Br. David Steindl-Rast OSB

liebe die antwort aufCopyright © - Erika Steinberger

«Liebe» ist ein häufig missverstandenes Wort. Wir müssen also damit beginnen, klarzustellen, was wir hier unter Liebe verstehen: kein Gefühl, sondern eine Haltung, nämlich das gelebte «Ja!» zur Zugehörigkeit.

Freilich ist damit ein weites Spektrum von Gefühlen verbunden: romantische Liebe, Tierliebe, Mutterliebe, Liebe zur Kunst, Vaterlandsliebe, bis hin zur Feindesliebe. Es gibt viele Grade und Arten der Zugehörigkeit, die ausgelösten Gefühle sind also höchst vielfältig. Auf jede der erwähnten Formen aber trifft unsere Definition zu: Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit.

Das Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit

Viele Menschen meinen, das Gegenteil von Liebe sei Hass. Dass das ein Irrtum ist, lehrt uns die Erfahrung: In stürmischen Liebesbeziehungen können wir hin und her gerissen werden zwischen Wohlwollen und Hass, zwei Polen der einen Zugehörigkeit, von der wir nicht loskommen.

Hass und Wohlwollen sind Gegenpole innerhalb von Liebe, das Gegenteil von beiden aber ist Gleichgültigkeit. Was mir gleichgültig ist, geht mich nichts an – so meinen Gleichgültige. Das ist aber ein Irrtum, denn alles geht mich an, weil alles mit allem zusammenhängt. Mein Ich ist ein Knotenpunkt in einem grenzenlosen Netzwerk von Beziehungen.

Gleichgültigkeit dagegen ist blind für Zugehörigkeit und verfällt daher in die Illusion von Unabhängigkeit und Vereinzelung. Diese Entfremdung führt dann zu Verunsicherung und Furcht vor dem Leben, denn nur durch Zugehörigkeit zu meiner Mitwelt kann ich mich sicher, geborgen und zuhause fühlen. Gleichgültigkeit führt also durch Entfremdung zu Furcht; Liebe führt zu jenem Daheimsein in der Welt, das alle Menschen ersehnen.

Liebe wurzelt in Vertrauen

liebe die antwort auf 1Copyright © - Diego Ortiz MugicaDas Ja zu grenzenloser Zugehörigkeit können wir nur lebendig verwirklichen, wenn wir dem Leben vertrauen. Liebe wurzelt also im Lebensvertrauen. Was uns das Vertrauen in das Leben so schwer macht, sind die Engpässe unseres Lebenslaufes, die uns immer wieder Angst machen. (Angst und Enge sind ja wortverwandt.)

Nun ist es wichtig, Angst von Furcht zu unterscheiden. Angst ist unvermeidlich. Wir treten ja schon ein ins Leben durch den engen Geburtskanal. Dabei vertrauen wir instinktiv dem Leben, das uns durch diese Enge führt. Später im Leben, wenn wir an einer engen Stelle Angst bekommen, versagt dieser Instinkt, und wir fürchten uns.

Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt dadurch in der Enge stecken. Mutiges Vertrauen aber führt immer wieder zu Neugeburt. Wenn wir zurückblicken auf unser Leben, dann zeigt sich, dass beängstigende Engpässe immer wieder zu Durchgängen wurden und zu beglückendem Neubeginn führten.

Furchtloses Vertrauen aufs Leben – trotz unserer Ängste – lässt sich erlernen. Im Idealfall lehren Eltern es Kindern, indem sie sich vertrauenswürdig erweisen – also da sind, wenn die Kinder sie brauchen – und den Kindern Vertrauen schenken, anstatt sie beständig zu überwachen.

Auch Erwachsene können Lebensvertrauen noch erlernen, wenn andere ihnen auf diese zweifache Weise beistehen. Als Freunde müssen wir verfügbar sein, wenn sie uns brauchen, zugleich aber ihr Selbstvertrauen unterstützen. Und wenn wir dem Leben vertrauen, können wir das bedingungslose Ja zur Zugehörigkeit verwirklichen, das Ja zu unserer Vernetzung mit allem Leben, das Ja der Liebe.

Religion – das Wiederverbinden

liebe die antwort auf 3Copyright © - Diego Ortiz MugicaWir müssen unterscheiden zwischen Religion und den Religionen. Die Religionen sind verschiedene Brunnen, die Wasser heraufholen aus dem allen gemeinsamen Grundwasser der Religion.

Religion, wenn wir dieses Wort vom lateinischen re-ligare herleiten wollen, ist das Wieder-Verbinden und Heilen zerrissener Beziehungen – zu unserem echten Selbst, zu unserer Mit- und Umwelt und zum großen Geheimnis, mit dem wir uns als Menschen unvermeidlich auseinandersetzen müssen, um Sinn im Leben zu finden.

Geheimnis ist kein vager Begriff, sondern bedeutet jene Wirklichkeit, die wir nicht durch Begriffe in den Griff bekommen können, die uns aber verständlich wird, wenn sie uns ergreift. Wir kennen diese Ergriffenheit von der Musik, deren Wesen sich ja auch unseren Begriffen entzieht.

Dem Geheimnis begegnen wir in allen ergreifenden Lebenserfahrungen, etwa in Gipfelerlebnissen, bei der Geburt eines Kindes, im Angesicht des Todes und vor allem in der Liebe, weil sie das Ja zum Leben ist und so das Ja zum Geheimnis. Das Herz aller Religionen ist die Religion des Herzens: die Liebe.

Den Kreis der Zugehörigkeit erweitern

Das griechische Wort ēthos bedeutet in erster Linie unsere menschliche Natur, unsere grundlegende Veranlagung – unsere innerste Ausrichtung also auf das große Geheimnis, unsere Religiosität.

Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität. Aus dieser Erwägung gibt der Dalai Lama seinem Appell an die Menschheit den Titel «Ethik ist wichtiger als Religion». Er will damit aber das Gleiche sagen wie: Religion ist wichtiger als die Religionen.

Wenn das Herz jeder Religion die Religion des Herzens ist, dann ist das Herz jeder Ethik die Ethik des Herzens – die Sehnsucht glücklich zu werden und – untrennbar davon – andere glücklich zu machen. In aller Welt drückt die Volksweisheit diese Einsicht ähnlich aus wie bei uns: «Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.»(1)

Ob wir es Religion nennen, Ethik oder Spiritualität, immer geht es um „die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns,“ – wie der Dalai Lama sie nennt. Aus dieser einen Quelle schöpfen alle Religionen und alle Systeme ethischer Normen.

Darum lehrt jede Religion auf ihre Art: «Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst». Und jedes Moralsystem lässt sich zusammenfassen in dem Satz: «So verhält man sich denen gegenüber, zu denen man gehört.»

Der Kreis der Zugehörigkeit wurde oft zu eng gezogen. Heute muss er nicht nur alle Menschen umfassen, sondern alle Tiere, Pflanzen, unsere Erde und das ganze Universum. In beiden, Ethik und Religion, geht es also letztlich um Liebe als das grenzenlose Ja zur Zugehörigkeit.

Opposition schliesst Wohlwollen nicht aus

Die Antwort ist offensichtlich: Ja. Grenzenlose Zugehörigkeit grenzt ja auch Feinde nicht aus. Von Feindesliebe kann aber nur die Rede sein, wenn sie Feinde bleiben. Wer ernstlich für etwas eintritt, etwa für Umweltschutz, wird dadurch zum Feind derer, die sich dem entgegenstellen.

Feindschaft wird aber durch Liebe völlig verwandelt. Klare und scharfe Opposition schliesst persönliches Wohlwollen nicht aus; das Ja der Liebe, das Ja zur Zugehörigkeit ist ein wohlwollendes Ja. Es fordert, dass wir uns bemühen, unsere Gegner mit ihren Anliegen, Befürchtungen und Hoffnungen zu verstehen; dass wir Gemeinsamkeiten suchen und auf ihnen aufbauen; dass wir trennende Meinungen weniger wichtig nehmen als das verbindende Bemühen, gemeinsame Probleme zu lösen; und dass wir noch so entschiedenen Widerstand mit persönlichem Wohlwollen verbinden.

Warum sind alle Krisen unserer Zeit Vertrauenskrisen?

Unsere Feinde zu lieben, ist nach allem hier Erwogenem nicht nur möglich, es ist in der gegenwärtigen Weltlage notwendig für unser Überleben. Die Natur baut Vernetzungen von Netzwerken. Das müsste auch das Modell sein für jede Gesellschaftsordnung, die Bestand haben soll.

Stattdessen haben wir – aus Furcht – die Pyramide als Modell gewählt. Wer der Spitze nähersteht, fürchtet alle, die ihm diese Position streitig machen könnten und verteidigt sich mit Gewalt gegen alle Aufstrebenden. Diese hinwieder verfallen in gegenseitige Rivalität aus Furcht, dass andere sie übervorteilen könnten. Und aus Furcht, dass nicht genug da sein könnte für alle, verfällt jeder in Habsucht.

Selbstmörderische Gewalttätigkeit, mitleidlose Rivalität, Habsucht, Geiz und Neid kennzeichnen daher die 6.000 Jahre alte Furchtpyramide, die heute vor unseren Augen ins Wanken gerät. Aber wo immer sich Zeitgenossen von Furcht zu Lebensvertrauen bekehren, da wird aus Gewalttätigkeit Gewaltfreiheit, aus Rivalität Zusammenarbeit und aus Habsucht freudiges Teilen; Pyramiden verwandeln sich in Netzwerke. Zu dieser Geisteshaltung mögen folgende Zeilen des Dichters Christian Morgensterns anregen:

«Liebet das Böse gut, lehren tiefe Seelen,
lernt am Hasse stählen Liebesmut.»

Auch in Netzwerken muss es Autorität geben, sie ist aber nicht auf Macht gegründet, sondern auf Einsicht und Können. Auch sie hat Macht, verwendet ihre Macht aber dazu, Jede und Jeden zu ermächtigen durch Dienst am Ganzen Selbsterfüllung zu finden.

Alle Krisen unserer Zeit sind Vertrauenskrisen, die letztlich aus Mangel an Lebensvertrauen entspringen. Nur wer sich dem Leben anvertraut, kann – nach allem, was wir hier erwogen haben, das Ja der Liebe sprechen. Aber das Ja der Liebe will nicht nur gesprochen, sondern gelebt werden – es muss sich im Alltag ganz konkret in unserem Tun bewähren.



Anmerkung: (1) Diese Haltung ist auch als Goldene Regel bekannt
Quelle: netzwerk ethik heute (2017)

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