«Wir sind daheim in dieser Welt» (1975)
Transkription© von Hans Businger (2023)
Eine Betrachtung über die Sinne als Wege zum Sinn mit David Steindl-Rast
(00:24) Lebendig sein: darauf kommt’s schließlich im Letzen an. Das geistliche Leben heißt ja, ein überaus lebendiges Leben führen. Dass wir noch nicht gestorben sind, bedeutet nicht, dass wir wirklich lebendig sind. Wir leben oft so halbtot dahin. Der Geist ist der Lebensatem Gottes in unserer christlichen Tradition, in der ganzen biblischen Tradition. Daher bedeutet ein geistliches Leben führen, völlig lebendig zu sein. Mit allen Sinnen. Und darauf kommt es schließlich im Letzten an: Lebendigkeit.
(01:16) Wenn ich vom mönchischen Leben spreche, so baue ich dabei einerseits auf meiner Erfahrung als Benediktinermönch auf ‒ ich bin jetzt schon über 30 Jahre Benediktiner ‒ und auch auf meiner Erfahrung in buddhistischen Klöstern. Ich habe einige Zeit in buddhistischen Klöstern verbracht, besonders Zen-Klöstern, und in beiden Traditionen ist das Wesentliche der Askese, dass man im Augenblick offen ist mit ganzer Lebendigkeit für alles, was der Augenblick bringt.
(02:40) Diese Hütte hier, diese Almhütte im Pinzgau, ist eine meiner liebsten Plätze in Österreich. Sie erinnert mich so an die Einsiedelei in Kalifornien, in der ich jetzt schon seit einigen Jahren die meiste Zeit verbringen darf, wenn ich nicht auf Reisen bin. Das eigentlich Wesentliche dran ist ja nicht die Abgeschlossenheit, sondern die Möglichkeit, aus dem Zweckstreben, aus dem Eingespanntsein in das Zweckstreben herauszukommen und wirklich Sinn finden zu können. Dazu brauchen wir Zeit. Das sind nämlich zwei ganz verschiedene Dinge: Sinn und Zweck. Dem Zweck, dem gehen wir nach, da müssen wir etwas ergreifen, da müssen wir uns darum bemühen, dem Sinn müssen wir uns hingeben. Und mit dem Herzen Sinn finden ist eigentlich eines der wesentlichen Ziele der Askese. Und darum ist es ein großer Vorteil, wenn man als Mönch eine Einsiedelei hat, aber eigentlich schaffen sich ja die meisten Menschen irgendwo in ihrem Alltag so eine Einsiedelei des Herzens, in der sie Sinn finden dürfen. Darauf kommt es an.
(04:00) Wenn wir vom Sinn finden sprechen, dann kommen natürlich die Sinne in das Spiel. Denn es ist ja kein Zufall, dass Sinn und Sinne dem Wort nach zusammenhängen. Rilke hat das so wunderbar in seinem Gedicht zusammengefasst in einem der Sonette an Orpheus:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne.
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Sei Sinn! Denn Sinn finden, heißt ja eigentlich Sinn werden. Das heißt so zu leben, dass wir in jedem Augenblick uns dem stellen ‒ mit allen unsern Sinnen ‒, was uns entgegenkommt.
Uns ansprechen lassen und von ganzem Herzen antworten.
(05:13) Ellinor Jensen (Sprecherin):
Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
lass dich läuten. Das, was an dir zehrt,
wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidendste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.
R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIX[[1]]
(06.45) Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
Ursprünglich in unserer natürlichen Frömmigkeit denken wir noch nicht notwendigerweise an einen persönlichen Gott. Sondern wir erleben in unsern besten, lebendigsten Augenblicken eine tiefe Geborgenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Daheimsein in der Welt. Wir sind hier nicht verweist, wir wurden erwartet, wir sind eingebettet, die Welt ist für uns vorbereitet, wir sind hier zu Hause.
Und von diesem Zugehörigkeitsgefühl ist kein sehr weiter Weg zu der Gegenseitigkeit der Zugehörigkeit. Und da kommt dann die persönliche Bezogenheit zum Göttlichen herein, und das ist der Gesichtspunkt des Religiösen, der in der biblischen Tradition besonders unterstrichen wird, auf den die biblischen Autoren besonders ansprechen.
Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: «Gott sprach und es ward Licht.» Und «Gott sprach», und da war ein Firmament», und «Gott sprach», und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.
(08:59 Ellinor Jensen (Sprecherin):
Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.
R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX[[2]]
(10:01) Dieses Horchen mit dem Herzen ist keineswegs etwas Abstraktes, sondern ist ganz konkret mit dem Horchen mit den Ohren verbunden. Es beginnt mit einem intensiven Horchen lernen. Wie können wir uns denn einbilden, mit dem Herzen horchen zu können, wenn wir nicht einmal mit den Ohren eingeblendet sind auf die vielen wundervollen Geräusche, die uns ständig umgeben. Hier in der Hütte ist es natürlich leicht: der Wind durch die Bäume im Wald, der Regen auf dem Dach, der Bach, die Quelle, das Feuer, das prasselt ‒ ein Geräusch schöner wie das andere.
Es gibt auch im Alltag für die meisten von uns sehr viele wunderschöne Geräusche: das Singen der Vögel, die Stimmen der Kinder ‒ viele wunderschöne Geräusche, auf die wir uns einstellen können, wenn wir dazu wach genug sind.
Aber man muss zugeben, dass es im Alltag für die meisten von uns auch Geräusche gibt, die nicht so angenehm sind und nicht so auf den ersten Anhieb als Wort Gottes erfahren werden können.
Wie sollen wir mit denen umgehen?
Ich muss mich darum selber häufig bemühen, und eines, das mir dabei zu Gute kommt, ist: Nicht ein Geräusch von Vornherein schon mit Wert zu belegen. Nicht von Vornherein es schon schön oder hässlich zu nennen ‒ gut oder schlecht ‒, sondern einfach zu horchen. Und da hört man manchmal in Geräuschen, die man vorher gar nicht hören wollte, sehr schöne Dinge. Am besten ist es, sie überhaupt nicht zu benennen. Wenn wir dem Geräusch einen Namen geben, haben wir es schon irgendwie kategorisiert und auch meistens schon irgendwie abgeschrieben. Aber einfach horchen ohne einen Namen zu geben.
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.
(13:55) Für jemanden, der wirklich mit dem Herzen fühlen lernt, der wirklich mit dem Herzen der Wirklichkeit begegnet, besteht kein Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen.
Der Rausch aus dem Räucherstäbchen ist nicht heiliger als der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt. Auch der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt, ist eine Geste des Gebetes.
(14:30) Zu der großen Aufgabe des geistlichen Lebens, durch die Sinne Sinn zu finden, gehört natürlich auch das Riechen und der Geruchsinn. Aber das ist für die meisten von uns ‒ oder zumindest bei sehr vielen Menschen ‒ eine traurige Angelegenheit. Für die gibt es nur zweierlei Gerüche: gut und schlecht. Und das ist eine große Verschwendung unseres Geruchsinns: All diese wunderbaren Gerüche, die es in der Welt gibt. Wenn wir uns einmal darauf eingestellt haben, gar keine Gerüche als schlecht abzuschreiben, sondern uns einmal ihnen auszusetzen, dann finden wir, dass Dinge einen ganz eigenen Geruch haben, denen wir vorher gar keinen Geruch zugeschrieben haben. Holz hat einen ganz eigenen Geruch und verschiedene Holzarten ganz verschiedene Gerüche. Bücher: ein neues Buch, ein altes Buch. Für viele Menschen ist nur das Aufschlagen eines Buches schon mit einem gewissen Geruch verbunden und sogar gewisse Bücher mit der Erinnerung an gewisse Gerüche.
Überhaupt ist ja der Geruchsinn am engsten mit unserer Erinnerung verbunden. Wenn wir nur an die vielen Kindheitserinnerungen denken, die mit Gerüchen verbunden sind: eine Wäschelade, in der Lavendel ist, oder ein Fischmarkt oder das Meer oder Weihrauch: für wie viele Menschen Weihrauch ganz mit dem religiösen Kindheitserleben verbunden ist. Darum soll es uns auch gar nicht wundern, wenn in der Bibel und in vielen andern Traditionen der Geruchsinn eine ganz wichtige Rolle spielt.
(16:57) Sprecher:
Meine Schwester, liebe Braut,
du bist ein verschlossener Garten,
eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.
Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln
mit edlen Früchten,
Zyperblumen mit Narden,
Narde und Safran, Kalmus und Zimt,
mit allerlei Bäumen des Weihrauchs,
Myrrhen und Aloe
mit allen besten Würzen.
Ein Gartenbrunnen bist du,
ein Born lebendiger Wasser,
die vom Libanon fließen.
Stehe auf, Nordwind, und komm Südwind
und wehe durch meinen Garten,
dass seine Würzen triefen!
(Hohelied 4, 12-16)
(18:34) Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.
Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: «Überrasche mich!», dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.
(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne soviel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.
(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.
(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.
(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.
Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.
(25:01) T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.
(26:00) Reinhard Glemnitz (Sprecher):
An dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt.
Weder Körper noch Geist,
Weder Hin noch Her;
Am ruhenden Punkt,
da ist der Tanz,
Weder einhalten noch Bewegung.
Und nenn es nicht Stillstand,
Wo Vergangenes und Künftiges zusammenfallen.
Bewegung weder hin noch her,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende Punkt,
so wäre der Tanz nicht,
und es gibt nichts als den Tanz.
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II[[3]]
(27:14) Die Zeit um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.
(27:33) Reinhard Glemnitz (Sprecher):
Die Zeit und die Glocke begruben den Tag,
die schwarze Wolke trug die Sonne zu Grab.
Wenn des Eisvogels Flügel
auf das Licht antwortet mit Licht und schweigt, ist das Licht noch immer
auf dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt.
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, IV[[4]]
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
Rilke weist einmal darauf hin, dass in den attischen Stelen die Menschen so zart einander anfühlen in Begegnung und Abschiednehmen: «So ist es uns gegeben einander zu berühren», sagt er, «anders rühren die Götter uns an.» [[5]]
(28:56 – 31:32) Der Keramiker Heinz Lackinger bei der Arbeit
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
(36:46) Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ spientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.
Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.
Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.
(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.
Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.
(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.[[6]]
(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss. Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten. Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein. Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.[7]
Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: ‹Gott›, wenn wir es so nennen wollen.
(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen. In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür. Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen. Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.
(45:31) Reinhard Glemnitz (Sprecher):
Wo enden sie die Fischer,
die in den Wind segeln, wo der Nebel lauert?
Nicht auszudenken eine Zeit ohne Meer
oder ein Meer ohne Abfall.
Oder eine Zukunft, nicht in Gefahr,
wie die Vergangenheit ziellos zu versanden.
Unermüdlich hantieren sie, stellen und strecken die Segel,
während der Sturm aufzieht über der Sandbank,
legen ihr Geld ab im Hafen und trocknen die Segel;
nicht aber: Ziehen sie aus auf unentlohnbare Fahrt,
auf einen Fischfang, der nicht standhält der Prüfung.
Das Tönen der Glocke
misst die Zeit, die nicht die unsere ist,
sondern eine, die geläutet wird von der gemessenen Flut,
eine Zeit, älter als die der Uhren,
älter als die Zeit,
wie sorgende Frauen sie zählen,
die wachliegen nachts und die Zukunft berechnen
zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn die Vergangenheit Trug ist
und die Zukunft nicht künftig vor der Morgenwache,
wenn die Zeit einhält und endlos sich dehnt;
und die Flut, die heute wie von jeher anschwillt,
läutet
die Glocke.
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II und I[[8]]
(47:34) Am Ende unserer Reise, am Ende unseres großen Abenteuers, am Ende dieser unentlohnbaren Fahrt kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, und kennen den Ort zum ersten Mal.[[9]]
Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.
Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken. Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.
Die Sinnoffenheit von der wir hier sprechen: mit dem Herzen fühlen, das ist nicht nur eine sinnliche Angelegenheit. Das hat sehr viel zu tun mit sozialen Problemen. Mit der Ganzheit der Welt. Wir öffnen uns der Welt als Ganzes. Das heißt: Wenn wir wirklich schauen lernen mit dem Herzen, dann schauen wir auf die Welt wie sie ist und schauen nicht weg, wenn es uns nicht gefällt. Wir müssen Dinge ins Auge fassen, die wir eigentlich nicht gerne sehen. Wir werden vielleicht das Weinen der Welt hören. Das Weinen der Unterdrückten. Wir werden vielleicht riechen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark. Wir werden, wenn wir uns zu Tisch setzen, das Salz der Tränen kosten, das mit aus der Dritten Welt importiert wird mit unsern Lebensmitteln. Wir werden ‒ wenn wir wirklich ehrfürchtig fühlen lernen, das heißt, uns auch wirklich berühren lassen von dem, was wir berühren ‒, dann werden wir zutiefst berührt werden, von dem Elend der Welt auch. Nicht nur von allem Schönen. Von allem Schönen und von allem Schweren und allem Schrecklichen das es in unserer Welt gibt. Und das fällt uns sehr schwer. Es ist aber eine große Aufgabe für uns alle.
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[[1]] Siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 152 und 164
[[2]] Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 98f.:
«In diesem ‹Lied überm Land› liegt der bleibende Sinn, in den das horchende Herz allen Wandel führt. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen, das heißt durch die Sinne Sinn finden.»
Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus
[[3]] «At the still point oft he turning world. Neither flesh nor fleshless;
Neither from nor towards; at the still point, there the dance is,
But neither arrest nor movement. And do not call it fixity,
Where past and future are gathered. Neither movement from nor towards,
Neither ascent nor decline. Except for the point, the still point,
There would be no dance, and there is only the dance.»
«Am stillen Mittelpunkt der bewegten Welt. Weder Fleisch noch fleischlos;
Weder woher noch wohin; am stillen Mittelpunkt, da ist der Tanz,
Doch weder Hemmung noch Bewegung. Man nenne es nicht Festigkeit,
Wo Vergangenheit und Zukunft eins sind. Keine Bewegung woher noch wohin,
Weder ein Auf- noch ein Abstieg. Ohne den Punkt, den stillen Mittelpunkt,
Wäre kein Tanz, aber Tanz ist alles, was ist.»
T. S. Eliot: Four Quartests: Burnt Norton, II, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, in: Vier Quartette. Four Quartets. Englisch und deutsch, Berlin, Suhrkamp Verlag 2015, 12f.
Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 112:
«Wirklich allein zu sein, bedeutet durchaus nicht, einsam zu sein. Am Grunde meines Herzens, jenem geheimen Ort, an welchem ich am meisten ich selber bin, bin ich paradoxerweise auch mit allen anderen Menschen, mit allen Lebewesen, mit allem, was existiert, vereint. Wirklich allein zu sein, bedeutet, von Zwiespalt geheilt zu sein, eins zu sein mit meinem wahren Selbst, und somit eins mit allem. In diesem Sinn allein zu sein, bedeutet, den Punkt erreicht zu haben, den T. S. Eliot den ‹ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt› nennt, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel ‹wo Vergangenes und Zukunft vereint sind›.
‹Weder Fortgehn noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht ‒
und es gibt nichts als den Tanz.›»
[[4]] «Time and the bell have buried the day,
The black cloud carries the sun away.
Will the sunflower turn to us, will the clematis
Stray down, bend to us; tendril and spray
Clutch and cling?
Chill
Fingers of yew be curled
Down on us? After the kingfisher's wing
Has answered light to light, and is silent, the light is still
At the still point of the turning world.»
«Zeit und die Glocke begruben den Tag,
Die Sonne zieht in den Wolkenverschlag.
Wird die Sonnenblume sich uns zeigen, wird die Klematis
Sich niederbeugen, uns neigen, Ranke und Reis
Klettern und klammern?
Kühle
Finger der Eibe sich kräuseln
Nieder auf uns? Nachdem des Eisvogels Schwinge
Licht mit Licht vergalt und nun stillhält, ist Licht noch immer
Am stillen Mittelpunkt der bewegten Welt.»
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, IV, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 20f.
[[5]] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 73:
«Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs,
d i e s e s ist unser, uns s o zu berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.»
R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Zweite Elegie
[[6]] Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 97f.:
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
R. M. Rilke am 13. November 1925 in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz
Siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 105-107 mit diesem Schlüsseltext von Rilke im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 95f.
[[7]] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 56f.
«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten, uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»
[[8]] «Where is the end of them, the fishermen sailing
Into the wind's tail, where the fog cowers?
We cannot think of a time that is oceanless
Or of an ocean not littered with wastage
Or of a future that is not liable
Like the past, to have no destination.
We have to think of them as forever bailing,
Setting and hauling, while the North East lowers
Over shallow banks unchanging and erosionless
Or drawing their money, drying sails at dockage;
Not as making a trip that will be unpayable
For a haul that will not bear examination.»
«Wann nimmt es ein Ende, dass Fischer sich wagen
Ins Schlepptau des Winds, wo Nebel kauert?
Wir können uns keine Zeit denken, meerlos
Oder ein Meer, nicht besudelt mit Abfall
Auch keine Zukunft, die nicht zwingend wäre
Wie die Vergangenheit, nämlich ohne Bestimmung.
Wir denken uns, wie sie an allen Tagen
Schöpfen, streichen, Segel stellen, wenn der Nordost abflaut
Über flachen Bänken, unbewegt, erosionslos
Oder Geld abheben, Segel trocknen gegen Kaigebühr;
Nicht, wie sie unentlohnt auf die Fahrt gehen
Für einen Fang, der nicht standhält der Prüfung.»
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II
«And under the oppression of the silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future,
Trying to unweave, unwind, unravel
And piece together the past and the future,
Between midnight and dawn, when the past is all deception
The future futureless, before the morning watch
When time stops and time is never ending;
And the ground swell, that is and was from the beginning,
Clangs
The bell.»
«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Misst Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen,
Abzuwickeln und zu entflechten suchen
Vergangenheit, Zukunft zusammenzuflicken,
Zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn Vergangenheit Täuschung ist,
Zukunft ohne Gestalt, vor der Morgenwache
Wenn die Zeit stockt und Zeit niemals endet
Und die Dünung, die ist und vor dem Anfang war,
Die Glocke
Hallt.»
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 46f.
Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 124-126:
«Das klösterliche Training ist ohne Eile und Hektik, aufs Praktische und Alltägliche ausgerichtet: fegen, kochen, waschen, bei Tisch auftragen oder am Altar dienen, Bücher lesen, Karteikarten einordnen, den Garten umgraben, an der Schreibmaschine sitzen, Heu machen, Rohre reparieren; aber all das mit jener liebevollen Losgelöstheit, die jeden Ort zum Mittelpunkt des Universums wandelt.
Zu diesem monastischen Bewusstsein des Raums gehört ein entsprechendes monastisches Bewusstsein der Zeit.
‹Die Jahreszeiten und die Gezeiten der Sterne,
Die Zeit des Melkens und die Zeit des Erntens.›
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, I
Die Zeit des ‹unaufhörlichen Angelusläutens der Glockenboje› an der Küste:
‹Die Glocke zur See misst
Zelt, die nicht unsere Zeit ist, geläutet von dem gemessenen Schwall der Dünung: eine Zeit, weit älter
Als die Zeit, wie Uhren sie deuten, weit älter
Als die Zeit, wie wir sie zählen …›
Und dieser ‹gemessene Schwall der Dünung› wird zum Sinnbild jener Erweiterung der Liebe über das Begehren hinaus, innerlich frei, aber nicht gleichgültig, sondern hellwach und verantwortlich ‒ denn die Zeit, welche von der läutenden Glocke gemessen wird, ist ‹nicht unsere Zeit›. Wir werden gerufen. Wir müssen antworten.
‹Und die Dünung, heut wie von jeher,
läutet
Die Glockenboje.›
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I
Die Angelusglocke und der Gong, die Holzklöppel und die Trommel ‒ sie alle geben Zeit an, ‹nicht unsere Zeit›. Das ist der entscheidende Punkt: dass es nicht unsere Zeit ist. Die Mönche stehen auf und gehen zu Bett, arbeiten und feiern ‒ wenn es Zeit dazu ist. Sie ‹halten› sich nur an die Zeit, ohne sie zu ‹bestimmen›.
Beim ersten Glockenschlag hat der Mönch in seiner Tätigkeit innezuhalten, was immer es sei, und sich dem zuzuwenden, wofür es Zeit ist. Das Entscheidende ist das Loslassen. Es ist Befreiung. Durch das Loslassen wird die Zeit, welche ‹nicht unsere Zeit› ist, alle Zeit, unser eigen, weil wir uns ihr hingeben. Wenn wir im Rhythmus des Lebens mitschwingen, sind wir im Einklang mit der Welt, und sie gehört ganz uns.»
[[9]] «We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning»
«Wir lassen niemals vom Entdecken
Und am Ende allen Entdeckens
Langen wir, wo wir losliefen, an
Und kennen den Ort zum ersten Mal.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war.»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 80f.
Siehe auch Stillehalten mit dem Text in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114f.; bzw. Fülle und Nichts (2015), 114f.:
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.»
In Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 127-129:
«Diese Erfahrung des Einklangs mit sich selbst und mit allem, ein Einklang, im Herzen der Welt gefunden, im ruhenden Punkt, diese Erfahrung ist immer Geschenk. Aber es ist eine Sache, spontan im ‹Augenblick des Glücks, … dem Blitz der Erleuchtung› davon überrascht zu werden, und eine ganz andere, sein ganzes Leben auf diesem Ruhepunkt aufzubauen und es auf ihn auszurichten. Dazu brauchen wir die Unterstützung anderer, die dasselbe Ziel verfolgen. (Selbst der Eremit braucht diese Unterstützung, wenn auch weniger offensichtlich.) Klösterliches Alleinsein muss vom Miteinander getragen werden.
Niemand kommt ohne diese Unterstützung aus. Selbst der im Alleingang vorstoßende Entdecker verlässt sich auf das Team, das hinter ihm steht. Bei dieser Entdeckungsfahrt steht viel auf dem Spiel.
Ein Leben der Ehelosigkeit bedeutet:
‹…ausziehen auf unentlohnbare Fahrt,
Auf einen Fischfang, der sich nicht sehen lassen kann.›
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II
Im Ruhepunkt wurzelnd, müssen wir die Gemeinschafts-Dimension der Einsamkeit erforschen, die All-Einheit des Alleinseins.
‹Wir müssen still sein und dennoch vorangehen,
Mit vertiefter Empfindung
Zu neuer Vermählung, tieferer Vereinigung,
Durch kaltes Dunkel, trostlose Verödung.›
‹Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften.
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen,
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.›
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V, und Little Gidding, V
Wir werden ‹erkennen›; aber Erkennen in diesem Sinne ist ‹ein Fischfang, der sich nicht sehen lassen kann›. Es ist eine Art des Wissens jenseits des Zähl- und Messbaren; kein Erkennen der Erkenntnis, aber ein Erfahren von Erkenntnis.»
Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)