«Würde was wären wir ohne sie?» (2018)
Übersicht über die Themen des Gesprächs von Heiner Schmidt mit Helmut von Loebell und Bruder David Steindl-Rast
Transkription© von Hans Businger (2024)
Einführung in das Gespräch
Beginn mit Musik ‒ (03:10) Heiner Schmidt (HS) leitet das Podiumsgespräch ein:
«In Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt es, die Würde des Menschen ist unantastbar, doch was genau ist Würde, was bedeutet es, wenn unsere Würde verletzt wird?»
Der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther sagt: «Das Bewusstsein unserer Würde ist so etwas wie ein innerer Kompass, den jeder Mensch im Lauf seines Lebens entwickelt und der ihm hilft, sich nicht in der Vielfalt der von außen an ihn herangetragenen und auf ihn einstürmenden Anforderungen und Angebote zu verlieren.»[1]
Er meint, es sei wichtig, dass wir lernen, die Wahrnehmung der eigenen Würde zu stärken; wer sich seiner Würde bewusst wird, geht aufrechter, lebt authentischer und ist auch nicht mehr verführbar.
Wir wollen heute Abend überprüfen: ist das so, hat er recht, und wenn ja, wie macht man das, die eigene und die Würde anderer stärken?
(05:14) Musik ‒ (06:25) HS stellt uns Helmut von Loebell (HL) und Bruder David (BD) vor und sagt, wo und wie sie einander begegneten.[2]
Teil 1: Würde erleben in der eigenen Kindheit
(14:36) Unsere Würde entsteht sehr früh und wesentlich ist, dass wir gesehen werden, dass wir wahrgenommen werden, dass wir Zugehörigkeit erleben, dass sich jemand freut über uns, dass wir Spielraum haben, uns zu entfalten. (Gerald Hüther)[3]
HS geht auf die Kindheit von Helmut von Loebell ein und fragt ihn: Was hat dir in den Jahren deiner Kindheit geholfen, dass du so etwas wie Geborgenheit erlebt hast oder die Möglichkeit, trotzdem Ja zum Leben zu sagen (Viktor Frankl), obwohl du gespürt hast, ich bin in Wirklichkeit nicht willkommen, sondern meinen Eltern eine Last?
(16:48) Helmut von Loebell blickt zurück auf sein Leben und gesteht innerlich bewegt, wie ihm die Erfahrung von Würde und Geborgenheit als Kind und als Geschäftsmann versagt blieb; er erlebte Geborgenheit erst in seiner Familie, die an diesem Abend vor ihm sitzt: Man kann entweder zu Grunde gehen oder sich aufraffen und sagt sich schon als 6, 8, 10jähriger: Das mache ich jetzt anders. Das kleine Kind in mir hat gesagt, das musst du anders regeln: Wenn ich einer Familie nicht mehr passte, dann habe ich einen solchen Zirkus gemacht, dass meine Mutter mich abgeholt und zur nächsten gebracht hat. Das war natürlich eine tolle Sache: Ich konnte über mein eigenes Leben entscheiden. Die letzte Entscheidung, die meine Mutter getroffen hatte, war, dass sie mich nach Kolumbien schickte. Ich wollte nicht nach Kolumbien, ich wollte Dirigent, Anwalt werden. Seitdem ‒ ich war damals 18½ Jahre alt ‒ habe ich allein über mein Leben entschieden.
(19:57) BD: Ich bin ungeheuer dankbar, weil alles, was dir in deiner Kindheit nicht geschenkt wurde, mir trotz der schwierigen Umstände ‒ Depression und Kriegszeit ‒ geschenkt wurde.
Es waren äußerlich immer große Schwierigkeiten, aber mir wurde immer das Bewusstsein geschenkt, ich werde geliebt ganz gleich, was ich tue. Natürlich wusste ich auch ganz genau, was ich tun darf und was ich nicht tun darf. Aber ich wusste auch, wenn ich das tue, was ich nicht tun darf, dass ich dann nicht weniger geliebt werde von meinen Eltern. Das war nicht ausgesprochen, das war einfach ein Bewusstsein.
Und außerdem wurde meine Eigenartigkeit völlig anerkannt, wir waren drei Brüder und wir waren ganz verschieden voneinander, doch unsere Verschiedenheit wurde völlig gefördert mit großen Kosten. Ich wollte Florettfechten lernen und meine Mutter musste dafür zusätzlich Nachhilfestunden geben in Englisch, damit wir uns das leisten konnten. Sie hat ausdrücklich gesagt: Was ihr lernen wollt, ‒ wenn ihr dabeibleibt ‒, dürft ihr machen. Wir werden das Geld irgendwie aufbringen.
(23:09) Bruder David fragt Helmut von Loebell, wie er in seiner Kindheit, in der er weder fraglose Zugehörigkeit erleben durfte, noch in seiner Eigenart anerkannt wurde, durchgekommen ist: Wie lebte er das trotzdem?
HL: Ich hatte erst einmal die Notwendigkeit zu überleben. Man muss nicht mehr wissen, man muss nicht mehr sein wollen als man mitgekriegt hat, was einem auch pränatal in die Wiege gelegt wurde.
BD: Natürlich hast du versucht, den Kindern zu geben, was du selber nicht bekommen hast.
HL: Das habe ich vorher nicht gewusst, mir ist erst vor 10 oder 15 Jahren bewusst geworden, was ich bereits 40 oder 50 Jahre mache. Statt wie andere Golf spielen, wollte ich mich in Bogotá um Kinder kümmern.
HS: Zum Stehaufmann gehören Niederlagen und die Härte des Geschäftslebens, in der ein Großkaufmann die Würde anderer verletzt.
(27:03) HL: Geschäfte, wenn man sie groß machen will, sind eine Sache, dass man durch die Wand geht. Das ist purer Kapitalismus. Entweder ist man affiliiert dazu oder man wird Künstler, Lehrer oder Pfarrer. Der Stehaufmann ist ein Abenteurer, der durch die Wand geht, so wie mein Großvater vor 120 Jahren in Kolumbien. Den habe ich nachgemacht, jedenfalls zum Teil.
Geschäftemachen in Südamerika, große Geschäfte, Staatsgeschäfte, das macht man nicht nur mit Liebenswürdigkeit, da muss man ab und zu den Fuß hineinstellen, dass es würdelos ist. Ich würde mich nicht als würdelos bezeichnen, aber einige Taten, die ich gemacht habe, sind ohne Zweifel würdelos.
Ich kann ja meine Würde gar nicht verlieren. Die habe ich ja geerbt. Mit der bin ich auf die Welt gekommen: pränatal und postnatal. Aber ich kann würdelose Taten tun, und zwar eine ganze Menge. Wenn man würdevolle Taten tut, wie Kinderdörfer organisieren, dann muss man auch ab und zu eine würdelose Tat machen. Aber wenn man etwas tun will, dann muss man es tun und nicht nur darüber reden: sechs Schritte voraus und fünf zurück.
Teil 2: Würde ‒ was meinen wir damit?
(30:51) Musik ‒ (34:31) HS: Der Begriff ‹Würde› ist vielschichtig.
BD: Mir hat es geholfen, eine große Klarheit zu finden in dem, was über Würde geschrieben wird, dass es immer wieder auf zwei Dinge ankommt: auf Zugehörigkeit und auf Eigenständigkeit.
Damit Kinder das Bewusstsein ihrer menschlichen Würde erlangen, muss man ihnen das Bewusstsein der unbedingten Zugehörigkeit ohne Wenn und Aber schenken, und zweitens: Du bist ganz etwas Besonderes und hast ein Recht, ganz besonders zu sein, zunächst in der Familie.
Der nächste Schritt ist, dass das eigentlich auch in der Schule sein sollte. Bei allen wichtigen Schulreformen ‒ hier in Deutschland und Österreich: Schule im Aufbruch und eine große Schulreform in Argentinien ‒ geht es darum, den Kindern Zugehörigkeitsgefühl zu geben zur Schule, zu den anderen Mitschülern und zu allen, die in der Schule arbeiten, und ihnen zu vermitteln: jede und jeder von uns ist einzigartig und unersetzlich und wird gerade geschätzt, weil sie oder er so verschieden ist von den anderen.
Das ist wirklich eine Frage der Schulreform, denn in der typischen Schule gehörst du nur dazu, wenn du dich anpasst. Der Lehrplan ist nicht auf diesen oder jenen Studenten zugeschnitten, sondern du musst genau hineinpassen.
Wir wissen aus der Geschichte, dass oft Kinder, die in der Schule Versager waren, später als Genies der Menschheit viel geschenkt haben.
(39:25) Für Menschen, die ohne dieses Gefühl der Zugehörigkeit aufgewachsen sind, ist es schwierig, aber nicht unmöglich, einen Zugang zu finden: Ich gehöre dem Ganzen der Welt an, diesem großen Kosmos ‒ religiös ausgedrückt: Ich bin ein Kind Gottes, wir alle sind Kinder Gottes in einer großen Familie ‒, und ich habe meine eigene Rolle hier zu spielen, die kein anderer Mensch genau so spielen kann.
Unsere Verschiedenheiten sind ja unglaublich groß, wenn man einmal beginnt, darüber nachzudenken. Und wenn diese beiden zusammenkommen: fraglose Zugehörigkeit und Würdigung der Eigenart, dann kann jemand seine Würde leben. Das gilt für die Erziehung der Kinder und für die Würdigung anderer. Es fühlt sich so an, als ob man fest s t e h t, man ist irgendwie gesichert in Würde. Es gibt einem eine Sicherheit. Wenn man die hat, kann man auch andere würdigen und andere würdig behandeln.
Das heißt: Wie immer die verschiedenen Situationen sind, man gibt den andern das Gefühl: Du bist ganz anders, doch wir gehören zusammen, wir haben gemeinsame Interessen ‒ alle Menschen haben gemeinsame Interessen ganz tief irgendwo ‒, und ich erkenne dich in deiner Andersartigkeit an. Ich weiß das zu würdigen. Nicht Gleichmacherei.
Verlust der Würde und Scham
(41:56) BD: Und das ist halt leider in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Und es ist in unserer Lebenszeit verlorengegangen. In meiner Kindheit hat die Gesellschaft Menschenwürde als einen großen Wert angesehen. Und heute wird sie nicht mehr als großer Wert angesehen. Sie steht vielleicht noch in den Gesetzbüchern, aber man will ganz allein sein, das Ideal ist der Einzelgänger, der nicht aus Zugehörigkeitsgefühl handelt, und seine Einzigartigkeit auf Kosten der andern auslebt.
(43:37) HS erlebt, wie junge Menschen warme, mit Körperkontakt spürbare Wertschätzung ausdrücken und spricht HL auf die Waldorfschulen an.
HL: In den Waldorfschulen nehmen wir das Kind als eine geistige Entelechie wahr, wir nehmen das Kind wahr, wir haben nicht 35 Kinder, wir haben 35 Schicksale.
Die Würde ist das Treffen der geistigen Welt in mir. Ich muss eine Beziehung zu ihr aufbauen. Ganz praktisch, Wolkenkuckucksheime gibt’s genug. Das höhere Ich hat eine Beziehung zu der geistigen Welt und diese geistige Welt wird in mir durch die Würde vertreten, sie ist ein Kontrollorgan im positiven Sinn des Wortes, ein Organ der Liebe.
(48:10) BD: Zu der Eigenständigkeit, die heute betont wird, gehört als Gegengewicht die Zugehörigkeit dazu: beides muss gegenseitig ausgewogen sein, und zudem das Bewusstsein, dass ich meinen Teil tue. Ich habe eine Begabung und ich schulde der Gesellschaft, dass ich, was immer meine Aufgabe ist, so gut wie möglich tue.
Daran sieht man den Verlust der Menschenwürde in der Gesellschaft: Vor nicht allzu langer Zeit konnte man sicher sein, wenn man einen Mechaniker gebraucht hat oder einen Installateur im Haus oder einen Elektriker, dass man sich verlassen konnte, dass die das so gut wie möglich machen. Und ich fürchte, man kann das nicht mehr heutzutage. Es ist nicht mehr das Ideal. Ein Installateur hätte sich geschämt, nicht sein Bestes zu geben, wenn er irgendwo hinkommt, und man hat es unverschämt genannt, wenn jemand das nicht gemacht hat. Scham und Unverschämtheit, das gehört auch sehr zu dieser Würde dazu.
Die Würde eines Menschen, das Bewusstsein seiner Würde zeigt sich darin, dass man sich schämen würde, etwas zu tun, was unter seiner Würde ist.
HS: Das Gewissen in uns ist auch ein Gradmesser, was würdig und unwürdig ist.
HL: Die Würde könnte eine Art der Geborgenheit der Gesellschaft sein gegenüber der geistigen Welt. Ich fühle mich geborgen, indem ich mit meiner Würde würdevoll umgehe.
HS: Jeder Mensch ‒ egal seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seines religiösen Hintergrunds ‒ hat den Hl. Geist in sich, das göttlich Ja.
Die eigene Würde leben
(51:31) HS: Wo lebt ihr Eure eigene Würde am stärksten? Kann man Würde festmachen an einem Gefühl, an einem inneren Zustand? Habt ihr Methoden, die eigene Würde zu leben?
HL: Wenn ich mir des Geistigen in mir bewusstwerde, dann ist das ein Glücksgefühl, ein Akt der Liebe. Das Geistige ist, wenn ich mir bewusstwerde, dass ich ein geistiges Wesen bin. Situationen, in denen das kleine Kind in mir angefacht wird. Und das kleine Kind möchte, dass ich die Sachen würdevoll mache.
HS: Mit deiner Geschichte, den kleinen Helmut in dir zu lieben, der ganz viel entbehrt hat.
(54:35) BD: Die Zugehörigkeit erlebe ich in zwei Situationen: Im Chorgebet ‒ das gemeinsame Singen, die Gemeinsamkeit im Kloster ‒ und in der Natur. Ich glaube, dass viele Menschen, die ihre Religiosität in der Natur ausleben, eben dort dieses Zugehörigkeitsgefühl haben.
Und meine Eigenständigkeit erlebe ich am meisten in dem, was ich schon gesagt habe: Ich will meinen Teil ‒ etwa beim Schreiben oder Abwaschen ‒ so gut wie möglich machen. Das kann auch ein bisschen eine Art Besessenheit sein, da muss man sich hüten.
(56:00) Und dann kommt natürlich in meinem Alter dazu: Die Frage vom würdigen Sterben. Und das hängt nicht so sehr von einem selber ab, da muss man hoffen, dass man selber nicht eine Nummer wird oder ein Fall. Ich muss ehrlich sagen, davor habe ich eigentlich Angst. Ich stelle mir vor, ich bin irgendwo in einem Spital, ich kann nicht mehr reden, und werde so als Ding behandelt. Ich würde versuchen, das anzunehmen als Zugehörigkeit zu allen andern, die selber auch in einer solchen Lage sind ‒ hunderttausende Menschen sind in einer solchen Situation. Es gehört im Leiden dazu, sich immer wieder daran zu erinnern, wie viele andere dasselbe erleiden.
Und ich bemühe mich, wenn ich Menschen sehe, die mir so ganz fremd sind, in ihnen Menschenkinder ‒ Gotteskinder ‒ zu sehen, wir alle sind ganz verschieden, aber wir gehören zusammen: Bettler, die am Rand sitzen. Manchmal ist es viel einfacher, sich eins zu fühlen mit dem Bettler, der bei der Felsenreitschule sitzt als mit den Politikern, die man auf der Leinwand sieht.
Ich habe vor ein paar Tagen geträumt, dass ich bei Donald Trump zu Hause war. Ich war sein Hausgast und er war ganz nett. Und in meinem Traum ist mir das gar nicht aufgefallen, wie sonderbar das war.
Teil 3: Würde stärken
(58:58) Musik ‒ (01:02:37) HS leitet das Stichwort Verantwortung ein: Helmut, du hast in Kolumbien initiiert, dass Kinder Würde empfangen, dass sie Zugehörigkeit erleben, dass sie in ihrer Individualität gesehen werden, dass sie gefördert werden in ihren Begabungen: Was können wir heute tun, um die eigene Würde zu stärken, aber auch die Würde anderer, aber speziell bei den jungen Menschen?
HL: Ich kann als erstes schauen, wer bin ich eigentlich? Was hat Würde mit mir zu tun? Ich schaue mal nach, was ich in 50 oder 60 Jahren würdeloses gemacht habe, und wie ich damit umgegangen bin und wie ich das heute sehen würde.
Ich verabrede etwas mit mir selber, und handle dann, wenn ich die Möglichkeiten dazu habe. Ich bin in keiner Weise etwas Besonderes. Was ich gemacht habe, habe ich automatisch, aus dem Stegreif, gemacht. Ich habe nicht darüber nachgedacht.
Also man kann etwas tun, auch wenn man noch nicht genau weiß, warum man das tut. Ich habe eine Kaufmannsseele, das hat manchmal sehr gut funktioniert und manchmal überhaupt nicht. Deswegen gibt es auch die Auf- und Abfahrten, die sind manchmal unglaublich oder gefährlich an der Grenze des Loyalen. Das ist Kolumbien, das ist Südamerika. Ich habe Geld verdient und das Geld wohin gesteckt, ich habe keine Autos gekauft, ich habe Kinder unterrichtet, das ist für mich etwas ganz Logisches, in keiner Weise etwas Besonderes. Wenn ich die Kinder sehe, dann sehe ich die Würde in ihnen.
(01: 10:35) BD: Mir scheint, dass wir unsere eigene Würde am besten stärken, indem wir andere würdigen. Es ist eine Beziehungsangelegenheit, und das Gegenteil davon ist heutzutage das Mobbing: In Amerika ist Mobbing eine Epidemie in den Schulen, es führt zu Selbstmord. Ein Student wird ausgesondert und die Mobber sagen ihm, du bist immer schlecht angezogen oder du bist hässlich oder irgendetwas, was deine Eigenart ausmacht, wird als schlecht angesehen und du gehörst nicht zu uns dazu.
Wenn es einem gelingt, Mobbingopfern ihre Würde zurückzugeben, das Gefühl: Wir gehören zusammen und du bist etwas ganz Besonderes in irgendeiner Weise, dann hat man wirklich diesen Erdrutsch des Verlustes der Menschenwürde ein bisschen aufgehalten. Ich glaube, dazu hat jeder irgendwo und irgendwann mal Gelegenheit.
(01:14:27) HL: Einer unserer Buben in Bogotá ‒ in unseren Projekten sind Binnenflüchtlinge, also Opfer, die vor der Guerrilla flüchteten ‒ hat zu mir gesagt vor zwei Jahren: Weißt du, dieser ganze Waldorfzirkus, den ihr da macht, das ist o.k. Aber was wirklich o.k. ist: Ich habe bei euch gelernt, dass ich nicht mehr Menschen umbringen muss, um selber zu leben. Er hat kapiert, dass er nicht böse sein muss, um selber zu überleben.
HS: Wenn ich heute den Straßenzeitungsverkäufer vor der Billa einlade, weil ihm so kalt ist, dass er am Nachmittag vorbeischaut zu einem Tee, dann runzeln die Nachbarn die Stirn. Das tut weh. Wir sind keine Gesellschaft des Willkommens von Flüchtlingen und wir schauen weg bei Menschen, die wirklich Schwierigkeiten haben im Leben.
Was wir tun können, ist, auch wenn es sich kitschig anhört: dem Herzen folgen. Die Menschen, die ausgegrenzt werden, wahrnehmen und auf sie zugehen und Beziehung zu beginnen, ohne etwas Großes. Da sind die spirituellen Traditionen eine große Hilfe. Ob jetzt Menschen meditieren, ob sie im Spazieren beten, ob sie religiöse Texte lesen oder sonstige Rituale haben, am Berg, in der Natur ‒ du, Helmut, hast es Geist genannt. Wenn ich unrund bin, und eckig und borstig: in dem Moment, wo ich wieder Zeit finde, im Spazieren, in der Natur zu beten und still zu werden und wirklich leer zu werden, dann habe ich das Gefühl, jetzt kriege ich gerade wieder Würde. Und mit diesem aufgefüllten sich würdig fühlen, lebt es sich wieder besser.
(01:18:48) BD: Es ist schön, dass du so betonst, dass die Religion, besonders für uns das Christentum unsere Würde stärkt. Und es ist schon auch wahr, wenn es gut geht. Aber man muss leider auch sagen, dass vielen Menschen geschadet worden ist, dass ihre Würde heruntergedrückt wurde, gerade im religiösen Kontext. Heute sind viele katholische Christen sehr sensibel dafür. In der Liturgie beten wir vor der Kommunion: ‹Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach›. Da muss man sich dazu denken: ‹Du aber machst mich würdig›, wie in der Deutschen Messe von Johann Michael Haydn.[4]
Es ist die Geste des Vaters, der den verlorenen Sohn schon von weitem sieht, und einfach in die Arme schließt. In dem Bild ‹Die Rückkehr des verlorenen Sohnes›, das Rembrandt gemalt hat, steht der Vater da und umarmt ihn, und eine Hand ist männlich und die andere Hand ist weiblich: das gibt uns letztlich die Würde.
Und da gehört schon etwas dazu, dass man sieht: Auch die Würde ist mir geschenkt. Das ist das Schöne. Man würdigt es mehr, wenn es einem geschenkt wird, wenn man sieht: es ist Geschenk. Ob man da jetzt sagt, es ist ein Geschenk Gottes oder Geschenk des großen Geheimnisses der Natur, dass ich dazugehören darf zu dem Ganzen: es als Geschenk anzusehen ist sehr hilfreich. Und dann wird man wieder bereit, es andern zu schenken.
Teil 4: Fragen und Anregungen aus dem Publikum
(01:22:26): Wie Berühren und Umarmen Zugehörigkeit vermitteln kann. ‒ Die Individualität von Schülern fördern, ohne auf ein Schulprojekt zu warten.
(01:27:55) HL: Würde und Vertrauen: Würde hat zu tun mit dem Geistigen und dem Geistigen muss ich vertrauen. Ich bin ein geistiges Wesen und muss mich mit dem Geistigen vertrauensvoll verbinden.
BD: Wie verhält man sich Menschen gegenüber, denen man nicht vertraut, weil sie Böses tut? Man kann sie ausgrenzen: Wir sind die Guten, das sind die Bösen. Das führt zu nichts. Oder man kann sie anschauen, so wie eine Mutter ein Kind anschaut, das sich schlecht benimmt: Du wirst aus diesem Verhalten herauswachsen.
Die Haltung, das Böse als das noch nicht Gute anzuschauen, macht einen enormen Unterschied aus. Das darf man nicht beschönigen: du tust etwas, das dem Leben schadet, gegen den Strich des Lebens geht, aber du kannst es besser machen.
Üben, lange genug hinschauen, bis man auch beim unsympathischsten Menschen etwas Positives findet. BD endet mit einer witzigen Anekdote aus seinem Kloster.
Video zum Projekt CES Waldorf in Bogotá
(01:39:00-01:44:08), anschließend spricht HL über die soziale Situation in Kolumbien, die sich weiter verschlechtert hat. Er zeigt zwei Fotos: ein Mädchen mit einem Gewehr und eines mit einer Guerilla Mütze und drückt seine Überzeugung aus: Auch diese Kinder haben Würde!
(01:47:28) Dankesworte von HS.
____________________
[1] Gerald Hüther: Würde: Was uns stark macht ‒ als Einzelne und als Gesellschaft; mit Uli Hauser, München, Albrecht Knaus Verlag 62018: ‹Worum es geht›, 19
[2] Das erste deutschsprachige Buch von Bruder David Fülle und Nichts (1985) erschien im Dianus-Trikont-Verlag und Helmut von Loebell hat den Aufbau dieses Verlages kaufmännisch unterstützt und viel Geld in diese Unternehmung gesteckt. Er schreibt in seinem Buch Der Stehaufmann (2016): ‹Mein ‚Nebenjob‘ als Verleger›, 121f.:
«So kam es, dass ich, der ich damals durch meine ‹halbe› Ausbildung und die fast dreißig Jahre des Aufenthaltes in Kolumbien in Kulturfragen noch sehr unerfahren war, als Autoren des Dianus-Trikont-Verlags Persönlichkeiten wie David Steindl-Rast, Fritjof Capra, Johan Galtung, Jakob von Uexküll, Carl Friederich von Weizsäcker oder S. H. den Dalai Lama kennenlernte ‒ Letzteren im Rahmen eines internationalen Treffens im Mai des Jahres 1986 in einem Hotel am Eibsee in Oberbayern, am Fuße der Zugspitze. Zu diesem Treffen hatte der Dianus Trikont-Verlag und die Gesellschaft zur Förderung Tibetischer Kultur geladen: Sowohl der Dalai Lama als religiöse Autorität als auch der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hielten dabei Vorträge unter dem Motto ‹Zeit und Raum›.»
«David Steindl-Rast, ein großer Geist des 20. und 21. Jahrhunderts war ebenfalls ein Autor des Dianus-Trikont-Verlages, den ich persönlich kennengelernt habe. Er wuchs mir durch seine spirituellen Texte, die mich bis heute begleiten, besonders ans Herz. Zuletzt sprach ich mit ihm im April 2016 in Bogotá, wo er bei der Jesuiten-Universität vor vielen tausend Menschen seine spirituellen Ideen und Wünsche darlegte.
Bruder David ist eine heute 90-jährige herausragende christliche Persönlichkeit, und ich bin froh, ihn noch einmal erlebt zu haben. Sein Vorwort zu diesem Buch freut mich, und ich bin dankbar dafür.»
[3] Gerald Hüther, Würde, ‹Wie entsteht das Bewusstsein für die eigene Würde›, 120:
«Jedes Kind will dazugehören, es will gesehen werden und es will lernen, wie das Leben geht. Solange Kinder dieses Bedürfnis in sich spüren, finden sie auch Mittel und Wege, es zu verwirklichen. Allerdings haben nicht alle das Glück, ihre eigene Bedeutsamkeit und ihr vorbehaltloses Angenommensein in den strahlenden Augen ihrer Mütter oder Väter auch noch dann zu spüren, wenn deren Anfangsfreude über den Neuankömmling verflogen und der familiäre Alltagstrott wieder eingekehrt ist.
Nicht alle Kinder machen die Erfahrung, bedingungslos und um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Sie wissen noch nicht, weshalb das so ist und was es bedeutet, wenn ihre Würde verletzt wird. Sie können es nur spüren.»
[4] Johann Michael Haydn (1737-1806): Deutsche Messe: ‹O Herr, ich bin nicht würdig, zu deinem Tisch zu gehn. Du aber mach mich würdig, erhör mein kindlich Flehn! (Gesang zur Kommunion)