Text, Videoe und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

vertrauen titelCopyright © - Charlotte Chatzipanayotis

«Würde» ist mit dem Wort «Wert» wurzelverwandt. Dingen, die nur vereinzelt vorkommen, messen wir Seltenheitswert bei. Wer erkennt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen, jedes Ereignis nicht nur selten, sondern einzigartig ist, wird sich der Würde bewusst, die allem, was es gibt, zukommt und wird ehrfürchtig durch das Leben gehen. Auch jedem Menschen steht diese Grundwürde zu. Wer dies erst einmal entdeckt, wird sich seiner eigenen Würde bewusst und weiß, dass sie nicht von der Anerkennung anderer abhängt. Ein solcher Mensch hat Rückgrat, geht aufrecht und weiß, was unter seiner Würde ist.

Das ist die Innenansicht von Menschenwürde. Es gilt dieses Grundverständnis von Würde festzuhalten, zugleich aber oberflächlichere und doch sehr wichtige Wertunterschiede anzuerkennen. Nur so können wir öde Gleichmacherei vermeiden. Es gibt eine Hierarchie der Werte. Für diese in vielen Bereichen der Kultur feinfühlig zu werden, kann unser Leben nachhaltig vertiefen und bereichern.

Unter dem Schlüsselwort «Würde» erwägen wir die Grundwürde, die jedem Menschen zusteht. Leider sind viele Menschen sich dieser Würde nicht bewusst. Um im Bewusstsein seiner Menschenwürde aufzuwachsen, braucht ein Kind zweierlei: die Erfahrung, bedingungslos geliebt zu sein, und die Erfahrung, in seiner Einzigartigkeit anerkannt, bejaht und unterstützt zu werden.

Weil dies heute vielen Kindern nicht zuteilwird, gibt es mehr und mehr Menschen, die sich wertlos und erniedrigt fühlen. Für Erwachsene, die nicht von Kindheit an ins Bewusstsein ihrer Menschenwürde hineinwachsen konnten, ist es schwierig, dies nachzuholen. Jedoch: Das Leben schenkt uns, was wir dazu brauchen. Wir gehören bedingungslos der Gemeinschaft der Lebenden an. Das heißt, das Leben liebt uns und bejaht uns in unsrer Einmaligkeit. Darauf dürfen wir uns verlassen. Dies zu bedenken, kann eine große Hilfe sein.

Menschenwürde ‒ unsre eigene und die jedes Menschen ‒ gehört heute unweigerlich zum Lehrstoff der Grundausbildung. Aber das Elend in unsrer Welt macht es für manche Menschen nahezu unmöglich, sich geliebt und anerkannt zu fühlen. Das Verbrechen gegen die Menschenwürde, das Not und Elend in der Welt darstellen, fordert die ganze Menschheitsfamilie heraus. Das Elend abzuschaffen, liegt laut Experten in realistischer Greifweite. Diese Aufgabe unverzüglich in Angriff zu nehmen, verlangt daher die Menschenwürde.[1]

Rückgrat

Rückgrat bedeutet zunächst rein anatomisch die Wirbelsäule, wird aber in verschiedenen übertragenen Bedeutungen für wichtige spirituelle Aspekte verwendet. Wer Rückgrat hat, erweist sich als selbstsicher und charakterstark. Menschen mit Rückgrat stehen zu ihren Grundsätzen, auch gegen Widerstand und unter Druck. Jemandem das Rückgrat brechen, das heißt, jemanden lahmlegen und ihm die Widerstandskraft nehmen. So wie wir durch Sport die Gelenkigkeit unsrer Wirbelsäule trainieren können, so können wir auch unser Rückgrat durch spirituelle Übungen trainieren.

Der Begriff «Rückgrat» eignet sich auch dazu, über einen Bewusstseinswandel zu sprechen, der in unsrer Zeit stattfindet. Es gab in der Entwicklungsgeschichte Jahrmillionen vor der Entstehung des inneren Skeletts, zu dem die Wirbelsäule gehört, ein sogenanntes äußeres Skelett, wie wir es heute noch als Panzerkruste von Krabben und Krebsen sehen können und als Chitin-Panzer von Käfern.

Ein äußeres Skelett gibt dem Körper Schutz und Stütze, macht aber die Bewegung schwerfällig. Denken wir nur an einen Laufkäfer, der auf dem Rücken liegt, mit den Beinen strampelt und sich nicht aufrichten kann. Durch ein inneres Skelett gewinnt der Körper eine ganz neue Beweglichkeit.

Wir erleben heute einen psychischen Entwicklungsschritt, der vergleichbar ist mit dem Schritt vom inneren zum äußeren Skelett in der physischen Evolution. Bis vor Kurzem war das ethische Tun und Lassen in unsrer Gesellschaft durch Verhaltensvorschriften bestimmt, die als allgemeinverbindlich galten und das Leben der Einzelnen ‹von außen› her bestimmten. Diese gesellschaftlichen ethischen Bindungen sind weitgehend verlorengegangen. In Zukunft werden wir sie, auf uns selbst gestellt, durch Rückgrat ersetzen müssen. Das verlangt von uns, dass wir uns als Einzelne unsrer ethischen Grundsätze klar bewusstwerden und überzeugt für sie einstehen. Wenn uns das gelingt, wird es dem Schritt vom Panzer zur Wirbelsäule vergleichbar sein, der selbst das Tanzen möglich macht. Die Weltgeschichte bietet uns leuchtende Beispiele von prophetischen Gestalten, die mit Rückgrat auftraten. Hildegard von Bingen setzte sich als Frau gegen eine Welt herrischer Männer durch und Katharina von Siena wies dem Papst mild und ehrerbietig, aber entschieden seinen Platz an.[2]

Ehrfurcht und Scham

(Bruder David am Schluss seines Vortrags Menschenwürde (2019); siehe auch Audio ‹Die Würde des Menschen›:)

(45:52) «Und da kommen wir zu einer Definition von Würde, und da könnte man sagen: Würde ist der unbedingte Wert jedes einzelnen Menschen als Repräsentant des großen Geheimnisses; so stellt sich das große Geheimnis dar.

Und was meine ich mit Geheimnis? Das ist gar kein so geheimnisvoller Begriff, das lässt sich ganz klar sagen: Unter Geheimnis verstehen wir eine Wirklichkeit, die wir nicht begrifflich erfassen können, wohl aber durch ihre Wirkkraft auf uns verstehen können. Das große Geheimnis können wir verstehen, wenn es  u n s  ergreift.[3]

Bernhard von Clairvaux sagt: ‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.›[4] Und wir wissen alle zum Beispiel, dass man Musik nicht analytisch begreifen kann, aber man kann sie verstehen, wenn sie einen ergreift. Und das ist ein Beispiel von dem großen Geheimnis, das uns ergreift und unsere Beziehung zu diesem großen Geheimnis.

Und wir sind Repräsentanten dieses großen Geheimnisses, denn wir sind uns selber ja Geheimnis. Wir können uns selber nicht ausloten: du kannst dich verstehen, aber nicht begreifen. Also bist du dir selber Geheimnis und die ganze Umwelt und die ganze Mitwelt.

Und vor diesem großen Geheimnis des Lebens tragen wir Verantwortung. Das gehört unbedingt zur Würde dazu. Wir haben unbedingten Wert, weil wir Repräsentanten dieses großen Geheimnisses sind, und haben davor Verantwortung. Da kommen alle anderen Menschen, alle anderen Bereiche dazu; diese Verantwortung lässt sich nicht trennen von der Würde. Wer Würde hat, der hat Verantwortung, ist sich verantwortungsbewusst.

Verantwortung bedeutet, dass wir so leben, dass wir jeden Augenblick ‒ idealerweise ‒ den Anruf des Lebens hören. Denn das Leben gibt uns jeden Augenblick etwas Neues, das kann man als einen Anruf verstehen, weil es auch etwas von uns will. Meistens ist es sehr angenehm: es will nur, dass wir uns daran freuen ‒ meistens ‒, hie und da auch sehr schwierige Dinge, und wir müssen antworten. Und das ist Verantwortung im letzten Sinn.

Der große russische Philosoph Ende des 19. Jh., Wladimir Solowjow,[5] spricht von drei Haltungen, die uns wirklich zu Menschen machen, und das hat sehr mit der Würde zu tun.[6]

Und das Erste ist: Die Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis. Wir erleben das meistens in unseren besten und lebendigsten Augenblicken, in unseren Gipfelerlebnissen, zugleich mit Furcht und Begeisterung. Wir sind zugleich angezogen und erschrocken in diesem Doppelereignis, wenn wir in einem großen Gewitter sind oder in den Bergen.[7] Diese Ehrfurcht ist nicht Furcht.[8]

Das Zweite, was uns zu Menschen macht ‒ gegenüber der Umwelt und Mitwelt ‒, ist Mitgefühl: ‹Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu›.[9]

Und das dritte ‒ uns selbst gegenüber ‒, sagt Solowjow, ist Scham. Das ist ein erstaunliches Wort, das er hier verwendet: es schützt unsern Intimbereich. Es hat mir unserer Würde zu tun, indem ich mich schäme, mich unwürdig zu benehmen. Die Scham behütet meine Einzigartigkeit, während das Mitgefühl meine Zugehörigkeit betont. Und die Ehrfurcht ist die Grundlage für Mitgefühl und Scham.

Und in unserer Gesellschaft ist das Bewusstsein der Würde weitgehend verlorengegangen. Das sagen alle, die sich mit diesem Begriff der Würde beschäftigen, und warum? Es gibt sicher viele Gründe; einer, der mir in die Augen sticht, ist unsere Vereinzelung. Die Vereinzelung ist das Gegenteil vom Bewusstsein der Zugehörigkeit. Viele Menschen erleben das als Einsamkeit, man kann es aber in diesem Zusammenhang als etwas sehr Positives sehen: Wir haben unsere Eigenständigkeit gefunden: das war ungeheuer schwierig, dafür haben Generationen unserer Vorfahren viel bezahlt an Energie und Leid, dass wir nicht einfach Teile der Gesellschaft sind, sondern eigenständige Wesen. Das ist etwas sehr Wichtiges. Aber wir haben das soweit getrieben, dass unsere Verbundenheit zu den anderen verlorengegangen ist.

Und jetzt stehen wir vor dem nächsten Schritt, dass wir alles das Positive, das durch unsere Eigenständigkeit erworben wurde, mitnehmen und die Verbundenheit wieder erleben und diese Verbundenheit  l e b e n. Das ist die große Aufgabe.

Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gewürdigt wird, und zwar als Person, nicht als Nummer oder Fall. Und Person ‒ das Wort kommt vom lateinischen Wort ‹persona›, der Maske, die die Schauspieler in Athen und Rom getragen haben, und heißt eigentlich ‹das Durchtönende›: ‹per-sonare› heißt durch-tönen.[10] Und wir sind Person, weil durch uns das große Geheimnis sich ausdrückt und wir aufeinander horchen und das Geheimnis durchtönt durch uns.

Und C. F. Lewis schreibt einmal: Wenn wir wirklich einen anderen Menschen sehen könnten mit offenen und gesunden Augen, wären wir so hingerissen, dass wir niederfallen würden und anbeten ‒ irgendeinen Menschen. Weil das große Geheimnis durch  j e d e n Menschen durchtönt. Und das ist letztlich Grund unserer Würde.»

Am Schluss des Vortrags ermutigt Bruder David alle, die zuhörten, einen Entschluss und Vorsatz zu fassen, und «der Entschluss kann nicht kräftig genug sein, und der Vorsatz kann nicht spezifisch genug sein:  d a s  werde ich tun ‒, etwas ganz Kleines, zum Beispiel: Ich werde die anderen anders anschauen und sie anlächeln.»[11]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f. und 11]

[Ergänzend:

1. Videose

1.1. Vom Ich zum Wir: Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021): Videointerview von Egbert Amman-Ölz mit Bruder David; siehe auch Mitschrift des Videointerviews unter dem Titel: Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität, 3:

«Und das Leben zeigt uns auch, dass es uns anerkennt. Das Leben stellt keinerlei Bedingungen – keinerlei Bedingungen: Du atmest, du lebst, du wachst am Morgen wieder auf, nicht unter der Bedingung, dass du dich angepasst hast, sondern das Leben anerkennt dich wie du bist.»

1.2. Würde ‒ was wären wir ohne sie? (2018); Übersicht über die Themen des Gesprächs und Auszüge aus dem Buch Der Stehaufmann, 195:

«In meinem Leben habe ich selten Geborgenheit erlebt, die ja mehr ist als nur die Sicherheit äußerer Rahmenbedingungen. Als Kind wurde ich, weil ich mich seelisch nicht geborgen fühlte, immer wieder krank oder überspielte diese Leere, auch noch als Jugendlicher durch Ungezogenheit.»

2. Audios

2.1. Menschenwürde (2019); ebenso im Audio ‹Würde und unsere Einzigartigkeit›:

(38:35) «Wer Würde erlebt und Würde hat, ist unbestechlich, ist unverführbar. Zur Würde gehört: Ich weiß, was ich tue, ganz gleich, ob das andere tun oder nicht. Und da ist eben schon von Kindheit an der Gruppendruck sehr stark in die gegenteilige Richtung.

Um es nochmals zusammenzufassen: Ich gehöre dazu zu dem Ganzen. Die Evolution hat mir ein Heim bereitet.[12] … Es ist etwas ganz Außergewöhnliches, dass unser Planet wie ein Heim vorbereitet ist, um uns zu empfangen. Und das Leben erhält mich am Leben.

Das Leben, diese geheimnisvolle Wirklichkeit: Wir sprechen so leicht über das Leben: ich habe mein Leben, ich nehme mir das Leben, ich kann mir das Leben nehmen. ‒

Hast du wirklich das Leben, oder hat das Leben dich? Vielmehr: das Leben hat mich! Ich könnte keinen Augenblick überleben, wenn nicht das Leben mich am Leben erhielte.»

(44:39) «Ich bin in das Geheimnis des Lebens eingebettet, engstens verschlungen, verwoben: wir können gar keinen genügend starken Ausdruck finden, wie eng wir in das Leben eingebunden sind.

Und offensichtlich will das Leben mich so, als mich entfaltend in meiner Eigenart, weil: dieses so ist nicht statisch, es will mich so in meiner Eigenart, die bis zum letzten Augenblick noch nicht völlig entfaltet ist. Rumi sagt: ‹Niemand wird meinen wirklichen Namen kennen› ‒ das heißt, niemand wird wissen, wer ich wirklich bin ‒, ‹bevor mein letzter Atemzug ausgegangen ist›, weil ich es selber nicht weiß; und alles das gilt auch von allen anderen Lebewesen.»

2.2. Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Erstes Kamin-Gespräch mit Bruder David; siehe auch Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David:

(06:26) «Vor 100 Jahren war Würde ein Wort, das jeder ständig im Mund führte. Und damit hängt zusammen: Scham. Also ‹unwürdig› und ‹unverschämt› gehören da zusammen. Und wir haben das Gefühl der Scham völlig verloren.

Wladimir Solowjow, der große russische Denker des späten 19. Jahrhunderts, schrieb: Was uns als Menschen charakterisiert, was uns vom Tier unterscheidet, ist Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis, Mitgefühl ‒ mit allen Menschen, Tieren, Pflanzen, mit dem ganzen Universum ‒, und Scham. Scham, unsere Würde nicht zu verletzen.

Mitgefühl ist in aller Munde und Ehrfurcht ist spirituellen Menschen recht verständlich, aber Scham muss heute wieder sehr unterstrichen werden.»

2.3. Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamin-Gespräch mit Bruder David; siehe auch Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach und Lebensvertrauen: Ergänzend: 4.1.:[13]

(26:55) «Das Wesentliche an der Ethik ist, Augenblick für Augenblick hinzuhorchen: was will das Leben jetzt von mir, und verantwortlich das zu tun. Sehr häufig wird diese Verantwortung nicht so klar gesehen.

Aber wenn man das übt, wenn man sich dessen bewusst ist: ich möchte in Gott und mit Gott leben ‒ das heißt, in diesem Augenblick begegnet mir Gott ‒, da muss ich mich immer wieder bemühen, zunächst einmal aufzuwachen: Was will jetzt dieses Leben von mir? Und das ist manchmal nicht so klar zu sehen. Da muss man halt das Beste tun, und wenn es ein Fehler war, den ändern, aber doch hinhorchen und auch vertrauen, dass das Leben jeden Augenblick etwas von uns verlangt, und zwar oft sehr angenehme Sachen. Das Leben ist ja nicht ein ganz so strenger Lehrer, es sagt fast in jedem Augenblick: Freu dich doch, und wir sind anderweitig beschäftigt.[14] Und auch, wenn andere Sachen dazukommen ‒ ja, das ist wirklich schwierig: du kannst ja doch noch tief durchatmen ‒ das ist ja auch ein Geschenk, viele Menschen können nicht anständig atmen, du kannst jetzt atmen ‒, und trotzdem, mit der ganzen Belastung: tu’s doch! Das ist auch eine Antwort auf die Herausforderung des Lebens.»

2.4. Eine Kultur der Ehrfurcht neu entdecken (2023): Audio-Gespräch von Jörn Florian Fuchs mit Bruder David:

(05:47) «Das Leben lebt  u n s. Das Herz dieses Lebens ist das große Geheimnis. Es atmet uns, das ist christlich gesprochen der Heilige Geist. Der Geist Gottes atmet in uns. Und ich nenne es lieber das große Geheimnis, als von Gott zu sprechen, obwohl es genau dasselbe ist, aber das Wort Gott wurde so missbraucht, auf so viele Weise ‒ ich habe selber Hitler als Kind noch von Gott reden gehört. Gott nenne ich es unter dem Aspekt, dass wir zu diesem Geheimnis eine ganz enge Beziehung haben. Dass es zu uns spricht und wir zu diesem Geheimnis sprechen können.»

(17:08) «Ich glaube ‒ das ist eine durch viel Überlegen und viel Studium unterbaute Meinung ‒, dass unsere Zukunft ‒ ob wir eine Zukunft haben ‒, überhaupt davon abhängt, ob wir den Zugang zum großen Geheimnis, also eine Kultur der Ehrfurcht, dadurch auch Ehrfurcht vor anderen Menschen ‒ der Würde der anderen Menschen ‒, wieder finden.

In der Geschichte, wenn wir auf die Jahrhunderte zurückschauen, war es auch nicht so rosig. Wo Menschen sind, war es immer schon recht grausam, kann man nur sagen. Aber ein ganz wichtiger Unterschied, ein Bruch, zeigt sich mit dem Ende des ersten Weltkriegs. Und das steht mir persönlich ja noch sehr nahe: acht Jahre war der Weltkrieg vorbei, wie ich geboren wurde. Also ich habe noch die vielen Verwundeten gekannt, damals es hat ja nur so gewimmelt von einarmigen und einbeinigen Menschen und Blinden und Tauben, davon waren ja tausende und hunderttausende in Wien, ich habe das noch mitbekommen irgendwie. Auch den Umbruch. Ein Umbruch von einer grundsätzlich ehrfürchtigen Haltung dem Leben gegenüber zu einem oberflächlichen Dahinleben, das diese Ehrfurcht verloren hat. Es ist etwas Schreckliches. Und zurückbringen kann man nichts, man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, aber was mir am wichtigsten und entscheidendsten erscheint, wenn wir auf die Zukunft hinschauen, ist, dass wir Ehrfurcht vor dem Leben und vor der Natur und vor den anderen Menschen und Tieren ‒ Ehrfurcht vor der Würde des Lebens ‒, wieder finden oder neu entdecken, sonst ist unser Weiterleben als Menschheit eigentlich sehr zweifelhaft.»

(22:12) «Ich habe Hoffnung. Aber Hoffnung ist etwas anderes wie Hoffnungen. Hoffnung im spirituellen Sinn, heißt: Offenheit für Überraschung. Und mit dieser Offenheit für Überraschung durchs Leben zu gehen ‒ privat, ganz persönlich ‒, ist sehr, sehr hilfreich. Denn, wenn wir Hoffnungen haben: die machen wir ja uns immer selber. Aber Offenheit für Überraschungen ist Offenheit für das, was das Leben uns schenkt. Und diese Offenheit macht uns so bereit, kreativ mit dem, was uns gegeben wird, umzugehen. Und das ist das Entscheidende. Also wenn es noch viel ärger kommt, als ich es mir überhaupt vorstellen kann, bin ich überzeugt: es wird das Beste sein. Denn das Leben weiß es besser.»

2.5. «Wähle das Leben» (5 Mose 30,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben
Gespräch Teil 2:
(23:00) Unser Leben, eine einzigartige, noch nie dagewesene Selbstverwirklichung Gottes – Selbstverwirklichung dieser überfließenden Liebe]

__________________

[1] WÜRDE / MENSCHENWÜRDE in: Das ABC der Schlüsselworte  im Buch: Orientierung finden (2021), 164f. und 149f.; siehe auch Ehrfurcht: Ergänzend 2.1.

[2] RÜCKGRAT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155

[3] Siehe in Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 42

[4] Siehe auch Andreas Salcher im Gespräch mit Bruder David (2018), Anm. 6

[5] Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1853-1900); ältere Schreibweise: Wladimir Sergejewitsch Solowjew

[6] Siehe Jean-Claude Wolf: Humanismus oder warum wir keine Tiere sind: Überlegungen im Ausgang von Wladimir Solowjew

[7] Orientierung finden (2021), 63; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:

«Rudolf Otto (1869-1937) hat die Begegnung mit dem Geheimnis unter dem Aspekt des ‹Heiligen› gründlich untersucht. Er beschreibt die beiden Gefühle, die das Heilige in uns auslöst, als «tremendum» ‒ das heißt, es lässt uns ehrfürchtig erschaudern ‒ und ‹fascinans› ‒ das heißt, es löst begeistertes Entzücken aus.»

[8] EHRFURCHT in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 133:

«Nach allem, was wir über Furcht und Angst geschrieben haben, verlangt der zweite Teil dieses Wortes nach einer Erklärung. Die Ehrfurcht weigert sich ‒ denn Weigerung ist die Haltung der Furcht ‒, Ehre anzutasten. Ehrfurcht ist ein Erkennungsmerkmal eines spirituell wachen Menschen. Dieses Wachsein ist verlangt, um die Gegenwart des Geheimnisses zu spüren. Da das Geheimnis in allem, was uns begegnet, gegenwärtig ist, ist Ehrfurcht eine Lebenshaltung spiritueller Menschen. Diese Ehrfurcht zeigt sich in der Begegnung mit allen Lebewesen als Anerkennung der Würde, die ihnen zukommt. Von größter Bedeutung ist heute Ehrfurcht vor der Menschenwürde.»

[9] Diese Haltung ist auch als Goldene Regel bekannt, siehe Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamin-Gespräch mit Bruder David
(30:26) Wann ist Ethik ethisch? und Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017)

[10] Die Rolle ist das Ich, der Schauspieler ist das Selbst (2011)
Zum Video::    Das Ich als Maske und das Selbst ‒ kurzer Ausschnitt aus ‹Ich und Selbst› im Zentrum Buddhas Weg im Odenwald (DE); siehe auch Ich-Selbst: Ergänzend: 1.2.

[11] Transkription des Vortrags Menschenwürde (2019) (45:52-55:10), identisch mit dem Audio ‹Die Würde des Menschen›

[12] Siehe den Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975)

[13] siehe auch Audio-Fokus  Das Wesentliche an der Ethik

[14] «Als ich mich wirklich geliebt habe, verstand ich, dass ich im Leben in jeder Situation zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, und in genau dem Moment konnte ich mich entspannen. Heute weiß ich, dass es einen Namen für dieses Gefühl gibt: Selbstachtung.» (Charlie Chaplin)«Das Leben ist das, was passiert, während wir andere Pläne schmieden.» (John Lennon)



Quellenangaben

logo bibliothek

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.