, an dem wir daheim sind und uns als Mitschöpfer betätigen. Wenn wir uns diesem Zugehörigkeitsgefühl zum Universum anvertrauen, geht alles gut, und wenn uns das Schlimmste zustößt, können wir sogar darin einen Sinn sehen.
Wenn wir jedoch dieses Vertrauen nicht haben und unserer Ängstlichkeit nachgeben, dann ist das Schlimmste bereits geschehen. Dann machen wir uns zu existentiellen Waisen in einer fremden Welt.
Letztlich haben wir die Wahl, im Universum zu leben und das Universum als das Zuhause anzusehen, das Gott für uns geschaffen hat, oder in Angst und Misstrauen zu leben.
Wir müssen uns entscheiden.
Das ist die wichtigste Entscheidung, die wir jeden Tag, den wir verleben, zu treffen haben. Wenn wir vertrauen, sind wir in Frieden; wenn nicht, werden wir es nie sein.
Eines jeden Herz stellt der Nacht diese Frage: Bin ich sicher und geliebt?
Wir müssen sie jedem, vor allem unsern Kindern vermitteln.
Wenn wir aufwachen, ohne dass irgendjemand uns diese Sicherheit vermittelt, dann ist es schwierig, überhaupt je in dieser Welt heimisch zu werden.
Jeder kennt solche unglücklichen Menschen, die nie Sicherheit und Liebe erfahren haben. Wenn uns niemand hilft, das Universum als unser göttliches Zuhause zu erfahren, dann sind wir alle, um eine eindrucksvolle Wendung Robert Heinleins zu gebrauchen, ‹Fremde in einem fremden Land.›»
3.1. Audios Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010): Im Oktober 2010 stellte Bruder David sein neues Buch «Credo: Ein Glaube, der alle verbindet» vor in Vorträgen in Freiburg im Breisgau, München und Wien. In diesen Vorträgen spricht Bruder David davon, dass unsere Vorurteile schwinden, je furchtloser wir uns Andern nähern:
Audio-Fokus aus dem Vortrag in München / (27:27) «‹Fürchte dich nicht› ‒ mein liebstes Bibelwort»
3.2. Audio-Fokus aus dem Vortrag 2010 ‒ Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden ‒ Fragerunde / (37:41) «‹Fürchte dich nicht› ‒ auch vor der Hölle nicht»]
Geben und Nehmen
Text und Audio-Vortrag von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
Du weißt nie, was als nächstes passiert, wenn du dich auf Abenteuer einlässt. Sobald es dir genügend Angst macht, verschließt du dich aber sofort wieder. Manchmal bewegen wir uns an einem einzigen Tag viele Male hin und her zwischen Geben und Zurücknehmen, zwischen Auf- und Zumachen.
Leben aber ist Geben-und-Nehmen, nicht Geben oder Nehmen. Krampfhaftes Luftschnappen ist eine Sache, natürliches Atmen eine andere.
Wenn wir Luft holen, dann nehmen wir uns die Lungen voll, wenn wir wieder ausatmen, dann geben wir die Luft wieder her.
Diese Balance zwischen Geben und Nehmen ist der Schlüssel für ein gesundes Leben. Tatsächlich ist Balance ein zu mechanisches Wort, um es auf die innige Verwobenheit dieses Gebens-und-Nehmens anzuwenden. Es handelt sich ja hier um ein Geben im Nehmen und ein Nehmen im Geben.
Ist das einmal klar, dann müssen wir nicht länger betonen, dass es hier nicht darum geht, Geben und Nehmen gegeneinander auszuspielen. Ganz und gar nicht. Wir stellen hier ein lebenspendendes Geben-und-Nehmen einem bloßen Nehmen gegenüber, das ebenso tödlich ist wie bloßes Geben. Es spielt kaum eine Rolle, ob du nur einatmest und dann die Luft anhältst, oder ob du nur ausatmest und es dabei bewenden lässt. In beiden Fällen bist du tot.
Die meisten von uns benötigen ziemlich viel Ermunterung zum Geben. So wie wir gebaut sind (oder vielmehr durch unsere Gesellschaft in eine verbogene Form gepresst wurden), fällt uns das Nehmen mehr als leicht.
Es könnte sich als guter Test erweisen, wenn du eine halbe Stunde lang darauf achtest, wie häufig du «ich nehme» und wie oft du «ich gebe» sagst.
Unsere Sprache verrät uns: Ich nehme Unterricht, ich nehme mir frei, ich nehme mir ein Zimmer, ich nehme mir ein Taxi, ich nehme mir die Freiheit, ich nehme mir das Recht, ich nehme ein Bad, ich nehme einen Drink, ich nehme Urlaub, ich nehme, nehme, nehme, und wenn ich schließlich müde bin von all dem Nehmen, dann genehmige ich mir ein Schläfchen.
Zumindest versuche ich das, bis ich herausfinde, dass ich kaum einschlafen werde, bis ich mich jenem Schläfchen hingebe und es dem Schläfchen gestatte mich zu nehmen.
Und doch sind einige von uns dermaßen auf das Nehmen ausgerichtet, so unfähig, sich selbst zu geben, dass wir uns mit Schlaftabletten außer Gefecht setzen müssen, damit das arme Schläfchen eine Chance bekommt uns zu nehmen.
[FN 1) 62f.; 2-5) 64f.; 6) 66f.]
[Ergänzend:
1. Der Mönch in uns (1978):
«Wenn wir uns dem Sinn hingeben, dann müssen wir uns völlig geben, und wir wissen ja, wie schwierig es für uns ist, uns völlig hinzugeben. Wenn Sie daran zweifeln, dann beobachten Sie einmal Ihre Sprache, und stellen Sie fest, wie oft Sie täglich idiomatische Redewendungen gebrauchen, die die Bedeutung haben: ‹Ich nehme dies› und ‹Ich nehme das›. Wir haben keine Redewendung, die bedeutet: ‹Ich gebe mich etwas hin›. Wir nehmen an einem Kurs teil, an einem Examen, wir nehmen eine Tablette, eine Mahlzeit, ein Bad, wir nehmen Platz und nehmen alles Mögliche, was man überhaupt nicht nehmen kann ‒ einen Mann, eine Frau, einen Mittagsschlaf. (Wenn Sie jemals versucht haben, einen Mittagsschlaf zu ‹nehmen›, dann war es der sicherste Weg in die Schlaflosigkeit. Aber sobald man sich dem Mittagsschlaf hingibt, schläft man auch schon).»
2. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
Bruder David: «Es gibt ein kurzes Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer ‹Der römische Brunnen›. Da ist das alles drinnen»:
«Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.»
Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille: Geleitwort und Epilog, in: Michael Fischer (Hrsg.): «Buch der Ruhe und der Stille: Inspirationen aus dem Geist der Klöster», Freiburg / Basel / Wien, Herder 2003, 183f.
«Der Kreislauf, in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen»:
«… und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.»
3. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(3. Juni 2011) Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(28:28) Rohr oder Flasche: zwei Weisen zu leiten ‒ ,Und strömt und ruht‘ (C. F. Meyer, der römische Brunnen): geben und nehmen am Beispiel der Fußwaschung Jesu]
Gebet ‒ drei Innenwelten
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Gebet im Unterschied zu Gebeten
Der Rosenkranz, der «Engel des Herrn» und das Jesusgebet ‒ das sind einige der Gebete, die ich am nährendsten finde. Es sind bei Weitem nicht die einzigen, sondern eben nur diejenigen, die sich am leichtesten beschreiben lassen. Wie könnte ich jemals richtig damit anfangen, Ihnen zu erklären, was mir die monastischen Stundengebete bedeuten? …
Aber wir sind dann immer noch im Bereich des formellen Gebets und das formelle Gebet ist wie ein kleiner Eimer, aus dem ein Kleinkind immer und immer wieder ein bisschen etwas aus dem Meer des Gebets herausschöpft und ausgießt.
Der schwarze Humus, in dem das formelle Gebet gedeiht, ist die informelle Gebetshaltung. Die (formellen) Gebete lassen sich vom (informellen) Gebet zwar nicht trennen, aber wir müssen zwischen beiden unterscheiden und uns für einen Augenblick auf das Gebet als innere Einstellung konzentrieren, statt es als äußerliche Gebetsform zu betrachten.
Wenn ich das tue, stelle ich fest, dass ich in drei Gebetshaltungen hinein- und wieder herausgerate, die derart verschieden voneinander sind, dass ich sie als völlig unterschiedliche Gebetswelten empfinde.
«Wort» ‒ der Schlüssel zum Gebet «Vom Worte Gottes leben»
Meinen Schlüssel zur ersten dieser inneren Welten nenne ich «Wort».
Damit meine ich nicht ein bestimmtes Wort oder bestimmte Worte, sondern die Entdeckung, dass jedes Ding, jeder Mensch und jeder Umstand, ein von Gott an mich gerichtetes Wort ist.
Dessen Botschaft begreife ich durchaus nicht immer, aber ich weiß, dass ich sie erfasse, wenn ich mit den Ohren meines Herzens wirklich intensiv darauf höre.
Der heilige Benedikt bezeichnete dieses tiefe, bereitwillige Hören als «Gehorsam».
Wir verstehen unter Gehorsam oft nur das Gefügigsein gegenüber einem Befehl. Aber damit würden wir Gott zu einer Art von überdrehtem Feldwebel machen, der ständig seine Kommandos brüllt. Meiner Erfahrung nach erteilt Gott die meiste Zeit keine Befehle.
Gott singt eher und ich antworte ihm mit Singen.
Das Singen, das ich meine, kann so jubelnd sein wie das Rot einer von Gott gemachten Tomate oder das Sirren eines Drachenfliegers oder das Plantschen von Kindern in einem Becken.
Das Singen ist die fröhliche Antwort meines Herzens.
Aber Gottes Singen kann auch so schwer wie der Duft der Lilien in einem Leichenhaus sein, so schwer wie die Nachricht von der Trauer eines Freundes.
Gottes Singen kann so leicht sein wie Harfenmusik oder ein Frühjahrsausflug, so traurig wie das Heulen eines Nachtzugs oder der Inhalt der Abendnachrichten.
Es kann fröhlich, bezaubernd, herausfordernd, amüsierend sein.
Wenn wir aufmerksam genug hinhören, können wir in allem, was wir erfahren, Gott singen hören.
Unser Herz ist ein hochempfindlicher Empfänger; es kann mittels aller unserer Sinne horchen.
Was immer wir hören, aber auch alles, was wir sehen, schmecken, berühren oder riechen, vibriert im Tiefsten im Einklang mit Gottes Lied.
Wenn man in dieses Lied mit Dankbarkeit einstimmt, nenne ich das ein Zurücksingen.
Diese Gebetshaltung hat allen meinen Sinnen und meinem Herzen schon viel Freude gemacht. [Auf dem Weg der Stille (2016), 14-16]
Die biblische Dimension im Gebet «Vom Worte Gottes leben»
Wo das Wort so zentral ist, wird der Antwort eine große Bedeutung zugemessen:
Von daher wird in der abendländischen Tradition der Spiritualität die Antwort so betont. Das «Leben mit dem Wort» stellt eine ganze Welt des Gebets dar, das typischerweise dem biblischen Glauben an Gott entspringt, der spricht.
Und die Aufgabe, «mit dem Wort zu leben», impliziert viel mehr als bloß die Vorstellung, dass Gott sein Wort im Sinn eines Befehls spricht, den der gläubige Mensch dann ausführt.
Die volle religiöse Dimension impliziert, dass wir «von jedem Wort leben, das aus Gottes Mund kommt».
Aber wir sollten hier das Wort auch in seinem weitesten Sinn verstehen.
Da alles und jeder Mensch und jeder Umstand von dem Gott, der spricht, stammen, ist die ganze Welt Wort, von dem wir leben können.
Wir brauchen nur zu «kosten und sehen, wie gut Gott ist».
Das tun wir mit allen unseren Sinnen.
Mit allem, was wir schmecken oder berühren, riechen, hören oder sehen, kann Gottes Liebe uns nähren.
Denn das eine erschaffende und erlösende Wort[1] wird uns immer wieder auf neue Weisen zugesprochen.
Gott, der die Liebe ist, hat in alle Ewigkeit nichts anderes zu sagen als «Ich liebe dich!»
Gott sagt das auf immer neue Weisen durch alles, was ins Sein kommt. Wir aber «essen das alles auf»; oder wie wir von einem Buch sagen: «Ich habe es geradezu verschlungen, von Anfang bis Ende!»
Wir assimilieren diese Nahrung und sie wird unser Leben.
Wir leben aus ihrer Kraft. Wir werden Wort. [Auf dem Weg der Stille (2016), 32f.]
Schweigen ‒ der Schlüssel zum Gebet der Stille
Eine vollkommen andere innere Welt des Gebets, in der ich mich auch daheim fühle, ist die, zu der das Schweigen die Tür öffnet ‒ das nicht nur von den Ohren wahrgenommene Schweigen, sondern auch die Stille des Herzens, das lichtvolle innere Stillsein, das der Stille eines windstillen Tages mitten im Winter gleicht.
Dieses Schweigen glänzt wie jungfräulicher Schnee im Sonnenlicht.
Das ist dann wie an Tagen, an die ich mich noch aus meiner Kindheit in den österreichischen Alpen erinnere.
Oder es ist wie das Schweigen zwischen einem aufzuckenden Blitz und dem auf ihn folgenden Donnergrollen, also in der kurzen Zeit, in der man den Atem anhält.
Auf einer Insel in Maine in Neuengland fand ich einmal an der Granitküste kleine Gezeitentümpel, in denen das Wasser so still und klar stand, dass ich auf ihrem Grund die feinen, wie festliche Wimpel wehenden Fasern von Seeanemonen sehen konnte.
Noch viel durchsichtiger ist der innere Raum, den das Schweigen erschließt.
Den Schlüssel dazu finde ich nicht immer, aber wenn, dann trete ich einfach ein.
Schon das bloße Darinsein ist Gebet. [Auf dem Weg der Stille (2016), 16f.]
Die buddhistische Dimension im «Gebet der Stille»
Die Betonung des Wortes ist in der christlichen Spiritualität sehr stark. Deswegen sind sich sogar manche gläubige Christen kaum dessen bewusst, dass es innerhalb ihrer eigenen Tradition auch noch andere Gebetswelten zu erkunden gibt.
Eine von ihnen ist als das «Schweigegebet» bekannt.
Dabei wird das Schweigen selbst für uns zum Gebet.
C. S. Lewis war im Einklang mit der altchristlichen Tradition, als er von Gott als einem ‹Abgrund des Schweigens› sprach, in den hinein wir immer und immer wieder unser ganzes Denken werfen können und nie ein Echo zurückkommen hören werden.
Aber dieser schweigende Abgrund ist paradoxerweise zugleich auch der göttliche Schoß, aus dem das ewige Wort hervorkommt.
Ein frühchristliches Sprichwort bringt das so zum Ausdruck:
«Wer Gottes Wort zu hören vermag, kann auch Gottes Schweigen hören.»
Beides ist untrennbar verbunden.
Heute gibt es immer mehr Christen, die von sich aus das Schweigegebet entdecken. Zuweilen können sie sich ihren Hunger nach Schweigen gar nicht richtig erklären, diesen tiefen Wunsch danach, sich einfach in die stille Tiefe Gottes hineinsinken zu lassen.
Sie sind sich gar nicht dessen bewusst, dass sie von allein ihren Weg in einen uralten, zeitlos gültigen Bereich des christlichen Gebets gefunden haben.
Sie würden sich noch mehr wundern, wenn sie erfahren würden, dass sich dieser Bereich tatsächlich als die buddhistische Dimension der biblischen Tradition bezeichnen lässt. Dabei sind das Wort und das Schweigen, wie bereits erwähnt, untrennbar miteinander verbunden. [Auf dem Weg der Stille (2016), 33f.]
Verstehen im Tun ‒ der Schlüssel zum Gebet Kontemplation im Handeln
Der Schlüssel zu einer dritten Innenwelt ist das Tun, das liebevolle Tun.
Der Unterschied zwischen dem Gebet des Tätigseins, und diesem Schweigen oder Wort ist tatsächlich riesig.
Hier bin ich mit Gott nicht durch Hören und Antworten und auch nicht durch Eintauchen ins Schweigen in Kontakt, sondern durch Tätigsein.
Alles, was ich mit Liebe zu tun vermag, kann zum Gebet des Tätigseins werden.
Es ist zudem gar nicht notwendig, dass ich während der Arbeit oder beim Spielen an Gott denke. Zuweilen dürfte das sowieso kaum möglich sein.
Wenn ich zum Beispiel ein Manuskript korrigiere, ist es besser, ich konzentriere mich ganz auf den Text statt auf Gott. Wäre mein Geist zwischen beidem hin und her gerissen, so würden mir die Druckfehler wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz schlüpfen. Gott wird genau in der liebevollen Aufmerksamkeit anwesend sein, die ich der mir anvertrauten Arbeit zuwende.
Indem ich mich voll und liebevoll dieser Arbeit widme, gebe ich mich voll und ganz Gott hin.
Das geschieht nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Spiel, etwa wenn ich Vögel beobachte oder einen guten Video ansehe.
Wenn ich mich in Gott darüber freue, wird sich bestimmt auch Gott in mir darüber freuen.
Macht nicht diese Kommunion, diese innige Verbindung das Wesen des Gebets aus? [Auf dem Weg der Stille (2016), 17f.]
Die hinduistische Dimension im Gebet «Kontemplation im Handeln»
Genau wie man das Stillegebet als die buddhistische Dimension der christlichen Spiritualität bezeichnen kann, so lässt sich die Kontemplation im Handeln als deren hinduistische Dimension bezeichnen.
Zugegeben, dies alles stelle ich aus meiner eigenen Sicht vor, die christlich ist. Aber welche andere Wahl hätte ich denn?
Würde ich versuchen, völlig von meiner eigenen religiösen Sinnsuche abzusehen, so würde ich die Berührung mit genau der Wirklichkeit verlieren, die ich genauer erkunden möchte.
Ich wäre dann wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen und genauso wenig Freude, Leben oder Religion.
Es ist nichts Falsches daran, wenn man vom Inneren einer Tradition her spricht, solange man nicht seine eigene Sichtweise verabsolutiert, sondern diese in ihrer Beziehung zu allen anderen sieht. [Auf dem Weg der Stille (2016), 39f.]
[Ergänzend:
1. Video: Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), sowie die Transkription von Werner Binder †:
«Beten ist wie in einen Raum eintreten.»
«Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.»
2. Audios:
2.1. Audio-Vortrag Fragen in Wendezeiten (2010)
Fragerunde
(16:10) Drei Welten des Gebetes: Das Gebet der Stille – ‚Vom Wort Gottes leben‘ – ‚Contemplatio in actione
2.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 9f.:
(48:28) «Und wir haben in unserer westlichen Tradition, diese drei Wege, uns mit dem Göttlichen auseinanderzusetzen, in den drei großen Welten des Gebetes.
Da gibt es das Gebet der Stille:
Da lassen wir uns einfach nur hinab, in die Tiefe, in die Tiefe des Schweigens.
Das ist unsere westliche Art des Buddhismus. Denn im Buddhismus geht alles um das Schweigen. Wir können uns das schwer vorstellen, aber wer Buddhismus studiert, findet, dass im Buddhismus das Schweigen so wichtig ist wie bei uns das Wort.
(49:14) Und dann haben wir die ‹Amen-Traditionen› das Judentum, das Christentum und den Islam. Ich nenne sie ‹Amen-Traditionen›, weil die das Wort ‹Amen› alle gemeinsam haben.
Das ist sehr wichtig, denn Amen ist die Antwort auf die ‹Amunah› Gottes, und die ‹Amunah› Gottes ist die Verlässlichkeit. Amen ist der letzte tiefste Ausdruck des Glaubens:
‹Wir verlassen uns› ‒schön ausgedrückt im Deutschen ‒, ‹auf die Verlässlichkeit Gottes›, auf die ‹Amunah›.
Das Gebet, das für diese Traditionen gilt, ist: ‹Vom Worte Gottes leben›.
Jedes Wort Gottes ist lebensspendend.
Alles, was es gibt, ist Wort Gottes.
Und jeder von uns ist ein Wort Gottes, ein ganz einzigartiges Wort Gottes. Und wir unterscheiden uns von den anderen Worten Gottes dadurch, dass wir erst das Wort Gottes werden müssen. Durch unsere eigene Hingabe.
Ein Hund spricht immer gütig, liebend ein vollkommenes Wort Gottes.
Derjenige, der den Hund an der Leine führt, muss erst dieses Wort Gottes werden.
Da können uns die Hunde viel lehren. Auch die Katzen übrigens und die Kühe. Wir können sehr viel von den Tieren lernen.
Wir müssen das Wort werden:
Das ist eine weitere Welt des Gebetes: ‹Vom Wort Gottes leben›.
(50:54) Und das dritte heißt traditionell ‹Contemplatio in actione›, das heißt, durch das Tun Gott finden. Durch das Tun Gott finden. Und nicht während des Tuns, sondern: Im Tun.
So liebend, so lebendig, so kreativ im Handeln, dass Gottes Liebe, Gottes Lebendigkeit, Gottes Schöpferkraft durch uns durchfließt.
Und jeder von uns kann das tun, nicht nur die großen Künstler und großen Musiker, sondern jeder von uns ist dazu aufgerufen, dieses Gebet zu beten.
Und wir können es, indem wir liebend und schöpferisch handeln, was immer unsere Aufgabe ist.
Und so wie das Gebet der Stille uns mit den Buddhisten verbindet, so verbindet uns, das Gebet: ‹Vom Wort Gottes leben›, mit den anderen ‹Amen-Traditionen›, mit den Juden und mit den Muslimen. Und die ‹Contemplatio in actione›, mit dem Hinduismus.
2.3. Audio-Vortrag Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(28:29) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in drei Gebetsformen: ‚Vom Worte Gottes leben‘: Wir selber sind Wort Gottes, ausgesprochen und angesprochen und müssen das werden, was wir sind / (31:08) Das Gebet der Stille und Gott im Tun finden (‚Contemplatio in actione‘) / (33:10) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens im Unterschied zum Pantheismus.
2.4. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993):
Vortrag:
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: Das ist es in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita).
3. Weitere Texte:
3.1. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 67-78, 79-80:
In diesem Seminar geht Bruder David ebenfalls auf die drei Innenräume des Gebetes ein und setzt das Gebet der Stille in Beziehung zum Glauben, das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Beziehung zur Hoffnung und Kontemplation im Handeln in Beziehung zur Liebe.
3.2. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«Dazu muss man zunächst auf die drei großen Welten des Gebetes hinweisen, die es in der christlichen Tradition gibt:
Das Gebet der Stille, von dem C.S. Lewis sagt, ‹wenn wir unsere Gedanken immer und ewig in diesen Abgrund der Stille hinabwerfen, der Gott ist, werden wir nie ein Echo zurückhören›. Das ist das Gebet der Stille, nichts darüber zu sagen. Aber eine ganze Welt des Gebets in der christlichen Tradition, eine ganz wichtige.
Die zweite ist, vom Worte Gottes leben, die Liebe Gottes durch alles zu erfahren, das ist vom Wort Gottes leben.
Und das dritte ist Contemplatio in actione, die Aktion, das Tun, und zwar nicht Kontemplation üben, während wir etwas tun – das kann sehr gefährlich werden, wenn es etwas Heikles ist, was wir tun und wir haben unsere Gedanken irgendwo anders –, sondern im Tun Gott finden. Im liebenden Tun erleben wir von innen her die Liebe Gottes, die durch uns fliesst. Und das ist Contemplatio in actione.»
3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:
Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)
Stillehalten Das Gebet der Stille in Beziehung zu Hoffnung
Kontemplation im Handeln in Beziehung zu Liebe
3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67
In diesem Vortrag geht Bruder David grundlegend ein auf die drei Dimensionen Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen im Tun in denen wir Sinn erfahren. Bruder David führt uns ein in eine Gesamtschau, mit der wir die Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten aller religiösen Traditionen erfassen können.
Die Gesamtschau, die Bruder David eröffnet, weitet unser Beten in einen Resonanzraum mit der Menschheit zu allen Zeiten und Religionen weltweit. Der Blick auf die Unterschiede und das Verbindende der Religionen weitet, vertieft und stärkt unser eigenes Beten.
Bruder Davids Gesamtschau weitet uns selber: wir spüren, wie sehr unser Durst nach Sinn uns in diese drei Erfahrungsräume zieht und wir aus ihrer Weite und Kraft leben wollen. Und in diesem Spüren werden unsere Gebete zum Gebet, nach dem wir uns sehnen.
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens[2] folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.»
«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben.› Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben.» (38)
«In Dankbarkeit vom Worte Gottes leben, das ist bei weitem die am vielfältigsten gepflegte Form unseres Gebetes in der biblischen Tradition. Aber es gibt auch bei uns, und darauf haben wir im Bezug auf den Buddhismus hingewiesen, das Gebet der Stille, das Sich-Versenken ins Mysterium. Buddhisten erkennen sehr gut, dass das Gebet der Stille in der christlichen Tradition unsere buddhistische Dimension sei. Sie sagen etwa von Johannes vom Kreuz: Das ist ein Buddhist! ‒ Warum auch nicht?
Nun kommt aber zu diesem Gebet der Stille und zu dem ‹Vom Worte Gottes leben› die meditatio in actione, das Gott im Tun finden hinzu. Diese drei sind ja gar nicht voneinander zu trennen.
Weil unser Gebetsleben Teilnahme ist am Leben des dreieinigen Gottes, sind diese drei Dimensionen bei aller möglichen Unterschiedlichkeit der Akzentsetzung untrennbar miteinander verbunden in unserem Gebet.
Nur so kann unser Herz in Wort, Schweigen und Verstehen[3] jenen tiefsten Sinn finden, nach dem es so dürstet.
Nur so können wir eintreten in das Geheimnis des lebendigen Gottes, von dem Paulus sagt, dass wir in ihm leben, uns bewegen und sind.» (56f.)]
______________________
[1] Martin Buber in der Erzählung von Rabbi Sussja
[2] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)
[3] «… Das wahre Selbst ist also das erkennende Selbst, das selbst nicht mehr erkannt werden kann, denn das Erkennen kann zutiefst nur im Vollzug der Erkenntnis erkannt werden.
Das ist nun das Entscheidende; das Verstehen ist jene Tätigkeit, die wir nur im Vollzug verstehen können. Was es heißt zu verstehen, das müssen wir von innen her verstehen. Es von außen her verstehen ist noch kein richtiges Verstehen des Verstehens. Man versteht nur, was verstehen heißt, indem man eben etwas versteht. Aber dieses Etwas ist nicht das Verstehen selbst. Der Sehende sieht ja nicht sein Sehen. Es geschieht im Sehen, dass wir sehen, es geschieht im Verstehen, dass wir verstehen. Indem wir uns ergriffen dem Wort hingeben und uns so in das Schweigen führen lassen, erkennen wir im lebendigen Vollzug des Verstehens unser wahres Selbst. Das Verstehen ist unser innerstes Selbst als lebendiger Vollzug.» (53)
Geheimnis
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Was meinen wir eigentlich, wenn wir Gott sagen?
Ich vermeide so weit wie möglich dieses Wort, denn es wurde auf vielerlei Weise missbraucht und führt daher allzu leicht zu Missverständnissen. Was aber kann es ‒ richtig verstanden ‒ für Menschen heute noch bedeuten?
Eigentlich das, was von Anfang an damit gemeint war. Das kennt jeder Mensch aus eigener Erfahrung:
Das Wort «Gott» weist auf das Geheimnis hin, mit dem unser menschliches Bewusstsein unumgänglich konfrontiert ist.
Was «Geheimnis» bedeutet, das lässt sich recht klar umschreiben:
Es ist jene Wirklichkeit, die wir nicht begreifen, nicht in den Griff bekommen, die wir aber verstehen können, indem wir uns von ihr ergreifen lassen.
Der Unterschied zwischen begreifen und verstehen kann uns vielleicht am Beispiel von Musik bewusst werden. Es ist zugleich der Unterschied zwischen wissen und erleben.
Was wir über ein Musikstück wissen ‒ etwa wer es wann und unter welchen Umständen komponiert hat und wie es musiktheoretisch aufgebaut ist -, das kann uns in mancher Hinsicht nützlich sein, das Eigentliche der Musik aber bekommt solches Wissen nie in den Griff. Wir können ein Stück nur verstehen, wenn wir es hören und davon ergriffen werden.[1]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
DU rührst mich an durch alles, was mich berührt, am tiefsten aber berührt mich Musik. Sie lässt mich auch am deutlichsten erfahren, was es heißt, dich zu verstehen, DU unbegreifliches Geheimnis.
Begriffliches Begreifen ist etwas ganz anderes als dieses Ergriffenwerden durch Musik, das mich sie verstehen lässt, mich ganz drinstehen lässt durch meine Ergriffenheit.
Ich will heute wenigstens kurz irgendwann Musik anhören.
Letztlich ist aber alles, was es gibt, geheimnisvoll wie Musik.
Gib mir Mut, meine Rüstung abzulegen und mich ergreifen zu lassen.
Amen.»[2]
Was uns so in Bezug auf Musik bewusst werden kann, das gilt auch für das Leben als Ganzes:
Es bleibt unbegreiflich, aber in Augenblicken der Ergriffenheit - zum Beispiel bei Gipfelerlebnissen ‒ können wir den Sinn ahnend verstehen, weil wir mittendrin stehen und nicht als Beobachter davon abgesetzt. In dieser Hinsicht ist das Leben zugleich Bild für das große Geheimnis und mehr als Bild ‒ es ist unsere Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Geheimnis schlechthin, also mit Gott.
Weil ich wissen wollte, wie weit verbreitet ein solches Verständnis ist, machte ich ein Experiment: Ich gab bei Google die Worte ein: «Leben heißt …»
Dadurch ließ ich sozusagen einfach irgendjemanden zu Wort kommen. Was ich fand, waren Eintragungen wie «Leben heißt Veränderung», «Leben heißt kämpfen, leiden, lieben, loslassen, nicht zu warten, sterben lernen.»
Sind nicht all diese Erfahrungen Begegnungen mit einem letzten Geheimnis?
Wer das Wort Gott richtig verwendet, meint damit eben dieses überragende Geheimnis.
In diesem Sinn ist unser menschliches Leben unvermeidlich Gottesbegegnung, ganz gleich, ob wir das Wort «Gott» verwenden oder nicht.
An Gott glauben heißt ja nicht, für wahr halten, dass es Gott gibt. Welcher Mensch könnte denn das Geheimnis (und damit Gott) überhaupt leugnen?
Beim Glauben geht es nicht um die Frage, ob es Gott (= das Geheimnis) gibt.
Es geht vielmehr darum, ob Lebensvertrauen unsere Lebensangst überwindet.
Glaube ist ein Sich-Verlassen auf das Geheimnis ‒ auf Gott, auf das Leben.
Dieses Urvertrauen können wir aus Furcht verweigern, oder wir können es mutig verwirklichen durch ein immer neu gelebtes Ja zum Leben.[3]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Mit dir bin ich untrennbar verbunden und durch dich mit allem, was es gibt.
Doch ich erlebe Versuchung ‒ Bedrohung dieses Eingebettet-Seins:
Ich vergesse es manchmal. Aus Vergessen wird Entfremdung und die nimmt mir mein Lebensvertrauen.
Dann klammere ich mich aus Furcht an Vergangenes oder Zukünftiges.
Aber Lebensfülle ist nur in der Gegenwart.
Lass mich heute mangelnde Achtsamkeit schnell als Faulheit erkennen, rüttle mich wach und führe mich ins Jetzt zurück, wo DU mir entgegenwartest, um ‒ mitten im Alltag ‒ Leben in Fülle zu feiern.
Amen.»[4]
Das Ja zum Leben ist zugleich ein Ja zum DU ‒ zu jedem DU, das uns im Alltag begegnet, und darüber hinaus zum Geheimnis als dem großen letzten DU.
Ein Gottesverständnis, das nicht von Spekulation ausgeht, sondern von tiefster menschlicher Erfahrung, überwindet den Dualismus ‒ wir hüben, Gott drüben ‒, fällt aber deshalb nicht notwendigerweise in das Missverständnis des Monismus, der für liebende Beziehung zu Gott keinen Raum lässt, weil alles eins ist.[5]
Richtig verstanden ist menschliche Gotteserfahrung weder monistisch noch dualistisch, sondern trinitarisch.[6]
Gipfelerlebnisse, in denen uns bewusst wird, dass wir mit allem eins sind, können zugleich Höhepunkte unserer tiefsten DU-Bezogenheit sein.
So erleben wir das große Paradoxon: Das Eine hat in sich Platz für Beziehung.
Schon mein Ich-Sagen setzt ja ein DU voraus, das mir ebenso unergründlich ist wie mein Ich. Beide sind im Geheimnis verwurzelt.
Diese innerste Bezogenheit auf das Geheimnis als DU gehört zu unseren menschlichen Grunderfahrungen. Sie ist nicht an irgendeine Periode der Geschichte gebunden.
Bei Bruder Klaus drückt diese Erfahrung sich so aus, dass er Gott als DU anruft.[7]
Das ist auch für uns heutige Menschen erlebnismäßig nachvollziehbar.
Unsere DU-Beziehung zum göttlichen Geheimnis hat zeitlose Gültigkeit.[8]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Unergründlich bist DU mir. Darf ich dich trotzdem so vertraulich DU nennen?
Aber auch engste Freunde bleiben mir ja geheimnisvoll und letztlich unergründlich.
Und doch: Freunde stehen mir gegenüber; in dich aber bin ich ganz eingetaucht ‒ nicht nur wie der Fisch im Wasser, sondern wie der Tropfen im Meer.
Macht dies eine DU-Beziehung nicht unmöglich?
Logik bricht da zusammen Mein Ich-Sagen setzt dich voraus als mein Ur-DU.
Heute will ich also manchmal innehalten und einfach ‹DU!› sagen ins unbegreifliche Geheimnis als mein Gebet.
Amen.»[9]
Nun ist aber neben «Gott» und «DU» «bitten» ein drittes Schlüsselwort im ersten Satz des Gebetes von Bruder Klaus.
Da stellt sich die Frage: Können auch wir noch mit der gleichen, nicht hinterfragten Ursprünglichkeit Gott um etwas bitten?
Ich glaube, das können wir, solange wir dabei nicht in den Irrtum verfallen, dass Gottes Geben von unserem Bitten abhängig ist.
Echtes Bitten drückt eigentlich unser vertrauensvoll vorweggenommenes Danken aus.
Das zeigt sich schon, wenn wir einen Mitmenschen um etwas bitten. Wir sagen damit eigentlich: Ich vertraue darauf, dass du meine Bitte gewähren wirst, aber ich nehme das nicht als gegeben hin, sondern ich weiß es zu schätzen.
Mit der gleichen Haltung können wir das große DU um etwas bitten.
Alles, was «ES gibt», schenkt uns ja das große Geheimnis.
Denn worauf verweist das Wörtchen «ES», wenn nicht auf den geheimnisvollen Urgrund, der uns alles schenkt, was «ES gibt»?
Im Hinblick auf unsere persönliche Beziehung zum Geheimnis sehen wir es als DU an; im Hinblick auf alles, was es gibt, sprechen wir vom Geheimnis als Quellgrund und Mutterschoß von allem, was uns zufließt, zuwächst und geschenkt wird.
Ein und dasselbe Geheimnis (auch Gott genannt) begegnet uns als DU und als ES.
So leuchtet es ein, dass wir dem DU danken für alles, was ES gibt, und es, den Dank vorwegnehmend, um alles bitten.[10]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Schon beim Aufwachen rufe ich spontan Deine Hilfe an, wenn mir das Aufstehen schwerfällt.
Aber was meine ich damit eigentlich?
Ich weiß doch, dass DU mir alles schenkst, auch wenn ich nicht darum bitte.
Mein Vertrauen auf Deine Hilfe will ich ausdrücken.
Und Deine Hilfe ist nicht Mithilfe mit meiner Kraft.
Was ich meine Kraft nenne, ist nur mein Durchfließen-Lassen Deiner Kraft.
DU Lebensstrom meiner Lebendigkeit. Ströme DU also heute in allem, was ich tue, durch mich und durch alle, die mir begegnen.
Amen.»[11]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4, 8-11]
[Ergänzend:
1. Video Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4:
(16:10) «Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind:
Ich beginne mit der Einsicht – und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind.
Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens.
Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.
Und wenn ich sage: das große Geheimnis, so meine ich nicht irgendetwas Vages, sondern etwas, was jeder Mensch kennt und mit dem jeder Mensch täglich umgeht, und es kann fast definiert werden auf diese Weise – natürlich keine echte Definition, sondern eine Beschreibung:
Wir müssen uns täglich mit etwas auseinandersetzen, was man nicht begreifen kann, was man aber verstehen kann, wenn es einen ergreift.
Also da muss man zunächst auch die wichtige Unterscheidung zwischen Verstehen und Begreifen machen: Begreifen heißt in den Griff bekommen. Durch Begriffe machen wir uns die Welt untertan: Wir wollen begreifen.
Wir können aber – so groß auch unsere Hände sind – immer nur einen begrenzten Teil der Wirklichkeit in den Griff bekommen.
Die ganze Wirklichkeit, das Ganze, können wir aber verstehen, wenn es uns ergreift.
Und das Beispiel, das vielen Menschen leicht zugänglich ist, ist das Beispiel von Musik:
Niemand kann begrifflich das Wesen von Musik analysieren.
Wir können vieles über Musik sagen, aber was Musik wirklich ist, geht weit über alles hinaus, was man begrifflich erfassen kann.
Aber jeder von uns – oder gottseidank die meisten von uns – können Musik verstehen und sagen ganz ehrlich: Das verstehe ich – und sogleich: Das ergreift mich.
Wenn die Musik mich nicht ergreift, verstehe ich sie auch nicht.
Also, was mich ergreift, verstehe ich, und Musik ist ein gutes Beispiel unserer Begegnung mit diesem großen Geheimnis.
Es ist nur ein Teil, ist nur ein Beispiel, aber das ereignet sich in unzähligen Varianten jeden Tag und das lebenslang, dass wir immer wieder auf etwas stoßen, besonders natürlich in der Begegnung mit andern Menschen, was wir unter keinen Umständen begreifen, aber zutiefst verstehen können, wenn wir uns davon ergreifen lassen.
Und diese Auseinandersetzung mit dem Geheimnis also ist, was ich Religiosität nenne. Und die drückt sich jetzt in Religionen aus.
Und zwar kommen im Lauf der Geschichte tiefreligiöse Menschen immer wieder, die ihre – unsere – Begegnung mit dem großen Geheimnis durch Worte, durch eine Lehre, durch Moral – eine Ethik – und durch Rituale ihren Zeitgenossen zugänglich machen.
Und eine Religion ist die kulturelle Zugänglichmachung unserer allgemeinmenschlichen Religiosität durch eine Religion eben.»
2. Audios
2.1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018)
Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(11:26) «Jeder Mensch ist auf die Begegnung mit dem großen Geheimnis angelegt. Und das große Geheimnis begegnet uns zum Beispiel im Leben: Das Leben selber. Wir müssen das Leben meistern. Das heißt, wir müssen irgendwie auskommen mit diesem geheimnisvollen Ding, das uns da begegnet.
Und geheimnisvoll heißt: Wir können es nicht begreifen ‒ sonst ist’s nicht Geheimnis ‒, wir können es nicht begreifen: Kein Mensch kann das Leben begreifen, das heißt in den Griff bekommen, analysieren, begrifflich erfassen, aber wir müssen uns bemühen, das Leben zu verstehen: Das Geheimnis kann nicht begriffen, aber verstanden werden, und verstehen heißt, sich hineinstellen und sich ergreifen lassen.
Begriffe ergreifen. Und Bernhard von Clairvaux sagt ja: ‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.›
Und diese Ergriffenheit vom göttlichen Geheimnis erleben viele Menschen in der Natur, viele auch im Ritual in der Kirche, und sehr viele in der Musik.»
(13:52) «Wir verstehen das Unbegreifliche. Das erfahren wir und erlebt jeder Mensch an der Musik. Also eine wichtige Unterscheidung zwischen begreifen und verstehen.
Und mit jedem Menschen kann man darauf hin kommen zum Beispiel im Gespräch: Was ergreift dich?
Sehr häufig ist es die Natur, sehr häufig. Natürlich in unsern Gipfelerlebnissen: die Geburt eines Kindes, der Tod eines nahestehenden Menschen, Freundschaft usw..»
(18:02-21:09) «Und das erlebt aber jeder Mensch:
Das Leben spricht zu mir, wenn ich nur die Ohren aufmache.
Das Leben brüllt mich an, aber ich habe andere Ideen oder andere Pläne oder so.
Es schreit mich nur so an.
Und jetzt hinzuhorchen und zu antworten; und auf Gott hinhorchen ist immer ein Thema von der Bibel: auf Gott horchen: ‹Verhärtet Eure Herzen nicht.› Immer geht’s darum. ‹So spricht der Herr›, sagt jeder Prophet immer wieder: ‹Spruch des Herrn›: Also sich ansprechen lassen und sich diesem Anruf zu stellen, verantwortlich zu stellen, darum geht’s im Leben. Das Leben ist unser persönliches Leben ‒ also nicht so abstrakt ‒, unser persönliches lebendig sein, und Leben ist die Form, in der jeder Mensch die Gottesbegegnung erlebt.
(19:05) Wenn man sagt ‹Gott› ist man schon auf dem falschen Weg eigentlich ‒ meistens ‒, weil man dann oft immer dran denkt, das ist sowas da draußen. Und die wichtigste Aussage über Gott macht Paulus auf dem Areopag, im 17. Kp. der Apostelgeschichte, wo zu den Athenern sagt: ‹Eure eigenen Dichter haben Euch das ja schon gesagt› ‒ also nicht was Christliches oder Jüdisches: Das ist menschlich. Der Dichter hat Euch das gesagt: ‹In Gott leben wir, bewegen uns und sind›.
Also wenn irgendjemand von uns ‒ mich eingeschlossen, ich muss mich auch bemühen ‒, das Wort ‹Gott› hört:
Dass wir in Gott leben, uns bewegen und sind, fällt uns nicht als Erstes ein. Als Erstes ist das irgendwer da draußen. Da kann man sich nicht helfen. Aber wenn man ‹Leben› sagt, weiß man: ‹Im Leben leben wir, bewegen uns und sind›. Und das ist es, worum es geht, wenn Paulus über Gott spricht. So begegnen wir Gott, nicht irgendwo draußen. In allem, was wir erleben.
(20:27-21:09) Indem ich das gesagt habe, habe ich schon irgendwie gezeigt, wie die Religiosität ‒ also die Auseinandersetzung mit dem Geheimnis, typisch durch das Leben ‒, wie das verbunden ist und uns erst so richtig aufmerken lässt auf ganz wichtige Bilder und Einsichten aus unserer jüdisch-christlichen Tradition. Und so geht das Leuten mit anderen Religionen auch. Aber diese Auseinandersetzung mit dem Leben, die bleibt keinem Menschen erspart. Das hat man mit allen Menschen gemeinsam.»
(21:37) Frage: «Diese persönliche Beziehung zu diesem Geheimnis, zu diesem Gott: Ist sie mir geschenkt ‒ oder?»
Bruder David: «Nein, alles ist geschenkt, sagt ja auch Augustinus: ‹Alles ist geschenkt›, sagt er.»
Frage: «Und warum kriegen es dann manche nicht geschenkt?»
Bruder David: «Das gehört zum Geheimnis.»
2.2. Audio-Interview Das glauben wir – Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Gott nicht begreifen, aber verstehen
Gott mit Blick auf das Leben
Gott mit Blick auf Beziehung – das ‹ES›
Große Fragen: warum ‒ was ‒wie?
Gott ‒ ein DU
Sich diesen Fragen stellen!
3. Texte
3.1. Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 43, 45:
«Es gibt drei existenzielle Fragen, um die wir Menschen nicht herumkommen. Früher oder später müssen wir uns ihnen stellen: Warum? Was? und Wie?» (43)
«Alle drei werden uns also, wenn wir beharrlich genug fragen, ins Geheimnis hineinführen, aber auf drei verschiedenen Wegen. Das Warum fragt nach den Wurzeln, dem Ursprung von allem und führt uns so hinunter in den unaussprechlichen Abgrund des Seins ‒ ins Geheimnis als Schweigen.
Das Was fragt nach dem innersten Wesen der Dinge und hört es am Ende heraus aus der geheimnisvollen Art und Weise, in der jedes Ding seine Einmaligkeit ausspricht, indem es ‹selbstet›[12] ‒ Geheimnis als Wort.
Das Wie fragt nach dem dynamischen Aspekt, nach der Kraft, die das Leben antreibt. Aber diese Kraft lässt sich von außen nur beobachten. Verstehen können wir sie nur, indem wir sie in uns selbst erfahren, indem wir ‹das Leben leben› ‒ Geheimnis als Verstehen durch Tun.
Diese drei Zugangswege zum Geheimnis werden aufmerksame LeserInnen in diesem Buch in immer neuen Abwandlungen wiederfinden.» (45)
3. 2. Ethik oder Religion (2018), 2f., die Antwort von Bruder David auf den Appell S. H. des Dalai Lama im Buch Ethik ist wichtiger als Religion (2014):
«Es gehört zum Geheimnisvollsten am Geheimnis, dass wir Menschen es als Gegenüber erfahren können, obwohl wir ihm angehören.
Paulus zitiert einen griechischen Dichter, wenn er von Gott sagt, ‹in ihm leben wir, weben wir und sind› (Apg. 7,27). Und nicht nur wie Fische im Wasser sind wir in Gott, sondern wie Wassertropfen im Meer.
Zugleich aber verstehen wir unter Gott unser Ur-DU, unser Ur-Gegenüber, das uns erst ermöglicht, ‹ich› zu sagen.»
«‹Gott› ist gleichbedeutend mit ‹Geheimnis› unter dem Gesichtspunkt unserer persönlichen ‒ gegenseitigen - Beziehung zur letzten Wirklichkeit. Und diese Beziehung ist unsere Religiosität.
(Obwohl wir schon gesehen haben, dass es bei Spiritualität um das Selbe geht, hat es Vorteile, hier von Religiosität zu sprechen, weil dadurch der innige Zusammenhang mit den Religionen anklingt.)»
3.3. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 23f.:
«Das Wort ‹heimlich› hängt eng mit Geheimnis zusammen. Wir als Menschen sind im Geheimnis beheimatet. Das macht uns zu Menschen.[13]
Geheimnis in diesem Sinn hat nichts mit Geheimnistuerei zu tun, mit Geheimhaltung, sondern mit dem, was uns so heimlich vertraut ist, dass man nicht darüber sprechen muss.
In jeder Familie, in jedem Heim gibt es Dinge, die einfach so, ohne erklärt zu werden, verstanden sind.
Und darum geht es beim Geheimnis: Es ist etwas, das man auch kaum sagen könnte, das eben diese Familie zu dieser Familie macht, das ist ihr Geheimnis, nicht das Skelett im Kasten, (das ist wieder anders! Jede Familie hat ihr Skelett im Kasten, worüber niemand sprechen darf, das ist so ganz geheim).
Was uns daheim fühlen lässt, warum man sich dort daheim fühlt, und woanders nicht ganz so, und das lässt sich nicht in Worten ausdrücken und das große Geheimnis ist das im Wort nicht Aussprechbare, das zum Daheimsein in der Welt gehört, zum Daheimsein im Leben und daher zum Daheimsein im Geheimnis des Lebens, im Geheimnis des Seins.
Rilke spricht da von einer ‹heimlichen leisen Gewahrung, die uns im Innern schweigend gewinnt›.[14]
Die gewinnt uns, diese heimliche leise Gewahrung, diese Stille.
Diese Stille, diese Dunkelheit, in die wir uns hinunterlassen, sie ergreift uns.
Das wäre auch so eine Anweisung, etwas, das man heute machen könnte:
Eine Blume, einen Berg, die eigene Hand, seinen Fuß lange anschauen, dass da etwas uns ergreift.
Das Leben ist ergreifend, nicht weil irgendetwas Besonderes geschieht, sondern … ganz still innehält und sich hinein versenkt, wird es ergreifend, kann bis zu Tränen rühren.
In Filmen manchmal, ist es nicht die Handlung, die uns zu Tränen rührt, sondern einfach die Darstellung des Lebens, und da braucht man so Milchkannen oder ein gedeckter Tisch und plötzlich kommen einem die Tränen, wirklich:
Das Daheimsein im Geheimnis berührt und ergreift.»]
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[1] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 112f.
[2] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 35
[3] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 113f.
[4] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 81
[5] TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 99:
«Der Dualismus wird der Welt, wird dem Leben nicht gerecht und der Monismus wird auch dem Leben nicht gerecht.»
[6] Siehe Abschnitt «Bruder Klaus: Dreifaltigkeitsmystiker», 120-122
[7] Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich fördert zu dir.
Mein Herr und mein Gott
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen dir.
[8] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 114
[9] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 13
[10] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 115
[11] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 51
[12] Bruder David bezieht sich auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889), in welchem der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache prägt ‒ «to selve›, was man Deutsch mit «selbsten» wiedergeben kann. Etwas «selbstet», indem es durch sei Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede angezupfte Saite «selbstet» so durch ihren ganz eigenen Ton. [Credo: «Ein Glaube, der alle verbindet» (2015), 66]
[13] Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 46:
«‹Geheim› bedeutet ursprünglich ‹zum Heim gehörig›.
Geheimnis bezeichnet dann, was der Hausgemeinschaft selbstverständlich ist, Fremden oder Entfremdeten aber unverständlich bleibt, also ‹geheim›.
Das Wort eignet sich dazu, auf jenes allverbindende Unaussprechliche hinzuweisen, das uns Menschen zuinnerst vertraut ist, uns aber nur in dem Maße bewusst wird, in dem wir als Angehörige des allumfassenden Erdhaushaltes denken, fühlen und handeln. Ein solches Denken ist nichts andres als gesunder Menschenverstand und heißt im süddeutschen Sprachraum mit einem treffenden Wort auch Hausverstand: Spirituell gesunde Menschen verstehen den geheimnisvollen Kosmos, in dem wir leben, als ihr Zuhause, ihr Daheim.»
[14] Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 4: «Rühmt euch, ihr Richtenden, nicht der entbehrlichen Folter» (Rilke, Die Sonette 2. Teil IX)
Gehorsam
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Mönche geloben Gehorsam. Gehorsam im klösterlichen Rahmen heißt mehr als zu tun, was einem befohlen wird; das wäre die Art des Gehorsams, die ein Hund in der Dressurschule lernt. Wahrer Gehorsam ist vielmehr ein liebendes Hinhören, ein Hinhorchen auf Gottes Wort, das uns jeden Augenblick erreicht, ein Lauschen auf die Botschaft des Engels, der Stunde um Stunde zu uns spricht.
lm Wort «Gehorsam» selbst steckt die Bedeutung des intensiven Hörens. Das Gegenteil dieses Gehorsams ist Absurdität, vom lateinischen surdus, taub. Wir haben die Wahl zwischen liebevollem Zuhören oder einem Leben, in dem wir alles absurd, widersinnig finden. Diese Absurdität ist nicht außerhalb von uns, sie ist in uns. Wir sind nur taub, wenn wir nicht gehorsame Zuhörer sind. Wenn wir uns also das nächste Mal bei der Bemerkung ertappen: «Das ist absurd, so könnten wir uns die hilfreichere Frage stellen: «Wem oder was gegenüber bin ich hier taub?»
Ungehorsam ist weniger ein Unterlassen dessen, was wir nach besserem Wissen tun sollten, als vielmehr, nicht einmal auf das zu hören, was die Situation erfordert und wozu sie uns aufruft. Ein sturer Gehorsam kann ein Nicht-Hinhören sein. Einfach nur die Regeln einzuhalten verdient nicht, wahrer Gehorsam genannt zu werden. Alles, was geschieht, jede Situation, in der wir uns befinden, ob sie uns nun gefällt oder nicht, will uns etwas sagen. Wenn wir richtig darauf antworten, wird es lebensbejahend und lebensspendend für uns und andere sein. Solche Augenblicke sind entscheidend für unseren Charakter. Genau da findet eigentliche Moral statt. In jedem Augenblick haben wir die Wahl, aus ganzem Herzen und echt zu antworten oder uns zu drücken und unser wahres Selbst zu verraten. [ST 50f., Quelle: MS 5) 70f.]
[Ergänzend:
1. Der Mönch in uns (1981):
«Gehorsam heißt wörtlich «aufmerksames Horchen»; es kommt vom lateinischen ‹ob-audire›, aufmerksam horchen, oder wie es in der jüdischen Tradition heißt ‹sein Ohr entblößen›: Die Schläfenlocken müssen zurückgestrichen sein, um wirklich aufmerksam hören zu können. Das bedeutet Gehorsam im Alten Testament.
In vielen Formen, in vielen Sprachen ist das Wort für Gehorsam eine intensive Form des Wortes horchen, gehorchen, ‹audire›, ‹ob-audire›.
Anders ausgedrückt kann Gehorsam: ‹tun-was-einem-gesagt-wird› ein streng mönchisches Mittel sein, diesen Eigensinn zu überwinden, diese eigenen Ideen und eigenen kleinen Pläne. Dies ist eine Möglichkeit, all dies loszulassen und das Ganze anzuschauen und das Ganze zu lobpreisen, wie Augustinus sagt.
Aber das Entscheidende ist, das Horchen zu lernen.
Dabei kann es ein Hindernis sein, oft ‹den Willen eines andern zu tun›; dadurch wird man nur eine an Fäden gezogene Marionette. Im Hinblick auf Sinnfindung ist der Zusammenhang, in welchem wir die mystische Erfahrung sehen, sehr wichtig.
Wenn du etwas sinnlos findest, sagst du, es sei ‹absurd›. Aber wenn du ‹absurd› sagst, hast du dich verraten, denn der Ausdruck ‹absurdus› ist das genaue Gegenteil von ‹ob-audiens›.
‹Absurdus› bedeutet ‹absolut taub›.
Wenn du also sagst, dass etwas absurd ist, sagst du schlechthin ‹ich bin absolut taub für das, was mir dadurch gesagt werden will. Das Absolute spricht zu mir und ich bin völlig taub›.
Dabei ist hier gar nichts taub; Taubheit lässt sich nicht auf die Quelle des Klangs zurückführen. Du bist taub. Du kannst nicht hören.
Die einzige Alternative zu dem, was alle von uns in irgendeiner Lebensform haben, ist deshalb eine taube Haltung durch eine aufmerksam Horchende zu ersetzen. Um dabei ein wenig weiterzukommen, braucht es ein ganzes Leben.»
2. AH 1-2) 15; 3-5) 15 und Auf dem Weg der Stille (2016), 58f.]
Gelegenheit
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten. Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. [ST 52, Quelle MS 5) 53]
Wir können nicht dankbar sein für Verletzungen, Krankheit, Ungerechtigkeit und andere Schwierigkeiten. Wir können nicht für alles dankbar sein, was ein gegebener Moment uns bringt; aber in jedem gegebenen Moment können wir für etwas dankbar sein ‒ für die Gelegenheit, die er uns bringt. Gelegenheit wofür? Nur in diesem bestimmten Moment kannst du die Antwort auf diese Frage hören, die zu deinen speziellen Bedürfnissen passt. Und du wirst sie hören, wenn du deine Ohren durch Dankbarkeit einstellst.
Unsere Schwierigkeiten erzeugen eine Menge Lärm. Inmitten dieses Lärms ist es nicht einfach, die sanfte Stimme der Gelegenheit zu hören. Wir brauchen geübte Ohren. Darum müssen wir unsere Ohren lange vorab trainieren, bevor Schwierigkeiten uns überfallen. [ST 52, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
(Video gelesen von Bettina Buchholz): Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung. Oft gehen wir wie im Schlaf durchs Leben, bis etwas kommt, an dem wir keine Freude haben: erst dann werden wir wachgerüttelt. Wenn wir lernen, die zahllosen Gelegenheiten wahrzunehmen, die uns Grund geben zur Freude am Geschenk des Lebendigseins, dann sind wir vorbereitet, wenn die Zeit kommt, die etwas Schwieriges von uns verlangt. Dann werden wir auch in dieser Herausforderung eine Gelegenheit erkennen und ihr dankbar gerecht werden. Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzige passende Antwort. Wenn uns die Tatsache dämmert, dass alles ein Geschenk ist, dann wird Dankbarkeit selbstverständlich. [ST 52f., Quelle: MS 5) 49f.]
Gewissen
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Erich Baumgartner
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!
Als Kind hat man mir eingedrillt,
dass Du richtest, verurteilst und bestrafst.
Millionen sind noch in diesem Irrtum gefangen.
Aber wenn unser Gewissen uns anklagt,
bist Du größer, großzügiger als unser Gewissen.
Was wir Bestrafung nennen,
ist letztlich nur beschönigte Rache.
Du rächst nicht. Du heilst.
Du richtest Verkrümmtes gerade.
Je krummer die Verkrümmung,
umso mehr schmerzt freilich die Heilung.
Lass mich heute auf etwas hinhorchen,
das scheinbar nach Strafe schreit ‒
vielleicht in mir selbst ‒, und hören,
dass es eigentlich um Heilung bittet. Amen.»[1]
Jesus beruft sich nicht auf seine persönliche, charismatische Autorität. Auch beruft er sich nicht direkt auf Gottes Autorität, als stehe Gott hinter ihm.
Anders als die Propheten sagt Jesus niemals: «So spricht der Herr …»
Auf welche Autorität beruft er sich also?
Natürlich auf die göttliche Autorität, jedoch die im Herzen seiner Zuhörer.
Das ist etwas vollkommen Neues. Seine gesamte Lehre gründet auf der Tatsache, dass in jedem einzelnen seiner Zuhörer ‒ selbst den Dirnen, den Steuereinnehmern, den Ausgestoßenen, den Hirten, die keine Rechte, und den Frauen, die keine Stimme hatten ‒, dass in den Herzen aller Menschen Gottes eigene Stimme spricht.
Er geht nicht umher und spricht: «Ich will dir sagen, was du tun musst. Höre mir zu, und ich werde dir einen Rat geben.»
Er geht vielmehr um und erzählt Parabeln. Das ist seine typische Lehrmethode. Typisch für die von Jesus gebrauchten Parabeln ist, dass sie wie Scherze wirken.
Sehr oft beginnt er mit einer Frage wie: «Wer von euch Fischern wüsste nicht; wer von euch Brot backenden Frauen wüsste nicht; wer von euch Sämännern wüsste nicht?» und so weiter. «Natürlich wisst ihr, nicht wahr?»
Das ist der erste Schritt. Wir, die Zuhörer, antworten:
«Natürlich wissen wir es.
Das sagt uns doch der gesunde Menschenverstand.»
Nun aber fällt der Scherz auf uns zurück, denn Jesus fragt:
«Ach so, wenn euch das der gesunde Menschenverstand sagt,
warum handelt ihr dann nicht entsprechend?»
Jesus hängt seine Parabeln am gesunden Menschenverstand auf, an jenem Geist, der uns gegeben wurde, damit wir Gott von innen heraus erkennen.
Die Parabeln setzen voraus, dass wir Gottes Geist durch so simple Tätigkeiten wie Fischen, Brot backen oder Saaten aussäen kennen können ‒ und dementsprechend unser Leben gestalten können.
Warum aber sollte jemand nicht dem gesunden Menschenverstand folgen, den wir mit allen Menschen, Tieren, Pflanzen, mit dem ganzen Universum und seinem göttlichen Urgrund teilen? Warum leben wir nicht nach jenem Geist, den wir alle gemeinsam haben und der allein Sinn gibt?
Weil wir eingeschüchtert sind vom Druck der Öffentlichkeit, von der öffentlichen Meinung. Jesus treibt einen Keil zwischen gesunden Menschenverstand und Druck der Öffentlichkeit.
Mit seinen Parabeln sagt er den Menschen:
«Gebt diesem Druck nicht nach.
Ihr wisst es doch besser.»
Er baut die Menschen auf, lässt sie auf eigenen Füßen stehen. Manchmal geschieht das buchstäblich. Wenn die Menschen sich begeistern, dann vertrauen sie so stark auf diese Kraft, dass sie aufstehen und gehen können, obwohl sie vorher lahm waren.
Solche Geschichten in den Evangelien haben noch heute die Kraft, das Leben der Menschen zu ändern.
Nun gerät aber jeder, der anderen auf diese Art Kraft verleiht, in Schwierigkeiten mit den Autoritäten, die Menschen unterdrücken, mit religiösen wie mit politischen Autoritäten.
In den Evangelien lesen wir ausdrücklich, wie verblüfft die einfachen Menschen waren.
«Der spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten»,
sagten sie. Natürlich kommt so etwas bei Autoritäten, die zur Unterdrückung neigen, nicht gut an.
Was wirkt befreiender als der gesunde Menschenverstand?
Gandhi wird von vielen Christen als christusähnliche Gestalt angesehen. Er tat genau das, was ganz typisch für Jesus war, nämlich andere zum Handeln zu ermuntern. Dadurch geriet Jesus in Schwierigkeiten, und genau das war auch bei Gandhi der Fall.
In beiden Fällen wollten die Menschen nicht wirklich die Macht, die ihnen zugestanden wurde, jedenfalls nicht in dem Ausmaß. Einige wollten sie schon, aber viele andere sagten: «Uns ging es doch viel besser, als uns gesagt wurde, was wir zu tun haben.»[2]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt ‒
So rede ich Dich in Wasserbildern an, ich aber bin Erde.
Jeses Atom in mir ist ‹Sternenstaub›,
heißt es, hervorgegangen aus unvorstellbaren kosmischen Ereignissen
und schließlich auf unserem Planeten zu Erdreich geworden.
Alles auf meinem Teller war einmal Erde,
ich esse es, und es wird wieder Erde.
Auf der Autobahn fährt dicht hinter einem Kühltransporter
mit Lebensmitteln ein Klärgruben-LKW. Ich lache.
Aber in diesem Kreislauf stehen wir mitten drin ‒ wir alle.
Möge mir dieses Geerdet- und Eingebunden-Sein
heute bei jedem Bissen bewusstwerden. Amen.»[3]
Das allererste Wort der Regel des heiligen Benedikt lautet: «Horch!» ‒ «Ausculta!» ‒, und aus dieser ersten Geste des Horchens aus ganzem Herzen erwächst die gesamte Disziplin der Benediktiner, wie eine Sonnenblume aus ihrem Samen wächst.
Die Spiritualität der Benediktiner geht ihrerseits auf die umfassendere und ältere Disziplin der Bibel zurück.
Aber hier ist der Begriff des Horchens von grundlegender Bedeutung.
Aus biblischer Sicht kommen alle Dinge durch Gottes schöpferisches Wort in die Welt; die gesamte Geschichte ist ein Dialog mit Gott, der zum Herzen der Menschen spricht. Die Bibel verkündet mit großer Klarheit, dass Gott eins ist und transzendent. Bewundernswert ist die Einsicht des religiösen Geistes, der in der biblischen Literatur seinen Ausdruck gefunden hat, dass Gott zu uns spricht.
Der transzendente Gott spricht in Natur und Geschichte. Das menschliche Herz ist dazu aufgerufen, zu horchen und zu antworten.
Horchen und Antworten ‒ das ist die Form, welche die Bibel unserem grundlegenden religiösem Streben als menschliche Wesen vorzeichnet: dem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, dem Streben nach Sinn.
Unser Glücklichsein gründet sich nicht auf Glücksgefühle, sondern auf inneren Frieden, den Frieden des Herzens.
Selbst inmitten einer sogenannten Pechsträhne, inmitten von Leid und Schmerz können wir unseren inneren Frieden finden, wenn wir aus all dem Sinn heraushören.
Die biblische Überlieferung zeigt uns den Weg, indem sie verkündet, dass Gott selbst in der schlimmsten Notlage und durch sie zu uns spricht.
Indem ich mich der Botschaft des Augenblicks ganz öffne, kann ich zur Quelle der Sinnhaftigkeit vorstoßen und den Sinn des Lebens erkennen.
So zu horchen heißt, mit dem Herzen horchen, mit dem ganzen Wesen.
Herz bedeutet das Zentrum unseres Wesens, in dem wir wahrhaftig eins sind. Eins mit uns selbst, nicht aufgespalten in Verstand, Wille, Gefühle, Körper und Geist, eins mit allen anderen Geschöpfen.
Denn das Herz ist der Bereich, in dem wir nicht nur mit unserem innersten Selbst in Berührung sind, sondern gleichzeitig mit dem ganzen Dasein innigst vereint sind.
Hier sind wir auch vereint mit Gott, der Quelle des Lebens, welche im Herzen entspringt. Um mit dem Herzen zu horchen, müssen wir immer wieder zu unserem Herzen zurückkehren, indem wir uns die Dinge zu Herzen nehmen.
Wenn wir mit dem Herzen horchen, werden wir Sinn finden, denn so wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Geräusche, ist das Herz das Organ für Sinn.
Die Disziplin des täglichen Horchens und Antwortens auf den Sinn wird Gehorsam genannt.[4]
«Gehorchen will ich letztlich nur Dir,
Du ‹sanftestes Gesetz, an dem wir reiften,
da wir mit ihm rangen›.
Wie Jakob eine ganze Nacht lang rang mit Deiner dunklen Gegenwart,
so rang und ringt die Menschheit in der Nacht der Zeit
mit Dir schon von Anbeginn.
Mein Ringen ist mein Nicht-horchen-Wollen,
obwohl ich Dich hören kann tief im Herzen.
Siege Du über mich ‒ in mir.
Nicht nur horchen will ich dann,
sondern so hingegeben horchen,
dass mein Horchen zum Gehorchen wird ‒
und zum Überschreiten:
zum Überschreiten meiner eigenen begrenzten Einsichten und Absichten;
zum Überschreiten aller Hindernisse durch gehorsames Tun;
zum Überschreiten auch ‒ im Vertrauen auf Dich ‒
von allem, was ich mir selber je zugetraut hätte.
Als ‹sanftestes Gesetz› lass mich Dich erkennen.
In wahrhaft wachen Augenblicken ist mir ja klar,
dass Du die Freiheit bist,
nach der ich mich sehne. Amen.»[5]
Die Bibel nennt das Horchen und Antworten des Gehorsams vom Wort Gottes leben, und das bedeutet viel mehr, als nur Gottes Willen tun.
Es bedeutet, sich vom Wort Gottes zu nähren wie von Speis und Trank ‒ vom Wort Gottes in jedem Menschen, jedem Ding, jedem Ereignis, dem wir begegnen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin. Ihre Beschaffenheit, ihr Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist. Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?[6]
«Zauberkraft begegnet uns auf Schritt und Tritt,
daran zweifle ich keinen Augenblick.
Wie oft habe ich sie doch erlebt.
Zuerst mein ganz automatisches Dahintrotten
auf dem heißen Gehsteig,
dann ein kühler Zugwind aus einer Seitenpassage ‒
und plötzlich hat das Straßenbild Farben, Klänge, Bewegung.
Oder bei Tisch: Mein unaufmerksames Hinunterlöffeln
durch das Klirren eines Wasserglases
in wache Freude an der warmen Suppe verwandelt.
Sogar mein untätiges Daliegen im Bett
kann durch ich weiß nicht, was,
auf einmal zum wohligen Wahrnehmen
von Decke und Polster werden,
zu einem letzten Aufleuchten
aller Sinne vor dem Einschlafen.
Ich weiß nicht, was diese geheimnisvolle Kraft ist,
die da so unvermittelt alles verzaubert ‒
ja, die eigentlich m i c h bezaubert,
indem sie mich belebt.
Jedenfalls nehme ich sie dankbar an;
sie muss ja von Dir kommen.
Und Dankbarkeit legt mir auch das Zauberwort
in den Mund, das Zauberwort,
das mich und die Welt belebt:
‹Danke!› ‒ Amen.»[7]
Übung im Horchen mit dem Herzen lehrt uns in einem lebenslangen Prozess,[8] unterschiedslos nach jedem Wort zu leben, das aus dem Munde Gottes kommt.
Wir lernen es, indem wir in allen Dingen unsere Dankbarkeit bezeugen.
Die klösterliche Umgebung soll genau dies erleichtern. Die Methode ist Losgelöstheit.[9]
«Weg und Ziel zeigst Du mir nicht nur an,
Du großes Geheimnis im Herzen des Lebens,
Du b i s t mir beides.
Als Weg erfahre ich Dich am richtungsweisenden Fließweg des Lebens,
dem ich mich anvertrauen darf wie ein Schwimmer dem Strom.
Als Ziel erkennt Dich die Strömung in meinem Inneren mit ihrem
geheimnisvollen Sog, der mir zuraunt: ‹Heim zum Vater!›
Lass mich nicht erschlaffen beim Schwimmen,
nicht schlapp dahintreiben wie Schwemmholz,
sondern wendig werden wie ein Fisch.
Mach mich achtsam für den leisesten Hinweis,
den mir das Leben ‒ den D u mir gibst.
Und lass mich täglich fröhlicher werden,
weil ich ja auf dem Heimweg bin zu Dir. Amen.»[10]
[Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast]:
(26:28) «Das Wesentliche an der Ethik ist, Augenblick für Augenblick hinzuhorchen: Was will das Leben jetzt von mir? ‒ und verantwortlich das zu tun.
Sehr häufig wird diese Verantwortung nicht so klar gesehen. Aber wenn man das übt, wenn man sich dessen bewusst ist: Also ich möchte in Gott und mit Gott leben, das heißt: in diesem Augenblick begegnet mir Gott, da muss ich ja mich immer wieder bemühen, zunächst einmal aufzuwachen:
Was will jetzt dieses Leben von mir?
Und das ist manchmal nicht so klar zu sehen, das ist auch schwierig. Da muss man halt das Beste tun, und wenn’s ein Fehler war, dann den ändern. Das zeigt ja dann der nächste Augenblick schon, dass es ein Fehler war. Da kann man dann den nächsten Augenblick verwenden.
Aber doch hinhorchen und vertrauen, dass das Leben ‒ da kommt wieder der Glaube herein ‒, etwas von uns verlangt. Jeden Augenblick. Und zwar oft sehr angenehme Sachen.
Das Leben ist ja nicht so ganz ein strenger Lehrer, der jeden Augenblick etwas verlangt. Das Leben verlangt von uns: ‹Freu dich doch dran›! ‒ und wir sind anderweitig beschäftigt. Das Leben sagt ja fast in jedem Augenblick: ‹Freu dich doch dran›, und auch noch, wenn andere Sachen dazukommen ‒, es sagt ja nicht nur eines ‒:
‹Ja das ist wirklich schwierig, aber schließlich kannst du doch noch tief durchatmen. Das ist ja auch ein Geschenk. Viele Menschen können nicht anständig atmen: du kannst jetzt atmen und trotzdem, mit der ganzen Belastung: Tu’s doch›! Das ist auch eine Antwort auf die Herausforderung des Lebens.»[11]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-7, 9-11]
[Ergänzend:
1. Berufung
3. Würde, Rückgrat, Scham, in Ergänzend: 2.2.:
Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Erstes Kamin-Gespräch mit Bruder David; siehe auch Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David: Anm. 1 und 7:
Gerald Hüther nennt Würde in seinem Buch Würde einen inneren Kompass, etwas, das in uns wach wird und von innen heraus kräftiger und verhaltensbestimmender wirkt als die von außen auf uns einstürmenden Verlockungen, Angebote und scheinbaren Notwendigkeiten:
«Aus neurobiologischer Sicht handelt es sich dabei um ein inneres Bild, also um ein in dieser Situation aktiv werdendes neuronales Verschaltungsmuster, das sehr eng an die Vorstellungen der eigenen Identität gekoppelt und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist. Es geht dabei um eine innere Vorstellung davon, was für ein Mensch jemand sein will. Für diese Orientierung bietende, vor jeder Art von Durcheinander im Hirn schützende und deshalb den Energieverbrauch dauerhaft reduzierende Vorstellung gibt es im Deutschen einen wunderbaren, wenngleich fast schon vergessenen Namen: Würde.» (19f.)
«… Und dabei bin ich auf diesen inneren Kompass gestoßen, der uns dabei hilft, nicht nur so zu handeln, dass andere dadurch nicht verletzt werden, sondern wir uns dabei nicht selbst verletzten: unsere Würde.» (44)
«Wer die Vorstellung von einem würdevollen Leben in sein Bewusstsein gehoben hat, kann nicht mehr anders als würdevoll leben.» (45)
«Die Kernthese dieses Buches lautet: Wer sich seiner eigenen Würde bewusst wird, ist nicht mehr verführbar.» (21)
«Ein Mensch, der sich seiner Würde bewusst geworden ist, braucht weder den Erfolg beim Kampf um begrenzte Ressourcen noch irgendwelche Ersatzbefriedigungen, die ihm von Werbestrategen angeboten werden. Eine solche Person leidet nicht an einem Mangel an Bedeutsamkeit. Sie ist sich ihrer Bedeutung bewusst. Deshalb ist sie nicht mehr verführbar. Weder hat sie einen Gewinn davon noch ein Interesse daran, andere Personen zu Objekten ihrer Absichten und Erwartungen, ihrer Ziele und Maßnahmen oder gar ihrer Verführungskünste und Versprechungen zu machen.
Weil sie sich ihrer eigenen Würde bewusst ist, kann sie die Würde anderer Menschen nicht verletzen. Das wäre unter ihrer Würde.» (130)
«Beispielsweise sind Menschen, die sich ihrer Würde bewusst werden, nicht mehr verführbar. Sie verfügen dann ja über einen inneren Kompass, der ihr Denken und Handeln leitet, und sie passen auf, dass er ihnen nicht abhandenkommt.
Solche Personen lassen sich von niemandem einreden, dass sie dies oder das noch brauchen, um glücklich zu sein. Plakate, Werbespots, Ratgeber und Angebote für ein besseres Leben empfinden sie als unwürdige Versuche, sie so zu behandeln, als könnten sie nicht selbst denken und eigene Entscheidungen treffen.» (174)]
________________
[1] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹17 ‒ Strafe›, 26
[2] Wendezeit im Christentum, Teil IV (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 259-261 und 276
[3] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹12 ‒ Erdung›, 21
[4] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 261f.: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 13-15; siehe auch Horchen und Gehorchen
[5] Erwachende Worte (2023): 5 ‒ Gehorchen, 27
Rainer Maria Rilke, Das Stunden-Buch: Vom mönchischen Leben:
«Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,
an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,
du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen,
du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen,
du dunkles Netz,
darin sich flüchtend die Gefühle fangen.»
Bruder David zum Ringen Jakobs mit einem Unbekannten am Grenzfluss Jabbok (Gen 23,32-33) in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 94f
[6] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 263: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 15f.
[7] Erwachende Worte (2023): 55 ‒ Zauberkraft, 127
[8] Video Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024); siehe auch die Mitschrift Sinnvoll leben, dankbar leben:
(34:58) «Der Satz steht im Zusammenhang mit einer Geschichte aus dem Evangelium, der sogenannten Versuchung Jesu. Jesus war in der Wüste und hat 40 Tage gefastet. Als er hungrig war, sagte der Versucher: ‹Wenn du der Sohn Gottes bist, dann sag doch zu diesen Steinen, dass sie Brot werden›. Steine schauen für den Hungernden aus wie Brotlaibe. Jesus antwortet darauf: ‹Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort aus Gottes Mund›. Ich habe dann gesagt: Offensichtlich sind auch die Steine – also nicht nur alles Angenehme, sondern auch das Unangenehme – ein Wort aus Gottes Mund. Wir sollten uns darauf vorbereiten, dass sich hier und da auch in einem Rosinenbrot eine Rosine als Steinchen herausstellt, auf das wir manchmal beißen. Am Ende unseres Lebens kommt der Tod, das Sterben, das wir eigentlich nicht wollen, wogegen sich alles in uns auflehnt – und da sollten wir schon so in Übung sein, dass wir erkennen: Auch dieser große Stein ist ein Wort aus Gottes Mund.»
[9] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 264: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 17; siehe auch Vom Worte Gottes leben (2021)
[10] Erwachende Worte (2023): 11 ‒ Weg, 39
[11] Auszüge aus dem Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast, in Religiosität ‒ ethische Urquelle
Gipfelerlebnis
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Unser wahres Selbst ist nicht das kleine individualistische Selbst neben anderen. Dies entdecken wir in jenen Augenblicken, in denen wir zu unserer großen Überraschung eine tiefe Kommunion mit allen anderen Wesen erfahren. Diese Momente gibt es in unser aller Leben. Vielleicht erinnern wir sie als «Hochwassermarken» der Bewusstheit, der Lebendigkeit, als Momente unserer besten Verfassung, als jene Augenblicke, in denen wir am meisten wir selbst waren.
Vielleicht aber versuchen wir auch die Erinnerung an jene Momente zu verdrängen, denn jene Springflut der Kommunion ist eine Bedrohung der defensiven Isolation, in der wir uns geschützt vorkommen.
Die Mauern, hinter denen wir uns verstecken, mögen dem Ansturm des Lebens lange standhalten. Aber ganz plötzlich, an irgendeinem Tag, wird, wie in dem folgenden Bericht aus «The Protean Body» von Don Johnson, die große Überraschung über uns einbrechen:
«Ich ging hinaus auf eine Mole im Golf von Mexico. Ich hörte auf zu sein. Ich erfuhr mich als Teil des Windes, der von der See hereinkam, als Bestandteil der Bewegung von Wasser und Fischen, der Sonnenstrahlen, der Farben der Palmen und tropischen Blumen. Es gab keine Vorstellung mehr von Vergangenheit oder Zukunft. Und es war kein besonders seliges Erlebnis: es war furchterregend. Es war die Art ekstatischer Erfahrung, die ich mit einigem Aufwand an Energie zu vermeiden versucht hätte. Ich erlebte mich nicht als identisch mit Wasser, Wind und Licht, sondern als nähme ich teil am gleichen Bewegungssystem. Wir tanzten alle miteinander.»
In diesem großartigen Tanz sind Gebende und Empfangende eins.
Ganz plötzlich können wir erkennen, wie unwesentlich es ist, welche der beiden Rollen man in einem gegebenen Moment zu spielen hat.
Jenseits aller Zeit ruht unser wahres Selbst in vollkommener Stille in sich selbst.
Verwirklicht wird dies in der Zeit durch ein anmutiges Geben und Nehmen im Tanz des Lebens.
Wie bei einem sich schnell drehenden Kreisel sind Stille und Tanz eins.
Nur in jenem Einssein von Geben und Nehmen findet sich wahre Selbständigkeit. Jede andere Selbständigkeit ist Illusion. Das Wirkliche aber erweist sich am Ende immer als jeder Illusion überlegen.
Früher oder später wird es durchscheinen wie die Sonne durch den Nebel.
Das Leben, unser Lehrer, wird das besorgen. [FN 1) 24f.; 2-5) 24f.; 6) 27f.; ebenso: Geben und Empfangen (2008), in: Das Inspirationsbuch 2009]
Wer kennt nicht diesen Wendepunkt von denken zu danken aus eigener Erfahrung? Wir müssen nur an einen jener Augenblicke denken, die wir alle manchmal erleben, obwohl wir sie nur den Mystikern zutrauen.
Ganz unerwartet werden wir da plötzlich wach, fallen aus Zeit und Raum in eine unauslotbare Stille hinein und fühlen überwältigende Dankbarkeit in uns aufsteigen.
Ganz gleich wo uns das widerfährt ‒ auf einem Berggipfel, in einer Kathedrale, oder mitten im Verkehrsstau ‒ das ist ein mystisches Erlebnis.
Abraham Maslow erforschte solche «peak experiences», wie er sie nannte, vom Standpunkt der Psychologie.
Er fand, dass solche Erfahrungen bei ganz gewöhnlichen Menschen häufig sind und sich in keiner Weise von denen der Mystiker unterscheiden.
Ein Unterschied liegt vielmehr darin, dass die meisten von uns weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, und bald wieder «das Zufällige und Ungefähre» laut werden lassen, während die Mystiker aus der Stille leben.
Es steht auch uns frei das zu tun, und so unser Leben im Bleibenden zu verankern. Der Schlüssel dazu ist dankbares Leben. [Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille (1982), 182 und AH 3-5) 156]
Denken Sie einmal an eine Erfahrung zurück, von der Sie sagen können: «So etwas macht das Leben lebenswert.»
Oder denken Sie an den Begriff «Gipfelerfahrung», ein ausgezeichneter Begriff, der unter anderem andeutet, dass es sich um etwas handelt, das aus Ihren normalen Erfahrungen herausragt, darüber steht.
Es ist ein Augenblick, in dem Sie sich irgendwie erhaben fühlen, oder wenigstens erhabener als sonst.
Und es ist nur ein Augenblick, auch wenn er lange dauern kann, vielleicht sogar eine Stunde; selbst dann erscheint so eine Erfahrung wie ein Augenblick. Immer wird sie als ein Punkt innerhalb der Zeit empfunden, so wie auch ein Berggipfel immer ein Punkt ist.
Es kann ein hoher oder ein niedriger Gipfel sein; worauf es jedoch ankommt, ist, dass ein Gipfel erreicht wird.
Wenn Sie nun Ihren Tag oder Ihr Leben oder irgendeine Zeitspanne überblicken, dann sehen Sie diese Gipfel herausragen, und es sind Punkte einer erhabenen Erfahrung, Punkte einer Erfahrung des Schauens, einer Erkenntnis, wenn Sie so wollen.
Das ist auch ein wichtiger Aspekt bei dieser Vorstellung vom Gipfel:
Wenn Sie sich auf einem Gipfel befinden, dann haben Sie eine bessere Sicht. Sie können nach allen Seiten sehen. Solange Sie noch aufsteigen, wird ein Teil Ihrer Sicht, ein Teil des Horizonts, von dem Gipfel verdeckt, den Sie ersteigen. Aber einmal auf dem Gipfel angekommen, erhalten Sie einen Einblick in den Sinn, in die Bedeutung.
Es ist ein Augenblick, in dem Sie vom Sinn wirklich berührt werden. Das ist die Art des Erkennens, von der jetzt die Rede sein soll.
Es bedeutet nicht, die Lösung für ein Bündel konkreter Probleme zu finden; es ist vielmehr ein Augenblick uneingeschränkten Erkennens. Sie setzen Ihrem Erkennen keine Grenzen.
Versuchen Sie nun einmal, an solch einen Augenblick zu denken und ihn sich zu vergegenwärtigen, und zwar sehr präzise und fest umrissen. Verallgemeinerungen werden uns hier nichts nützen.
Es braucht kein riesiger Gipfel zu sein, das ist sowieso sehr selten im Leben. Ein Ameisenhügel ist auch ein Gipfel, also genügt uns alles, was einen Gipfel darstellt.
Versuchen Sie es einfach, erinnern Sie sich ganz konkret an eine Erfahrung, in der Sie etwas sehr tief berührt hat, eine Erfahrung, in der Sie auf irgendeine Weise über die normale Ebene erhoben wurden. [Der Mönch in uns (1978); siehe auch Auf dem Weg der Stille (2016), 49f.]
[Ergänzend:
1. GIPFELERLEBNIS, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 140f.:
«Peak Experience» nannte Abraham Maslow (1908-1970) Höhepunkte, also ‹Gipfel› menschlicher Erfahrung, Augenblicke bewussten All-Einsseins, wie wir sie aus Berichten der großen Mystiker kennen. Maslows Forschung konnte aber zeigen, dass jeder psychisch gesunde Mensch gelegentlich Gipfelerlebnisse hat, oft unbeachtet oder sogar aus dem Bewusstsein verdrängt. Was hingegen die großen Mystiker auszeichnet, ist, dass sie ihren Alltag dem All-Einheitsbewusstsein gemäß gestaltet haben. Maslow zeigte, dass uns in Gipfelerlebnissen alle großen Werte ‒ wie etwa das Schöne, Wahre, Gute ‒ gegenwärtige Wirklichkeit sind. Es gilt nun, diese Werte, dem Beispiel der Mystiker folgend, in unser tägliches Leben einfließen zu lassen. Gipfelerlebnisse sind immer ein überraschendes Geschenk. Wir können uns nur auf sie vorbereiten, sie aber nicht erzwingen. Aufreizenden psychischen Erfahrungen nachzujagen, das stellt immer wieder eine Gefahr für spirituell suchende Menschen dar. Die große Aufgabe ist es, uns genügsam für das Empfangene dankbar zu erweisen. Dies tun wir dadurch, dass wir alle Energie darauf verwenden, unser Leben dem uns bereits Geschenkten gemäß zu gestalten.»
2. GIPFELERLEBNIS in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 170f.; 2-5) 174; 6) 173):
«Abraham Maslow, der den Begriff Gipfelerlebnis in die Psychologie einführte, bestand darauf, dass es keine Möglichkeit gäbe, es von der mystischen Erfahrung, wie sie die Mystiker beschreiben, zu unterscheiden. Und doch haben die meisten (wenn nicht alle) von uns Gipfelerlebnisse, Momente, in denen wir überwältigt sind von einem Bewusstsein der Zugehörigkeit, universellen Heil- und Heiligseins, Augenblicke, in denen das Leben Sinn hat. Annehmen ist ein Wort, das häufig bei der Beschreibung von Gipfelerlebnissen benutzt wird. Einen Moment lang, der jenseits von Zeit zu sein scheint, fühlen wir uns ganz und gar angenommen und können alles, was ist, voll und ganz akzeptieren, annehmen. Dankbarkeit durchdringt jeden Aspekt dieser Gipfelerlebnisse. Das Religiöse an jeder Religion wird durch diese Momente überwältigender Dankbarkeit genährt. Wenn wir unsere eigene Religion als gültig betrachten, so können wir jenes Urteil nur auf jene Erfahrungen gesteigerter Bewusstheit gründen. Jede Religion wird gemessen an Standards, die man von jenen Gipfeln dankbaren Annehmens erspähte. Und darum können wir Dankbarkeit die Wurzel aller Religion nennen.»
3. Mehr als alles (2010): Toni Zimmermann zitiert David Steindl-Rast.
4. Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Ein Jahrzehnt später zeigte Abraham Maslow von der Psychologie her, dass Gipfelerlebnisse (‹Peak Experiences›) praktisch im Leben jedes Menschen vorkommen, und von klassischen mystischen Erlebnissen in keiner Weise unterscheidbar sind. Welche Tragweite Maslows Pionierarbeit für die Geistesgeschichte besitzt, wird auch heute noch nicht voll gewürdigt.»
5. Die Begebenheit auf einer Mole im Golf von Mexiko findet sich nicht nur im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 28 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 25], sondern auch im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 114f.:
Bruder David: «Es handelt sich um die Schilderung eines Freundes von mir, Don Johnson, in seinem Buch ‹The Protean Body›.»
Hinweis: Kapitel 8 «Auf heiligem Grund stehen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 112-119, übersetzt von Bernardin Schellenberger, ist inhaltlich identisch mit Sakramentales Leben ‒ «Zieh' deine Schuhe aus! (1979), übersetzt von Eve Landis.
6. Audios:
Wie uns dankbar leben heil und gesund macht (2011): Audio und Transkription:
(09:36) «Jeder Mensch ist ein besonderer Mystiker» (Abraham Maslow): Gipfelerfahrungen im Alltag
Das Gottesbild des modernen Menschen (2009):
Teil 1:
(10:16) Abraham Maslow nennt die mystischen Erlebnisse des All-Einsseins Gipfelerlebnisse / (13:18) Der Mystiker ist nicht ein besonderer Mensch, jeder Mensch ist ein besonderer Mystiker. Die großen Mystiker lassen diese Erlebnisse in den Alltag einfließen ‒ Thomas Mertons Gipfelerlebnis und Beispiele in unserem Alltag
Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Audio und Mitschrift: Spiritualität, volle Lebendigkeit, Peak Experience (Maslow) und Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 02-03
Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Audio: Mystische Erfahrung ‒ Anstoß zur Praxis dankbaren Lebens und Audio: Wir alle haben diese Gipfelerlebnisse]
Glaube
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Wir haben falsche Vorstellungen vom Glauben; wir meinen, Glaube bedeutet: etwas glauben. Ja, Glaube bedeutet tatsächlich: etwas zu glauben. Wenn wir jemandem wirklich vertrauen, wenn wir wirklich an einen Freund glauben, dann bedeutet das auch, dass wir bestimmte Dinge über diesen Freund glauben. Aber das ist allenfalls zweitrangig, und wenn wir daran hängenbleiben, dann werden wir nie die Wurzeln des Glaubens erkennen. Das ist es nicht, was Glaube bedeutet. Glauben heißt nicht, einigen Dogmas oder Glaubensartikeln oder etwas Ähnlichem beizupflichten.
Letztlich ist Glaube mutiges Vertrauen ins Leben,[1]
ein gläubiges Sich-verlassen auf das Leben in uns,
das letztlich Anteilnahme an der göttlichen Lebendigkeit ist.
So dem Leben zu vertrauen heißt:
fest damit rechnen,
dass jeder Tag uns genau das bringen wird,
was wir brauchen ‒
wenn es auch nicht immer das ist,
was wir uns wünschen.
Daher werden wir keine Energie an inneren Widerstand verschwenden oder an Wunschträume; dann haben wir mehr Energie verfügbar, um mit der gegebenen Lage umzugehen – genau dort, wo das Schicksal uns hingestellt hat.
Wir verlassen uns eben darauf, dass die Lebensquelle uns schon gibt, was für uns gut ist, ob wir es immer gleich erkennen oder nicht.
Menschen, die so leben, gleichen Schwimmern in einem reißenden Strom. Sie liefern sich der Strömung nicht willenlos aus, aber sie widerstehen ihr auch nicht; sie passen sich vielmehr mit jeder Bewegung dem Trift oder Sog an, und nützen den Lauf des Wassers zielstrebig und geschickt so aus, dass sie sich an dem Abenteuer richtig freuen können.
Was wäre für ein erfülltes, geglücktes Leben wichtiger als solch gläubiges Vertrauen? Je bewusster wir leben, umso klarer erkennen wir, was für ein unfassbares Geschenk es ist, überhaupt lebendig zu sein. Diese Einsicht löst mit jedem Atemzug tiefe Dankbarkeit aus und öffnet dadurch unser Herz für immer größere Lebensfreude.[2]
Die jeweilige Ausprägung, die unser religiöser Glaube annimmt, hängt völlig vom Ort und der Zeit und den gesellschaftlichen und kulturellen Umständen ab, in die wir hineingeboren werden, und davon gibt es eine unendliche Vielfalt. Aber die Essenz unseres Glaubens ist immer und überall dieselbe, nämlich ein mutiges Vertrauen in das Leben.
Glaube gegen Furcht ‒ das ist der Zentralpunkt der Religion. Das ist auch der Schlüssel zu unserem Verhältnis zur Wahrheit. Wir wissen wohl, dass Religion etwas mit Wahrheit zu tun hat, aber es ist keine Wahrheit, die wir an uns raffen und nach Hause tragen könnten. Wenn wir gewisse Wahrheiten an uns reißen und festhalten, dann geraten wir mit all denen in Konflikt, die diese Wahrheiten nicht besitzen. Wenn man es genau betrachtet, besitzt jeder eine andere Wahrheit; es gibt so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt. Wenn wir also darauf bestehen, dass Wahrheit etwas sei, was wir besitzen können, dann befinden wir uns im Widerspruch mit der ganzen Welt.
Aber die wirkliche Wahrheit,
um die es uns geht,
ist etwas, das uns besitzt;
sie besitzt uns,
wenn wir uns hingeben,
in jenen Augenblicken,
in denen wir uns wirklich öffnen.
Es gibt nur eine Wahrheit,
und sie nimmt jeden
auf eigene Weise in Besitz.
Es muss eine unendliche Vielfalt von Wegen geben,
auf denen die Wahrheit
jeden von uns in Besitz nimmt,
denn in dieser Vielfalt blüht die Einheit der Wahrheit auf.
Und das ist schön, und wir müssen es bejahen, und wir müssen es feiern. Das ist Leben, und das ist auch religiöses Leben. Es bedeutet, sich selbst der Wahrheit hinzugeben, nicht, die Wahrheit zu nehmen, nach ihr zu greifen, sie festzuhalten.
Nur die Wahrheit, der wir uns hingeben, wird uns frei machen.
Die eine Wahrheit, die für jeden von uns gilt, lautet, den Mut aufzubringen, uns der Wahrheit hinzugeben. Furcht klammert sich fest.[3]
Glaube ist Vertrauen und Mut.
Sein Gegenteil ist Furchtsamkeit.
Glaube ist der Mut loszulassen.
Furcht hält fest.[4]
Wenn wir in uns gehen und uns fragen, was uns auf dieser Ebene des An-etwas-Glaubens am schwersten fällt, dann werden wohl viele von uns zugeben müssen: Das Schwierigste ist es, an die Liebe eines anderen Menschen wirklich zu glauben. Ja, es gibt Liebesbeweise und Proben, an denen sich die Liebe eines Anderen zeigt, aber letztlich müssen wir uns doch darauf verlassen.
Es kommt alles auf dieses Sich-verlassen an.
Und damit weist die Sprache schon hin auf den entscheidenden Punkt:
Was wir verlassen müssen, ist unser kleines Ich, das sich in die Illusion des Abgetrenntseins verkapselt; und wir verlassen uns a u f
etwas ‒ bewegen uns a u f etwas anderes hin ‒, nämlich auf unser großes Selbst, in dem Du und Ich eins sind, obwohl sie unterschieden bleiben.[5]
«Ich bin durch dich so ich» (E. E. Cummings.)
Nur einem Du gegenüber hat es überhaupt Sinn, Ich zu sagen. Dass ein Du mir vertraut, macht mein Selbstvertrauen erst möglich. Die Begegnung von Ich und Du ist der Quellgrund, aus dem gläubiges Vertrauen entspringt.
Ich werde ich, indem ich dir vertraue.
Das Ich,
das diesem Vertrauen entstammt,
glaubt eben;
es ist unser wahres Selbst,
das Ich, das im Credo sagt:
Ich glaube.
Und du, Leserin oder Leser? Wann und wie bist du diesem Paradoxon begegnet? Krame nicht in deinen Erinnerungen nach äußerlich auffallenden Erlebnissen. Unter denen wirst du kaum finden, worum es hier geht. Vielleicht hat auch dich ein spielerischer Augenblick in deiner Kindheit jenen tiefen Glauben erleben lassen, den man nie vergisst, oft vernachlässigt, aber doch jederzeit neu erwecken kann.[6]
Vielleicht erinnerst du dich an einen Augenblick, in dem du das Gefühl hattest, wirklich du selber zu sein, gerade deshalb, weil du irgendwie über Dich hinausgehoben wurdest ‒ von Musik, vom hochgewölbten Himmel einer sternklaren Nacht, vom Anblick eines schlafenden Kindes, das an seinem Daumen saugt.
Plötzlich verblassen, verschwimmen, verschwinden die scharfen Grenzen zwischen dir und der Welt rundum, ja zwischen dir und dem Urgrund, aus dem alles aufsteigt und in den alles zurückfließt.
In solchen Augenblicken verkosten wir flüchtig, was Mystiker die Erfahrung des All-eins-seins nannten.
Es scheint fast unmöglich, solches auch nur einmal zu erleben, ohne fürs Leben dadurch bestimmt zu sein; unser innigstes Verlangen weist ja in dieser Richtung. Doch Gipfelerlebnisse gehen vorüber und verblassen in der Erinnerung; das lässt sich nicht aufhalten.
Wir haben dann aber die Wahl: Wir können das Erfahrene vergessen oder wir können danach handeln und das heißt, gläubig leben.
Je mehr unsere Haltung im täglichen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen unserem Bewusstsein innerster Verbundenheit mit dem Urgrund allen Seins entspricht, umso höher entwickelt sich unsere Gottverbundenheit und umso klarer finden wir Sinn im Leben.
Solcher Glaube verlangt, wie die Pflege jeder persönlichen Beziehung wache Kreativität. Ohne sie sinkt unsere Gottesbeziehung zu einer Art Halbschlaf ab. Unsere existentielle Bezogenheit auf Gott kann sogar als eine lästige Abhängigkeit missverstanden werden, von der wir uns dann zu «befreien» suchen.
Im innersten Herzen vertrauend anzuerkennen
«ich bin Dein, Du bist mein»,
das ist der Glaube, der uns frei und lebendig macht.[7]
Mit anderen g e m e i n s a m diesen tiefsten, alle Menschen verbindenden Glauben zu bekennen, stärkt das Bewusstsein weltweiter Gemeinschaft.
Die Erfahrung unserer Zugehörigkeit zum gemeinsamen Seinsgrund (den freilich nicht alle Gott zu nennen brauchen) haben wir mit allen Menschen gemein. Sie ist auch die Grundlage für unsere gegenseitige Zusammengehörigkeit.
Nichts dürfte heute notwendiger sein als dieses weltweite Gemeinschaftsbewusstsein aller Menschen zu fördern, das sich dann auf Tiere, Pflanzen und selbst auf die unbelebte Natur ausweitet.
Es gibt viele Glaubensüberzeugungen, aber nur einen Glauben.
Wir müssen lernen, unsere Überzeugungen weniger wichtig zu nehmen als die Urgebärde gläubigen Vertrauens.
Glaubensüberzeugungen haben die Kraft,
uns zu entzweien,
Glaube aber hat die noch größere Kraft,
uns zu einen.[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-8]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Anlässlich der Präsentation seines neuen Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet in Freiburg, München und Wien hielt Bruder David die Vorträge in den Audios Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010); siehe auch die Mitschrift des Vortrags in Freiburg und die Mitschrift des Vortrags in Wien.
Bruder David im Vortrag in Wien am 27. Oktober 2010:
(11:31) «Credo: Das lateinische Wort kommt von zwei Wurzeln her; das eine ist Cor ‒ das Herz ‒, und das andere do, dare ‒ ‹ich gebe› ‒ ‹ich schenke mein Herz.› Wer also Credo sagt, der sagt nicht: ‹Ich glaube an etwas, was man glauben kann oder nicht glauben kann.›
Es heißt: ‹Ich drücke mein tiefstes Vertrauen aus. Ich setzte mein Herz auf das, was ich jetzt da aussprechen werde. Ich verlasse mich vollkommen darauf. Ich verlasse mich.›
Worauf kann ich mich denn wirklich letztlich verlassen? Das ist die Grundfrage, wenn es um den Glauben geht.»
(47:27) «Für uns ‒ ich nenne die drei Traditionen [Judentum, Christentum und den Islam] gerne die Amen-Traditionen, denn sie haben das Wort Amen gemeinsam, und das ist ja kein Zufall, denn Amen ist die Antwort auf die Amunah Gottes, und die Amunah ist die Verlässlichkeit Gottes. Wir verlassen uns auf die Verlässlichkeit Gottes:
In diesem einen Wort A m e n liegt schon der ganze Glaube drinnen:
Ich verlasse mich auf die Verlässlichkeit Gottes.»
1.2. Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (Mitschrift) (2010), 9:
(43:06) «Die Glaubenssätze sind Sätze, in denen sich der Glaube ausdrückt, im Laufe der Tradition, zu verschiedenen Zeiten, ganz verschieden; die vertragen sich nicht miteinander, da sie sich ganz verschieden voneinander verhalten.
Wir können aber durch diese Glaubenssätze, weil sie eben Ausdrücke des Urglaubens sind, zu diesem Urglauben durchstoßen.
Und dieser Urglaube ist das Vertrauen auf das Leben.
Das ist uns eingegeben. Das haben wir als Menschen.
Wir vertrauen dem Leben. Ob wir jetzt Buddhisten, Christen, Hindus, Atheisten, Agnostiker sind, alle ‒ jeder Mensch ‒ hat dieses tiefe Vertrauen auf das Leben, als Mitgift.
Und dieses Lebensvertrauen, das ist der Urglaube.
Manchmal wird dieser sehr schwach, wenn wir enttäuscht sind, wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, im Laufe des Lebens. Das kann große Schmerzen und Verhärtungen geben.
Aber tief im Innersten haben wir alle diesen Glauben. Und dieser Glaube hat Kraft und Wärme genug, um das Eis der ‹–ismen› (Dogmatismus, Ritualismus, Moralismus) zu schmelzen.»
1.3. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 ‒ Nachmittag: Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch:
(27:54) Sich auf das große Geheimnis verlassen, heißt glauben
1.4. Im Eröffnungsvortrag ‹Stärke unsern Glauben› (Lk 17,5) in der Retreat-Woche in Assisi (1989) weist Bruder David hin, wie glauben innigst verbunden ist mit loben, geloben, bezeugen, tragen und getragen werden ‒ die Wahr-Empfangende Seite des Glaubens. Wir müssen diese Seite des Glaubens wieder entdecken und leben. Sie ist uns verloren gegangen durch die Überbetonung der Seite, die begreifen, wahr-nehmen, besprechen, versprechen, wahr-halten will.
2. Weitere Texte
2.1. Vertrauen; Lebensvertrauen; Lebensvertrauen und Dankbarkeit; Gottvertrauen im Leiden und Sterben; Gottvertrauen in Entbehrung und Unglück; Seien wir offen für das Unvorstellbare: Lebens- und Gottvertrauen als Quelle wahrer Hoffnung (2024); siehe auch Hoffnungsfroh leben
2.2. Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün zu Glaubensfragen im Buch Das glauben wir (2015): ‹Spiritualität für unsere Zeit›; siehe auch das Gespräch von Johannes Kaup, der das Buch herausgegeben hat, mit Bruder David in den Audios Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
2.3. Im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 82f., 88, [bzw. Fülle und Nichts (2015), 81, 86f.], im Kapitel «Glaube: Vertrauen auf den Geber»:
«Es mag überraschend sein, aber gerade diese Bedeutung von Glaube wird von der authentischen christlichen Tradition bezeugt.
In den Evangelien, so sagen uns die Sprachgelehrten, gibt es keine einzige Stelle, in der das griechische Wort für ‹Glaube› Überzeugungen bedeutet. Wenn Jesus beispielsweise den ‹Glauben› des römischen Beamten bewundert, dann heißt das, dass er beeindruckt ist von dem tiefen Vertrauen des Mannes, und nicht etwa von dessen religiösen Überzeugungen. Und als Jesus die Jünger für ihren ‹Mangel an Glauben› tadelt, da meint er ihren Mangel an mutigem Vertrauen; es war keine Rüge für den Abfall von einem oder dem anderen Glaubenssatz.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: ein Glaubensbekenntnis existierte noch gar nicht. Glaube bedeutete das mutige Vertrauen auf Jesus und die frohe Botschaft, die er lebte und predigte. Später zwar sollte sich dieses Vertrauen zu expliziten Glaubenssätzen kristallisieren. Der Ausgangspunkt aber ist vertrauender Mut, nicht ein für wahr halten, sondern Glaube schlechthin.
Ausgangspunkte sind in der Bibel von allergrößter Bedeutung. Der erste Vers, das erste Bild, der Anfang einer Geschichte drücken oft in Kurzform das Wesentliche der ganzen Geschichte aus. Diese Tatsache sollten wir beim Bibellesen nicht vergessen. Was ist beispielsweise der eigentliche Anfang der Geschichte unseres Glaubens, wie die Bibel sie erzählt? Es beginnt mit Abraham, den wir ‹unseren Vater im Glauben› nennen. Wenn Glaube zuallererst darin bestünde an i r g e n d e t w a s zu glauben, dann hätte Gott sicherlich damit begonnen, Abraham eine Reihe von Glaubenssätzen zu vermitteln. Glauben heißt aber in erster Linie, an j e m a n d e n
zu glauben. Gott gibt zwar Abraham Versprechungen, an die er glauben soll, aber zuerst fordert Gott sein Vertrauen heraus. Glaube ist am Anfang praktisch ohne jeden Inhalt. Es ist reines Vertrauen.» (82f., bzw. 81)
«Jener ursprüngliche Herzensmut, den wir aus Momenten aufrichtiger Dankbarkeit kennen, kommt vollendetem Glauben im biblischen Sinne näher, als wir erhofft hätten. Es ist jedoch eine Sache, jenen Glauben in einem enthusiastischen Augenblick zu erleben, eine ganz andere aber, unseren Mut im Wellengang des täglichen Lebens ‹seetüchtig› zu erhalten. Dies ist der Punkt, an dem unsere Glaubensüberzeugungen ins Spiel kommen. Sie sollen helfen, unseren Glauben über Wasser zu halten, sollen unseren Mut erneuern. Bedauerlicherweise erfüllen unsere Überzeugungen diese Funktion häufig nicht. Anstatt unseren Glauben wieder aufzurichten, ziehen sie ihn oft in die Tiefe.» (88, bzw. 86f.)]
____________________
[1] Der Mönch in uns, Beitrag von Bruder David im Buch Antwort der Erde (1978), 35. Das Zitat: «Glauben heißt nicht, einigen Dogmas oder Glaubensartikeln oder etwas Ähnlichem beizupflichten. Letztlich ist Glaube mutiges Vertrauen ins Leben.» ‒ in der Übersetzung von Eve Landis ‒ ist dem Buch entnommen: Einfach leben ‒ dankbar leben (2014): ‹365 Inspirationen›, hrsg. von Rudolf Walter, 90 (= 8. Juni).
[2] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Ich glaube an den Heiligen Geist», 184; siehe auch in Einfach leben ‒ dankbar leben (2014), 95 (= 20. Juni): «Was wäre für ein erfülltes, geglücktes Leben wichtiger als gläubiges Vertrauen? …»
[3] Der Mönch in uns (1978), 35f., Forts. des Textes in Anm. 1
[4] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 88, [bzw. Fülle und Nichts (2015), 87]; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben (1978):
«Glauben ist der Mut loszulassen. Furcht hält fest.» (92, = 14. Juni)
«Glaube ist Loslassen. Sogar in religiösen Traditionen, welche den Ausdruck Glauben vielleicht nicht benützen, finden wir diese Grundlage, nämlich: das Loslassen.» (88, = 3. Juni, Quelle: Der Mönch in uns (1978), übersetzt von Eve Landis)
[5] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Ich glaube», 22f.
[7] Ebd. «Ich glaube an Gott», 28f.
[8] Ebd. 30f.; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben (2014): ‹365 Inspirationen›, 94 (= 19. Juni): «Es gibt viele Glaubensüberzeugungen, aber nur einen Glauben. …»
Glaube, Angst, Zweifel
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Durch alle Buddhisten, durch alle Hindus, durch alle Christen, und durch jeden Einzelnen von uns, verläuft die Linie zwischen der richtigen Weise, religiös zu sein, und der falschen Weise, religiös zu sein.
Es ist die Linie zwischen Furcht und Glaube.
Furcht in ihrer religiösen Ausdrucksweise nimmt verschiedenste Gestalt an, sei es Dogmatismus, wo es am offensichtlichsten ist, oder Szientismus, der eigentlich nur eine andere Form des Dogmatismus ist, oder sei es Fundamentalismus.
Auch der Moralismus[1] ist eine Gestalt der Furcht; denn er bedeutet, dass man sich an etwas festhält, das man tun kann ‒ es ist das, was Paulus das Gesetz im Gegensatz zur Gnade genannt hat, oder die Werke im Gegensatz zum Glauben.
Man tut etwas: solange man es tun kann, hat man etwas im Griff. Man braucht auf nichts zu vertrauen; man vertraut auf das, was man erreichen und handhaben kann.
Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass es auf der Welt nur noch zwei Arten gibt, religiös zu sein.
Wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, dann will ich die eine Art die fundamentalistische nennen, das ist die Religion der Furcht.
Es ist zwar ganz offensichtlich, dass sie in meinem Sinne eigentlich gar keine Religion ist, aber sie wird nun einmal Religion genannt, und so wollen wir es bei diesem falschen Ausdruck belassen: es ist die Affenreligion, die äffende Religion, die Religion der Furcht.
Und im Gegensatz dazu steht die katholische Religion, aber wir wollen katholisch bitte mit einem kleinen «k» schreiben, denn das große Problem der Katholiken besteht darin, dass sie nicht katholisch genug sind. Es gibt katholische Buddhisten, die viel katholischer als die Katholiken mit dem großen «K» sind,[2] und es gibt katholische Juden und katholische Muslims und katholische Hindus. Es gibt sogar katholische Atheisten, aber auch fundamentalistische Atheisten. Hier eben verläuft die Trennungslinie.[3]
Richtig verstanden ist katholisch nicht das Markenzeichen einer bestimmten Gruppe von Christen ‒ «allumfassende Teilgruppe» ist ein offensichtlich widersinniger Begriff ‒, sondern kennzeichnet die Gemeinschaft aller, die mit dem uns Menschen angeborenen Ur-Glauben dem Leben vertrauen.
Wer sollte da ausgeschlossen sein?
Selbst Tiere und Pflanzen haben ja auf ihre eigene Art dieses Ur-Vertrauen. Auch wenn dieser Glaube manchmal einem Menschen selber nicht bewusst ist, im tiefsten Herzen bleibt er immer lebendig.
Schon früh hat man eine Definition für katholischen Glauben gefunden, die sich für uns heute in einem neuen Licht gültig erweist. Wahrhaft «katholisch» sei, so definierte um etwa 450 der Kirchenvater Vinzenz von Lérins,
jener Glaube, der
«überall, immer, von allen geglaubt wurde».
«Alle» bedeutete damals alle Christen, heute aber ist unser Horizont weiter geworden. Dürfen wir da gläubige Nicht-Christen noch ausschließen?»[4]
[Audio 00:00] «Ich glaube, dass viele von uns zugeben werden, dass das Gottesbild, das uns in unserer Kindheit gegeben wurde, das zeitbedingte Gottesbild, heute in Krise geraten ist. Aber ich möchte diese Krise als Wachstumskrise sehen. Denn wir können ja nur wachsen und uns entwickeln von Krise zu Krise.[5] So entwickeln wir uns eben im menschlichen Leben. Ich möchte dieser Krise in unserem Gottesverständnis ein sehr positives Vorzeichen geben.
Wenn wir über Glaubensschwierigkeiten hier sprechen, so ist natürlich der Glaube selbst immer mit der einen ganz großen Schwierig