Ansprache von Bruder David
am Festakt der Übergabe seiner «geliebten Dinge» an die
Universitätsbibliothek der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS)
am 28. Oktober 2024 um 11:00 Uhr
Copyright © - BibliothekDSRIch habe hier heute so viel Dank empfangen, dass es mir ein wirkliches Anliegen ist, jetzt meinen eigenen Dank zum Ausdruck zu bringen, zunächst an Frau Magister Schachl-Raber[1] für die wunderschöne Feier, die du da organisiert hast Ursula, danke dir, unseren Musikern ganz besonderen Dank, und allen Referentinnen und Referenten und euch allen, die ihr gekommen seid.
Es ist mir wirklich eine große Ehre, dass du Klaudia schon aus der Schweiz gekommen bist mit Walter,[2] und dass Brigitte in aller Herrgottsfrühe aus Wien gekommen ist.[3] Ich bin euch wirklich allen herzlich dankbar.
Es freut mich ganz besonders, dass es die Universität Salzburg ist, die meinen Vorlass / Nachlass übernimmt. Es verbindet mich ja sehr viel mit der Universität, wie Pater Johannes schon erwähnt hat. Schon vor 40 Jahren war ich durch dich an den Hochschulwochen, um ein Referat zu halten, und da habe ich ein Buch vorgezeigt und erwähnt, dass mir dieses Buch sehr gut gefallen hat, und dass ich vorschlagen würde, dass die Hörerinnen und Hörer sich das auch anschauen, habe aber keine Ahnung gehabt, dass der Autor, den ich nicht gekannt habe, unter den Zuhörern war. Und das war Pater Johannes.[4] Wer hätte damals gedacht, dass wir jetzt, so viele Jahrzehnte später ein gemeinsames Buch hier ausstellen können, und wieviel sich dazwischen ereignet hat.
Dann auch vielen Dank an Dr. Roman Angulanza,[5] der auch heute da ist, der das Katholische Bildungswerk leitete, das auch eng mit der Universität verbunden war, und mich immer wieder unterstützt und herausgefordert hat, da bin ich auch ganz herzlich dankbar.
Der Theologische Preis, den ich von der Universität Salzburg bekommen habe, ist mir wirklich etwas Wichtiges. Sonst sind so Ehrungen eine Freude, aber das war mir mehr, die theologische Anerkennung war mir mehr. Dafür bin ich wirklich dankbar.
Es freut mich darum ganz besonders, dass es diese Universität ist und die Universitätsbibliothek, die meine «lieben Dinge» übernimmt. Denn darum geht’s ja, um «liebe Dinge».
Je älter man wird, umso mehr wird man sich bewusst, dass wir nicht nur Menschen, Tieren und Pflanzen, allen Lebewesen gegenüber eine Verantwortung haben, sondern eben auch den Dingen.
Wir haben den Dingen gegenüber eine Verantwortung.
Der Dichter Rainer Maria Rilke in einem seiner bekanntesten Gedichte
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Rilke: Das Stunden-Buch
spricht ja davon, dass unser Leben darin besteht, dass wir wachsende Ringe über die Dinge ziehn.
Die Dinge verändern sich, Ring um Ring, wie die Ringe eines Baumes durch unser Leben und unseren Umgang mit ihnen.
Rilke spricht auch davon, dass sich unsere Rühmung, also unsere dankbare Freude, wie ein Festtagskleid über die sinnenden Dinge breitet:
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.
Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.
Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.
Rilke: Mir zur Feier
Unsere Dankbarkeit, unser Rühmen breitet sich über die sinnenden Dinge wie ein Festtagskleid.
Und zu diesen Dingen gehören auch die Bücher. Ein Buch ist ganz in einem besonderen Sinn ein «sinnendes Ding».
Und die haben ein Eigenleben, diese «Dinge».
Wenn Sie dann nachher in den Vitrinen schauen, werden Sie einige Beispiele meiner «lieben Dinge» sehen.
Und diese «Dinge», also etwas HANDGREIFLICHES, neben dem ganz WICHTIGEN, der Bibliothek auf dem Internet, die du, Klaudia, so liebevoll zusammengestellt hast ‒ so vollständig, so unglaublich vollständig ‒ dass daneben dann noch die «lieben Dinge» ein Heim finden, dafür bin ich der Universität ganz herzlich dankbar.
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[1] Magister Dr. Ursula Schachl-Raber, bis 2024 Leitung Universitätsbibliothek, Abteilung der Verwaltung Paris Lodron Universität Salzburg
[2] Klaudia Menzi-Steinberger, Initiatorin und Herausgeberin der Online-Bibliothek David Steindl-Rast OSB, Walter Menzi, Ehemann von Klaudia Menzi-Steinberger
[3] Univ. Prof. Dr. Brigitte Kwizda-Gredler war lange Jahre an der Universität Wien sowie als Medizinsoziologin in nationalen und internationalen Gesundheitsbehörden tätig und engagiert sich ehrenamtlich als geistliche Begleiterin und im Netzwerk Dankbar leben. Im Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) begleitet sie Bruder David in das Schloss seiner Vorfahren und in den Wallfahrtsort Maria Rast (Ruše, Slowenien) und besucht mit ihm das Schloss Duino, wo Rilke seine «Duineser Elegien» schrieb. Im Gespräch mit Bruder David ist das Buch Das Vaterunser (2022): ein Gebet für alle, entstanden.
[4] Pater Johannes Pausch ist Gründer und emeritierter Prior des Europaklosters Gut Aich in St. Gilgen am Wolfgangsee. Er gilt als Experte in den Bereichen Spiritualität, Kräuterheilkunde und Psychosomatik. Das Buch Erkenntnis (2023), im Gespräch mit Bruder David verfasst, basiert auf der Seminar-Reihe Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011. Immer wieder hören und sehen wir ihn im Gespräch mit Bruder David, so in Lebendige Spiritualität (2015), Ganz aufeinander angewiesen ‒ Gastfreundschaft als Überlebenshilfe (2016), anlässlich der Verleihung des Theologischen Preises an David Steindl-Rast OSB (2022) und der Buchpräsentation «99 Namen Gottes» im Europakloster Gut Aich (2019).
[5] Dr. Roman Angulanza war 1966-2000 Leiter des Katholischen Bildungswerkes Salzburg und konnte Bruder David 1988 gewinnen, im Tagungshaus Wörgl den Vortrag Beten ‒ mit dem Herzen horchen zu halten, gleichsam das Debüt zu weiteren Vorträgen in der Umgebung von Salzburg und der Retreat-Woche in Assisi 1989.
In der Festschrift zum 80. Geburtstag von Bruder David Die Augen meiner Augen sind geöffnet (2006) gibt Roman einen berührenden Einblick in sein Leben. Der Titel seines Beitrags «Lass dir alles geschehn ...» bezieht sich auf Rilkes Gedicht «Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht», das auch Bruder David sehr lieb ist.
Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017)
Transkription des Vortrages von Bruder David,
bearbeitet von Hans Businger
(00:50) «Nach so ergreifender Musik fühlt man fast, dass man sich entschuldigen muss, die Stille jetzt durch Worte zu unterbrechen. Aber vielleicht gelingt es uns stattdessen, die Stille, die aus der Musik kommt, zu Wort kommen zu lassen. Und das gelingt am ehesten durch Dichtung. Und darum bin ich auch eingeladen worden, ein paar Worte zu sagen zu den vier Zeilen, die im nächsten Stück aus einem Sonett von Rilke vertont werden. Die Zeilen lauten:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.›[1]
Ich glaube, das ist eine der schönsten Strophen, die ich in der deutschen Sprache überhaupt kenne, schon der Musik nach, und ich habe öfters vor einem Publikum, das nicht Deutsch versteht als Beispiel, wie schön die deutsche Sprache sein kann, gerade diese vier Zeilen zitiert. Das ist fast reine Musik. Und ich möchte jetzt diesen Beginn des Gedichtes weiter ausdeuten, wie Rilke das selber tut im Rest seines Sonettes. Und dann werde ich es am Ende noch einmal lesen.
Aber jetzt möchte ich ein paar Stichworte nennen zu dem, was wir jetzt gehört haben:
‹Sei allem Abschied voran›: Das Gedicht beginnt mit dem Abschied ‒ ‹sei dem Abschied voran› ‒, und die Strophe endet dann mit überstehen, denn diesen Abschied überstehen, heißt überhaupt überstehen.
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.›
Dieses Wort eben ist ein ganz wichtiges Wort in diesem Zusammenhang. Man könnte ja meinen, dass das ein Frühlingsgedicht sei, das damit beginnt, wie der Winter jetzt eben geht.
Nein, das ist ein ganz anderes eben, das ist eben ohne viel Aufhebens: der Winter macht keinen großartigen Abschied, er geht eben. Oder: So ist das Leben eben, wie in dem bekannten Gedicht von Goethe, das sich schon fast wie ein Volkslied anhört: ‹Sah ein Knab’ ein Röslein stehn›. Das wichtigste Wort in dem ganzen Gedicht ist:
‹Mußt’ es e b e n leiden.› ‒
‹Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.›
Das Wort eben klingt fast wie Leben ohne ‹L›, und das heißt soviel wie:
Das Leben eben nehmen, wie es kommt.
An diesem kleinen eben hängt sehr viel.
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter› ‒
das ist der Tod, der endlose Winter ‒,
‹dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.›
Das heißt, wir können nur leben und überstehen, wenn wir den Tod ins Leben hereinnehmen. Und wieder Goethe:
‹Und wenn du das nicht hast, dieses Stirb u n d Werde
Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.›[2]
Und das ist in dieser ersten Strophe schon ausgedrückt.
(06:16) Und jetzt das Gedicht im Zusammenhang mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike in den Sonetten an Orpheus:[3] Eurydike, die junge Frau des Orpheus wird von einer Schlange gebissen und muss in die Unterwelt hinab. Das ist die Geschichte, die hinter der folgenden halben Zeile steht:
‹Sei immer tot in Eurydike.›
Das richtet sich an jeden von uns: Wer und was ist deine Eurydike?
Wer ist der liebe Mensch, oder was war geliebt und ist jetzt schon in der Unterwelt?
Das gehört auch zu deinem Leben dazu:
Sei ‹tot in Eurydike› heißt nicht: Sei tot, sondern es heißt: Sei so lebendig, dass du sogar den Tod deiner Eurydike ‒ den Tod von all dessen, was dir gestorben ist ‒, in deine Lebendigkeit hineinnehmen kannst.
Denn gleich das nächste Wort ist:
‹… s i n g e n d e r steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.›
Was ist dieser ‹reine Bezug›, in den wir zurücksteigen?
Es ist die Offenheit fürs Leben.
Aus dem Tod, wenn wir den hineinnehmen können in unsere Lebendigkeit, sind wir im ‹reinen Bezug› zum Leben.
Und dieser reine Bezug zum Leben ist Hoffnung:
Hoffnung gehört zum Überleben dazu
Abschied nehmen gehört zum Überleben dazu.
Wir müssen lernen, Abschied zu nehmen.
Und wir müssen lernen:
Hoffnung:
Und Hoffnung ist ganz etwas anderes wie die Hoffnungen. Es ist wunderbar, wenn man viele Hoffnungen hat. Und wenn man ein Mensch der Hoffnung ist, hat man auch viele Hoffnungen. Aber die Hoffnung ist etwas ganz anderes.
Die Hoffnung ist Offenheit für Überraschung.
Das ist wahre Hoffnung. Die Hoffnungen, die wir haben, sind immer Dinge, die wir uns vorstellen können. Aber Überraschung ist das, was alles übertrifft. Hoffnung öffnet sich für das, was alles übertrifft.
Und das brauchen wir zum Überstehen: die Offenheit für das Leben.
(09:02) Und dann geht's nach ‹Sei immer tot in Eurydike ‒, singender steige …›:
‹Hier unter Schwindenden› ‒
die Lebendigen sind auch zugleich die Schwindenden.
‹Hier unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige› ‒
er nennt die Welt das Reich der Neige ‒
‹sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›
Das ist das zentrale Bild vom Überleben. So lebendig sein, dass wir selber zu einem singenden, klingenden, preisenden, rühmenden ‒ das ist alles drinnen ‒ Glas werden, das in diesem Klang schon zerschlug.
In jedem Augenblick heißt das: Abschied nehmen von dem, was vorher war, nicht dran hängen, nicht sich ans Bleibende versteifen ‒ loslassen ‒, und den Augenblick klingen lassen wie ein ‹Glas, das sich im Klang schon zerschlug›.
In den letzten sechs Zeilen führt Rilke das noch weiter aus, dieses Bild vom Glas, das sich im Klang schon zerschlug:
‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›
Zu dem klingenden Glas gehört die Einzigartigkeit: Jeder Augenblick ist einzigartig.
Und in einer seiner Elegien, die immer parallel stehen zu den Sonetten an Orpheus, drückt Rilke das so aus:
‹… E i n Mal
jedes, nur e i n Mal. E i n Mal und nichtmehr. Und wir auch
e i n Mal. Nie wieder. Aber dieses
e i n Mal gewesen zu sein, wenn auch nur e i n Mal:
i r d i s c h gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.›[4]
Und dann:
‹Zu dem g e b r a u c h t e n sowohl, wie zum dumpfen und stummen
V o r r a t der vollen Natur› ‒
das Gebrauchte: Vergangenheit, Kindheit ‒, ist alles, was wir zurücklassen müssen, und der große Vorrat der vollen Natur ist Überraschung, das Überraschende: alles, was auf uns zukommt ‒, die Zukunft:
‹Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›
Alles, was in Raum und Zeit ist, alles, was zum Tod gehört, ist in Raum und Zeit zählbar und messbar. Aber wir gehören zu dem Unermesslichen. Wir gehören einerseits zum Messbaren in Zeit und Raum, anderseits zum Unermesslichen.
Und auch darüber in den Elegien eine wunderschöne Strophe:[5]
‹Siehe ich lebe. Woraus?› ‒
Woraus lebe ich? Was ist das Material für mein Leben? ‒
‹Siehe ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger›:
Ich lebe aus der Kindheit, aus der Vergangenheit ‒ aus allem ‹Gebrauchten› ‒, und aus dem ‹Vorrat der vollen Natur›: der Zukunft:
‹… Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger ….. Unzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen.›
Ich werde das Gedicht im ganzen Zusammenhang lesen und wir denken daran, es geht darin um Abschied nehmen, Hoffnung, Überraschung und Überstehen.
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.
Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›
(15: 36) Und was hindert uns daran so zu überleben? So zu überstehen?
Was uns hindert ist Furcht. Furcht vor Wandel. Wir wollen, dass alles immer bleibt. Wir fürchten den Wandel. Und da sagt Rilke im Sonett, das gerade vorher kommt in der Sammlung:[6]
‹W o l l e die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!›
Wenn es still ist und wir uns ins Bleiben verschließen wollen ‒ nicht die Wandlung ‒, und wenn’s so still ist, ist das nur die Wandlung vor dem Sturm, nur die Stille vor dem Hammer, der schon ausholt. Denn nichts kann sich dem Bleiben verschließen: das Leben ändert sich ständig. Und das macht uns Angst.
(17:36) Und das ist das Entscheidende: Wenn wir uns fragen: Wie können wir überstehen, heißt das eigentlich: Wie können wir Angst überwinden?
Angst lässt sich nicht vermeiden. Sie lässt sich nur überwinden. Furcht ist nicht unvermeidlich. Wir müssen unterscheiden zwischen Angst und Furcht. Furcht lässt sich vermeiden. Angst lässt sich dadurch überwinden, dass wir die Furcht überwinden. Angst kommt von demselben Wort wie Enge ‒ ‹miser et angustiae› ‒, das sind die Ängste, die Bedrängnisse. Angst ist im Deutschen dasselbe Wort wie im Lateinischen ‹angustiae› ‒ ‹Enge›. Und durch diese Enge kommen wir schon in die Welt. Wir haben als Fötus ein paradiesisches Leben. Und dann kommen wir durch die Enge des Geburtskanals in diese Welt. Jeder von uns hat das durchgemacht.
Und dann im Lauf dieses Lebens kommen wir immer wieder in Engpässe, immer wieder in Bedrängnis von allen Seiten. Und während wir uns als Babys während der Geburt ganz instinktiv dem Leben und der Überraschung überlassen haben ‒ wir waren offen für Überraschung und sind so geboren worden ‒, müssen wir das jetzt willentlich tun: Wir tun’s nicht mehr instinktiv, sondern instinktiv sträuben wir uns eigentlich, wir lassen so Borsten heraus und bleiben stecken in dieser Enge.
Und das müssen wir lernen: uns dem Leben anvertrauen. Und so wie uns das Leben durch den Geburtskanal in die Welt gebracht hat, bringt es uns immer wieder durch jede Enge. Unser Freund Klaus Christa[7] hat schon am Vormittag darauf hingewiesen: Die Enge, auf die wir zurückschauen und durch die wir immer wieder in neue Geburt kommen. Immer wieder wird es offen, immer wieder wird es weiter.
Die größte Angst und Enge, die hinter jeder andern Angst steht, ist die Todesangst, denn wir haben keine Ahnung, was nachher kommt: das macht uns Angst.
Aber wenn wir uns nicht fürchten, dürfen wir vertrauen, dass wir durchgehen jedem Abschied voran in größeres Leben, in größere Fülle des Lebens, in eine neue Geburt, wie wir es uns gar nicht vorstellen können. Die Raupe kann sich ja auch nicht vorstellen, dass sie dann als Schmetterling herumfliegen wird. Wir können es uns nicht vorstellen ‒, wir sollen uns gar nicht bemühen, es uns vorzustellen.[8]
Aber wir dürfen darauf hoffen, dass, so wie wir durch jede Enge ‒ wenn wir uns nicht sträuben, nicht fürchten ‒, immer wieder in eine neue Geburt kommen, wir auch im letzten Abschied überstehen können.
Abschied lernen, gehört zum Überleben,
Mut und Bereitschaft zur Verwandlung.
Und ich hoffe, dass wir, wenn wir jetzt diese Musik anhören, die das so viel schöner und so viel ergreifender immer wieder sagt, als Worte es ausdrücken können, dass wir nicht nur das irgendwie nachempfinden können, sondern, dass wir uns entschließen können: ent-schließen, öffnen für das Leben.
Wenn ein Konzert noch so schön ist und am Ende nicht zum Entschluss führt, dann fehlt, wie das Rilke zusammenfasst:
‹Namenlos bin ich zu dir entschlossen› ‒ ‹Erde du liebe, ich will.›[9]
Das sollen wir sagen können:
Leben: ‹namenlos bin ich zu dir entschlossen›.
Und nichts kann unser Herz besser ent-schließen als Musik.
Und dafür sind wir heute ganz besonders dankbar.»
______________________
[1] Siehe den Text dieses Sonetts in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 140-148, 150f.
Die Beziehung von Bruder David zu Rilke und besonders zu ‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter/dir› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) ist einzigartig und spürbar in allen seinen Büchern und Vorträgen; siehe Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (40:06)
Abschied, der Klang des Lebens enthält wegweisende Passagen zu diesem Sonett aus dem Credo (2015) und aus dieser Mitschrift (siehe Anm. 3 und 6). In Ergänzend: 2.-4. sind weitere Vorträge zusammengestellt, in denen Bruder David dieses Sonett vorträgt und deutet.
[2] J. W. Goethe: ‹Selige Sehnsucht›; siehe auch Tod und Auferstehung: Haupttext und Anm. 5; Sterben: Anm. 1; Sinne und Kind werden: Haupttext und Anm. 10
[3] Im inhaltlich parallelen Vortrag ‹Der Weg zu Fülle und nichts›, dem Audio 2.1 in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991) ab (19:53), geht Bruder David näher auf den Mythos von Orpheus und Eurydike ein; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 52-56
[4] Rilke: Die neunte Elegie
[5] Letzte Strophe der neunten Duineser Elegie
[6] Bruder David trägt dieses Sonett vor im Vortrag So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)
In den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014 bildete dieses Sonett ‒ wie auch ‹Sei allem Abschied voran› (siehe Anm. 1) ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage; siehe Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 151-155
[7] Klaus Christa ist Bratschist und künstlerischer Leiter von ‹Musik in der Pforte›
[8] Im Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (44:44):
«Das Wichtigste scheint mir, im Augenblick zu leben, ganz gleich, wie alt man ist: Im Augenblick zu leben. Denn der letzte Augenblick wird auch ein Augenblick sein. Mir sind die Jenseitsvorstellungen nicht wichtig: Wir wissen es nicht.»
Johannes Kaup: «Du hast so schön geschrieben, dass du mit Eichendorff Skifahren gehen wirst?»
Bruder David: «Träumen darf man schon, solange man weiß: das stelle ich mir halt so vor, das wünsche ich mir halt so, dann ist das schon gerechtfertigt. Man mag sich ja nur hineindenken in eine Raupe, die einmal ein Schmetterling werden wird. Diese Raupe kann sich sehr schwer vorstellen, dass sie einmal herumfliegen wird, und ebenso wenig kann ich mir das Leben jenseits des Todes vorstellen. Das ist eine Zeitverschwendung. Es gibt soviel hier zu erleben: darauf sollte ich mich konzentrieren.»
[9] Rilke: Die neunte Elegie:
«Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? ‒ Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? ‒ Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag
Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen ‒, einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.»
«Würde was wären wir ohne sie?» (2018)
Übersicht über die Themen des Gesprächs von Heiner Schmidt mit Helmut von Loebell und Bruder David Steindl-Rast
Transkription© von Hans Businger (2024)
Einführung in das Gespräch
Beginn mit Musik ‒ (03:10) Heiner Schmidt (HS) leitet das Podiumsgespräch ein:
«In Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt es, die Würde des Menschen ist unantastbar, doch was genau ist Würde, was bedeutet es, wenn unsere Würde verletzt wird?»
Der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther sagt: «Das Bewusstsein unserer Würde ist so etwas wie ein innerer Kompass, den jeder Mensch im Lauf seines Lebens entwickelt und der ihm hilft, sich nicht in der Vielfalt der von außen an ihn herangetragenen und auf ihn einstürmenden Anforderungen und Angebote zu verlieren.»[1]
Er meint, es sei wichtig, dass wir lernen, die Wahrnehmung der eigenen Würde zu stärken; wer sich seiner Würde bewusst wird, geht aufrechter, lebt authentischer und ist auch nicht mehr verführbar.
Wir wollen heute Abend überprüfen: ist das so, hat er recht, und wenn ja, wie macht man das, die eigene und die Würde anderer stärken?
(05:14) Musik ‒ (06:25) HS stellt uns Helmut von Loebell (HL) und Bruder David (BD) vor und sagt, wo und wie sie einander begegneten.[2]
Teil 1: Würde erleben in der eigenen Kindheit
(14:36) Unsere Würde entsteht sehr früh und wesentlich ist, dass wir gesehen werden, dass wir wahrgenommen werden, dass wir Zugehörigkeit erleben, dass sich jemand freut über uns, dass wir Spielraum haben, uns zu entfalten. (Gerald Hüther)[3]
HS geht auf die Kindheit von Helmut von Loebell ein und fragt ihn: Was hat dir in den Jahren deiner Kindheit geholfen, dass du so etwas wie Geborgenheit erlebt hast oder die Möglichkeit, trotzdem Ja zum Leben zu sagen (Viktor Frankl), obwohl du gespürt hast, ich bin in Wirklichkeit nicht willkommen, sondern meinen Eltern eine Last?
(16:48) Helmut von Loebell blickt zurück auf sein Leben und gesteht innerlich bewegt, wie ihm die Erfahrung von Würde und Geborgenheit als Kind und als Geschäftsmann versagt blieb; er erlebte Geborgenheit erst in seiner Familie, die an diesem Abend vor ihm sitzt: Man kann entweder zu Grunde gehen oder sich aufraffen und sagt sich schon als 6, 8, 10jähriger: Das mache ich jetzt anders. Das kleine Kind in mir hat gesagt, das musst du anders regeln: Wenn ich einer Familie nicht mehr passte, dann habe ich einen solchen Zirkus gemacht, dass meine Mutter mich abgeholt und zur nächsten gebracht hat. Das war natürlich eine tolle Sache: Ich konnte über mein eigenes Leben entscheiden. Die letzte Entscheidung, die meine Mutter getroffen hatte, war, dass sie mich nach Kolumbien schickte. Ich wollte nicht nach Kolumbien, ich wollte Dirigent, Anwalt werden. Seitdem ‒ ich war damals 18½ Jahre alt ‒ habe ich allein über mein Leben entschieden.
(19:57) BD: Ich bin ungeheuer dankbar, weil alles, was dir in deiner Kindheit nicht geschenkt wurde, mir trotz der schwierigen Umstände ‒ Depression und Kriegszeit ‒ geschenkt wurde.
Es waren äußerlich immer große Schwierigkeiten, aber mir wurde immer das Bewusstsein geschenkt, ich werde geliebt ganz gleich, was ich tue. Natürlich wusste ich auch ganz genau, was ich tun darf und was ich nicht tun darf. Aber ich wusste auch, wenn ich das tue, was ich nicht tun darf, dass ich dann nicht weniger geliebt werde von meinen Eltern. Das war nicht ausgesprochen, das war einfach ein Bewusstsein.
Und außerdem wurde meine Eigenartigkeit völlig anerkannt, wir waren drei Brüder und wir waren ganz verschieden voneinander, doch unsere Verschiedenheit wurde völlig gefördert mit großen Kosten. Ich wollte Florettfechten lernen und meine Mutter musste dafür zusätzlich Nachhilfestunden geben in Englisch, damit wir uns das leisten konnten. Sie hat ausdrücklich gesagt: Was ihr lernen wollt, ‒ wenn ihr dabeibleibt ‒, dürft ihr machen. Wir werden das Geld irgendwie aufbringen.
(23:09) Bruder David fragt Helmut von Loebell, wie er in seiner Kindheit, in der er weder fraglose Zugehörigkeit erleben durfte, noch in seiner Eigenart anerkannt wurde, durchgekommen ist: Wie lebte er das trotzdem?
HL: Ich hatte erst einmal die Notwendigkeit zu überleben. Man muss nicht mehr wissen, man muss nicht mehr sein wollen als man mitgekriegt hat, was einem auch pränatal in die Wiege gelegt wurde.
BD: Natürlich hast du versucht, den Kindern zu geben, was du selber nicht bekommen hast.
HL: Das habe ich vorher nicht gewusst, mir ist erst vor 10 oder 15 Jahren bewusst geworden, was ich bereits 40 oder 50 Jahre mache. Statt wie andere Golf spielen, wollte ich mich in Bogotá um Kinder kümmern.
HS: Zum Stehaufmann gehören Niederlagen und die Härte des Geschäftslebens, in der ein Großkaufmann die Würde anderer verletzt.
(27:03) HL: Geschäfte, wenn man sie groß machen will, sind eine Sache, dass man durch die Wand geht. Das ist purer Kapitalismus. Entweder ist man affiliiert dazu oder man wird Künstler, Lehrer oder Pfarrer. Der Stehaufmann ist ein Abenteurer, der durch die Wand geht, so wie mein Großvater vor 120 Jahren in Kolumbien. Den habe ich nachgemacht, jedenfalls zum Teil.
Geschäftemachen in Südamerika, große Geschäfte, Staatsgeschäfte, das macht man nicht nur mit Liebenswürdigkeit, da muss man ab und zu den Fuß hineinstellen, dass es würdelos ist. Ich würde mich nicht als würdelos bezeichnen, aber einige Taten, die ich gemacht habe, sind ohne Zweifel würdelos.
Ich kann ja meine Würde gar nicht verlieren. Die habe ich ja geerbt. Mit der bin ich auf die Welt gekommen: pränatal und postnatal. Aber ich kann würdelose Taten tun, und zwar eine ganze Menge. Wenn man würdevolle Taten tut, wie Kinderdörfer organisieren, dann muss man auch ab und zu eine würdelose Tat machen. Aber wenn man etwas tun will, dann muss man es tun und nicht nur darüber reden: sechs Schritte voraus und fünf zurück.
Teil 2: Würde ‒ was meinen wir damit?
(30:51) Musik ‒ (34:31) HS: Der Begriff ‹Würde› ist vielschichtig.
BD: Mir hat es geholfen, eine große Klarheit zu finden in dem, was über Würde geschrieben wird, dass es immer wieder auf zwei Dinge ankommt: auf Zugehörigkeit und auf Eigenständigkeit.
Damit Kinder das Bewusstsein ihrer menschlichen Würde erlangen, muss man ihnen das Bewusstsein der unbedingten Zugehörigkeit ohne Wenn und Aber schenken, und zweitens: Du bist ganz etwas Besonderes und hast ein Recht, ganz besonders zu sein, zunächst in der Familie.
Der nächste Schritt ist, dass das eigentlich auch in der Schule sein sollte. Bei allen wichtigen Schulreformen ‒ hier in Deutschland und Österreich: Schule im Aufbruch und eine große Schulreform in Argentinien ‒ geht es darum, den Kindern Zugehörigkeitsgefühl zu geben zur Schule, zu den anderen Mitschülern und zu allen, die in der Schule arbeiten, und ihnen zu vermitteln: jede und jeder von uns ist einzigartig und unersetzlich und wird gerade geschätzt, weil sie oder er so verschieden ist von den anderen.
Das ist wirklich eine Frage der Schulreform, denn in der typischen Schule gehörst du nur dazu, wenn du dich anpasst. Der Lehrplan ist nicht auf diesen oder jenen Studenten zugeschnitten, sondern du musst genau hineinpassen.
Wir wissen aus der Geschichte, dass oft Kinder, die in der Schule Versager waren, später als Genies der Menschheit viel geschenkt haben.
(39:25) Für Menschen, die ohne dieses Gefühl der Zugehörigkeit aufgewachsen sind, ist es schwierig, aber nicht unmöglich, einen Zugang zu finden: Ich gehöre dem Ganzen der Welt an, diesem großen Kosmos ‒ religiös ausgedrückt: Ich bin ein Kind Gottes, wir alle sind Kinder Gottes in einer großen Familie ‒, und ich habe meine eigene Rolle hier zu spielen, die kein anderer Mensch genau so spielen kann.
Unsere Verschiedenheiten sind ja unglaublich groß, wenn man einmal beginnt, darüber nachzudenken. Und wenn diese beiden zusammenkommen: fraglose Zugehörigkeit und Würdigung der Eigenart, dann kann jemand seine Würde leben. Das gilt für die Erziehung der Kinder und für die Würdigung anderer. Es fühlt sich so an, als ob man fest s t e h t, man ist irgendwie gesichert in Würde. Es gibt einem eine Sicherheit. Wenn man die hat, kann man auch andere würdigen und andere würdig behandeln.
Das heißt: Wie immer die verschiedenen Situationen sind, man gibt den andern das Gefühl: Du bist ganz anders, doch wir gehören zusammen, wir haben gemeinsame Interessen ‒ alle Menschen haben gemeinsame Interessen ganz tief irgendwo ‒, und ich erkenne dich in deiner Andersartigkeit an. Ich weiß das zu würdigen. Nicht Gleichmacherei.
Verlust der Würde und Scham
(41:56) BD: Und das ist halt leider in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Und es ist in unserer Lebenszeit verlorengegangen. In meiner Kindheit hat die Gesellschaft Menschenwürde als einen großen Wert angesehen. Und heute wird sie nicht mehr als großer Wert angesehen. Sie steht vielleicht noch in den Gesetzbüchern, aber man will ganz allein sein, das Ideal ist der Einzelgänger, der nicht aus Zugehörigkeitsgefühl handelt, und seine Einzigartigkeit auf Kosten der andern auslebt.
(43:37) HS erlebt, wie junge Menschen warme, mit Körperkontakt spürbare Wertschätzung ausdrücken und spricht HL auf die Waldorfschulen an.
HL: In den Waldorfschulen nehmen wir das Kind als eine geistige Entelechie wahr, wir nehmen das Kind wahr, wir haben nicht 35 Kinder, wir haben 35 Schicksale.
Die Würde ist das Treffen der geistigen Welt in mir. Ich muss eine Beziehung zu ihr aufbauen. Ganz praktisch, Wolkenkuckucksheime gibt’s genug. Das höhere Ich hat eine Beziehung zu der geistigen Welt und diese geistige Welt wird in mir durch die Würde vertreten, sie ist ein Kontrollorgan im positiven Sinn des Wortes, ein Organ der Liebe.
(48:10) BD: Zu der Eigenständigkeit, die heute betont wird, gehört als Gegengewicht die Zugehörigkeit dazu: beides muss gegenseitig ausgewogen sein, und zudem das Bewusstsein, dass ich meinen Teil tue. Ich habe eine Begabung und ich schulde der Gesellschaft, dass ich, was immer meine Aufgabe ist, so gut wie möglich tue.
Daran sieht man den Verlust der Menschenwürde in der Gesellschaft: Vor nicht allzu langer Zeit konnte man sicher sein, wenn man einen Mechaniker gebraucht hat oder einen Installateur im Haus oder einen Elektriker, dass man sich verlassen konnte, dass die das so gut wie möglich machen. Und ich fürchte, man kann das nicht mehr heutzutage. Es ist nicht mehr das Ideal. Ein Installateur hätte sich geschämt, nicht sein Bestes zu geben, wenn er irgendwo hinkommt, und man hat es unverschämt genannt, wenn jemand das nicht gemacht hat. Scham und Unverschämtheit, das gehört auch sehr zu dieser Würde dazu.
Die Würde eines Menschen, das Bewusstsein seiner Würde zeigt sich darin, dass man sich schämen würde, etwas zu tun, was unter seiner Würde ist.
HS: Das Gewissen in uns ist auch ein Gradmesser, was würdig und unwürdig ist.
HL: Die Würde könnte eine Art der Geborgenheit der Gesellschaft sein gegenüber der geistigen Welt. Ich fühle mich geborgen, indem ich mit meiner Würde würdevoll umgehe.
HS: Jeder Mensch ‒ egal seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seines religiösen Hintergrunds ‒ hat den Hl. Geist in sich, das göttlich Ja.
Die eigene Würde leben
(51:31) HS: Wo lebt ihr Eure eigene Würde am stärksten? Kann man Würde festmachen an einem Gefühl, an einem inneren Zustand? Habt ihr Methoden, die eigene Würde zu leben?
HL: Wenn ich mir des Geistigen in mir bewusstwerde, dann ist das ein Glücksgefühl, ein Akt der Liebe. Das Geistige ist, wenn ich mir bewusstwerde, dass ich ein geistiges Wesen bin. Situationen, in denen das kleine Kind in mir angefacht wird. Und das kleine Kind möchte, dass ich die Sachen würdevoll mache.
HS: Mit deiner Geschichte, den kleinen Helmut in dir zu lieben, der ganz viel entbehrt hat.
(54:35) BD: Die Zugehörigkeit erlebe ich in zwei Situationen: Im Chorgebet ‒ das gemeinsame Singen, die Gemeinsamkeit im Kloster ‒ und in der Natur. Ich glaube, dass viele Menschen, die ihre Religiosität in der Natur ausleben, eben dort dieses Zugehörigkeitsgefühl haben.
Und meine Eigenständigkeit erlebe ich am meisten in dem, was ich schon gesagt habe: Ich will meinen Teil ‒ etwa beim Schreiben oder Abwaschen ‒ so gut wie möglich machen. Das kann auch ein bisschen eine Art Besessenheit sein, da muss man sich hüten.
(56:00) Und dann kommt natürlich in meinem Alter dazu: Die Frage vom würdigen Sterben. Und das hängt nicht so sehr von einem selber ab, da muss man hoffen, dass man selber nicht eine Nummer wird oder ein Fall. Ich muss ehrlich sagen, davor habe ich eigentlich Angst. Ich stelle mir vor, ich bin irgendwo in einem Spital, ich kann nicht mehr reden, und werde so als Ding behandelt. Ich würde versuchen, das anzunehmen als Zugehörigkeit zu allen andern, die selber auch in einer solchen Lage sind ‒ hunderttausende Menschen sind in einer solchen Situation. Es gehört im Leiden dazu, sich immer wieder daran zu erinnern, wie viele andere dasselbe erleiden.
Und ich bemühe mich, wenn ich Menschen sehe, die mir so ganz fremd sind, in ihnen Menschenkinder ‒ Gotteskinder ‒ zu sehen, wir alle sind ganz verschieden, aber wir gehören zusammen: Bettler, die am Rand sitzen. Manchmal ist es viel einfacher, sich eins zu fühlen mit dem Bettler, der bei der Felsenreitschule sitzt als mit den Politikern, die man auf der Leinwand sieht.
Ich habe vor ein paar Tagen geträumt, dass ich bei Donald Trump zu Hause war. Ich war sein Hausgast und er war ganz nett. Und in meinem Traum ist mir das gar nicht aufgefallen, wie sonderbar das war.
Teil 3: Würde stärken
(58:58) Musik ‒ (01:02:37) HS leitet das Stichwort Verantwortung ein: Helmut, du hast in Kolumbien initiiert, dass Kinder Würde empfangen, dass sie Zugehörigkeit erleben, dass sie in ihrer Individualität gesehen werden, dass sie gefördert werden in ihren Begabungen: Was können wir heute tun, um die eigene Würde zu stärken, aber auch die Würde anderer, aber speziell bei den jungen Menschen?
HL: Ich kann als erstes schauen, wer bin ich eigentlich? Was hat Würde mit mir zu tun? Ich schaue mal nach, was ich in 50 oder 60 Jahren würdeloses gemacht habe, und wie ich damit umgegangen bin und wie ich das heute sehen würde.
Ich verabrede etwas mit mir selber, und handle dann, wenn ich die Möglichkeiten dazu habe. Ich bin in keiner Weise etwas Besonderes. Was ich gemacht habe, habe ich automatisch, aus dem Stegreif, gemacht. Ich habe nicht darüber nachgedacht.
Also man kann etwas tun, auch wenn man noch nicht genau weiß, warum man das tut. Ich habe eine Kaufmannsseele, das hat manchmal sehr gut funktioniert und manchmal überhaupt nicht. Deswegen gibt es auch die Auf- und Abfahrten, die sind manchmal unglaublich oder gefährlich an der Grenze des Loyalen. Das ist Kolumbien, das ist Südamerika. Ich habe Geld verdient und das Geld wohin gesteckt, ich habe keine Autos gekauft, ich habe Kinder unterrichtet, das ist für mich etwas ganz Logisches, in keiner Weise etwas Besonderes. Wenn ich die Kinder sehe, dann sehe ich die Würde in ihnen.
(01: 10:35) BD: Mir scheint, dass wir unsere eigene Würde am besten stärken, indem wir andere würdigen. Es ist eine Beziehungsangelegenheit, und das Gegenteil davon ist heutzutage das Mobbing: In Amerika ist Mobbing eine Epidemie in den Schulen, es führt zu Selbstmord. Ein Student wird ausgesondert und die Mobber sagen ihm, du bist immer schlecht angezogen oder du bist hässlich oder irgendetwas, was deine Eigenart ausmacht, wird als schlecht angesehen und du gehörst nicht zu uns dazu.
Wenn es einem gelingt, Mobbingopfern ihre Würde zurückzugeben, das Gefühl: Wir gehören zusammen und du bist etwas ganz Besonderes in irgendeiner Weise, dann hat man wirklich diesen Erdrutsch des Verlustes der Menschenwürde ein bisschen aufgehalten. Ich glaube, dazu hat jeder irgendwo und irgendwann mal Gelegenheit.
(01:14:27) HL: Einer unserer Buben in Bogotá ‒ in unseren Projekten sind Binnenflüchtlinge, also Opfer, die vor der Guerrilla flüchteten ‒ hat zu mir gesagt vor zwei Jahren: Weißt du, dieser ganze Waldorfzirkus, den ihr da macht, das ist o.k. Aber was wirklich o.k. ist: Ich habe bei euch gelernt, dass ich nicht mehr Menschen umbringen muss, um selber zu leben. Er hat kapiert, dass er nicht böse sein muss, um selber zu überleben.
HS: Wenn ich heute den Straßenzeitungsverkäufer vor der Billa einlade, weil ihm so kalt ist, dass er am Nachmittag vorbeischaut zu einem Tee, dann runzeln die Nachbarn die Stirn. Das tut weh. Wir sind keine Gesellschaft des Willkommens von Flüchtlingen und wir schauen weg bei Menschen, die wirklich Schwierigkeiten haben im Leben.
Was wir tun können, ist, auch wenn es sich kitschig anhört: dem Herzen folgen. Die Menschen, die ausgegrenzt werden, wahrnehmen und auf sie zugehen und Beziehung zu beginnen, ohne etwas Großes. Da sind die spirituellen Traditionen eine große Hilfe. Ob jetzt Menschen meditieren, ob sie im Spazieren beten, ob sie religiöse Texte lesen oder sonstige Rituale haben, am Berg, in der Natur ‒ du, Helmut, hast es Geist genannt. Wenn ich unrund bin, und eckig und borstig: in dem Moment, wo ich wieder Zeit finde, im Spazieren, in der Natur zu beten und still zu werden und wirklich leer zu werden, dann habe ich das Gefühl, jetzt kriege ich gerade wieder Würde. Und mit diesem aufgefüllten sich würdig fühlen, lebt es sich wieder besser.
(01:18:48) BD: Es ist schön, dass du so betonst, dass die Religion, besonders für uns das Christentum unsere Würde stärkt. Und es ist schon auch wahr, wenn es gut geht. Aber man muss leider auch sagen, dass vielen Menschen geschadet worden ist, dass ihre Würde heruntergedrückt wurde, gerade im religiösen Kontext. Heute sind viele katholische Christen sehr sensibel dafür. In der Liturgie beten wir vor der Kommunion: ‹Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach›. Da muss man sich dazu denken: ‹Du aber machst mich würdig›, wie in der Deutschen Messe von Johann Michael Haydn.[4]
Es ist die Geste des Vaters, der den verlorenen Sohn schon von weitem sieht, und einfach in die Arme schließt. In dem Bild ‹Die Rückkehr des verlorenen Sohnes›, das Rembrandt gemalt hat, steht der Vater da und umarmt ihn, und eine Hand ist männlich und die andere Hand ist weiblich: das gibt uns letztlich die Würde.
Und da gehört schon etwas dazu, dass man sieht: Auch die Würde ist mir geschenkt. Das ist das Schöne. Man würdigt es mehr, wenn es einem geschenkt wird, wenn man sieht: es ist Geschenk. Ob man da jetzt sagt, es ist ein Geschenk Gottes oder Geschenk des großen Geheimnisses der Natur, dass ich dazugehören darf zu dem Ganzen: es als Geschenk anzusehen ist sehr hilfreich. Und dann wird man wieder bereit, es andern zu schenken.
Teil 4: Fragen und Anregungen aus dem Publikum
(01:22:26): Wie Berühren und Umarmen Zugehörigkeit vermitteln kann. ‒ Die Individualität von Schülern fördern, ohne auf ein Schulprojekt zu warten.
(01:27:55) HL: Würde und Vertrauen: Würde hat zu tun mit dem Geistigen und dem Geistigen muss ich vertrauen. Ich bin ein geistiges Wesen und muss mich mit dem Geistigen vertrauensvoll verbinden.
BD: Wie verhält man sich Menschen gegenüber, denen man nicht vertraut, weil sie Böses tut? Man kann sie ausgrenzen: Wir sind die Guten, das sind die Bösen. Das führt zu nichts. Oder man kann sie anschauen, so wie eine Mutter ein Kind anschaut, das sich schlecht benimmt: Du wirst aus diesem Verhalten herauswachsen.
Die Haltung, das Böse als das noch nicht Gute anzuschauen, macht einen enormen Unterschied aus. Das darf man nicht beschönigen: du tust etwas, das dem Leben schadet, gegen den Strich des Lebens geht, aber du kannst es besser machen.
Üben, lange genug hinschauen, bis man auch beim unsympathischsten Menschen etwas Positives findet. BD endet mit einer witzigen Anekdote aus seinem Kloster.
Video zum Projekt CES Waldorf in Bogotá
(01:39:00-01:44:08), anschließend spricht HL über die soziale Situation in Kolumbien, die sich weiter verschlechtert hat. Er zeigt zwei Fotos: ein Mädchen mit einem Gewehr und eines mit einer Guerilla Mütze und drückt seine Überzeugung aus: Auch diese Kinder haben Würde!
(01:47:28) Dankesworte von HS.
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[1] Gerald Hüther: Würde: Was uns stark macht ‒ als Einzelne und als Gesellschaft; mit Uli Hauser, München, Albrecht Knaus Verlag 62018: ‹Worum es geht›, 19
[2] Das erste deutschsprachige Buch von Bruder David Fülle und Nichts (1985) erschien im Dianus-Trikont-Verlag und Helmut von Loebell hat den Aufbau dieses Verlages kaufmännisch unterstützt und viel Geld in diese Unternehmung gesteckt. Er schreibt in seinem Buch Der Stehaufmann (2016): ‹Mein ‚Nebenjob‘ als Verleger›, 121f.:
«So kam es, dass ich, der ich damals durch meine ‹halbe› Ausbildung und die fast dreißig Jahre des Aufenthaltes in Kolumbien in Kulturfragen noch sehr unerfahren war, als Autoren des Dianus-Trikont-Verlags Persönlichkeiten wie David Steindl-Rast, Fritjof Capra, Johan Galtung, Jakob von Uexküll, Carl Friederich von Weizsäcker oder S. H. den Dalai Lama kennenlernte ‒ Letzteren im Rahmen eines internationalen Treffens im Mai des Jahres 1986 in einem Hotel am Eibsee in Oberbayern, am Fuße der Zugspitze. Zu diesem Treffen hatte der Dianus Trikont-Verlag und die Gesellschaft zur Förderung Tibetischer Kultur geladen: Sowohl der Dalai Lama als religiöse Autorität als auch der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hielten dabei Vorträge unter dem Motto ‹Zeit und Raum›.»
«David Steindl-Rast, ein großer Geist des 20. und 21. Jahrhunderts war ebenfalls ein Autor des Dianus-Trikont-Verlages, den ich persönlich kennengelernt habe. Er wuchs mir durch seine spirituellen Texte, die mich bis heute begleiten, besonders ans Herz. Zuletzt sprach ich mit ihm im April 2016 in Bogotá, wo er bei der Jesuiten-Universität vor vielen tausend Menschen seine spirituellen Ideen und Wünsche darlegte.
Bruder David ist eine heute 90-jährige herausragende christliche Persönlichkeit, und ich bin froh, ihn noch einmal erlebt zu haben. Sein Vorwort zu diesem Buch freut mich, und ich bin dankbar dafür.»
[3] Gerald Hüther, Würde, ‹Wie entsteht das Bewusstsein für die eigene Würde›, 120:
«Jedes Kind will dazugehören, es will gesehen werden und es will lernen, wie das Leben geht. Solange Kinder dieses Bedürfnis in sich spüren, finden sie auch Mittel und Wege, es zu verwirklichen. Allerdings haben nicht alle das Glück, ihre eigene Bedeutsamkeit und ihr vorbehaltloses Angenommensein in den strahlenden Augen ihrer Mütter oder Väter auch noch dann zu spüren, wenn deren Anfangsfreude über den Neuankömmling verflogen und der familiäre Alltagstrott wieder eingekehrt ist.
Nicht alle Kinder machen die Erfahrung, bedingungslos und um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Sie wissen noch nicht, weshalb das so ist und was es bedeutet, wenn ihre Würde verletzt wird. Sie können es nur spüren.»
[4] Johann Michael Haydn (1737-1806): Deutsche Messe: ‹O Herr, ich bin nicht würdig, zu deinem Tisch zu gehn. Du aber mach mich würdig, erhör mein kindlich Flehn! (Gesang zur Kommunion)
«Lebendig bleiben mit Bruder David Steindl-Rast» (2023)
Ein THEATERPROJEKT von Bettina Buchholz und Johannes Neuhauser
Transkription© von Hans Businger (2024)
(00:45) Bettina Buchholz: «Es kam alles ganz anders als geplant. Ursprünglich wollten wir eine szenische Lesung über die Klimakrise machen mit Videoeinspielungen vom Amazonasbischof Dom Erwin Kräutler und Bruder David Steindl-Rast. Mein Mann hatte sogar schon die ersten Seiten geschrieben und mit Erwin Kräutler und Bruder David Kontakt aufgenommen. Aber dann kam es zu einer Verschlechterung meiner Krebserkrankung und es war ziemlich schnell klar, dass ich mich einer mehrmonatigen Chemotherapie unterziehen musste mit anschließender Stammzellentransplantation. Dies bedeutete natürlich das AUS für unsere Pläne.
Wenn du Krebs hast, dann nimmst du die Welt plötzlich wie durch eine Lupe, einem Vergrößerungsglas wahr: Alles tritt größer, klarer und schärfer hervor. Die sonst glatt erscheinenden Oberflächen wirken auf einmal porös, die Kanten schärfer, die Risse bedrohlicher.
Du kannst diese Lupe natürlich auch anders herumhalten und dann siehst du alles viel, viel kleiner. Du verdrängst die Probleme und konzentrierst dich ausschließlich auf dich selbst, deine Krankheit und deine kleine Welt; schottest dich ab gegen alles Verwirrende, Komplexe und Bedrohliche. Meist ist es dann auch natürlich das Einfallstor in die Welt der Esoterik mit ihren Vereinfachungen und Versprechungen wie: Heilung, ist jederzeit möglich, ja, Wunder sind jederzeit möglich. Du musst es nur wollen. Lass deine Ängste los, blende alles aus, was dich belastet, die Welt da draußen ist nicht mehr wichtig, schau nur mehr auf dich selbst.
Ich bin jedoch von Natur aus so gestrickt, dass meine innere Lupe leider immer vergrößert und nicht verkleinert. Seit meiner Erkrankung ist diese Tendenz sogar noch stärker geworden. Aus einer einfachen Gedanken-Landstraße kann da schnell mal eine vierspurige Grübel-Autobahn werden.
Was will ich damit sagen? Dass ich unsere Welt jetzt noch komplexer, ambivalenter und noch vielschichtiger wahrnehme? Und dass meine innere Welt gleichzeitig reifer und tiefer wird? Reicher an Empfindungen, an Offenheit und auch an Dankbarkeit?
Aber hey, Moment: Ich will nichts beschönigen. Auch meine inneren Dämonen sind viel, viel stärker geworden. Meine Ängste, meine Unruhe und meine Erschöpfung.
Warum ich als Schauspielerin nicht frei spreche, sondern den Text ablese, den mein Mann für mich aufschrieb, da mir die Kraft dazu fehlte: Weil bei einer intensiven Chemotherapie auch die Merkfähigkeit leidet, dies betrifft vor allem das Kurzzeitgedächtnis. Das kommt zwar langsam wieder, aber das dauert. Das ist für mich als Schauspielerin, die sich früher 80 Seiten Text merken konnte, besonders schwer. Übrigens die Fotos machten mein Mann und ich mit dem Handy. Wir wollten diese Zeit auch bildlich dokumentieren und nicht einfach verdrängen.
Während einer Chemotherapie Pause führten mein Mann und ich ein Zoom-Interview mit Bruder David Steindl-Rast, der sich damals gerade in Frankreich aufhielt. Wir hatten den Interview-Termin schon vor längerer Zeit vereinbart und wollten wegen meiner Behandlung nicht einfach alles absagen. Ich kannte Bruder David ja bereits. Er war bei unserem Stück über die Jüdin Etty Hilesum zu Gast gewesen. Im Anschluss an die Vorstellung gab es eine spannende Podiumsdiskussion mit ihm. Die Tribüne Linz war damals bis zum letzten Platz gefüllt. Und das Publikum war begeistert von Bruder David.
Jetzt ‒ unter der Lupe meiner Erkrankung ‒ nahm ich Bruder Davids Persönlichkeit, seine Ausstrahlung und seine Aussagen noch einmal anders und vor allem tiefer wahr. Ich stellte ihm gleich am Beginn die Frage, ob es in unserer von Krisen geschüttelten Welt überhaupt noch möglich sei, DANKBAR zu leben? Ob dies nicht eine Beschönigung sei angesichts des Ukraine-Kriegs, der Klimakrise und nicht zuletzt auch meiner persönlichen Situation?
Wie Bruder David darauf antwortete, beeindruckte und berührte mich sehr.»
(06:06) Bruder David: «Letztlich hat Dankbarkeit ‒ und zwar nicht die oberflächliche Dankbarkeit, wo man halt danke sagt, wenn einem was nettes zustößt; wenn man glücklich ist, sondern eine Dankbarkeit als Lebenshaltung ‒ eine ganz wichtige Voraussetzung und das ist Lebensvertrauen.
Wenn man nicht auf’s Leben vertraut und auf dieses Herz des Lebens, das große Geheimnis, das manche Gott nennen: wenn wir nicht auf’s Leben vertrauen, dann können wir nicht dankbar sein.
Wenn wir aber auf’s Leben vertrauen, dann können wir jeden Augenblick ‒ ganz gleich, was uns zustößt ‒, dankbar sein. Denn auch wenn uns etwas zustößt, was lebensverneinend ist, gibt es uns eine Gelegenheit, und die Dankbarkeit richtet sich immer auf die Gelegenheit, die uns gegeben wird. Meistens ist es die Gelegenheit, uns zu freuen und dankbar mit dem Geschenk etwas zu tun. Häufig ist es aber auch die Gelegenheit zu protestieren, etwas dagegen zu sagen oder daran zu lernen, am Leid zu lernen, am Schmerz zu lernen, reif zu werden: das sind alles große Aufgaben für die wir dankbar sein können. Und so können wir auch in dieser Lage dankbar sein, was immer der Augenblick für uns bringt. Das heißt Ja sagen und daraus etwas machen.»
(08:17) Bettina Buchholz: «Ich begann langsam zu verstehen, dass sich echte und tiefe Dankbarkeit immer auf die Gelegenheit bezieht und nicht auf das Ereignis. Und dass jede Gelegenheit, also auch schwerste Herausforderungen wie die Klimakrise, der Ukraine Krieg oder meine Erkrankung gleichzeitig auch Möglichkeiten beinhalten, daran zu wachsen oder sich für andere einzusetzen. Eine Grundvoraussetzung ist jedoch, dass wir dem Leben vertrauen.»
Bettinas ältere Tochter Helene (20): «Liebe Mama, ich hab dich gern, ich hab dich lieb, denn du bist einzigartig …»
Bettina Buchhoz: «Ich wurde in der ehemaligen DDR geboren und kam bereits als ganz kleines Kind in eine sogenannte Wochenkrippe, da meine junge Mutter noch studierte. Montag bis Samstag, also sechs Tage die Woche musste ich Tag und Nacht in dieser Krippe bleiben. Meine geliebte Oma erzählte mir einmal, dass die Betreuerinnen oft überfordert waren: ‹Dieses Kind ist so anstrengend und will immer auf den Arm genommen werden: das ist uns zu viel!›
Als ich einmal sehr krank wurde, schob man mein Bettchen in ein kahles krankenhausähnliches Zimmer und schloss die Tür, da die Betreuerinnen mein Schreien und Wimmern nicht mitanhören wollten. Das passierte leider öfter. Krankenhausaufenthalte waren von da an ein Gräuel für mich und jetzt zwang mich der Scheisskrebs dazu.
Um den anstehenden längeren Krankenhausaufenthalt besser überstehen zu können, begann ich bei Harry Merl eine Psychotherapie. Ich kannte Harry ja bereits, da ich seine dramatische Lebensgeschichte hier in der Tribüne-Linz vorstellen durfte. Als jüdisches Kind überlebte er nur ganz knapp die mörderische NS-Zeit. Zuletzt mussten sich er und seine Eltern monatelang in einem kalten Kohlenkeller verstecken. Nach dem Krieg wurde Harry Merl Psychiater und gilt heute als der Pionier der Familientherapie in Österreich. Als ich ihn bat, mich therapeutisch zu begleiten, war er bereits über 80 Jahre alt. Aber er sagte sofort ja. Woche für Woche ging ich nun zu ihm in Psychotherapie und wir arbeiteten ‒ meistens übrigens ohne viel Worte ‒ mit farbigen Kärtchen an meiner Angst, aber auch an meiner Hoffnung, die Harry so schön als ‹den Traum vom gelungenen Selbst› bezeichnete.»
(11:51) Harry Merl: «Der Traum vom gelungenen Selbst ist der Traum jedes Menschen, jemand zu sein, etwas zu können und anerkannt zu sein. Und das Ziel ist immer das gleiche: Jemand zu sein, etwas zu können, geschätzt zu werden und dadurch als Mensch wieder hergestellt zu sein.»
Bettina Buchholz: «Harry Merl hat während seiner jahrzehntelangen Arbeit eine sehr kreative Methode entwickelt, mit deren Hilfe traumatisierte Menschen sich selbst und ihren Körper wieder besser spüren können. Er gab seiner Methode den schlichten Namen ‹das Gesundheitsbild›. Der Klient arbeitet mit farbigen Kärtchen, die er im Raum auflegt, um so seine Blockaden und Traumata zu erkennen und um sie dann Schritt für Schritt auflösen zu können. Erst danach treten die eigenen Stärken klarer hervor und es können wirklich überraschende Lösungsschritte entwickelt werden. Mir persönlich liegt die Arbeit mit den farbigen Kärtchen sehr, da ich als Schauspielerin diese Mischung aus therapeutischem Gespräch einerseits und kreativem Arbeiten andererseits sehr schätze. Ich bin Harry zutiefst dankbar, dass er mir diesen ganzheitlichen Zugang zu meiner Gesundheit ermöglicht hat trotz Krebs und Kindheitstraumata. Meinen ganz eigenen Traum vom gelungenen Selbst.»
(13:43) Harry Merl: «Und natürlich ist der Traum vom gelungenen Selbst, und das Gesundheitsbild ‒ das hängt ja zusammen ‒, so eine angenehme und elegante Möglichkeit, Menschen dorthin zu führen, in dem sie selber merken, was alles möglich ist. Ich hab’s von den Patienten gelernt, denen ich die Frage gestellt habe: ‹Angenommen Sie sind ganz gesund: wie werden Sie ausschauen›? Und dann ist schlagartig gekommen: ‹Ja da stehe ich gerade da und da schaue ich ganz anders›, und mir geht’s nur dann, wenn Sie das erlebt haben, dass Sie drauf zugehen auf dieses Bild, denn das ist ja ein wichtiger Teil: der Weg dorthin, dass Sie sich sagen: Aha, da geht es mir gut.
Sie haben plötzlich gemerkt: die Gesundheit ist nicht weg, sie ist nur versteckt. Mir gefallen die farbigen Karten, das war der Grund, warum ich auf diese Methode gekommen bin. Die Farben sind schön und vor allem, sie sind aussagekräftiger für den, der es macht, weil jede Farbe natürlich für jemanden, der das Bild macht, sofort Bedeutung hat. Das geht schlagartig. Ich muss das gar nicht wissen, was das für eine Bedeutung hat, die Menschen haben sofort ihre Bedeutung. Und so stellen sie mit Farben halt ihre Situationen da: das Schwarze für Unglück, das Rote für Trauer oder für Aufregung und das Gelbe ist immer etwas Luft: Freiheit, Erleichterung. Das sind so die typischen Zeichen, die sich so ergeben. Ich bin immer vorwärtsorientiert.»
(16:02) Bettinas jüngere Tochter Hannah (14): «Mein Name ist Hannah. Natürlich beschäftigt mich der blöde Krebs von Mama. Bevor die Stammzellentransplantation durchgeführt wurde, durfte ich Mama nur noch im Garten des Krankenhauses besuchen. Und auch dort mussten wir 2 Meter Abstand halten. Das war komisch. Danach sandte ich ihr kleine selbstgebastelte Karten ins Krankenhaus wie diese hier: ‹Liebe Mama, danke, dass du immer für mich da bist. Aber jetzt musst du dich um dich selbst kümmern. Sei stark. Doch wenn du mal Hilfe benötigen solltest, sind wir deine stützende Pinguin-Flosse. Wir kuscheln mit dir, wenn dir kalt ist und wir füttern dich im Notfall wie es eine Pinguin-Kolonie auch tun würde. Alles Liebe ‒ deine Hannah.›
Aber mich beschäftigt nicht nur Mamas Krebs, sondern auch der Ukraine Krieg. Gleichzeitig mit Mamas Chemo begann dieser schreckliche Krieg. Mama musste zwei Mal pro Woche ins Krankenhaus. Und zur selben Zeit sah ich im Fernsehen die Bilder von Raketenangriffen auf Wohnblocks in Kiew. Besonders schlimm fand ich die überfüllten Züge mit den flüchtenden Frauen und ihren Kindern. Mich interessiert es nämlich sehr, was in der Welt geschieht. Früher schaute ich täglich auf KIKA die Nachrichtensendung ‹Logo› und ich lese den Kinderspiegel. Und den von der ersten bis zur letzten Seite. Ich wollte jedoch nicht nur darüber lesen, sondern ich wollte vor allem auch helfen. Einmal durfte ich mit Monika ‒ Monika ist Pfarrassistentin in der Kirche am Froschberg ‒, ins Aufnahmequartier am Linzer Bahnhof. Ich spielte bis zum Abend mit den Flüchtlingskindern. Wir sprachen miteinander ein paar Brocken deutsch. Das meiste lief jedoch über Zeichensprache. Es macht mir große Freude mit ihnen zu spielen.
Ein anderes Mal hatten ich und meine Freundin Amira die Idee, Kuchen zu backen und diesen vor dem neuen Dom zu verkaufen. Obwohl es in Strömen regnete, hatten wir am Ende 142 € eingenommen. Ein amerikanischer Tourist spendete uns sogar einen 5 Dollar Schein. Am Abend war ich so durchnässt und mir war so kalt, dass ich richtig krank wurde und die nächsten zwei Tage mit einer Erkältung und Fieber im Bett lag. Das gesammelte Geld überwiesen wir an eine christliche Hilfsorganisation in Kiew.
Ich weiß, dass Bruder Steindl-Rast gegen den Krieg ist. Ich kenne ihn ja von früher. Als ich klein war, durfte ich dabei sein, wenn er Bücher signierte. Jetzt, einige Jahre später, interessierte mich, was Bruder David denn zu diesem schrecklichen Krieg in der Ukraine sagen würde. Und wie man vielleicht mithelfen könnte, den Krieg zu beenden, damit endlich wieder Frieden ist und es uns allen besser geht.»
(19:25) Bruder David: «Und mir scheint, dass in diesem schrecklichen, entsetzlichen Krieg etwas ganz Wichtiges ist, wozu wir immer wieder Gelegenheit haben, wenn das Gespräch darauf kommt, und das ist: der Polarisierung entgegenzuwirken. Also versöhnlich zu sein. Und daraus ergibt sich dann auch schon wieder, was wir tun können, nämlich: jeder versöhnliche Akt im täglichen Leben, der überhaupt nichts zu tun haben scheint mit dem Krieg oder sonst irgendetwas, jeder persönliche Akt ist ein Beitrag zum Frieden in der Welt. Und darum kann man zum Beispiel auch ganz ausdrücklich diese Situation zum Anlass nehmen, sich zu fragen, wo sind da noch in meinem Leben Schwierigkeiten, die nicht gelöst wurden: die in Angriff nehmen, die schon bald vergessen sind. Das will ich jetzt in Angriff nehmen und ich schreibe diesen Brief, der schon seit Jahren vielleicht hätte geschrieben werden sollen. Oder ich mache diesen Telefonanruf, ich setze mich in Verbindung. Das alles ist Beitrag zum Frieden auf Erden. Friede den Menschen auf Erden: das ist die große Botschaft der Engel zu Weihnachten und das ist ja nicht ein Versprechen, sondern es ist ein Auftrag zugleich für alle, die es hören.»
(21:43) Bettina Buchholz: «Dieses Plakat hängt bei uns zu Hause, auf dem Bruder David, Thich Nhat Hanh und der Zenmeister Richard Baker Roshi zu sehen sind. Die drei hatten sich damals einer großen Anti-Atomwaffen-Demo in New York angeschlossen. Sie engagierten sich leidenschaftlich für eine friedliche Welt ohne Atomwaffen.
Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine schien es undenkbar, dass Präsident Putin mit einem Atomschlag drohen könnte. Aber in den vergangenen Monaten ist dies leider alles in den Bereich des Möglichen gerückt. Es fühlt sich schrecklich an, wenn du durch die Chemo geschwächt, aber trotzdem schlaflos im Bett liegst und in den Nachrichten von der atomaren Bedrohung hörst. Du denkst: Wenn das Schlimmste eintreten würde, wie könntest du deine Kinder und dich wenigstens ein bisschen schützen? Wenn ein dritter Weltkrieg kommen würde, gäbe es dann noch eine Chance deine Familie in Sicherheit zu bringen? Wenn der eiserne Vorhang wie damals vor dem Fall der Mauer wieder bis an Österreichs Grenzen heranreichen würde, wie würdest du dich dann verhalten? Das alles fragte ich jetzt Bruder David.»
(23:07) Bruder David: «Ich habe eine Schwierigkeit mit dieser Frage. Es sind zu viele ‹wenn› darin. Wenn wir im Augenblick leben und nicht spekulieren, was sein könnte, was kommen könnte: Wenn wir anfangen zu spekulieren, wächst uns alles über den Kopf. Wenn wir aber im Augenblick leben, dann ist, was uns gegeben wird, immer zur Hand, wir können immer damit umgehen, wir können immer daraus etwas machen. Aber aus unsern Vorstellungen, was geschehen könnte, können wir nichts machen.
Drum würde ich sagen: Wenn solche Fragen auftauchen, ist es wohl am besten, zu sagen, das sind halt Möglichkeiten, das zeigt, wie gefährlich das Leben ist, das zeigt, wie groß die Aufgabe ist, vor der wir stehen, aber ich möchte mich nicht ablenken lassen, ich möchte hier und jetzt mit den Menschen, mit denen ich jetzt zusammenlebe, denen gegenüber friedlich sein, besonders friedlich sein in dieser Hinsicht. So würde ich es sehen.»
Bettina Buchholz: «Ja, es geht also darum im Hier und Jetzt möglichst friedlich und verständnisvoll mit den Menschen um einen herum zusammenzuleben. Dass dies natürlich alles andere als leicht ist, haben auch die vergangenen Corona Jahre und die dabei entstandenen Spaltungen und Polarisierungen gezeigt. Es gibt jedoch keine Alternative zum täglichen aufeinander zugehen. Wir müssen jeden Tag unsere Frustrationen, unseren Ärger und unsere Wut überwinden.
(26:16) Ich kam in der KARL-MARX-STADT, dem heutigen Chemnitz, zur Welt und wuchs, wie in der DDR üblich, weitestgehend ohne Religion auf. Meine Mutter war eine glühende Atheistin und mein Vater interessierte sich einfach nicht für Religion. Aber bei meinem Großvater fand ich eine zerschlissene alte Kinderbibel. Besonders die Geschichten aus dem Alten Testament beeindruckten mich sehr. Die Erzählung vom kleinen Hirtenjungen David und dem furchteinflößenden Goliath. Und natürlich auch von Daniel in der Löwengrube.
Ich wusste damals noch nicht, dass mein geliebter Opa, der leider viel zu früh verstarb, ein kleines schwarz eingebundenes Neues Testament besaß und heimlich darin las. Auch die Psalmen befinden sich in diesem unscheinbaren Büchlein. Heute gehört diese kleine Bibel mir. Und ich habe sie ganz bewusst ins Krankenhaus mitgenommen.
Als wir vor einigen Jahren im Musiktheater Linz unser Stück über die Jüdin Etty Hilesum spielten, die in Auschwitz ermordet wurde, begann ich mich mehr und intensiver mit Spiritualität zu beschäftigen. Etty beschrieb in ihrem Tagebuch ihre, auch für sie gänzlich überraschende, Hinwendung zur Spiritualität ‒ und ja ‒ auch zu Gott.[1]
‹In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden. Mein Heilmittel kenne ich jetzt. Ich brauche mich nur in einer Ecke auf dem Boden zu hocken und zusammengekauert in mich hineinhorchen. Mit Denken komme ich da nicht weiter. Denken ist eine schöne und stolze Beschäftigung, aber aus schwierigen Gemütszuständen kann man sich nicht ‹herausdenken›. Dazu muss man anders vorgehen. Man muss sich passiv verhalten und horchen.›
Mir ging es da ähnlich wie Etty. Während meiner unzähligen Kontrolluntersuchungen besuchte ich öfter die Krankenhauskapelle. Ich bemerkte, dass in der Stille dieses Raumes mein Stress nachließ und ich langsam ruhiger wurde. Sogar meine Ängste gingen etwas zurück.
(29:34) Etty fand im Gebet eine Quelle der Ruhe, der inneren Freiheit und der Inspiration. Je öfter ich ‹Etty› spielte, desto tiefer drangen ihre Einsichten in mich ein. So etwas hatte ich vorher noch nie empfunden.
‹Und dann Gott. Ich ‒ Etty, das Mädchen, das nicht knien konnte und es dann doch lernte auf einer rauhen Kokosmatte in einem unordentlichen Badezimmer. Aber diese Dinge sind fast noch intimer als die sexuellen. Ich knie, die Hände vor dem Gesicht und spüre: Die einzige Gewissheit, wie du leben sollst und was du tun musst, kann nur aus dem Brunnen aufsteigen, der aus deiner eigenen Tiefe quillt. Ich werde durch etwas zu Boden gezwungen, das stärker ist als ich selbst. Ich übe mich im Knien. Ich geniere mich noch zu sehr wegen dieser Gebärde, die ebenso intim ist wie die Gebärden der Liebe, über die man auch nicht sprechen kann, wenn man kein Dichter ist.›
Auch ich entdeckte, dass das Niederknien eine besondere Wirkung auf mich hatte, mich beruhigte. Das erinnerte mich sehr an Etty: ‹Ich übe mich im Knien.›
Als ich bei einer der nächsten Untersuchungen die Kapelle aufsuchen wollte, war sie versperrt, da sie gerade renoviert wurde. Ich konnte nur von außen durch die Glastür hineinschauen. Aber mir gefiel der plastikverpackte Christus. Zu meiner Überraschung beruhigte mich auch dieser Anblick, als würde mein eigener Stress und meine Angst auch ein Stück weit eingepackt.
(32:52) Wenn du nach einer so krassen Chemo und der anschließenden Stammzellentransplantation wochenlang auf der Isolierstation liegst, dann kannst du kaum mehr noch etwas essen, ohne dich zu übergeben. Du wirst künstlich ernährt. Deine Schleimhäute und dein ganzer Körper tun so weh, als hätte man dich mit Säure verätzt. In dir ist nur Schmerz, Übelkeit und tiefe Erschöpfung.
In dieser absoluten Ohnmacht begann ich zu beten. Ja, ich versuchte wie Etty zu beten. Natürlich weiß ich, dass das schöne schlichte Wort ‹beten› ziemlich aus der Mode gekommen ist. Ja, dass es sogar seit den unerträglichen Missbrauchsskandalen der Kirche geradezu verpönt ist. Viele Menschen verwenden deshalb heute lieber Bezeichnungen wie meditieren oder in Stille sein. Ich möchte jedoch beim alten schlichten Wort ‹Beten› bleiben. In meinem Schmerz, in meiner Ohnmacht, in meiner Wut und in meiner Verzweiflung versuchte ich zu beten. Oft war es auch ein Beten jenseits der Worte. Ein Stillwerden angesichts meiner Kraftlosigkeit und Erschöpfung. Auch das erinnerte mich an Etty.
‹Wörter wie Gott, Tod, Leiden und Ewigkeit muss man wieder vergessen. Man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das wachsende Korn oder der fallende Regen. Ausschließlich nur noch sein.›
In denen sich hinziehenden Nächten auf der Isolierstation erlebte ich das Gebet als etwas sehr Persönliches. Als ein sehr intimes Gespräch mit dem großen Du. Oft fühlte ich mich dann leichter, ruhiger und in manch schwerer Nacht auch ein Stück weit getragen. Aber es kamen auch Zweifel in mir hoch. Und so stellte ich Bruder David die Frage, ob es angesichts des unendlichen Leidens auf dieser Welt überhaupt Sinn macht zu beten?»
(35:48) Bruder David: «Nichts anderes hat Sinn, als zu beten. Aber ich würde gerne beten vielleicht anders ausdrücken oder zusätzlich noch etwas sagen, damit es auch Menschen zugänglich wird, für die beten ein schwieriges Wort ist. ‹Beten› kann man auch in anderen Worten ausdrücken, die vielleicht verständlicher und zugänglicher sind für Menschen, denen das Wort beten nicht so richtig passt. Wir alle kennen das Erlebnis, dass wir eines Tages in der Früh besonders freudig aufwachen, es ist ein schöner Tag, und unsere eigene Freude schenken wir weiter an andere. Ganz spontan. Wir können das aber auch üben und an Tagen, an denen wir uns nicht so besonders gut fühlen, auch bedenken, dass auch heute das Leben uns einen ganzen Strom von guten Dingen schenkt, sonst können wir nicht einmal atmen, wir können nicht einmal gehen oder sehen oder hören. Es sind alles Geschenke des Lebens. Und bewusst dieses Geschenk weiterschenken. Und das ist Segnung. Der Segen, den kann man sich vorstellen wie den Blutstrom des Universums. Er fließt durch uns durch. Wir können ihn weitergeben. Und wenn man das für jemanden kurz sagen will, der diese Sprache versteht, dann sagt man einfach: Ich bin dankbar für Gottes Gaben und schenke sie weiter. Und das braucht man nicht nur in der Gegenwart von andern, sondern in meinem Herzen kann ich allen Menschen in der Ukraine Liebe und Zuversicht und Lebenskraft und Mut und Ausdauer schicken. Das Leben schenkt es mir und ich lasse es weiterfließen in dieser Richtung. Dankbar für das Herz des Lebens. Das göttliche Herz des Universums, das mir das alles schenkt.»
(38:43) Bettina Buchholz: «Wenn deine Leukozyten und Thrombozyten durch die Chemo und die Stammzellentransplantation verrücktspielen, dann nimmst du Bruder Davids Satz vom Segen, der durch dich hindurchströmt wie der Blutstrom des Universums noch einmal viel tiefer und deutlicher wahr.
Überraschenderweise sprach auch mein Therapeut Harry Merl mit mir über die Möglichkeit des Betens. Er machte mich darauf aufmerksam, dass auch ich beten könnte, wenn mich die Todesangst oder die Ohnmacht zu überwältigen drohen.»
Harry Merl: «Es gibt Situationen, wo man nichts anderes mehr kann als beten. Und man kann’s ja probieren. Es ist ja keine Verpflichtung, es ist ja keine Bindung, aber es ist eine Möglichkeit, weil: Gott ist immer zur Verfügung, wenn man niemanden mehr hat, dann ist er da.»
(39:52) Bettina Buchholz: «Es fiel mir anfangs sehr schwer, den Ärzten im Krankenhaus auf Augenhöhe zu begegnen. Das Machtgefälle zwischen mir als Krebspatientin und meiner Onkologin schien mir oft unüberwindbar zu sein. Mir schwirrte jedes Mal buchstäblich der Kopf von den vielen medizinischen Fachausdrücken und den Namen der verschiedenen Zytostatika. Und dann sollst du auch noch in Minutenschnelle die richtigen Fragen stellen und vor allem die richtigen Entscheidungen treffen. Ich wollte ja nicht, dass meine Onkologin im Alleingang über meine Therapie entscheidet, sondern dass es ein gemeinsames Abwägen und vor allem Hinhören wird. Ja, in solchen Situationen fühlte ich mich schnell ohnmächtig, und ja, auch klein, schwach und hilflos. Mein ‹sogenannter› Selbstwert schrumpfte zusammen wie eine verschrumpelte Zitrone. Und ich spürte leider sehr deutlich, dass ich an meiner Durchsetzungskraft arbeiten musste, um im ärztlichen Gespräch überhaupt gehört zu werden, und um zu mir und meinen eigenen Entscheidungen stehen zu können.
Geholfen hat mir da ein Seminar des Psychotherapeuten Alois Saurugg mit dem passenden Titel «Kommunikation und Selbstwert». Alois ist ja leider im vergangenen Frühjahr gestorben. Aber sein Seminar wirkt immer noch in mir nach. Alois machte mir bewusst, wie wichtig ein höherer Selbstwert für jeden Menschen ist.»
Alois Saurugg: «Insofern ist mir so wichtig, Menschen wirklich zu unterstützen auf der Suche ihrer eigenen Wichtigkeit eigentlich und auch ihrer eigenen Würde. So….., wie ist es möglich, dass Sie Zugang finden zur Wahrheit ihres Herzens, ja, um dann zu wissen, das und das würde mir wirklich gut tun und das ist auch so. Je mehr Bewusstsein von Würde im Menschen ist, umso mehr kann er auch in der Kommunikation viel kreativer und erfolgreicher damit leben.»
Alois schenkte mir zum Abschied einen Text von Virginia Satir. Sie ist die Begründerin der Familientherapie. Auch Virginia wurde lange Zeit von ihren männlichen Kollegen, die allesamt Professoren und Doktoren waren, nicht für voll genommen und geringgeschätzt. Dabei war sie es, die den Zusammenhang zwischen der Kommunikationsfähigkeit eines jeden und seinem Selbstwert klar erkannte. Der Text von Virginia Satir trägt den schlichten Titel: ‹Wie ich dir begegnen möchte›:
‹Wie ich dir begegnen möchte:
Ich möchte mit Dir in Beziehung treten, ohne Dich einzuengen.
Dich wertschätzen, ohne Dich zu bewerten.
Dich ernst nehmen, ohne Dich auf etwas festzulegen.
Auf Dich zukommen, ohne mich Dir aufzudrängen.
Dir meine Gefühle mitteilen, ohne Dich dafür verantwortlich zu machen.
Dich informieren, ohne Dich zu belehren.
Mich von Dir verabschieden, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
Mich an Dir freuen ‒ so wie Du bist.
Wenn ich von Dir das Gleiche bekommen kann,
dann können wir uns wirklich begegnen und uns gegenseitig bereichern.›
Das wäre doch schön, wenn Ärzte und Patienten so miteinander umgehen würden, oder? Dies würde doch die Arzt-Patient-Beziehung fundamental und nachhaltig verändern und wir hätten endlich eine Medizin, die sich am konkreten Menschen und seinen Bedürfnissen orientiert.»
(45:00) Hannah: «Ich fahre jeden Tag mit einem Bus der Linie 27 zur Schule. Manchmal belausche ich die Gespräche der Erwachsenen. Immer öfter höre ich, wie sie darüber sprechen, dass wir eh nichts gegen die Umweltzerstörung und den Klimawandel ausrichten können. Das regt mich jedes Mal furchtbar auf. Ich traue mich jedoch nicht, sie anzusprechen. Am liebsten würde ich ihnen ins Gesicht schreien: ‹Ich bin 14 Jahre alt und ich möchte genauso wie ihr, als ihr jung wart, in einer intakten Natur leben und nicht mit so vielen schlimmen Klimakatastrophen. Ich möchte, dass alle mithelfen, diese Welt zu retten. Jeder kann etwas dafür tun. Auch ihr! ›
Mama stellte Bruder David die Frage, wieso Erwachsene dennoch so passiv sein können? Und wie man sie doch noch dazu bringen könnte, mehr an den Klimaschutz zu denken und so die Klimakatstrophe zu verhindern oder wenigstens zu verringern.»
(46:07) Bruder David: «Die Aufgaben, die vor uns stehen heute, sind so groß, dass es recht verständlich ist, wenn jemand fast verzweifelt und meint, ich kann einfach nichts dazu beitragen, persönlich. Aber jede und jeder von uns kann ein bisschen beitragen und zwar schon überhaupt die Frage zu stellen und immer wieder darauf zurückzukommen und immer wieder mit andern darüber zu sprechen. Schon das hält das Problem im Bewusstsein, und bevor wir das Problem in die Augen fassen, können wir ja gar nicht damit umgehen. Also das erste ist schon einmal Fragen zu stellen und andere immer wieder darauf aufmerksam zu machen.»
(47:07) Hannah: «Ich will versuchen, mutiger zu werden und mich mehr und mehr trauen, den Menschen Fragen zu stellen. So wie es Bruder David vorgeschlagen hat. Aber ehrlich gesagt, war ich doch etwas enttäuscht. Konnte Bruder David nicht doch etwas Konkreteres vorschlagen, was die Menschen wirklich jetzt, gleich, tun können? Ich will, dass Veränderungen schnell stattfinden. Und warten zählt nicht gerade zu meinen Stärken. Aber unsere Erde hat keine Zeit mehr zum Warten.»
Bruder David: «Wir wissen alle, dass zum Beispiel Fleischgenuss sehr viel zum Klimawandel beiträgt. Die Abgase von den Zuchttieren verschmutzen die Atmosphäre viel mehr als alle benzinverbrauchenden Fahrzeuge, also Autos und Flugzeuge usw.. Also wir wissen, wenn wir den Fleischgenuss ein bisschen zurückschrauben ‒ man muss ja nicht plötzlich Vegetarier werden ‒, aber etwas zurückschrauben, kann ich mir sagen: Heute habe ich etwas gegen den Klimawandel getan. Und wir können uns ein bisschen auf die Schulter klopfen.»
(48:54) Bettina Buchholz: «Bruder David wurde ja in eine jüdische Familie hineingeboren, die aus religiöser Überzeugung zum Christentum übergetreten war. Das hinderte jedoch die Nazis keineswegs daran, seine Familie zu verfolgen. Zum Glück konnte sich seine geliebte jüdische Großmutter rechtzeitig in die USA absetzen. Er, seine Mutter und seine Brüder überlebten, nach der Scheidung seiner Eltern, in einem kleinen Dorf hier in Österreich. Aber auch sie bekamen ‹Besuch› von den Nazis. Die Sache ging gottseidank glimpflich aus.
Nach dem Krieg emigrierte auch die restliche Familie in die USA. Dort trat Bruder David in ein Benediktinerkloster ein. Einige Jahre später übertrug ihm sein Abt die Aufgabe, einen echten und glaubwürdigen Dialog mit den Buddhisten und anderen spirituellen Traditionen Asiens aufzubauen. Heute ist Bruder David ein enger Freund S.H. des Dalai Lama. Er war auch mit Thich Nhat Hanh, dem Begründer des sozialen Buddhismus, sehr befreundet. Bruder David wurde für sein Engagement im Dialog der Religionen mit dem renommierten Martin Buber Award ausgezeichnet. Auch hier in Linz begegne ich Juden, Christen, Muslimen, Hindus und Buddhisten.
(51:16) Ich stellte Bruder David die Frage, ob spirituelle Menschen in besonderer Weise dem Klimawandel entgegenwirken können, da ihnen ja die Bewahrung der Schöpfung besonders viel bedeuten müsste?»
Bruder David: «Alle Menschen, die der Klimakrise entgegenwirken, sind spirituelle Menschen. Die spirituellen Menschen sind nicht eine besondere Sorte von Menschen. Spirituell kommt von spiritus das heißt Lebenshauch, Lebendigkeit. Im Lateinischen spiritus ist es der Lebensatem, und je lebendiger wir werden, um so mehr werden wir uns der Gefährdungen des Lebens bewusst. Also sind alle Menschen, die sich bewusst sind, dass wir vor solchen großen Gefahren stehen, spirituelle Menschen. Und je spiritueller wir werden, das heißt je lebendiger wir werden, um so mehr werden wir tun, um der Klimakrise entgegenzuwirken. Je mehr wir tun, um der Klimakrise entgegenzuwirken, um so mehr verdienen wir spirituell genannt zu werden.»
(52:46) Musik ‒ Gemälde der älteren Tochter Helene: ‹Meine Tochter Helene versuchte meine Krebserkrankung mit Malen zu bewältigen.›
(53:44) Bettina Buchholz: «Nach einundzwanzig mir unendlich lang erschienenen Tagen durfte ich endlich die Isolierstation verlassen. Mein Körper hatte Gottseidank eine Mindestanzahl an gesunden Zellen gebildet. Ich musste jedoch die nächsten acht Wochen zu Hause weiter in vollkommener Abgeschiedenheit leben und spezielle Hygienevorschriften einhalten.
In dieser Zeit las ich Rilke. Auch Bruder David liebt Rilke über alles. Es ist für mich als Schauspielerin jedes Mal eine Freude, ihn Gedichte von Rilke rezitieren zu hören. Du kannst spüren, wie sehr er jedes Wort durchdringt. Meiner Meinung nach ist Bruder David auch ein echter Künstler. Ich lese jetzt einfach mal jene Rilke Stelle vor, die mich in den Wochen der Isolation am meisten ansprach:
‹Wir wissen’s ja oft nicht, die wir im Schweren sind,
bis über’s Knie, bis an die Brust, bis an’s Kinn.
Aber sind wir denn im Leichten froh?
Sind wir nicht fast verlegen im Leichten?
Unser Herz ist tief,
aber wenn wir nicht hineingedrückt werden,
gehen wir nie bis auf den Grund.
Und doch,
man muss auf dem Grund gewesen sein.
Darum handelt sich’s.›[2]
(56:16) Wenn du so viele Wochen abgetrennt bist von fast allem und jedem, dann stellst du dir die Frage, ob es für dich ein gutes Leben überhaupt noch geben kann? Und falls dies doch noch möglich wäre, wie denn so ein erfülltes Leben ausschauen könnte trotz der Isolation der Krankheit und den vielen Krisen, die es gegenwärtig auf dieser Welt gibt?»
Bruder David: «Wie kann ein erfülltes Leben ausschauen? Das ist eine sehr schöne Frage. Ich glaube, das deutsche Wort erfülltes Leben legt die Antwort schon nahe. Sehr oft im Leben haben wir das Gefühl der Leere. Da ist nichts, da fehlt etwas. Und wenn wir krank sind, dann sagen wir: Es fehlt uns etwas. Wenn nichts mehr fehlt, dann ist das Leben erfüllt. Dann ist es voll ‒ die Schale ist voll. Dann will sie überfließen. Und dieses Überfließen ist die Dankbarkeit.»
(57:35) Bettina Buchholz: «Für mich ist das ein sehr schönes Bild, das Bruder David hier in den Raum stellt. Ich wäre gerne öfter so eine volle Schale, die nichts zurückhält, sondern dankbar überfließt. Wahrscheinlich geht es vielen von uns so.
Wenn du so eine anstrengende Krebsbehandlung erlebst, dann ist die Müdigkeit dein ständiger Begleiter. Doch ich wollte Bruder David noch eine allerletzte Frage stellen, obwohl ich ahnte, dass seine Antwort länger und vielschichtiger ausfallen könnte.
Ich hatte sein neuestes Buch mit dem Titel Orientierung finden mit großem Interesse gelesen, aber ich hatte es auf Grund seiner Komplexität nicht ganz verstanden, nicht ganz erfassen können. Also stellte ich ihm zum Schluss die Frage, ob er nicht für mich in ein paar Sätzen zusammenfassen könnte, wie man heute, in dieser so widersprüchlichen Welt, doch noch so etwas wie Orientierung und Erfüllung finden könnte?»
(58:37) Bruder David: «Ich habe ein ganzes Buch schreiben müssen, um das auszudrücken. Aber wenn ich’s in einem Satz zusammenfassen soll, ist: Lebensvertrauen ‒ dem Leben vertrauen. Das Leben ist vertrauenswürdig. Wenn wir dem Leben ‒ das heißt, dem großen Du, dem wir in jedem Augenblick des Lebens gegenüberstehen ‒, wenn wir dem vertrauen, erweist es sich vertrauenswürdig.
Das kann man leicht sagen, glauben kann man es nur, wenn man es ausprobiert. Auch in den schwierigsten Situationen immer wieder dem Leben vertrauen und hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir? Was schenkt mir das Leben? In jedem Augenblick schenkt uns das Leben etwas. Aber diese Gabe ist zugleich Aufgabe. Und das zu üben, immer wieder zu üben, das ist worauf es ankommt im Leben, scheint mir. Man kann es natürlich auch Liebe nennen, aber Liebe ist so ein schwieriges Wort, weil es so viel missbraucht und missverstanden wird. Aber wenn man unter Liebe das gelebte Ja zur Zugehörigkeit versteht ‒
Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Und Liebe ist dann, worauf es im Leben ankommt. Und Liebe bezieht sich auf jeden Menschen, jedes Tier, jede Pflanze, den ganzen Kosmos und letztlich auf das Herz des Ganzen. Denn das Ganze hat ein Herz. Und das erlebt man eben auch nur, wenn man sich darauf verlässt. Aber wenn man sich darauf verlässt, fühlt man den Herzschlag des Universums in unserem eigenen Herzen.»
(01:01:06) Nach dieser intensiven Stunde mit Bruder David verspürte ich trotz meiner Müdigkeit so etwas wie eine aufkeimende Zuversicht, einen wachsenden Mut und ja ‒ auch wieder Lebensfreude. Und ich spürte wirklich so etwas wie den Herzschlag des Universums in mir. Dies alles möchte ich in mir bewahren trotz der Scheißkrankheit, der voranschreitenden Klimakrise und des furchtbaren Krieges. Ich wollte mich gerade bei Bruder David herzlich und inniglich bedanken, aber da hatte bereits er das Wort ergriffen:»
Bruder David: «Ich wollte gerade noch sagen: Erstens danke ich euch für das wunderbare Werk, das ihr da tut, weiterhin, trotz dieser Behinderung. Und ich wollte dir sagen, dass ich für dich bete ‒ schon seit ich davon von dir gehört habe, und es auch weiterhin gerne tue. Und jetzt weißt du auch wie: Recht viel Lebenskraft schicke ich dir zu. Und Mut und Vertrauen. Und ich weiß, wie schwer das sein kann. Ich wünsche dir alles, alles Gute.»
Bettina Buchholz: «Danke, lieber Bruder David. Und Danke auch allen hier, die ihr zugehört habt. Versuchen wir alle, gut auf uns selber zu schauen. Und schauen wir gleichzeitig auf die Menschen um uns herum, die unsere Hilfe brauchen. Und noch etwas: Schauen wir doch gemeinsam auf diese so verletzliche und zugleich so wunderbare Erde. Sie ist unsere Mutter. Und sie ist das Zuhause unserer Kinder und Kindeskinder.»
________________
[1] Etty Hillesum: ‹Das denkende Herz: die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943›, hrsg. und eingeleitet von J. G. Gaarlandt; aus dem Niederländischen von Maria Csollány (= rororo, Bd. 15575), Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 282018
[2] R. M. Rilke im Brief an den Schriftsteller Arthur Holitscher vom 13. Dezember 1905
Tod & Spiritualität (1990)
Transkription und Übersetzung des Video-Interviews ins Deutsche© von Klaudia Menzi-Steinberger (2025)
Was fehlt in unserer Wahrnehmung des Todes, um unsere Gefühle ihm gegenüber zu verändern?
TEIL I
00:00 Dr. Ken Kramer
Bruder David, meine erste Frage an Sie ist vielleicht die kreativste Frage, also beginnen wir damit. Was fehlt Ihrer Meinung nach den meisten Menschen im Hinblick auf Tod und Sterben? Was fehlt, das den Umgang mit Tod und Sterben verändern würde?
00:28 Bruder David
Nun, ich sage Ihnen, was mir spontan dazu einfällt. Was wirklich fehlt, ist, vollkommen lebendig zu sein, denn wenn wir jetzt voll lebendig wären, bräuchten wir uns keine Sorgen zu machen, vollkommen lebendig zu sein, wenn es um das Sterben geht, und dann wüssten wir, wie wir damit umgehen. Man muss sehr lebendig sein, um mit dem Sterben umzugehen, es ist etwas sehr Aktives, sogar das Wort sterben hat im Englischen und in vielen anderen Sprachen kein Passiv. Man kann nicht sagen, «Ich werde gestorben». Wenn man «gestorben/gefärbt» wird, kommt man grün oder blau heraus, aber nicht tot. Man kann getötet werden, und man wird früher oder später von etwas getötet werden, aber man muss sterben. Das ist etwas, das man aktiv tun muss. Wenn man wirklich weiß, wie man aktiv lebt, wird man in der Lage sein, aktiv zu sterben, wenn das Leben das von einem verlangt.
01:29 Dr. Ken Kramer
Sicher. Nun, lassen Sie uns die offensichtliche Frage fortsetzten, wie man vollkommen lebt, so dass man dann auf die richtige Weise vollkommen sterben kann.
01:42 Bruder David
Richtig. Nun, das dreht die Sache jetzt um, lassen Sie es mich so ausdrücken: Man kann nur vollkommen leben, und das bedeutet, vollkommen lebendig zu werden, wenn man bereit ist zu sterben. Denn, und das meine ich jetzt ganz konkret, Abraham Maslow, der große Psychiater, sagte, er habe in seiner Praxis festgestellt, dass die meisten Menschen Angst vor dem Tod und vor dem Sterben hätten. Aber es gab etwas, vor dem sich noch mehr Menschen fürchteten, und das war das Leben. Wir haben Angst vor dem Leben! Wenn man wirklich lebendig ist, bedeutet das, loszulassen und dem Unbekannten und der Überraschung zu begegnen, und das ist ein kleiner Tod. Mit anderen Worten, wenn man den gegenwärtigen Moment nicht sterben lässt, wird man im nächsten Moment nicht lebendig sein, und so muss man loslassen und loslassen. Das ist eines der wichtigsten Dinge, vielleicht sogar das Wichtigste, das wir lernen müssen, um vollkommen lebendig zu werden.
02:42 Dr. Ken Kramer
Ich verstehe. Was ich Sie jetzt sagen höre, ist, dass wir, um sterben zu können, in der Lage sein müssen, vollkommen zu leben. Um ein erfülltes Leben führen zu können, müssen wir bereit und in der Lage sein, zu sterben, noch bevor wir sterben.
02:57 Bruder David
Richtig.
02:58 Dr. Ken Kramer
Konzentrieren wir uns für einen Moment auf diese Frage. Sterben vor dem Sterben. Sie sitzen hier in einer Mönchskutte, und ich nehme an, dass Sie als Mönch in gewisser Weise aktiv das Sterben praktizieren. Könnten Sie ein wenig darüber sprechen, nicht unbedingt nur in Ihrer eigenen Tradition, sondern über diese ganze Praxis, die klösterliche Praxis, den Tod jeden Tag im Leben willkommen zu heißen.
03:26 Bruder David
Nun, es ist interessant, dass Sie diese Frage stellen. Zuerst einmal spielt in allen verschiedenen klösterlichen Traditionen der Tod eine sehr wichtige Rolle, dieses Bewusstsein des Todes und dass es wirklich schön ist zu sterben und all das. Aber in meiner persönlichen Berufung, als ich Student war, lieh mir ein Kommilitone die Regel des heiligen Benedikt, das kleine Buch, das vor etwa zwölfhundert Jahren geschrieben wurde und nach dem die Benediktiner leben und ihre Klöster einrichteten. Und als ich es zum ersten Mal las, gab es einen Satz, der mich von allen Dingen darin am meisten beeindruckte, und das war der kleine Satz: «Den Tod allzeit vor Augen zu haben.» Und als ich das las, dachte ich: «Oh je, wenn es ums Sterben geht, selbst wenn das in achtzig oder hundert Jahren ist – zu dieser Zeit war das noch eine Möglichkeit –, möchte ich den Tod jederzeit vor Augen gehabt haben. Denn das scheint mir dann so, als hätte ich so gelebt, wie ich gerne gelebt hätte.» Das hat mich also sehr beeindruckt. Und tatsächlich wird bei der Aufnahme eines Novizen in ein Kloster, zum Beispiel wenn man Mönch wird, das nicht mehr auf diese dramatische Art und Weise. Aber früher wurde es so gehandhabt, dass sogar einige Begräbnisriten vollzogen wurden. Zum Beispiel, dass man mit dem Leichentuch bedeckt wurde, mit dem der Sarg bedeckt wird, aber man dennoch ausgestreckt dalag, als wäre man tot, auf dem Boden. Und dann wird man zum Leben als Mönch erhoben. Man stirbt und wird dann zu neuem Leben erweckt. Und dasselbe gilt für die safranfarbenen Roben. Die meisten Menschen wissen nicht, warum buddhistische und hinduistische Mönche safranfarbene Roben tragen. Nun, das ist der Stoff, nachdem er durch die Einäscherung gegangen ist. Er ist versengt, das ist die Idee, verstehen Sie.
Also tragen sie sie, als wären sie durch den Tod gegangen, und dasselbe gilt, in der hinduistischen Tradition. Zum Beispiel werden den Mönchen, wenn sie Mönche werden, alles weggenommen. Sozusagen im Namen des Guru, der sagt: Gib uns jetzt das und gib uns dies und gib uns das und gib uns jetzt deinen Körper, sogar deinen Körper. Aber man braucht einen Körper, um anderen zu dienen, also gibt man ihnen ihren Körper zurück, aber irgendwie hat man in dieser Zeremonie schon verloren.
06:01 Dr. Ken Kramer
Ich verstehe.
06:02 Bruder David
Und dann, wenn man dieses klösterliche Leben führt, weil man buchstäblich durch diesen Tod und die Auferstehung gegangen ist, ist man eingeladen, jeden Moment als ein Sterben dieses gegenwärtigen Moments zu leben. Das bedeutet, nicht anhaften. An nichts festzuhalten. Lasse es los und werde im nächsten Moment dadurch noch lebendiger. Also würde ich denken, dass eine Person, die dazu in der Lage wäre, nicht dieselben Probleme mit dem Tod hätte, wie eine Person, die dazu nicht in der Lage wäre.
Denn wenn dann der tatsächliche Moment des Todes eintritt, ist es nur einer dieser weiteren Sterbefälle, ein weiterer davon.
Tod & Spiritualität (1990)
Transkription und Übersetzung des Video-Interviews ins Deutsche© von Klaudia Menzi-Steinberger (2025)
Reinkarnation, Fegefeuer und die Chance, Erfüllung zu finden
TEIL II
00:00 Dr. Ken Kramer
Ich möchte Ihnen eine Frage zur Reinkarnation stellen. Nun, als katholischer Mönch vertreten Sie natürlich die Auferstehung, nicht nur die Auferstehung Christi, sondern auch die versprochene Auferstehung all derer, die Christus nachfolgen. Sie setzen sich also für die Auferstehung ein. Gleichzeitig glaubt, grob gesagt, die Hälfte der Welt nicht an die Auferstehung, sondern an die Reinkarnation. Und deshalb frage ich mich, welche Gedanken Sie dazu haben, welchen Sinn das für Sie ergibt. Wie das zu Ihrer planetarischen Spiritualität passt. Was halten Sie von Reinkarnation?
00:43 Bruder David
Nun, Sie haben so viele Fragen in diese eine Frage gepackt, dass wir meiner Meinung nach, eine Stunde damit verbringen könnten, sie alle zu entschlüsseln. Ich werde nur einige erwähnen, die ich darin gehört habe. Eine davon ist die Frage der Auferstehung. Darauf werde ich jetzt nicht näher eingehen.
01:03 Dr. Ken Kramer
Das ist in Ordnung, ich habe eine andere Frage zur Auferstehung.
01:04 Bruder David
OK. Dann dreht sich natürlich die Hauptfrage um Reinkarnation jetzt. Und dann sagten Sie, dass ungefähr die Hälfte der Weltbevölkerung an Reinkarnation glaubt und nicht so viele Menschen an die Auferstehung. Richtig verstanden, nur um das im Moment zu korrigieren, dass wahrscheinlich viel mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung an Reinkarnation glaubt, aber ich glaube auch, dass fast jeder auf der Welt an die Auferstehung glaubt. Nicht unter dieser Terminologie, denn das ist eine sehr begrenzte Sache. Aber darauf kommen wir zurück.
Also verstehe ich Ihre Frage jetzt so: Wie gehe ich als römisch-katholischer Mönch mit der Frage der Reinkarnation um?
Nun, viele Leute sagen, dass die Kirche es einem nicht erlaubt, an Reinkarnation zu glauben. Der Grund dafür ist, dass vor langer Zeit, im dritten Jahrhundert, der erste große Theologe und wahrscheinlich der größte Theologe überhaupt in der Geschichte der Kirche, Origenes, in mehreren seiner Werke auf eine Weise schrieb, die zeigte, dass er die Reinkarnation akzeptierte. Und einige seiner Werke wurden später von der Kirche abgelehnt, aber nicht ausdrücklich wegen der Reinkarnation. Obwohl es also stimmt, dass jene Werke des Origenes, in denen er über Reinkarnation schrieb oder sie einfach als selbstverständlich ansah, abgelehnt wurden, geschah dies nicht ausdrücklich wegen der Reinkarnation. Das war viel komplexer. So könnte man zu Recht sagen, dass die westliche Tradition, insbesondere die christliche Tradition, sich der Frage der Reinkarnation nicht ausreichend gestellt hat.
Und heute, aufgrund unseres engeren Kontakts mit anderen Religionen durch die Medien und weil die Welt heutzutage viel mehr in Interaktion steht, müssen sich die Theologen, die katholischen Theologen, dieser Frage stellen. Wahrscheinlich der größte römisch-katholische Theologe dieses Jahrhunderts, Karl Rahner, hat sich erst gegen Ende seines Lebens mit diesem Thema auseinandergesetzt, weil er vorher damit nicht vertraut war. Als dann alle darüber sprachen, hat er sich damit beschäftigt, und dann, kurz vor seinem eigenen Tod, eine kurze Abhandlung über die Lehren der Kirche über den Tod und alles, was damit zusammenhängt geschrieben. Und als er zu dem kam, was wir Fegefeuer nennen, das ist eine Zeit der Reinigung (dazu müssen wir vielleicht später noch mehr sagen). Jedenfalls, als er zum Fegefeuer kam, sagte und schrieb er: «Und das ist der Ort, wo die Lehre der Reinkarnation hineinpasst, aber wir haben diese Frage nicht untersucht, und es wird noch viel Arbeit daran zu leisten geben.»
Aus meiner eigenen persönlichen Sicht habe ich dieses Thema ausreichend studiert, um sagen zu können, dass, wenn mich jemand fragt, was oft nach einem Vortrag geschieht – es ist immer ein sehr beliebtes Thema – also jemand sagt: «Glauben Sie an Reinkarnation?» (einfach so aus heiterem Himmel.) Das Einfachste für mich ist zu sagen: Ja, ich glaube daran, weil ich römisch-katholisch bin, und unser Name dafür Fegefeuer ist (aber wir haben uns damit noch nicht so genau befasst).
04:40 Dr. Ken Kramer
Also, ich höre zwei Dinge. Ich höre, dass aus der Sicht von Karl Rahner es vielleicht etwas voreilig wäre, das Fegefeuer mit der Reinkarnation gleichzusetzen, und doch andererseits besteht da sicherlich eine fruchtbare Möglichkeit in Bezug auf diese Art von Parallele.
04:58 Bruder David
Richtig. Und Gleichsetzen ist natürlich auch nicht genau das, was ich vorschlagen würde. Es ist nur der Problembereich. Denn das Thema hinter dem Fegefeuer ist: Was geschieht mit einer Person, die im Grunde auf dem richtigen Weg ist, aber keine Erfüllung gefunden hat? Man kann nicht sagen, dass dieses Leben wirklich zur Erfüllung geführt hat. Also, dieses Leben ist vorbei, die Erfüllung ist noch nicht da, wird diese Person eine Chance haben, Erfüllung zu finden?
Das Fegefeuer sagt ja, wie durch ein Feuer. Wir werden hindurchgehen müssen wie jemand, der durch ein Feuer geht. Das ist einem der Briefe des heiligen Paulus entnommen. Die Idee ist, wenn dein Haus abbrennt, wird dein Leben gerettet. Du bist durch ein Feuer gegangen, alles andere ist verbrannt, aber dein Leben ist gerettet. Und das ist das Bild, das verwendet wird.
Aber ich muss noch etwas zur Reinkarnation an sich sagen, und das ist, dass ich das große Privileg hatte, diese Frage mit Khenchen Thrangu Rinpoche zu studieren, Leiter des Instituts für Höhere Tibetische Studien in Sarnath in Indien. Er lud mich ein. Hauptsächlich wegen dieser Frage, verbrachten wir lange Zeit zusammen. Er lehrte mich darüber. Und während er mir das authentische tibetische Verständnis der Reinkarnation lehrte, konnte ich alles verstehen, und ich konnte sehr klarsehen, dass es vollkommen mit der christlichen Lehre vereinbar war. Es war nur auf einer anderen Ebene. Dahinter steckte eine völlig andere Philosophie, aber es gab keinen Grund der Unvereinbarkeit. Aber es war so raffiniert und so subtil, dass ich intellektuell wie auf Zehenspitzen stand, und in dem Moment, als er aufhörte zu reden, sank ich zusammen und konnte dann nicht mehr über diese Mauer sehen. Verstehen Sie? Ich kann Ihnen also seine Lehre nicht wiedergeben, aber ich kann sagen, dass es nach meinem besten Wissen vollkommen vereinbar ist.
Womit es fast unvereinbar ist, ist das, was wir hier in unseren Buchhandlungen über Reinkarnation finden. Die tibetische Lehre der Reinkarnation passt hier nicht. Ich kann Ihnen sogar sagen, warum.
07:10 Dr. Ken Kramer
Ja, ich wollte gerade sagen: Warum nicht?
07:11 Bruder David
Weil das Hauptanliegen der Leute, die diese Bücher über Reinkarnation schreiben, in den kleinen Taschenbuchständern, und daher das Hauptanliegen derer, die diese Art von Büchern schreiben, ist, wie man sich selbst verewigen kann! Wie man nach seinem eigenen Tod weiterleben kann! Mit anderen Worten; das kleine Ego. Und die ganze Idee des Holismus besteht darin, dass dieses kleine Ego eine Illusion ist.
Tod & Spiritualität (1990)
Transkription und Übersetzung des Video-Interviews ins Deutsche© von Klaudia Menzi-Steinberger (2025)
Was passiert, wenn man stirbst?
TEIL III
00:00 Dr. Ken Kramer
Darf ich dir eine sehr persönliche Frage stellen? Was wird mit dir passieren, wenn du stirbst?
00:43 Bruder David
Hmm nun, das Erste, was ein Mönch wahrscheinlich zuerst sagen sollte, ist: Wir wissen es nicht. Ich denke, es ist sehr gesund, für jede Religion sagen zu können: «Ich weiß es nicht». Von da an gehen wir weiter und sagen: Aber wir stellen gewisse Vermutungen an, wir haben gewisse Intuitionen und so weiter.
Nun, in der christlichen Tradition ist das sogar noch problematischer, denn obwohl ich, an die traditionelle Lehre glaube, ist die Sprache, die die traditionelle Lehre verwendet, nicht mehr unsere Sprache. Wir können solche Dinge nicht mehr sehen.
Ich kann sie mir vorstellen, nur für jemanden, der die Sprache versteht, genau wie man mit jemandem Chaucer-Englisch sprechen könnte, der auch Chaucer-Englisch spricht, aber wenn man es in einem Bus versucht, wird man nicht sehr weit kommen. Also möchte ich diese Sprache normalerweise nicht verwenden. Wir haben Erkenntnisse gewonnen und Einblicke in eine Realität erhalten, die über das hinausgeht, was wir in unserer Sprache ausdrücken können.
01:21 Dr. Ken Kramer
Meinen Sie mit der traditionellen Sprache einfach die Sprache der Erlösung, des Himmels und der Hölle?
01:24 Bruder David
Himmel, Hölle, jüngstes Gericht, Fegefeuer... und all das.
Das ist in Ordnung. Ich glaube an das, was dahintersteht, aber wenn ich es so sage, klingt es nicht einmal mehr für mich selbst wahr, weil wir jetzt in einem anderen Kontext sprechen.
01:40 Dr. Ken Kramer
OK, nun, wie kann man es sagen?
01:42 Bruder David
Wie kann ich es sagen? Gut, ich kann Ihnen sagen, wie ich etwas sagen würde. Es mag ein bisschen kompliziert sein, aber, ich versuche es. So sage ich es mir selbst. Und ich habe es bei einigen Gelegenheiten mit anderen geteilt.
01:54 Dr. Ken Kramer
Wir freuen uns, dass Sie uns an Ihren Geheimnissen teilhaben lassen.
02:01 Bruder David
Also, so denke ich. Man muss mit der Zeit anfangen. Zeit ist die wichtige Sache hier, denn, wenn ich den Tod definieren sollte, würde ich es nicht mit Hirntod oder irgendeiner anderen medizinischen Sache versuchen, sondern aus meiner persönlichen Erfahrung.
Ich würde sagen, der Tod ist jenes Ereignis, das passiert, wenn meine Zeit abgelaufen ist. Verstehen Sie? Jemand sagte, der Tod sei das Letzte, was ich will. Es ist das Letzte, was man tun möchte. Es ist endlich so weit. Nach dem Tod ist die Zeit abgelaufen. Es gibt keine Zeit mehr, und deshalb ist es mir schon jetzt unangenehm, über das Jenseits zu sprechen. Verstehen Sie? Wenn mit dem Tod die Lebenszeit vorüber ist, dann ist der Begriff «Leben nach dem Tod» in diesem Sinne nicht anwendbar. Aber das Leben nach dem Tod, oder was die meisten Leute damit verstehen, ist natürlich eine Art Realität.
Deshalb ziehe ich es vor, es Jenseits des Lebens zu nennen.
Und dieses Jenseits des Lebens erfahren wir schon hier. Sie und ich und alle anderen, erleben jeden Tag, jede Minute wie etwas, das nicht in der Zeit liegt, sondern daraus hervorsticht. Das nennen wir menschliche Existenz. Wir existieren; es bedeutet wörtlich, dass wir herausragen. Wir ragen aus der Zeit heraus in das, was jenseits der Zeit liegt, und wir nennen es «Jetzt». Das Jetzt ist nicht in der Zeit, verstehen Sie? Jeder weiß, was «Jetzt» bedeutet, und sie sagen: Was Sie mit jetzt meinen, ist nicht in der Zeit? Es gibt die Zukunft und dann die Vergangenheit, und dazwischen dieses kleine Zeitstück, das ist «Jetzt».
Nun, wenn es ein kleines Zeitstück zwischen der Zukunft und der Vergangenheit ist, warum schneidet man es nicht in zwei Hälften? Und die Hälfte davon ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist. Solange es irgendein Zeitstück ist, kann man es immer halbieren... und so stellen wir fest, dass das Jetzt nicht in der Zeit ist. Das Jetzt ist etwas, das wir als Menschen wissen, und das über die Zeit hinausgeht.
Deshalb, und das ist nun meine Antwort in der kürzesten Form auf Ihre Frage:
Was passiert, wenn man stirbst?
Die Zeit ist abgelaufen und alles, was bleibt, ist Jetzt. Denn das Jetzt war nie in der Zeit, und die Zeit hat mich immer vom Jetzt abgelenkt, und wenn ich endlich mit einem Seufzer der Erleichterung die Zeit loslasse... ist hier das Jetzt.
04:33 Dr. Ken Kramer
Nun kann sich das Jetzt wirklich zeigen, es kann entstehen.
04:38 Bruder David
Und in all unseren Momenten gab es dieses Jetzt-Element. Und wenn Sie sich jetzt an ihren schönsten Moment von vor zwanzig Jahren erinnern, und an Ihren schönsten Moment von vor fünf Tagen, sind sie jetzt eins. Sie sind alle in diesem Jetzt. Sie haben sie irgendwo hier in Ihrer Erinnerung.
Und wenn diese ganze Zeit der Ablenkung vorbei ist, haben Sie alle ihre Jetzt-Momente auf einmal. Und so sind Sie jetzt, sozusagen in Prozession ihres ganzen Lebens, und durch dieses Leben, für das Sie nie wirklich Zeit hatten, es zu betrachten. Es war einfach zu verwirrend, und da ist all das, was sich selbst auffrisst, so wie die Zukunft die Vergangenheit auffrisst. Jetzt haben Sie alles auf einmal.
Und jetzt, sozusagen für alle Ewigkeit, was keine lange, lange Zeit ist, sondern das Jetzt, das nicht vergeht. Sie betrachten ihr Leben, und durch ihr Leben, weil alles mit allem zusammenhängt, sehen Sie alles, und Sie sind mit allem verbunden, und Sie beginnen, alles und Gott zu verstehen. Das ist das Fenster, durch das Sie die ultimative Realität [in Gott] sehen.
Tod & Spiritualität (1990)
Transkription und Übersetzung des Video-Interviews ins Deutsche© von Klaudia Menzi-Steinberger (2025)
Was sagt man zu jemandem, der aktiv im Sterben liegt?
TEIL IV
00:00 Dr. Ken Kramer
Sagen wir, Sie sind mit mir in einem Raum und ich bin im Sterben und ich habe keinen Glauben, ich habe kein Fundament auf dem ich stehen kann, das mich beim Sterben stützt. Was versuchen Sie, mir mitzuteilen? Wie versuchen Sie, zu mir zu sprechen? Ich sterbe und glaube nicht.
00:20 Bruder David
Nun, es hängt sehr davon ab, wie weit der Prozess schon fortgeschritten ist. Wenn Sie schon ziemlich weit weg sind, werde ich ihre Hand halten. Ich werde versuchen, Ihre Füße zu massieren. Und ich werde einfach für Sie da sein und diese Gemeinschaft vermitteln, dass wir zusammengehören, und das Gefühl der Zugehörigkeit. Verstehen Sie?
Aber wenn Sie noch ein Stück vom Sterben entfernt sind und wenn Sie noch sprechen können und wach sind und so weiter, dann werde ich Sie einige Dinge über Ihr Leben fragen. Und ich werde versuchen, wie es alte und sterbende Menschen oft gerne tun, ich werde versuchen Ihnen zu helfen, sich an Dinge zu erinnern, die Sie wirklich mochten, und an Menschen, die Sie wirklich mögen. Ihr erstes Date oder so etwas. Oder Ihre Kinder. Und ich erinnere Sie an den Tag, als Ihr erstes Kind geboren wurde. Und solche Dinge. Und ich werde versuchen, Ihnen das wiederzugeben. Und ob ich es sagen werde oder nicht, das hängt völlig von den Umständen ab.
Früher oder später, ob es nun ausdrücklich gesagt wird oder nicht, werden Sie erkennen, dass Sie etwas wussten, das Bestand hat. Verstehen Sie? Deshalb gravieren Sie, wenn Sie verliebt sind, etwas in einen Baum ein, weil Sie möchten, dass es Bestand hat. Sie wissen, dass es Bestand hat. Und irgendwie, durch diese Erinnerung, wird Ihnen die Realität bewusst, dass es innerhalb dieses Lebens ein Leben gibt, das Sie gelebt haben und das nicht sterben kann. Das ist das Beste. Das ist das Leben, das wir alle teilen. Deshalb ist das Gefühl der Zugehörigkeit so wichtig. Wenn Sie nichts mehr sagen können, halten Sie einfach inne und schenken Sie ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Das ist das Christusleben in uns. Deshalb habe ich gesagt, dass die meisten Menschen auf der Welt an die Auferstehung glauben, ob sie diesen Begriff nun kennen oder nicht, weil sie wissen, dass es ein Leben gibt, das nicht sterben kann. Aber es ist zu schön, um wahr zu sein, verstehen Sie? Und jetzt sagen die Christen in der Auferstehungsbotschaft: Schaut, wir haben es erfahren. Und wenn sie auf eine Weise leben, die glaubwürdig ist, wenn sie sich wie Menschen verhalten, die an das Leben glauben, also nicht nur an ihr eigenes kleines Überleben, sondern auch an das Leben anderer Menschen, dann ist das wertvoll. Wenn sie anderen dienen, hat das enorme soziale Auswirkungen, wissen Sie, für alle. Wenn sie an dieses unzerstörbare Leben glauben, das in jedem Menschen steckt, dann ist das ein Leben, das den Tod überwunden hat. Und wie ein Dichter sagte: Der Tod liegt nicht vor uns, der Tod liegt hinter uns, hinter uns, als Christen.
03:01 Dr. Ken Kramer
Das führt also in gewisser Weise zurück zu etwas, das Sie vorhin gesagt haben. Man kann nicht wirklich sterben, bevor man vollständig gelebt hat, und man kann nicht wirklich vollständig leben, bevor man in der Lage ist zu sterben und loszulassen und aufzugeben. Und jetzt behaupten Sie, dass diese Vorstellung von der Auferstehung auf geheimnisvolle Weise mit dem zu tun hat, was bleibt. Und dass man, ohne auch nur irgendeine christliche Terminologie zu verwenden, dazu ganz natürlich Zugang hat, im Sinne der menschlichen Erfahrung eines Menschen, um zu versuchen, sich an diese Dinge zu erinnern, die bleiben.
03:38 Bruder David
Richtig.
03:39 Dr. Ken Kramer
So dass die Fähigkeit des Beraters in diesem Moment darin bestünde, zu versuchen, eine Person dazu zu bringen, wieder in Kontakt mit diesen Erfahrungen zu kommen.
03:46 Bruder David
Richtig. Und sie zu genießen, und in sie einzutauchen, und loszulassen. Verstehen Sie, dass das zusammengehört? Wenn man an ihnen festhält, erlebt man das: Zwei Menschen in einem Altersheim, direkt nebeneinander im Bett. Die eine erinnert sich an ihre Vergangenheit und wie glücklich sie war. Und jedes Mal, wenn sie sich erinnert, stöhnt und klagt sie, dass sie alles verloren hat. Und die andere erinnert sich an ähnliche Dinge und sagt immer: Wie dankbar ich bin. Wie glücklich ich war. Und ist glücklich und stirbt glücklich.
Es ist also nur die Umstellung auf Dankbarkeit, die bedeutet loszulassen. (Ob dies nun ein Problem für einen anderen darstellt.) Und das erfordert viel Mühe. Und weil wir zum Zeitpunkt des Todes wahrscheinlich krank und gebrechlich und schwach und nicht in unserem besten Zustand sein werden und es so viel Mühe kostet, sollten wir diese Anstrengung jetzt auf uns nehmen. Deshalb würde ich sagen, sterben Sie, solange Sie leben, denn wenn es ans Sterben geht, sind Sie möglicherweise nicht gesund genug, um wirklich zu sterben, um es wirklich zu tun.
Tod & Spiritualität (1990)
Transkription und Übersetzung des Video-Interviews ins Deutsche© von Klaudia Menzi-Steinberger (2025)
Was sagen Sie, Bruder David, zu jemandem, der trauert – und wie wollen Sie selber sterben?
TEIL V
00:00 Dr. Ken Kramer
Jetzt möchte ich bei der Frage bleiben, wie man mit einem Menschen im Angesicht des Todes umgeht, aber von der Person, die tatsächlich stirbt, zu der Person, die gerade einen geliebten Menschen verloren hat. Lassen Sie uns über die Person sprechen, die trauert. Eine Studentin in einem meiner Kurse hat mir kürzlich die Frage so gestellt, sie sagte: «Also, hier nehme ich an diesem Kurs über Tod und Sterben teil und hier lerne ich all diese wunderbaren Theorien und diese wunderbaren Bilder über das Leben nach dem Tod und über die Tatsache, dass der Tod wirklich eine Illusion ist und dass man, wenn man stirbt, nicht wirklich stirbt, und so weiter, und ich weiß das alles. Und jetzt verliere ich meinen Mann und es rinnt einfach alles wie Wasser durch den Sand.» Und sie sagt, «Warum ist es so, obwohl ich all diese Dinge weiß, und sie mir in dieser Stunde meiner tiefsten Krise keine Unterstützung bieten?» Also ist meine Frage, was sagt man zu einer Person in dieser Zeit, um ihr in ihrer Trauer zu helfen?
01:11 Bruder David
Nun, bevor man überhaupt darauf eingeht, da wir gerade über den Kurs gesprochen haben, denke ich, es wäre sehr hilfreich, noch einen Schritt weiter zu gehen, und die Menschen erkennen, ich denke an die Person, die sie am meisten geliebt haben, die sie am meisten verlassen würden, diese Person stirbt und sich dann daran erinnern, dass diese Person sterben wird, und dass sie das verlieren werden. Wir können nur in dem Maße eine richtige Beziehung zu einer anderen Person haben, in dem sie bereits vor diesem Horizont des Todes gesehen wird. Und wenn wir das tun, was unsere Gesellschaft so oft tut, und die Augen davor verschließt und einfach versucht, jetzt glücklich zu leben, und vergessen, dass das nicht möglich ist, außer in Märchen, dann ist die Beziehung bereits falsch. Es fehlt dieser Horizont des Todes. Es wird viel lebendiger. Man lebt jetzt jeden Moment, als wäre er der Letzte und der Erste, mit dieser Frische. Natürlich ist das menschlich unmöglich, aber zumindest ist das das Ideal. Das wäre also der erste Schritt. Nun kommen wir zu der Situation, in der die Person tatsächlich jemanden verloren hat. Ob sie mit dieser Erwartung gelebt hat oder nicht, wird einen Unterschied machen, aber es wird den Kummer und die Trauern nicht lindern.
Und Trauern ist ein sehr langer Prozess, den wir genießen sollten. Ich denke, wir sollten uns wirklich die Zeit geben, die Trauer zu genießen, und den Menschen nicht dabei helfen, schnell über die Trauer hinwegzukommen (ich glaube nicht, dass das das Ziel irgendeines Beraters ist), sondern tief in die Trauer einzutauchen, wirklich tief einzutauchen, so dass man wirklich alles daraus zieht, was das Leben zu bieten hat.
Ich habe meine Katze vor etwas weniger als einem Jahr verloren (oder eine Katze, um die ich mich im Kloster gekümmert habe). Ich trauere immer noch um diese Katze und das ist ein sehr wichtiger Prozess für mich. Die Trauer um Haustiere ist oft schwieriger als die Trauer um Menschen, weil wir das noch nicht gelernt haben. Beim Trauern um Menschen haben wir etwas mehr Hilfe.
Nun jedenfalls, was ich dieser Person zu helfen versuchen würde, ihr zu zeigen, dass sie vor allem dankbar sein soll für alles, was sie hatte, und in dieser Dankbarkeit zu erkennen, dass es nicht verloren ist. Alles, was jemals war, bleibt. Und es bleibt bestehen, ob man sich daran erinnert oder nicht, aber man kann sich damit verbinden, indem man sich erinnert. Das ist es, verstehen Sie? Es ist nicht weg. Es ist jetzt wie in der Vergangenheit, aber von diesem Zentrum Ihres Wesens aus, wo Sie jenseits der Zeit sind, können Sie sich mit allem in der Vergangenheit, in der Zukunft, in der Gegenwart verbinden, und das können Sie immer noch tun, sozusagen, auf eine sehr gesunde Weise. Jede Minute, die Sie mit ihrem verstorbenen Ehemann hatten, auf eine neue Weise leben, noch einmal erleben. Erleben Sie es noch einmal und noch einmal. Denn wie T.S. Eliot sagt: Was gewesen ist und was hätte sein können, weist auf ein Ende hin, das immer gegenwärtig ist. Also alles, was hätte sein können, können Sie jetzt in Ihrer inneren Haltung verwirklichen, verstehen Sie? Und während Sie das tun, werden Sie nicht in irgendeiner kleinen Kiste oder so eingesperrt sein, sondern, Sie werden sogar bereiter sein, möglicherweise nochmals zu heiraten. Das ist vollkommen normal. Es geht nicht nur darum, aus der verstorbenen Person ein Idol zu machen. Es bedeutet, tief mit dem Leben in Berührung zu sein. Das ist das Entscheidende. Und das Leben verändert sich ständig. Das ist das Entscheidende. Das Leben hat diesen Kern von Auferstehungsleben, wie wir Christen sagen würden, das nicht vergehen kann.
05:15 Dr. Ken Kramer
Wie möchten Sie sterben?
05:17 Bruder David
Wie möchte ich sterben? Nun, eines, das mir in den Sinn kommt, ich möchte gerne sterben, wenn ich bereit bin. Ich glaube irgendwie, dass man immer stirbt, wenn man bereit ist. Aber, ich möchte sterben, wenn ich fühle, dass mein Leben seine Erfüllung erreicht hat, und dann kann ich sozusagen mein Leben Gott übergeben. Aber ob es so kommen wird oder nicht, unter äußeren Umständen weiß ich nicht. Und deshalb ist es besser, schon jetzt zu üben, sein Leben unter den unwahrscheinlichsten Umständen zu übergeben, denn sie mögen unwahrscheinlich sein, wenn die Zeit kommt. Aber diese Geste von: Hier ist es, es gehört Dir. Jeden Moment habe ich dankbar von Dir empfangen, und wenn Du es willst, gebe ich es zurück. Ich hoffe, dass ich die Kraft haben werde, das zu tun, wenn die Zeit kommt.
06:08 Dr. Ken Kramer
Vielen Dank, Bruder David.
06:08 Bruder David
Gern geschehen.
«Wir sind daheim in dieser Welt» (1975)
Transkription© von Hans Businger (2023)
Eine Betrachtung über die Sinne als Wege zum Sinn mit David Steindl-Rast
(00:24) Lebendig sein: darauf kommt’s schließlich im Letzen an. Das geistliche Leben heißt ja, ein überaus lebendiges Leben führen. Dass wir noch nicht gestorben sind, bedeutet nicht, dass wir wirklich lebendig sind. Wir leben oft so halbtot dahin. Der Geist ist der Lebensatem Gottes in unserer christlichen Tradition, in der ganzen biblischen Tradition. Daher bedeutet ein geistliches Leben führen, völlig lebendig zu sein. Mit allen Sinnen. Und darauf kommt es schließlich im Letzten an: Lebendigkeit.
(01:16) Wenn ich vom mönchischen Leben spreche, so baue ich dabei einerseits auf meiner Erfahrung als Benediktinermönch auf ‒ ich bin jetzt schon über 30 Jahre Benediktiner ‒ und auch auf meiner Erfahrung in buddhistischen Klöstern. Ich habe einige Zeit in buddhistischen Klöstern verbracht, besonders Zen-Klöstern, und in beiden Traditionen ist das Wesentliche der Askese, dass man im Augenblick offen ist mit ganzer Lebendigkeit für alles, was der Augenblick bringt.
(02:40) Diese Hütte hier, diese Almhütte im Pinzgau, ist eine meiner liebsten Plätze in Österreich. Sie erinnert mich so an die Einsiedelei in Kalifornien, in der ich jetzt schon seit einigen Jahren die meiste Zeit verbringen darf, wenn ich nicht auf Reisen bin. Das eigentlich Wesentliche dran ist ja nicht die Abgeschlossenheit, sondern die Möglichkeit, aus dem Zweckstreben, aus dem Eingespanntsein in das Zweckstreben herauszukommen und wirklich Sinn finden zu können. Dazu brauchen wir Zeit. Das sind nämlich zwei ganz verschiedene Dinge: Sinn und Zweck. Dem Zweck, dem gehen wir nach, da müssen wir etwas ergreifen, da müssen wir uns darum bemühen, dem Sinn müssen wir uns hingeben. Und mit dem Herzen Sinn finden ist eigentlich eines der wesentlichen Ziele der Askese. Und darum ist es ein großer Vorteil, wenn man als Mönch eine Einsiedelei hat, aber eigentlich schaffen sich ja die meisten Menschen irgendwo in ihrem Alltag so eine Einsiedelei des Herzens, in der sie Sinn finden dürfen. Darauf kommt es an.
(04:00) Wenn wir vom Sinn finden sprechen, dann kommen natürlich die Sinne in das Spiel. Denn es ist ja kein Zufall, dass Sinn und Sinne dem Wort nach zusammenhängen. Rilke hat das so wunderbar in seinem Gedicht zusammengefasst in einem der Sonette an Orpheus:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne.
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Sei Sinn! Denn Sinn finden, heißt ja eigentlich Sinn werden. Das heißt so zu leben, dass wir in jedem Augenblick uns dem stellen ‒ mit allen unsern Sinnen ‒, was uns entgegenkommt.
Uns ansprechen lassen und von ganzem Herzen antworten.
(05:13) Ellinor Jensen (Sprecherin):
Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
lass dich läuten. Das, was an dir zehrt,
wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidendste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.
R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIX[[1]]
(06.45) Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
Ursprünglich in unserer natürlichen Frömmigkeit denken wir noch nicht notwendigerweise an einen persönlichen Gott. Sondern wir erleben in unsern besten, lebendigsten Augenblicken eine tiefe Geborgenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Daheimsein in der Welt. Wir sind hier nicht verweist, wir wurden erwartet, wir sind eingebettet, die Welt ist für uns vorbereitet, wir sind hier zu Hause.
Und von diesem Zugehörigkeitsgefühl ist kein sehr weiter Weg zu der Gegenseitigkeit der Zugehörigkeit. Und da kommt dann die persönliche Bezogenheit zum Göttlichen herein, und das ist der Gesichtspunkt des Religiösen, der in der biblischen Tradition besonders unterstrichen wird, auf den die biblischen Autoren besonders ansprechen.
Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: «Gott sprach und es ward Licht.» Und «Gott sprach», und da war ein Firmament», und «Gott sprach», und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.
(08:59 Ellinor Jensen (Sprecherin):
Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.
R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX[[2]]
(10:01) Dieses Horchen mit dem Herzen ist keineswegs etwas Abstraktes, sondern ist ganz konkret mit dem Horchen mit den Ohren verbunden. Es beginnt mit einem intensiven Horchen lernen. Wie können wir uns denn einbilden, mit dem Herzen horchen zu können, wenn wir nicht einmal mit den Ohren eingeblendet sind auf die vielen wundervollen Geräusche, die uns ständig umgeben. Hier in der Hütte ist es natürlich leicht: der Wind durch die Bäume im Wald, der Regen auf dem Dach, der Bach, die Quelle, das Feuer, das prasselt ‒ ein Geräusch schöner wie das andere.
Es gibt auch im Alltag für die meisten von uns sehr viele wunderschöne Geräusche: das Singen der Vögel, die Stimmen der Kinder ‒ viele wunderschöne Geräusche, auf die wir uns einstellen können, wenn wir dazu wach genug sind.
Aber man muss zugeben, dass es im Alltag für die meisten von uns auch Geräusche gibt, die nicht so angenehm sind und nicht so auf den ersten Anhieb als Wort Gottes erfahren werden können.
Wie sollen wir mit denen umgehen?
Ich muss mich darum selber häufig bemühen, und eines, das mir dabei zu Gute kommt, ist: Nicht ein Geräusch von Vornherein schon mit Wert zu belegen. Nicht von Vornherein es schon schön oder hässlich zu nennen ‒ gut oder schlecht ‒, sondern einfach zu horchen. Und da hört man manchmal in Geräuschen, die man vorher gar nicht hören wollte, sehr schöne Dinge. Am besten ist es, sie überhaupt nicht zu benennen. Wenn wir dem Geräusch einen Namen geben, haben wir es schon irgendwie kategorisiert und auch meistens schon irgendwie abgeschrieben. Aber einfach horchen ohne einen Namen zu geben.
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.
(13:55) Für jemanden, der wirklich mit dem Herzen fühlen lernt, der wirklich mit dem Herzen der Wirklichkeit begegnet, besteht kein Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen.
Der Rausch aus dem Räucherstäbchen ist nicht heiliger als der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt. Auch der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt, ist eine Geste des Gebetes.
(14:30) Zu der großen Aufgabe des geistlichen Lebens, durch die Sinne Sinn zu finden, gehört natürlich auch das Riechen und der Geruchsinn. Aber das ist für die meisten von uns ‒ oder zumindest bei sehr vielen Menschen ‒ eine traurige Angelegenheit. Für die gibt es nur zweierlei Gerüche: gut und schlecht. Und das ist eine große Verschwendung unseres Geruchsinns: All diese wunderbaren Gerüche, die es in der Welt gibt. Wenn wir uns einmal darauf eingestellt haben, gar keine Gerüche als schlecht abzuschreiben, sondern uns einmal ihnen auszusetzen, dann finden wir, dass Dinge einen ganz eigenen Geruch haben, denen wir vorher gar keinen Geruch zugeschrieben haben. Holz hat einen ganz eigenen Geruch und verschiedene Holzarten ganz verschiedene Gerüche. Bücher: ein neues Buch, ein altes Buch. Für viele Menschen ist nur das Aufschlagen eines Buches schon mit einem gewissen Geruch verbunden und sogar gewisse Bücher mit der Erinnerung an gewisse Gerüche.
Überhaupt ist ja der Geruchsinn am engsten mit unserer Erinnerung verbunden. Wenn wir nur an die vielen Kindheitserinnerungen denken, die mit Gerüchen verbunden sind: eine Wäschelade, in der Lavendel ist, oder ein Fischmarkt oder das Meer oder Weihrauch: für wie viele Menschen Weihrauch ganz mit dem religiösen Kindheitserleben verbunden ist. Darum soll es uns auch gar nicht wundern, wenn in der Bibel und in vielen andern Traditionen der Geruchsinn eine ganz wichtige Rolle spielt.
(16:57) Sprecher:
Meine Schwester, liebe Braut,
du bist ein verschlossener Garten,
eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.
Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln
mit edlen Früchten,
Zyperblumen mit Narden,
Narde und Safran, Kalmus und Zimt,
mit allerlei Bäumen des Weihrauchs,
Myrrhen und Aloe
mit allen besten Würzen.
Ein Gartenbrunnen bist du,
ein Born lebendiger Wasser,
die vom Libanon fließen.
Stehe auf, Nordwind, und komm Südwind
und wehe durch meinen Garten,
dass seine Würzen triefen!
(Hohelied 4, 12-16)
(18:34) Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.
Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: «Überrasche mich!», dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.
(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne soviel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.
(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.
(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.
(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.
Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.
(25:01) T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.
(26:00) Reinhard Glemnitz (Sprecher):
An dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt.
Weder Körper noch Geist,
Weder Hin noch Her;
Am ruhenden Punkt,
da ist der Tanz,
Weder einhalten noch Bewegung.
Und nenn es nicht Stillstand,
Wo Vergangenes und Künftiges zusammenfallen.
Bewegung weder hin noch her,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende Punkt,
so wäre der Tanz nicht,
und es gibt nichts als den Tanz.
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II[[3]]
(27:14) Die Zeit um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.
(27:33) Reinhard Glemnitz (Sprecher):
Die Zeit und die Glocke begruben den Tag,
die schwarze Wolke trug die Sonne zu Grab.
Wenn des Eisvogels Flügel
auf das Licht antwortet mit Licht und schweigt, ist das Licht noch immer
auf dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt.
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, IV[[4]]
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
Rilke weist einmal darauf hin, dass in den attischen Stelen die Menschen so zart einander anfühlen in Begegnung und Abschiednehmen: «So ist es uns gegeben einander zu berühren», sagt er, «anders rühren die Götter uns an.» [[5]]
(28:56 – 31:32) Der Keramiker Heinz Lackinger bei der Arbeit
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
(36:46) Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ sapientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.
Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.
Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.
(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.
Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.
(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.[[6]]
(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss. Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten. Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein. Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.[7]
Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: ‹Gott›, wenn wir es so nennen wollen.
(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen. In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür. Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen. Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.
(45:31) Reinhard Glemnitz (Sprecher):
Wo enden sie die Fischer,
die in den Wind segeln, wo der Nebel lauert?
Nicht auszudenken eine Zeit ohne Meer
oder ein Meer ohne Abfall.
Oder eine Zukunft, nicht in Gefahr,
wie die Vergangenheit ziellos zu versanden.
Unermüdlich hantieren sie, stellen und strecken die Segel,
während der Sturm aufzieht über der Sandbank,
legen ihr Geld ab im Hafen und trocknen die Segel;
nicht aber: Ziehen sie aus auf unentlohnbare Fahrt,
auf einen Fischfang, der nicht standhält der Prüfung.
Das Tönen der Glocke
misst die Zeit, die nicht die unsere ist,
sondern eine, die geläutet wird von der gemessenen Flut,
eine Zeit, älter als die der Uhren,
älter als die Zeit,
wie sorgende Frauen sie zählen,
die wachliegen nachts und die Zukunft berechnen
zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn die Vergangenheit Trug ist
und die Zukunft nicht künftig vor der Morgenwache,
wenn die Zeit einhält und endlos sich dehnt;
und die Flut, die heute wie von jeher anschwillt,
läutet
die Glocke.
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II und I[[8]]
(47:34) Am Ende unserer Reise, am Ende unseres großen Abenteuers, am Ende dieser unentlohnbaren Fahrt kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, und kennen den Ort zum ersten Mal.[[9]]
Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.
Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken. Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.
Die Sinnoffenheit von der wir hier sprechen: mit dem Herzen fühlen, das ist nicht nur eine sinnliche Angelegenheit. Das hat sehr viel zu tun mit sozialen Problemen. Mit der Ganzheit der Welt. Wir öffnen uns der Welt als Ganzes. Das heißt: Wenn wir wirklich schauen lernen mit dem Herzen, dann schauen wir auf die Welt wie sie ist und schauen nicht weg, wenn es uns nicht gefällt. Wir müssen Dinge ins Auge fassen, die wir eigentlich nicht gerne sehen. Wir werden vielleicht das Weinen der Welt hören. Das Weinen der Unterdrückten. Wir werden vielleicht riechen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark. Wir werden, wenn wir uns zu Tisch setzen, das Salz der Tränen kosten, das mit aus der Dritten Welt importiert wird mit unsern Lebensmitteln. Wir werden ‒ wenn wir wirklich ehrfürchtig fühlen lernen, das heißt, uns auch wirklich berühren lassen von dem, was wir berühren ‒, dann werden wir zutiefst berührt werden, von dem Elend der Welt auch. Nicht nur von allem Schönen. Von allem Schönen und von allem Schweren und allem Schrecklichen das es in unserer Welt gibt. Und das fällt uns sehr schwer. Es ist aber eine große Aufgabe für uns alle.
______________________
[[1]] Siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 152 und 164
[[2]] Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 98f.:
«In diesem ‹Lied überm Land› liegt der bleibende Sinn, in den das horchende Herz allen Wandel führt. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen, das heißt durch die Sinne Sinn finden.»
Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus
[[3]] «At the still point oft he turning world. Neither flesh nor fleshless;
Neither from nor towards; at the still point, there the dance is,
But neither arrest nor movement. And do not call it fixity,
Where past and future are gathered. Neither movement from nor towards,
Neither ascent nor decline. Except for the point, the still point,
There would be no dance, and there is only the dance.»
«Am stillen Mittelpunkt der bewegten Welt. Weder Fleisch noch fleischlos;
Weder woher noch wohin; am stillen Mittelpunkt, da ist der Tanz,
Doch weder Hemmung noch Bewegung. Man nenne es nicht Festigkeit,
Wo Vergangenheit und Zukunft eins sind. Keine Bewegung woher noch wohin,
Weder ein Auf- noch ein Abstieg. Ohne den Punkt, den stillen Mittelpunkt,
Wäre kein Tanz, aber Tanz ist alles, was ist.»
T. S. Eliot: Four Quartests: Burnt Norton, II, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, in: Vier Quartette. Four Quartets. Englisch und deutsch, Berlin, Suhrkamp Verlag 2015, 12f.
Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 112:
«Wirklich allein zu sein, bedeutet durchaus nicht, einsam zu sein. Am Grunde meines Herzens, jenem geheimen Ort, an welchem ich am meisten ich selber bin, bin ich paradoxerweise auch mit allen anderen Menschen, mit allen Lebewesen, mit allem, was existiert, vereint. Wirklich allein zu sein, bedeutet, von Zwiespalt geheilt zu sein, eins zu sein mit meinem wahren Selbst, und somit eins mit allem. In diesem Sinn allein zu sein, bedeutet, den Punkt erreicht zu haben, den T. S. Eliot den ‹ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt› nennt, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel ‹wo Vergangenes und Zukunft vereint sind›.
‹Weder Fortgehn noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht ‒
und es gibt nichts als den Tanz.›»
[[4]] «Time and the bell have buried the day,
The black cloud carries the sun away.
Will the sunflower turn to us, will the clematis
Stray down, bend to us; tendril and spray
Clutch and cling?
Chill
Fingers of yew be curled
Down on us? After the kingfisher's wing
Has answered light to light, and is silent, the light is still
At the still point of the turning world.»
«Zeit und die Glocke begruben den Tag,
Die Sonne zieht in den Wolkenverschlag.
Wird die Sonnenblume sich uns zeigen, wird die Klematis
Sich niederbeugen, uns neigen, Ranke und Reis
Klettern und klammern?
Kühle
Finger der Eibe sich kräuseln
Nieder auf uns? Nachdem des Eisvogels Schwinge
Licht mit Licht vergalt und nun stillhält, ist Licht noch immer
Am stillen Mittelpunkt der bewegten Welt.»
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, IV, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 20f.
[[5]] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 73:
«Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs,
d i e s e s ist unser, uns s o zu berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.»
R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Zweite Elegie
[[6]] Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 97f.:
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
R. M. Rilke am 13. November 1925 in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz
Siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 105-107 mit diesem Schlüsseltext von Rilke im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 95f.
[[7]] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 56f.
«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten, uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»
[[8]] «Where is the end of them, the fishermen sailing
Into the wind's tail, where the fog cowers?
We cannot think of a time that is oceanless
Or of an ocean not littered with wastage
Or of a future that is not liable
Like the past, to have no destination.
We have to think of them as forever bailing,
Setting and hauling, while the North East lowers
Over shallow banks unchanging and erosionless
Or drawing their money, drying sails at dockage;
Not as making a trip that will be unpayable
For a haul that will not bear examination.»
«Wann nimmt es ein Ende, dass Fischer sich wagen
Ins Schlepptau des Winds, wo Nebel kauert?
Wir können uns keine Zeit denken, meerlos
Oder ein Meer, nicht besudelt mit Abfall
Auch keine Zukunft, die nicht zwingend wäre
Wie die Vergangenheit, nämlich ohne Bestimmung.
Wir denken uns, wie sie an allen Tagen
Schöpfen, streichen, Segel stellen, wenn der Nordost abflaut
Über flachen Bänken, unbewegt, erosionslos
Oder Geld abheben, Segel trocknen gegen Kaigebühr;
Nicht, wie sie unentlohnt auf die Fahrt gehen
Für einen Fang, der nicht standhält der Prüfung.»
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II
«And under the oppression of the silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future,
Trying to unweave, unwind, unravel
And piece together the past and the future,
Between midnight and dawn, when the past is all deception
The future futureless, before the morning watch
When time stops and time is never ending;
And the ground swell, that is and was from the beginning,
Clangs
The bell.»
«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Misst Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen,
Abzuwickeln und zu entflechten suchen
Vergangenheit, Zukunft zusammenzuflicken,
Zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn Vergangenheit Täuschung ist,
Zukunft ohne Gestalt, vor der Morgenwache
Wenn die Zeit stockt und Zeit niemals endet
Und die Dünung, die ist und vor dem Anfang war,
Die Glocke
Hallt.»
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 46f.
Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 124-126:
«Das klösterliche Training ist ohne Eile und Hektik, aufs Praktische und Alltägliche ausgerichtet: fegen, kochen, waschen, bei Tisch auftragen oder am Altar dienen, Bücher lesen, Karteikarten einordnen, den Garten umgraben, an der Schreibmaschine sitzen, Heu machen, Rohre reparieren; aber all das mit jener liebevollen Losgelöstheit, die jeden Ort zum Mittelpunkt des Universums wandelt.
Zu diesem monastischen Bewusstsein des Raums gehört ein entsprechendes monastisches Bewusstsein der Zeit.
‹Die Jahreszeiten und die Gezeiten der Sterne,
Die Zeit des Melkens und die Zeit des Erntens.›
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, I
Die Zeit des ‹unaufhörlichen Angelusläutens der Glockenboje› an der Küste:
‹Die Glocke zur See misst
Zelt, die nicht unsere Zeit ist, geläutet von dem gemessenen Schwall der Dünung: eine Zeit, weit älter
Als die Zeit, wie Uhren sie deuten, weit älter
Als die Zeit, wie wir sie zählen …›
Und dieser ‹gemessene Schwall der Dünung› wird zum Sinnbild jener Erweiterung der Liebe über das Begehren hinaus, innerlich frei, aber nicht gleichgültig, sondern hellwach und verantwortlich ‒ denn die Zeit, welche von der läutenden Glocke gemessen wird, ist ‹nicht unsere Zeit›. Wir werden gerufen. Wir müssen antworten.
‹Und die Dünung, heut wie von jeher,
läutet
Die Glockenboje.›
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I
Die Angelusglocke und der Gong, die Holzklöppel und die Trommel ‒ sie alle geben Zeit an, ‹nicht unsere Zeit›. Das ist der entscheidende Punkt: dass es nicht unsere Zeit ist. Die Mönche stehen auf und gehen zu Bett, arbeiten und feiern ‒ wenn es Zeit dazu ist. Sie ‹halten› sich nur an die Zeit, ohne sie zu ‹bestimmen›.
Beim ersten Glockenschlag hat der Mönch in seiner Tätigkeit innezuhalten, was immer es sei, und sich dem zuzuwenden, wofür es Zeit ist. Das Entscheidende ist das Loslassen. Es ist Befreiung. Durch das Loslassen wird die Zeit, welche ‹nicht unsere Zeit› ist, alle Zeit, unser eigen, weil wir uns ihr hingeben. Wenn wir im Rhythmus des Lebens mitschwingen, sind wir im Einklang mit der Welt, und sie gehört ganz uns.»
[[9]] «We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning»
«Wir lassen niemals vom Entdecken
Und am Ende allen Entdeckens
Langen wir, wo wir losliefen, an
Und kennen den Ort zum ersten Mal.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war.»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 80f.
Siehe auch Stillehalten mit dem Text in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114f.; bzw. Fülle und Nichts (2015), 114f.:
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.»
In Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 127-129:
«Diese Erfahrung des Einklangs mit sich selbst und mit allem, ein Einklang, im Herzen der Welt gefunden, im ruhenden Punkt, diese Erfahrung ist immer Geschenk. Aber es ist eine Sache, spontan im ‹Augenblick des Glücks, … dem Blitz der Erleuchtung› davon überrascht zu werden, und eine ganz andere, sein ganzes Leben auf diesem Ruhepunkt aufzubauen und es auf ihn auszurichten. Dazu brauchen wir die Unterstützung anderer, die dasselbe Ziel verfolgen. (Selbst der Eremit braucht diese Unterstützung, wenn auch weniger offensichtlich.) Klösterliches Alleinsein muss vom Miteinander getragen werden.
Niemand kommt ohne diese Unterstützung aus. Selbst der im Alleingang vorstoßende Entdecker verlässt sich auf das Team, das hinter ihm steht. Bei dieser Entdeckungsfahrt steht viel auf dem Spiel.
Ein Leben der Ehelosigkeit bedeutet:
‹…ausziehen auf unentlohnbare Fahrt,
Auf einen Fischfang, der sich nicht sehen lassen kann.›
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II
Im Ruhepunkt wurzelnd, müssen wir die Gemeinschafts-Dimension der Einsamkeit erforschen, die All-Einheit des Alleinseins.
‹Wir müssen still sein und dennoch vorangehen,
Mit vertiefter Empfindung
Zu neuer Vermählung, tieferer Vereinigung,
Durch kaltes Dunkel, trostlose Verödung.›
‹Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften.
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen,
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.›
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V, und Little Gidding, V
Wir werden ‹erkennen›; aber Erkennen in diesem Sinne ist ‹ein Fischfang, der sich nicht sehen lassen kann›. Es ist eine Art des Wissens jenseits des Zähl- und Messbaren; kein Erkennen der Erkenntnis, aber ein Erfahren von Erkenntnis.»
Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)
Was am Ende wirklich zählt (2022)
Transkription des Vortrages von Bruder David,
bearbeitet von Hans Businger
David Steindl-Rast im Video-Interview mit Johanna Schury im Rahmen des Online-Kongresses ÄLTESTENRAT (24. März 2022)
Vorspann mit David Steindl-Rast: «Wenn man wach wird und einsieht, dass auch in den Schwierigkeiten eigentlich nur eine neue Gelegenheit für Wachstum und größere Lebendigkeit liegt, dann kann man dankbar leben. Lebensvertrauen ist wahrscheinlich das wichtige Thema, das dahintersteht.»
Isha Johanna Schury begrüßt, stellt Bruder David Steindl-Rast vor und geht auf seine Lebensthemen ein.
(02:41) «Bruder David, ich würde gleich einsteigen bei einem Thema, das mir sehr am Herzen liegt und das dir auch so wie ich gelesen habe und gehört habe, am Herzen liegt:
Was spielt Dankbarkeit im Leben für uns als Menschen für eine Rolle bzw. für alle, nicht nur für uns Menschen: Hol uns ein bisschen herein in das Thema Dankbarkeit».
David Steindl-Rast: «Also für mich persönlich war lebenslang das Thema Dankbarkeit ein sehr zentrales Thema. Denn man könnte sagen: Die Spiritualität der benediktinischen Mönche ist Dankbarkeit, wenn man es in einem Wort zusammenfassen möchte.
Da darf man nicht denken, wenn einem was Nettes passiert, dass man halt dann dankbar ist dafür, sondern es ist eine Haltung dem Leben gegenüber. Es geht nicht um hie und da mal danke zu sagen, sondern um dankbares Leben, um eine ganze Lebenshaltung.
Und wenn man bedenkt, dass uns alles geschenkt ist, dass wir uns unsere Existenz ja nicht verdient haben oder erkauft haben, oder dass in jedem Augenblick das Leben neue Gelegenheiten schenkt, zu wachsen, uns zu freuen, zu bewundern, zu rühmen ‒ jeden Augenblick ‒, dann ist es einfach eine Lebenshaltung, dafür dankbar zu sein.
Das erscheint mir das Entscheidende: Zu unterscheiden zwischen nur dankbar sein und dankbar leben. Nicht hie und da dankbar sein, sondern das zu einer Lebenshaltung zu machen.
Und dahinter steht natürlich noch etwas größeres als Dankbarkeit, nämlich Lebensvertrauen.
Das macht die Dankbarkeit erst möglich. Denn wenn wir dem Leben nicht vertrauen, dann schenkt es uns in dem Augenblick vielleicht ‒ ich weiß nicht, was man sich da vorstellen soll ‒ Strafen oder nur Schwierigkeiten. Aber wenn man wach wird und einsieht, dass auch in den Schwierigkeiten eigentlich nur eine neue Gelegenheit für Wachstum und größere Lebendigkeit liegt, dann kann man dankbar leben.
Lebensvertrauen ist wahrscheinlich das wichtige Thema, das dahintersteht.»
Isha Johanna Schury: «Ich verstehe. Bruder David: Wie können wir denn das Vertrauen in uns finden, wenn wir es nicht spüren, wenn wir das Gefühl haben: Ach, wir haben die Verbindung zu diesem Vertrauen gar nicht so richtig. Wo können wir das denn finden?»
David Steindl-Rast: «Für viele Menschen ist das eine große Schwierigkeit. Weil es ihnen vielleicht genommen wurde durch schwere Erlebnisse und so. Aber wenn wir zurückschauen auf unser Leben ‒ und dazu brauchen wir gar nicht so besonders alt sein, wenn wir zurückschauen auf unsere Lebenserfahrungen, dann sehen wir, dass auch das Schlimmste, das uns zugestoßen ist, von dem wir gedacht haben: Also das ist jetzt wirklich das Ende und das ist nur schrecklich, dass auch das immer zum Besten war.
Also, dass Leben auch aus den größten Schwierigkeiten immer das Beste hervorbringt.
Ich habe das schon öfters erlebt, dass, wenn man Menschen einlädt, einmal zurückzuschauen und zu sehen, ob sich das in ihrem eigenen Leben bewahrheitet, dann alle sagen, auch die jungen: ‹Ja das ist schon eigentlich wahr, auch was mir die größten Schwierigkeiten gemacht hat, wurde schließlich doch eine Quelle neuen Lebens und neuer guter Erfahrungen›.
Dass wir aufs Leben vertrauen können und dürfen, ist eine Lebenserfahrung. Wenn wir nur still werden und darüber nachdenken.
Außerdem kann man sich auch fragen: Wenn ich ohne Lebensvertrauen lebe, was ist dann das Gegenteil?
Es ist Furcht. Es ist beständige Furcht. Das ist ja kein Leben. Das ist ja wie Tod, so hinzuleben, so mit ständiger Furcht.
Und leider leben viele Menschen mit dieser Furcht. Und darum ist es eine ganz wichtige Aufgabe, auch eine Aufgabe für ältere Menschen, den jüngeren Lebensvertrauen irgendwie zu vermitteln.
Das meiste vermittelt man durch sein Beispiel natürlich. Aber auch es verständlich zu machen, darin sehe ich auch für mich eine große und wichtige Aufgabe.»
Isha Johanna Schury: «Oft ist es ja schon den Eltern schwergefallen, Vertrauen in ihrem Leben zu finden. Und diese Festigkeit und diese Bewusstheit. Und so können sie es auch schwierig an die Kinder weitergeben.
Was würdest du denn sagen, Bruder David: Was ist ein ganz wichtiges Werkzeug, um das in sich zu erschaffen, wenn es nicht schon da ist oder wenn wir es einfach nicht sehen können. Ich denke, so Viele wünschen sich ja diesen Zustand des Vertrauens und der Liebe und der Dankbarkeit und sich Wohlfühlen. Sie erahnen, wie schön das wäre, wenn es in ihnen wach wäre und finden trotzdem nicht dahin. Gibt es ein Werkzeug?»
David Steindl-Rast: «Und da kommt wieder die Dankbarkeit herein. Und die Übung der Dankbarkeit und die Übung der Dankbarkeit ist ein ganz einfacher Dreischritt:
Stop ‒ Look ‒ Go.
Also ein Innehalten, Innewerden und dann Tun.
Und das heißt immer wieder im Laufe des Tages ‒ und das kann man üben ‒, immer wieder innezuhalten, einen kleinen Augenblick der Stille dieses automatische Dahinleben unterbrechen und einen Augenblick lang still zu werden, und in dieser Stille, die es schafft, jetzt Raum zu sehen. Und zwar hinzuschauen: Was gibt mir jetzt das Leben in diesem Augenblick für eine Gelegenheit? Das ist das ‹Look›.
Jetzt kommt das ‹Go›: Das ‹Go› heißt: Mach jetzt etwas aus dieser Gelegenheit. Und meistens ‒ das glauben viele Menschen gar nicht ‒, aber wenn sie es beginnen zu üben, sehen sie es ja bald, meistens ist es die Gelegenheit, uns zu freuen, uns an etwas zu freuen. Uns daran zu freuen, dass wir atmen können. Das nehmen wir einfach so als gegeben hin, das ist leider für unzählige Menschen keine solche fraglose Gegebenheit.
Wir können atmen, wir können sehen, wir können hören. Alle unsere Sinne werden lebendig, wenn wir Hinhorchen und Hinfühlen und Hinriechen auch ‒ ein so vernachlässigtes Geschenk des Lebens.
Also, wenn wir einmal hinschauen, sehen wir schon, wie viele Gelegenheiten uns das Leben gibt, uns daran zu freuen.
Und dann eben auch die schwierigen Gelegenheiten, für die man auch gar nicht dankbar sein kann. Man kann nicht dankbar sein für schlechte Nachrichten, den Tod eines Freundes oder die Kriegsgefahren oder Pandemie: Dafür kann man nicht als solches dankbar sein, aber man kann sich immer fragen ‒ und immer auch mit den ganz schwierigen Gelegenheiten ‒ gibt das Leben uns zugleich Gelegenheit, irgendetwas daraus zu machen. Das macht die Dankbarkeit ungeheuer kreativ.
Es ist nicht ein Hinnehmen, sondern es ist ein Hinhorchen: Wozu ist es jetzt Zeit, um das zu tun.
Schon dass uns das Leben Zeit gibt, ist ja ein ungeheures Geschenk. Und eben je älter man wird, umso mehr weiß man auch, dieses Geschenk zu würdigen.»
Isha Johanna Schury: «Ich höre jetzt ganz viel heraus. Zum Beispiel: Wir denken ja immer, wir müssen erst irgendwas haben, um zu …: Wir müssen dies haben, um glücklich zu sein, wir müssen das werden, um gut zu sein. Immer haben wir irgendwie das Gefühl: Wir müssen erst …, dass Leben geschehen kann.
Aber was ich bei dir jetzt heraushöre, ist, dass es unabhängig von dem äußeren Umstand immer mein inneres Jetzt gibt, und das innere Jetzt kann ich jederzeit mit Freude, mit erkennender Freude füllen, indem ich zulasse, zu erkennen, dass ich bereits beschenkt bin, weil ich schon atmen darf, weil meine Augen sehen dürfen, weil meine Ohren hören dürfen, und ich einfach hier sein darf und diesen Moment jetzt erleben darf. Verstehe ich das richtig?»
David Steindl-Rast: «Darum ist es so entscheidend, dass wir innehalten und dann horchen: hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir.
Es gibt mir eine Gabe, immer die Gelegenheit, die das Leben jetzt mir schenkt, ist eine Gabe, aber wie es heißt: In jeder Gabe ist eine Aufgabe enthalten und sehr häufig kommt es vor, dass unsere Ideen, was wir jetzt werden müssen oder sollen oder was wir noch aus uns machen sollen usw. Das hat sehr wenig damit zu tun, was das Leben von uns will.
Und das ist eine der großen Schwierigkeiten: Nicht seine eigenen Ideen zu haben, sondern hinzuhorchen …
Wenn ich sage: Das Leben ‒ das sind die ganzen Umstände, in denen ich mich jetzt zurzeit befinde ‒, und dahinter steht natürlich das große Geheimnis des Lebens selber, ist uns ein unauslotbares Geheimnis.
Wenn ich sage ‹Geheimnis, dann meine ich nicht irgendwie so was wie Geheimnistuerei oder etwas Verschwiegenes. Ich meine etwas ganz Konkretes:
Wir sind im Leben immer wieder konfrontiert mit einer Wirklichkeit, die hinter allen anderen Wirklichkeiten steht, eine Wirklichkeit, die wir nicht begreifen können. Wir können sie nicht in den Griff bekommen, aber wir können sie verstehen, wenn wir hinhorchen.
Das ist ein großer Unterschied zwischen Begreifen und Verstehen.
Unser Begreifen ist sehr begrenzt. Ganz gleich, wie groß unsere Hände sind, sie können immer nur einen verhältnismäßig winzigen Teil der Wirklichkeit in den Griff bekommen.
Und was wir intellektuell in den Griff bekommen, ist ein sehr kleiner Teil der Wirklichkeit, aber die ganze Wirklichkeit spricht immer wieder zu uns und das können wir verstehen, wenn wir hinhorchen.
Ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen Verstehen und Begreifen ‒ es ist ein sehr wichtiger Unterschied ‒, ist für mich immer die Musik. Wir können die Musik nicht begreifen. Wer kann Musik begreifen, in den Griff bekommen, intellektuell und konzeptionell irgendwie darstellen, das Wesen der Musik?
Aber wenn wir hinhorchen auf die Musik und sie uns ergreift, dann können wir sie verstehen.
Wenn wir auf das Geheimnis, das hinter allem steht, hinhorchen, und uns davon ergreifen lassen, diese Ergriffenheit: darin liegt das Wesen des Verstehens.
Und das ist eine große Aufgabe im Leben, Ergriffenheit zu lernen, sich ergreifen zu lassen.
Dazu gehört natürlich wieder das Lebensvertrauen.
Es spielt eines ins andere. Es hängt alles mit einander zusammen.
Aber wie schön ist doch Ergriffenheit, wie freuen wir uns, wenn wir von etwas ergriffen sind: von der Schönheit, von der Güte eines Menschen, vor der Wahrheit einer Einsicht. Das sind große Geschenke des Lebens.
Also lernen, sich ergreifen zu lassen. Ergriffenheit lernen, das ist auch eine große Aufgabe.»
(18:43) Isha Johanna Schury: «Sehr berührend deine Worte, ich habe mir jetzt gedacht, Bruder David, es sind ja so oft so viele Stimmen in mir. Es spielt eine gewisse Musik in mir. Da gibt es Stimmen, die wollen etwas und die brauchen etwas. Und dann gibt es Stimmen, die fühlen etwas. Und du sagst ja, dass es entscheidend ist, in sich hineinzuhören, was das Leben jetzt von mir will.
Aber das, was du jetzt zum Schluss gesagt hast: Sich ergreifen lassen. Es ist letztendlich auch das, was ich mir schenken lassen darf und muss, um die ruhige Stimme des Lebens auch erkennen zu können.
Denn woher weiß ich, welche Stimme gerade auf mich einspricht? Ich will sie unterscheiden, dass ich auch wirklich höre: Welche Stimme ist jetzt das wirkliche Leben und welche Stimme ist vielleicht mein Ego oder mein Brauchen, mein Wollen, meine Angst?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht meine Güte und mein Mitleid. Wer heute nicht mit tiefem Mitleid und Schmerz auf die Welt schaut, dem fehlt etwas.
Wenn man wirklich wach ist, musss man heute schon an der Welt leiden, leider.
Aber im gegebenen Augenblick ein gutes Glas Wasser zu haben, was Millionen Menschen fehlt, und einfach jetzt dieses Glas Wasser mit Freude und Genuss zu trinken …
Alle diese Ängste und Schmerzen für die Welt sind im Augenblick nicht wichtig für dich. Was für dich dir das Leben jetzt schenkt, ist dieses Glas Wasser und an dem darfst du dich vollkommen freuen und es genießen.
Darum ist dieses Eine jetzt wichtig und das Andere ist natürlich im großen Bild viel wichtiger, aber für dich jetzt ist etwas wichtig, was dir jetzt das Leben sagt.
Wenn du dich übst darin, darauf zu antworten, dann wirst du auch die richtige Antwort geben, wenn die Gelegenheit kommt, etwas gegen den Hunger in der Welt zu tun oder etwas gegen den Krieg zu tun. Wir alle können kleine Dinge tun, wir sehen vielleicht die Zusammenhänge gar nicht. Aber wo immer wir zum Beispiel gegen Aggression in uns selbst und in unserer Umwelt einen kleinen Schritt zur Versöhnung tun, haben wir gegen den Krieg und gegen das Unrecht in oder Welt beigetragen. Wir haben einen Beitrag geleistet. Aber das können wir nur tun, wenn wir wirklich aufmerksam sind und bewusst tun, was in diesem Augenblick das Leben von uns verlangt.»
Isha Johanna Schury: «Wie du gerade gesagt hast, haben wir gegen Ungerechtigkeit und gegen das Schlechte was Gutes und gleichzeitig für die Liebe und für das Geschenk der Göttlichkeit in unserem Leben. Denn letztendlich wohnt ja das Glück eh in allem. Es ist an uns, es erkennen zu können, so wie du es jetzt auch so wunderschön beschreibst.
Mir kommt jetzt natürlich der Begriff Achtsamkeit, den wir so jetzt noch nicht erwähnt haben. Ich glaube zwar, dass du die ganze Zeit auch schon von Achtsamkeit sprichst in dem, was du sagst, aber wollen wir auch die Achtsamkeit nochmals so ein bisschen betonen: Wie wichtig es ist, dass wir mit allem so gut es uns geht auch achtsam umgehen: mit uns selbst ‒ mit unserem Sein ‒ und gleichzeitig mit jedem und allem, was uns begegnet: Tiere und Pflanzen.»
David Steindl-Rast: «Da hast du vollkommen recht. Alles, wovon wir bis jetzt gesprochen haben, hat mit Achtsamkeit zu tun. Also nicht durchs Leben so schlafwandelnd zu gehen, sondern eben aufzuwachen:
Das Stop ‒Look ‒ Go ist auch ein Aufwachen, ist ein Prozess des Aufwachens und des wachen Tuns. Und du hast auch völlig recht, dass das alles mit Liebe zu tun hat. Nur verwende ich das Wort Liebe sehr vorsichtig, weil es so viele Missverständnisse darüber gibt.
Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.
Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒ die Liebe ist das Entscheidende.
Ein großer Denker ‒ Otto Mauer, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:
‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.
Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.
Alle Beziehungen, Zugehörigkeit, ausreifen zu lassen.»
Isha Johanna Schury: «Br. David, wenn du sagst, die Liebe ist das Ja zur Zugehörigkeit, existiert Liebe dann ausschließlich im Wir ‒ wohnt Liebe in der Gemeinsamkeit … oder kann ich sie trennen? Wahrscheinlich nicht.»
David Steindl-Rast: «Zur Liebe gehören mindestens zwei, aber wenn es wirklich Liebe ist, dann ist es niemals begrenzt. Oder es grenzt nicht aus. Die Form und auch die Intensität des Gefühls usw., das ist natürlich ganz verschieden, ob ich jetzt meinen Hund liebe, oder meine Braut oder mein Vaterland. Das sind schon recht verschiedene Formen der Liebe. Aber in allen Teilen ‒ und das ließe sich auf jede Form anwenden ‒, geht es darum, ein gelebtes Ja zu sagen, es nicht mit dem Mund zu sagen, sondern mit dem Leben zu sagen, ein Ja: Wir gehören zusammen und wir sind letztlich eins.
Also, jede Liebe zielt letztlich auf die größte Gemeinschaft und das ist nicht einmal nur die menschliche Familie, die Menschheit, sondern die Tiere gehören dazu, die Pflanzen gehören dazu, es ist eine kosmische Gemeinschaft.
Die ist, wo immer wir Liebe wirklich üben ‒ ich wollte sagen: fühlen, aber fühlen ist viel zu wenig ‒, es ist ein Üben, ein Tun, das Leben, das Ja sagt zur Zugehörigkeit.
Wenn wir Liebe leben, dann sind wir immer auch durch die kleine Pforte, auf die sich unsere gerade bezieht, sind wir durch diese kleine Pforte auf das ganze Universum bezogen und auf das große Geheimnis, das hinter allem steht oder in allem zum Ausdruck kommt.»
Isha Johanna Schury: «Warum haben wir immer so das Gefühl, etwas zu versäumen, Bruder David?
Die Menschen haben immer das Gefühl, sie versäumen etwas und landen nie in ihrem Jetzt, sind immer entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und wenn doch Liebe im Leben nur im Jetzt stattfindet, warum versäumen wir dann so gern oder so oft unser Leben?»
David Steindl-Rast: «Die Frage geht über das Thema Liebe eigentlich hinaus. Es ist wieder die Frage: Können wir im Jetzt wirklich leben, können wir uns Üben, im Jetzt zu leben?
Und wenn wir dankbar leben, wenn wir im Augenblick ‒ in jedem Augenblick idealerweise ‒ hinhorchen, ganz da sind, für das, was das Leben uns zuspricht in diesem Augenblick und es dann versuchen zu tun, der Aufgabe gerecht zu werden: Wenn wir das tun, dann leben wir im Augenblick.
Und im Augenblick hat dieses Gefühl, etwas zu versäumen überhaupt keinen Platz, wird sind ja so beschäftigt mit dem, was wir jetzt tun, dass uns das gar nicht in den Sinn kommt.
Ich verstehe schon, was du damit meinst: immer das Gefühl haben, ich versäume etwas, aber das kommt nur davon, dass wir eben nicht wirklich im Jetzt leben.
Die Übung der Dankbarkeit ‒ Dankbarkeit als ein spiritueller Weg, das ist er ja ‒, auf diesem Weg zu gehen, ist eigentlich ein sehr sicheres Mittel, nicht in diese Angst zu verfallen, etwas zu versäumen.»
Isha Johanna Schury: «Jetzt hast du ja bestimmt auch viel mit Sterbenden schon in deinem Leben zu tun gehabt, mit Menschen, die am Ende ihres Lebensweges sind. Ich könnte mir vorstellen oder vielleicht kannst du uns sagen, was ist es denn, was diese Menschen am Ende unzufrieden macht, warum sie dann am Ende vielleicht doch irgendetwas bereuen. Was äußern sie, was sagen sie, was benennen sie?»
David Steindl-Rast: «Also ich muss zugeben, ich habe nicht sehr viel Erfahrung mit Sterbenden, Sterbehilfe oder so, das habe ich nicht gemacht. Ich war am Tod von Menschen dabei, aber alte Menschen, die sich irgendwie vor dem Tod fürchten, denen bin ich natürlich begegnet und dieses Gefühl, dass man etwas versäumt hat oder dass man etwas schlecht gemacht hat oder so, das ist schon oft ein Problem. Wie soll man damit umgehen?
Ich kann es mir nur so vorstellen, wie man mit Schuldgefühlen überhaupt im Laufe des Lebens umgehen kann, ganz gleich, wie nahe man dem Tod ist.
Und mein Rat ist immer, einerseits die Schuld anzuerkennen: Da war ich mir nicht selber treu, da war ich einem Andern nicht treu, da hab ich etwas versäumt, was ich tun hätte können, und es zunächst einmal eingestehen, dann mit festem Entschluss gleich aus diesem Gefühl, es ist ja ein ungutes Gefühl, eine Energie, diese Energie gleich verwenden, um zu sagen, nächstes Mal mache ich es besser, und von dem Augenblick an keinerlei Energie mehr in dieses Erlebnis einfließen zu lassen, denn das ist alles verschwendete Energie, über meine Fehler nachzudenken, sondern von da an nur vorwärts und alle Energie ‒ : Jetzt besser machen.
Das ist das Entscheidende. Und ganz gleich, wie nahe man dem letzten Augenblick steht, ich kenne keine andere Methode, damit umzugehen.
Wenn dann jemand sagen wird, ja, die Ärzte sagen mir, ich habe nur noch ein paar Tage oder ein paar Stunden zu leben, dann würde ich sagen, in den paar Stunden alles, Menschen und Tiere und Pflanzen dir vorzustellen und Ja zu sagen und dankbar zu sein dafür und das Leben zu rühmen und zu preisen und nicht auf meine kleinen Fehler überhaupt einzugehen.
Das Leben ist viel großzügiger als wir es sind.
Sogar in der christlichen Bibel, im Neuen Testament, das ja sonst sehr verrufen ist, diese Schuldgefühle immer wieder aufzubringen und den Menschen aufzuladen, sogar dort steht ganz ausdrücklich:
‹Wenn dein Herz dich anklagt, Gott ist größer als dein Herz.›
Die Vergebung Gottes ist immer größer. Darauf kann man sich sogar als Christ verlassen.»
Isha Johanna Schury: «Das heißt, die Begrenzungen, die sind immer eh nur von uns selbst gemacht, weil das Leben eigentlich nicht begrenzt ist und Gott nicht begrenzt ist.»
David Steindl-Rast: «Da hast du vollkommen recht. Begrenzungen sind von uns gemacht und beginnen damit, dass wir unser Interesse und unser ganzes Denken auf unser kleines Selbst beschränken und alles Übrige ausblenden. Je mehr wir unser Ich-Bewusstsein auf ein Wir-Bewusstsein ausweiten, um so glücklicher werden wir im Leben.
Und wir müssen lernen, und das ist die große Aufgabe denke ich unserer Zeit. Wir leben in einer Zeitenwende und die größte Aufgabe scheint mir, vom Ich-Denken zum Wir-Denken überzugehen. Das verlangt das Leben jetzt glaube ich von uns allen.»
Isha Johanna Schury: «Wenn ich das Kongressbeispiel nehme, wo es auch so darum geht: den Lebenssinn finden, sein Potenzial entfalten, dann bekomme ich mehr und mehr das Gefühl, dass es darum wahrscheinlich nicht geht. Es geht wahrscheinlich nicht darum, meinen Lebenssinn in der Form ‒ egoistisch geprägt ‒ zu entdecken oder zu entfalten oder das Potential in mir zu suchen, wahrscheinlich würde die Antwort des Lebens eh kommen, wenn ich Ja zu allem um mich herum sagen würde. Oder dann würde das Leben darauf antworten mit dem, was ich ja eh in mir trage ins Leben.»
David Steindl-Rast: «Und wir erleben immer wieder, dass das Leben es besser meint und besser weiß als wir. Das Leben ist weiser als unser kleiner Verstand.»
Isha Johanna Schury: «Ja! Das heißt, wir könnten uns dieses ganze Tamtam schenken mit ‹Finde deinen Lebenssinn, finde dies, finde jenes›: Macht das Sinn? Wahrscheinlich nicht so viel, oder?»
David Steindl-Rast: «Es ist schon eine sehr gute Frage: ‹Wie kann ich meinen Lebenssinn finden›? Und die Antwort ist: ‹Nicht dadurch, dass ich in mir grüble und mir selber Pläne mache ‒ das ist ja ein winziger Teil des ganzen Lebens ‒, sondern ich kann den Sinn meines Lebens dadurch finden, dass ich auf das Leben selber, wie es mir gerade jetzt in diesem Augenblick begegnet, hinhorche und antworte.»
Isha Johanna Schury: «Ja.»
David Steindl-Rast: «Und das ist, wie du sagst, ohne viel Tamtam.»
Isha Johanna Schury: «Ja, vielleicht nehmen wir Vieles in unserem Kopf, was da so unterwegs ist, zu wichtig und sollten die Wichtigkeit da rausnehmen, sondern das einfache Ja ‒ ein Ja ist ja etwas ganz Einfaches: Wir machen ja das Ja und das Nein, das besetzen wir selbst immer mit so etwas Großem, aber wahrscheinlich wohnt die Einfachheit da drin und die müssen wir vielleicht wieder finden.»
David Steindl-Rast: «Das ist schon auch etwas, was man im Alter lernt: vereinfachen.
Man kann nicht früh genug anfangen, das Leben zu vereinfachen. Es ist schwierig genug.
Aber einfach eine große Vereinfachung ist, dass man die ganze Last von seinen eigenen Schultern abnimmt und einfach Augenblick für Augenblick das tut, was das Leben und die Umstände des Lebens uns nahelegen.
Also eine andere Form das zu sagen: aufs Leben hinzuhorchen. Und das heißt dann auch, auf alle anderen Menschen sehr gut hinzuhorchen, auf ihre Nöte, auf ihre Bedürfnisse, auf ihre Begabungen. Von jedem Menschen kann man so viel lernen, und nicht nur von den Menschen, sondern auch von den Tieren.
Ich glaube, wenn wir von unseren Hunden und Katzen ein bisschen lernen würden, dann wäre die menschliche Gesellschaft auch schon besser dran.»
Isha Johanna Schury: «Vor allem die Genügsamkeit, die lerne ich von meiner Katze. Die will ein bisschen fressen, ein bisschen schnurren, ein bisschen streicheln, ein bisschen spielen und alles ist gut.»
David Steindl-Rast: «Richtig. Und die Gelassenheit der Katzen. Ich glaube, es könnte Ernst Jünger gewesen sein, der gesagt hat: ‹Die Faulheit ist eine paradiesische Tugend, die die Katzen aus dem Paradies mitgebracht haben und die wir von ihnen lernen können›. Die Faulheit der Katzen: ich würde es nicht Faulheit nennen, das hat eine negative Belastung, sondern die Gelassenheit der Katzen.»
Isha Johanna Schury: «Ja, diese Energie des Lernen Wollens, das ist auch ein Geschenk, ich trage das ganz stark. Deswegen hatte ich auch den Impuls für diesen ÄLTESTENRAT-Kongress, weil ich es wunderschön finde, von dieser Weisheit und von dieser Erfahrung lernen zu dürfen. Da wohnt so viel ‒ großes Geschenk für mich drin. Viele von uns haben so das Gefühl, sie müssen nichts mehr lernen, sie wissen schon alles, aber lernen ist doch eine große Freude und trägt mich schon ein ganzes Stück weiter.»
David Steindl-Rast: «Ich war noch ein recht junger Mann, als ich eines Abends in New York City in einen kleinen Zoo hineingewandert bin ‒ damals hat es den Zoo noch gegeben, den gibt es heute nicht mehr, das muss eine Art Kinderzoo gewesen sein im Central Park. Da war kein Mensch drinnen, es war eben Abend, kurz vor dem Absperren ‒ stell ich mir vor. Da ist auf dem Dach seiner Hütte ein Orang-Utan gesessen. Der ist nur so dort gesessen und ich bin lange Zeit vor dem gestanden. Der hat mir eine Weisheit übermittelt, die mir für das ganze Leben wichtig war. Ich kann es natürlich nicht in Worte fassen, aber das war ein weises altes Lebewesen. Dafür bin ich immer noch dankbar. Das ist mindestens schon 60 oder 65 Jahre her.»
Isha Johanna Schury: «Wunderschön, wunderschön. Diese Weisheit strahlt einfach, die so ein älteres, gelebtes, erfahrenes Wesen in sich trägt. Und so Vieles kann man nicht mit Worten ausdrücken, was einfach die Worte übersteigt.»
David Steindl-Rast: «Wäre das ein guter Augenblick, unser Gespräch zu beenden, und hast du sonst noch wichtige Fragen?»
Isha Johanna Schury: «Nein, ich hätte dich jetzt gefragt, ob sich aus dir noch etwas mitteilen möchte, abschließend für unser Gespräch, wo du das Gefühl hast, das möchte noch hinaus?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht den Gedanken, den Tod allzeit vor Augen zu haben.
Das ist ein Satz aus der Regel des hl. Benedikt, der mich schon bevor ich Benediktiner geworden bin, sehr berührt hat, und ich habe erkannt ‒ damals war ich so ungefähr 19 oder 20 Jahre, höchstens ‒, dann habe ich erkannt, dass unser ganzes Leben bis dahin dadurch geprägt war, dass wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Das war ja mitten im Krieg und unsere Freunde sind immer wieder gefallen an der Front, die Bomben sind gefallen links und rechts, also, wir hatten den Tod allezeit vor Augen.
Und rückblickend, damals habe ich gesehen: ‹Ah, darum waren wir so glücklich!
Darum waren wir so freudig! Weil wir ‒ damals hätte ich das nie so ausdrücken können ‒, weil wir im Jetzt leben mussten.
Wenn man den Tod vor Augen hat, muss man im Jetzt leben.
Warum ich dann Mönch geworden bin und Benediktiner, hat viel damit zu tun, dass ich wirklich den Tod täglich vor Augen halten wollte. Und ich muss sagen, wenn ich auch sonst Vieles besser machen hätte können. Aber das ist mir jedenfalls gelungen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es keinen Tag in meinem Leben gegeben hat, an dem ich nicht viele Male den Tod vor Augen hatte.
Und darum muss ich sagen, ich hatte wirklich ein sehr freudiges Leben. Dafür bin ich auch sehr dankbar.»
Isha Johanna Schury: «Und ich bin auch sehr dankbar, dass du heute diese Weisheit und diese Fülle an Lebendigkeit und alles, was du transportiert hast, hier mit uns geteilt hast, das ist wirklich ein großes, großes Geschenk und ich wünsche mir, dass viele Zuschauer davon profitieren werden und Dankbarkeit in uns allen wohnen darf, dass wir das auch hinaustragen können und endlich wieder Ja ‒ wie war dein Satz? ‒ Ja zur Zugehörigkeit, dass wir alle da wieder rein finden. Dann machen wir es uns alle sehr viel leichter und einfacher und wir wieder bei dem Wort einfach wären.»
David Steindl-Rast: «Das wünsche ich dir und das wünsche ich allen Zuhörern ganz von Herzen, allen»
Isha Johanna Schury: «Danke schön, danke lieber Bruder David, danke. Eine gute Zeit und viel Gesundheit »
David Steindl-Rast: «Ja, danke!»
Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität (2021)
Transkription des Filminterviews von Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses VOM ICH ZUM WIR mit David Steindl-Rast
bearbeitet von Hans Businger
Egbert Amann-Ölz: «Du bist bekannt als ein großer Brückenbauer. Und zwar ein Brückenbauer nicht nur von der Katholischen Kirche jetzt zum Zen-Buddhismus beispielsweise – oder in den letzten Jahren hast du dich auch mit dem Islam beschäftigt –, sondern vor allem auch ein Brückenbauer zu den sogenannten nichtreligiösen Menschen, also, die sich nicht als religiös bezeichnen würden. Du sprichst mit einer Sprache alle an und ich würde dich im Interview gern auf zwei Punkte näherhin ansprechen.
Das eine ist eben: Wie machst du das, diesen Brückenbau? Wie gelingt dir das so gut? Also das ist eine Qualität, die wir dringend brauchen in unserer Welt, wo es darum geht, wirklich globale Krisen zu bewältigen.
Und das Zweite – und mit dem würde ich aber gern beginnen – ist so diese Spannung zwischen Ich und Wir. Für einen Außenstehenden bist du ein Modell dieses Ich und Wir, denn als Mönch stellt man sich einen Einsiedler vor – üblicherweise –, oder jemanden, der sich zumindest öfters alleine zum Gebet zurückzieht und dann gleichzeitig auch in einer Gemeinschaft lebt.
Also diese zwei Sichtweisen oder Themen werden ganz spannend für das Interview.»
David Steindl-Rast: «Gerne, gerne, es interessieren mich beide: Zu dem Ersten muss ich sagen, dass man zunächst einmal die Vorstellung von einem Einsiedler korrigieren muss: Ich hab das große Glück gehabt, viel Zeit in meinem Leben in Einsiedeleien verbringen zu dürfen und ich kann aus Erfahrung sprechen:
Der Einsiedler schneidet sich nicht von der Welt ab, im Gegenteil! Das ist sehr schön ausgedrückt in einer kleinen Geschichte, die ein Einsiedler geschrieben hat, und zwar ist es eine erfundene Geschichte: Wenn man Einsiedler ist, wollen ja die Leute einen immer sehen, und dieser Einsiedler war auch bedrängt von vielen Besuchern und musste sich immer tiefer und immer tiefer in die Höhle hinein zurückziehen. Und da haben ihn dann die Besucher gefragt: ‚Was findest du eigentlich, wenn du ganz tief in die Höhle hineinkommst‘? Und die Antwort war: ‚Alle Tränen der Welt‘.
Alle Tränen der Welt: Also, wenn man sich zurückzieht, so vereinigt man sich mehr mit dem Wir als auf irgendeine andere Weise. Man hat mehr Zeit und Bewusstsein dafür. Das ist einmal die Korrektur von dem Einsiedler.
Und dann würde ich zu diesem Thema Wir und Ich sagen, dass ich so dankbar bin, dass du das angeschnitten hast, denn das ist meiner Meinung nach im Augenblick fast das wichtigste Thema in unserer Gesellschaft:
Wir haben uns eine Eigenständigkeit und eine Selbständigkeit und ein Ich-Bewusstsein erworben, und wir müssen unsern Vorfahren da sehr dankbar sein, dass sie das erreicht haben: Das war eine ungeheuer schwierige Aufgabe, zu der heutigen Unabhängigkeit sich durchzuringen aus einem völligen Verstrickt-sein im Wir – nicht nur Verstrickt-sein, sondern keine persönliche Identität! Also wir müssen den Vorkämpfern da sehr dankbar sein, dass sie uns soweit geführt haben.
Aber jetzt haben wir diese Unabhängigkeit zu so einem hohen Maß erreicht und übertrieben schon, dass wir nicht nur selbständig, sondern vereinsamt sind – vereinsamt und abgeschnitten von allen andern: Vereinzelung. Und unsere große Aufgabe wäre es nun, alles das Positive beizubehalten, was uns da geschenkt wurde, was die Menschheit sich errungen hat an Unabhängigkeit des Einzelnen, aber das zu verbinden mit einer Vernetzung, mit einem Bewusstsein der Gemeinschaft, mit einem wieder Eintreten in die Verbundenheit mit allen andern – und damit meine ich nicht nur alle andern Menschen, sondern alle Tiere, alle Lebewesen und das ganze Universum. Wir müssen uns wieder eingebettet wissen und danach handeln.»
Egbert Amann-Ölz: «Dein Freund Beto hat mich vom Ort, wo du seit 16 Monaten jetzt untergekommen bist, in der Pandemie nicht wegkonntest, aber die Zeit nutz’t, um deine Bücher weiter zu schreiben, ein bisschen eingeführt in so Konzepte von Ich und Wir und auch er hat mir unter Anderem gesagt: ‚Das Ich erfüllt sich, findet Erfüllung im Wir, wenn es seine Einzigartigkeit in diesem Wir findet‘.»
David Steindl-Rast: «… Nicht nur seine Einzigartigkeit, sondern zugleich seine Verbundenheit. Diese beiden Bewusstseinsinhalte sind ungeheuer wichtig. Und mein Freund Beto, von dem du eben gesprochen hast, hat ja hier ein ganz groß aufgezogenes Schulreformprojekt, von dem tausende Kinder berührt werden hier in Argentinien, und das Leitmotiv ist Menschenwürde, den Kindern ein Bewusstsein von der Menschenwürde zurück zu geben. Das größte Problem hier und in vielen andern ähnlichen Staaten ist die Korruption. Und das beste, fast einzige Mittel gegen Korruption von innen her ist, die Menschenwürde wieder den Menschen bewusst zu machen. Wenn jemand sich seiner Menschenwürde bewusst ist, wird er nicht mit den Wölfen heulen und wird nicht sagen: ‚Das machen ja alle‘, sondern er wird machen, was ihm recht oder was ihr recht erscheint. Und das ist ein wichtiger Gesichtspunkt.
Nun ist da natürlich die Frage: Wie kann man überhaupt Kindern ihre eigene Menschenwürde lehren, so dass sie dann auch die Menschenwürde aller Andern ehren können und wollen?
Und da haben wir eben gefunden im Vorfeld dieses Schulprojektes, dass zwei Dinge notwendig sind beim Aufwachsen eines Kindes:
Das Erste ist: Es muss unbedingte, bedingungslose Liebe erfahren. Das heißt: Ich gehöre dazu! – zu dieser kleinen Familie oder was immer es ist, aber ein unbedingtes Zugehörigkeitsgefühl muss das Kind erleben.
Und das Zweite ist: Es muss in seiner Eigenartigkeit anerkannt werden, also nicht: Du gehörst dazu, wenn du dich anpasst. Und leider ist natürlich das ja ein Grundprinzip der Schule, die wir aus dem 19. Jh. ererbt haben in der ganzen Welt heute noch – eben leider mit wenigen Ausnahmen, wir kennen die guten Ausnahmen …, aber im Allgemeinen ist immer noch das Prinzip: Hier wirst du angenommen und belohnt, wenn du dich anpasst: das ist die Bedingung. Und je mehr du dich anpasst, umso besser für dich!
Und was das Kind aber braucht, ist ein unbedingtes Zugehörigkeitsgefühl, bedingungsloses Zugehörigkeitsgefühl und das geht eben zusammen mit der Anerkennung der Einzigartigkeit.
Und zu der Einzigartigkeit gehören nicht nur also die Talente und die Begabungen usw., sondern auch die Schwierigkeiten: Auch wenn du einen Fehler hast, mit dem du immer wieder versuchen musst, mit dem umzugehen, gibt dir das ja eine Kraft, die andere nicht haben, die diesen Fehler nicht haben; oder, wenn du eine Körperbehinderung hast: Wir wissen zum Beispiel von Helen Keller, die eine ganz große Erzieherin für tausende und zehntausende von Menschen geworden ist, und das nie geworden wäre, wenn sie nicht so außergewöhnlich schwer köperbehindert wäre: Auch die Behinderungen und sogar die Mängel gehören zu unserer Einzigartigkeit – und der Schatten – und müssen anerkannt und geehrt werden.
Und wenn das uns gegeben ist, also diese beiden Bestandteile: Bedingungslose Zugehörigkeit und Anerkennung deiner Einzigartigkeit, dann wächst in uns das Bewusstsein unserer Menschenwürde und dann werden wir die auch in andern Menschen anerkennen.
Und die Schwierigkeit ist jetzt noch, dass natürlich es unzählige Erwachsene gibt, denen das dann als Kinder nie geschenkt wurde: Und wie kann man sich das als Erwachsene noch aneignen, ein Bewusstsein der Würde? Es gibt so viele Menschen, denen das völlig fehlt. Wie kann man es als Erwachsener?
Du hast keine Gemeinschaft mehr, die dich so liebt und annimmt und anerkennt: Da kenne ich nur e i n e Möglichkeit und das ist: Auf das Leben zu achten. Das Leben sagt uns in jedem Augenblick, mit jedem Atemzug: Du gehörst dazu:
Wir atmen alle die gleiche Luft, wir gehören zusammen, wir sind untrennbar, und so etwas wie die Pandemie jetzt zeigt uns das auch etwas klarer wieder, wie sehr wir alle zusammengehören. Aber auch, wenn alles gut geht, zeigt das Leben uns, wenn wir nur drauf achten, jeden Augenblick, dass wir dazugehören.
Und das Leben zeigt uns auch, dass es uns anerkennt. Das Leben stellt keinerlei Bedingungen – keinerlei Bedingungen: Du atmest, du lebst, du wachst am Morgen wieder auf, nicht unter der Bedingung, dass du dich angepasst hast, sondern das Leben anerkennt dich wie du bist.
So sind also die beiden wichtigsten notwendigen Gegebenheiten da, für jeden Menschen da, auch wenn ihm das als Kind versagt war, sein Selbstbewusstsein wieder zu finden, seine menschliche Würde wieder zu finden.»
Egbert Amann-Ölz: «Du hast das wirklich wunderschön zum Ausdruck gebracht – bei mir laufen im Hintergrund immer diese beiden Pole Ich und Wir: Ich für diese Menschenwürde und das Wir für diese Verbundenheit und wie das zusammenspielt: ja unglaublich schön, wie du das erklärst.
Als Kongressbild habe ich von diesem Buch[i] diese zerbrochene Schale genommen – ich habe auch die Buchautorin gestern interviewt: Eben diese Zerbrechlichkeit, die Scherben, diese Einzigartigkeit kommt in dieser Schale so schön zum Ausdruck, aber auch dieses Wir, weil da zum Schluss ein Ganzes ist, das zusammengehört.»
David Steindl-Rast: «Das Wir kommt schön zum Ausdruck und auch das gebrochene Selbst, das in seiner Gebrochenheit anerkannt wird und dem sogar die Gebrochenheit eine höhere Würde gibt, denn: Die gebrochenen Teeschalen sind ja besonders …»
Egbert Amann-Ölz: «Genau! Bruder David, darf ich jetzt zum zweiten Thema überleiten, zu diesen Brücken – ja? Ich habe schon gesagt, dass du sehr anerkannt bist als dieser Brückenbauer, und mich würde einfach ganz groß interessieren – das Thema Spiritualität ist nach meiner Wahrnehmung, so wie du’s lebst ein großer Kitt oder Brückenverbinder oder so –: Wie hast du es in deinem Leben geschafft, einfach diese Brücken zum Zen-Buddhismus zuerst und dann zum Islam usw. und zu Menschen nichtreligiöser Auffassungen zu bauen? Was ist dein Geheimnis?»
David Steindl-Rast: «Na, es ist kein Geheimnis, es hängt mit der Weltanschauung zusammen, mit dem Weltbild zusammen.
Bleiben wir zunächst einmal beim Religiösen: Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind: Ich beginne mit der Einsicht –
und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen
auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind. Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens. Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.
Und wenn ich sage: das große Geheimnis, so meine ich nicht irgendetwas Vages, sondern etwas, was jeder Mensch kennt und mit dem jeder Mensch täglich umgeht, und es kann fast definiert werden auf diese Weise – natürlich keine echte Definition, sondern eine Beschreibung: Wir müssen uns täglich mit etwas auseinandersetzen, was man nicht begreifen kann, was man aber verstehen kann, wenn es einen ergreift.
Also da muss man zunächst auch die wichtige Unterscheidung zwischen Verstehen und Begreifen machen: Begreifen heißt in den Griff bekommen. Durch Begriffe machen wir uns die Welt untertan: Wir wollen begreifen. Wir können aber – so groß auch unsere Hände sind – immer nur einen begrenzten Teil der Wirklichkeit in den Griff bekommen. Die ganze Wirklichkeit, das Ganze, können wir aber verstehen, wenn es uns ergreift.
Und das Beispiel, das vielen Menschen leicht zugänglich ist, ist das Beispiel von Musik: Niemand kann begrifflich das Wesen von Musik analysieren. Wir können vieles über Musik sagen, aber was Musik wirklich ist, geht weit über alles hinaus, was man begrifflich erfassen kann. Aber jeder von uns – oder gottseidank die meisten von uns – können Musik verstehen und sagen ganz ehrlich: Das verstehe ich – und sogleich: Das ergreift mich.
Wenn die Musik mich nicht ergreift, verstehe ich sie auch nicht. Also, was mich ergreift, verstehe ich, und Musik ist ein gutes Beispiel unserer Begegnung mit diesem großen Geheimnis. Es ist nur ein Teil, ist nur ein Beispiel, aber das ereignet sich in unzähligen Varianten jeden Tag und das lebenslang, dass wir immer wieder auf etwas stoßen, besonders natürlich in der Begegnung mit andern Menschen, was wir unter keinen Umständen begreifen, aber zutiefst verstehen können, wenn wir uns davon ergreifen lassen.
Und diese Auseinandersetzung mit dem Geheimnis also ist, was ich Religiosität nenne. Und die drückt sich jetzt in Religionen aus. Und zwar kommen im Lauf der Geschichte tiefreligiöse Menschen immer wieder, die ihre – unsere – Begegnung mit dem großen Geheimnis durch Worte, durch eine Lehre, durch Moral – eine Ethik – und durch Rituale ihren Zeitgenossen zugänglich machen. Und eine Religion ist die kulturelle Zugänglichmachung unserer allgemeinmenschlichen Religiosität durch eine Religion eben.
Und die Religionen sind zu verschiedenen Zeiten und in ganz verschiedenen kulturellen Umfeldern entstanden und dadurch unterscheiden sie sich. Sie unterscheiden sich auch noch – ja, ja – durch alle die Eigenheiten, die da eben damit gegeben sind. Außerdem durchlaufen sie … die großen Religionen haben schon eine lange Geschichte durchlaufen und die Geschichte hat sie auch geformt und leider auch verformt in mancher Hinsicht, und zwar neigen diese drei Aspekte jeder Religion, von denen ich gesprochen hab: Die Lehre, die Moral und das Ritual neigen dazu sich zu verhärten.
Und das Bild, das ich gerne gebrauche, ist lebendiges Wasser, das da zuerst aussprüht: Aus einem Brunnen, den dieser Religionsstifter oder Religionsstifterin gebaut hat, kommt dieses lebendige Wasser hervor, aber die Atmosphäre unserer Welt ist sehr kalt und es gefriert.
Und so gefriert die Lehre und sie wird dogmatistisch: Ich hab nichts gegen Dogmen, wenn man sie richtig versteht, aber sie werden meistens missverstanden: dogmatistisch: Wir wissen, was wir damit meinen.
Die Moral wird moralistisch und versteift sich, ist eingefroren, kann sich nicht mehr mit ethischen Problemen auseinandersetzen, die erst jetzt überhaupt zustande gekommen sind, die zu der Zeit dieser Religionsstifter überhaupt nicht da waren – eine ganz andere Situation: Also muss sich auch die Moral anpassen aus der Kraft der inneren Ethik heraus.
Der Dalai Lama hat ja ein Buch geschrieben: ‚Ethik ist wichtiger als Religion‘, so heißt das Buch. Das ist seine Botschaft, aber damit meint er mit Ethik, was ich Religiosität nenne. Ich kann das völlig anerkennen, aber ich übersetze es und sage: Religiosität ist wichtiger als Religion. Das heißt: Lebendige Religiosität ist wichtiger als religiöse Formen. Das steht dahinter.
Das gilt eben auch für die Moral und es gilt für die Rituale: Die Rituale können auch einfrieren und niemandem mehr etwas bedeuten und müssen wieder aufgetaut werden.
Nun ist aber die große Frage: Wie kann man überhaupt eine eingefrorene Religion wieder auftauen? Und meine Antwort ist: Mit unserer eigenen Herzenswärme. Das ist das Einzige: Mit unserer eigenen Herzenswärme.»
Egbert Amann-Ölz: «Bei dir hat man es auf jeden Fall gespürt: Du bist im Herzen der Katholischen Kirche verankert und hast aber die Fühler ganz weit ausgestreckt. Ja, du hast eine Verbindung zu allen Menschen, unabhängig von der Religion, aber auf dieser Basis der Religiosität, hab ich den Eindruck.»
David Steindl-Rast: «Das ist eben die Basis: Die glühende Religiosität, die leider in den meisten Menschen nicht zu glühen ist, aber ein kleiner Funke wenigstens ist, den man wieder zur Flamme entfachen kann: Die sind i n uns – unser größtes Interesse! – wenn es nur möglich gemacht wird, uns wirklich damit auseinanderzusetzen.
Und da kommt wieder etwas ganz Großes, ein ganz großes Hindernis ins Blickfeld und das ist das Elend! Das Elend der Welt macht es Menschen nicht mehr möglich, die Zeit und die innere Offenheit zu haben. Es gibt Menschen, die so verelendet sind, dass sie nur … was wir heute noch überhaupt trinken können, was wir heute überhaupt noch an Trinkwasser finden können? Und dieses … lässt dann keinen Platz mehr für höhere Ambitionen. Und darum ist das ein ganz großes, viel größeres Verbrechen noch als wir uns bewusst sind, dass das Elend in der Welt so überhandnimmt.
Die Armut, also die äußerste Armut könnte nach dem Bericht von verlässlichen Wissenschaftlern und Fachleuten, die sich damit auseinandergesetzt haben, könnte ohne weiteres in kurzer Zeit abgeschafft werden. Es müsste nicht mehr hungrige Menschen in der Welt geben. Aber da kommen wir wieder vom Ich zum Wir: Die ganze Menschheit müsste zusammenarbeiten. Es gibt Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können, als Weltgemeinschaft. Und das Elend ist ein solches Problem. Aber es ist lösbar.»
Egbert Amann-Ölz: «Beto hat mir einen Satz von dir mitgegeben, der mich sehr berührt hat. Er hat gesagt: Menschen sind wichtiger als Ideen. Vielleicht kannst du da noch ein bisschen etwas dazu sagen, weil: das ist glaub ich auch das, was die Menschen an dir so schätzen, dass es eben kein Dogmatismus oder Ideologie ist, sondern dass es um den Menschen geht.»
David Steindl-Rast: «Also für mich war das eine große Einsicht, gegen die ich mich eigentlich lange Zeit gesträubt habe. Das ist nicht so mir angeboren. Ich bin sehr ideologisch eingestellt, von Natur aus. Also ich musste mich da und ich muss mich immer wieder bemühen, mir das ins Bewusstsein zu rufen»
Egbert Amann-Ölz: «Aber wie hast du das gemacht? Wie hast du diese Ideologien in dir selbst aufgebrochen?»
David Steindl-Rast: «Ich habe es gelesen – ich kann mich noch genau erinnern – in einem Geschichtsbuch stand einfach so dieser Satz – ich glaube über jemanden ist berichtet worden –, dass er Menschen – oder sie – Menschen wichtiger genommen hat wie Ideen.
Und in dem Augenblick, wie wenn ein Licht aufleuchtet: Das stimmt! nur: Es passt mir nicht!
Es stimmt und es passt mir nicht, und dann musste ich mich darauf einstimmen. Und das ist eine lange schwierige Aufgabe. Aber ich bin natürlich völlig davon überzeugt und ich glaube, dass wir uns alle darauf einstimmen müssen, denn wie gesagt, es gibt mehr und mehr Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können.
Und den Brennpunkt auf das Problem zu legen, ist schon ein großer Schritt: Nicht auf Ideen über das Problem, sondern da sind jetzt zwei oder drei Menschen, die verschiedene Ideen über dieses Problem haben. Jetzt sagen wir zueinander: Schauen wir mal auf das Problem selbst, versuchen wir einmal unsere Ideen einzuklammern und schauen wir gemeinsam auf dieses Problem: Wie können w i r gemeinsam es lösen?
Und dann sind plötzlich drei Menschen da, die das lösen können, drei Lösungsmöglichkeiten, aber es geht jetzt um die Auseinandersetzung mit dem Problem, nicht vorgefasste Meinungen. Und das ist eben das, wo man beginnen muss: bei sich selbst. Die vorgefassten Meinungen – ich würde nicht sagen: abzubauen, das ist fast hoffnungslos – hintanzustellen und immer wieder auf das Problem zu schauen und den Andern einladen: Schau doch auf das Problem … vergessen wir mal, wer wir sind. Schauen wir mal auf das Problem: Können wir es nicht gemeinsam lösen? Und ich bin überzeugt, wir können es lösen – jedes Problem.»
Egbert Amann-Ölz: «Darf ich dich doch noch … eine Frage über vorgefasste Meinungen: Der Islam kommt im Moment in der westlichen Welt sehr schlecht weg, weil er so verbunden wird mit diesem gewaltsamen Dschihad, dieser unseligen Verknüpfung von Religion und Macht und Gewalt»
David Steindl-Rast: «Was hinter deiner Frage steht, ist die Schwierigkeit, dass Ideologie, wenn sie mit Religion noch dazu verbunden ist, wenn sozusagen das große Geheimnis Sanktion hergeben muss für diese Ideologie, wir in einer ganz, ganz schwierigen Situation sind, ganz, ganz schwierig. Und ich weiß eigentlich selber keine Lösung dafür.
Die schlimmsten Folgen eindämmen – das ist einmal etwas – soweit wie möglich eindämmen, nicht provozieren: Wir haben’s hier mit einem – ich spreche mal nicht von großen Gruppen, sondern von einer Person: Wir haben es mit einem geistesgestörten Menschen zu tun im vollen mitfühlenden Ausdruck: geistesgestört.
Geistesgestörte: Wie gehen wir mit ihnen um? Die Folgen, die daraus erwachsen können, einmal eindämmen, dass er keinen Schaden anrichten kann, und ihm Liebe erweisen: Wir gehören zusammen, wir gehören immer noch zusammen. Und nicht provozieren. Also ich kenne keine Lösung, das ist eines dieser Probleme, wo die ganze Welt zusammenarbeiten muss.»
Egbert Amann-Ölz: «Im Wesentlichen lauft‘s – glaub ich schon – auf gewaltfreie Kommunikation, gewaltfreien Widerstand hinaus.»
David Steindl-Rast: «Absolut! Gewalt erzeugt mehr Gewalt … Da brauchen wir nicht mehr darüber reden, das haben wir schon genug erlebt und wissen, dass mit Gewalt nichts erreicht wird. Aber wie wir mit der Gewalttätigkeit Anderer umgehen, das ist die große Schwierigkeit. Und da weiß ich nur: Die Folgen einmal eindämmen, soweit wie möglich, nicht provozieren und die Gemeinsamkeiten immer wieder betonen. Und hinhorchen natürlich: Das gehört zu den Gemeinsamkeiten. Hinter allem, auch der verrücktesten Idee, steht irgendein wesentliches Anliegen, es ist auch mir wesentlich, weil es dem Andern wesentlich ist.
Ich danke dir für deinen Einsatz für ein wirklich wichtiges Anliegen in der Welt heute. Ich hätte dieses Interview nicht gegeben, wenn nicht dieses ganz wichtige Thema dahinter stünde.»
Egbert Amann-Ölz: «Ich danke dir, Bruder David, und eine gute Heimreise, wenn ich so sagen darf. Ich hab gehört, du kommst jetzt wieder, wenn’s möglich wird, Ende Mai nach Europa zurück.»
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[i] Andrea Löhndorf: Kintsugi: Die Kunst schwierige Zeiten in Gold zu verwandeln, München: Scorpio Verlag, 2020
Bruder David Steindl-Rast im Filminterview (2017)
mit Ramon Pachernegg
Transkription© von Hans Businger (2022)
(00:00) «Einerseits ist es ein Fortschritt ‒ ein positiver Fortschritt ‒, dass wir eigenständig geworden sind. Das hat ja lange gedauert und war ein schwieriger Prozess. Früher waren die Menschen völlig in Familie und Sippe und Gesellschaft eingeschlossen, dass sie gar nicht selbständig denken oder handeln konnten.
Und das war ein schwieriger und langwieriger Prozess, dass wir unsere Eigenständigkeit gefunden haben.
Es gibt heute noch Gesellschaften ‒ und ich habe die selber kennengelernt ‒, wo die Menschen nicht eigentlich individuell sind, sondern sie können zum Beispiel dir etwas versprechen oder einen Termin ausmachen, und sie halten es nicht ein oder sie kommen nicht, weil die Familie sich anders entschieden hat. Und da braucht man sich gar nicht zu entschuldigen, das ist selbstverständlich.
Also für uns ist diese Eigenständigkeit in unserer Gesellschaft zunächst einmal als Wert anzusehen.
Allerdings sind wir viel zu weit gegangen und sind nicht nur eigenständig, sondern sind vereinzelt worden und darunter leiden die Menschen heute sehr viel. Die Anonymität des Stadtlebens: Menschen sind völlig anonym, völlig vereinzelt, haben keine Einbindung an Irgendjemanden. Wenn ihnen etwas fehlt, gibt es Menschen, die keinen Menschen haben, an den sie sich wenden können. Das ist wieder in anderen Gesellschaften ganz anders.
Es geht also nicht um unsere Eigenständigkeit: die ist etwas Positives, aber um unsere Vereinzelung. Und unter der leiden Menschen sehr heute. Sie fühlen sich vereinsamt.»
(02:12) «Wenn man von der Selbstfindung spricht, denken leider sehr viele Menschen nicht an wirkliche Selbst-findung, sondern an noch größere Vereinzelung dadurch, dass man sein Ego, sein kleines Ich in Zeit und Raum beweihraucht oder genau definiert oder was immer.
Wirkliche Selbst-findung heißt ja, das in uns selbst finden, was uns mit allen andern verbindet:
Das Selbst ist, was uns mit allen andern verbindet.
Letztlich gibt es nur ein Selbst.
Und dieses eine Selbst drückt sich in vielen Ich aus.
Und wenn dieses Ich dann das Selbst vergisst, wird es vereinsamt und vereinzelt und wird zum Ego.
Das Ego ist ja nicht etwas Zusätzliches, sondern ist einfach das Ich ‒ ursprünglich sehr positiv ‒, diese einmalige, ganz einmalige Ausdrucksform des Selbst, ist nie wiederholt, ein großer Reichtum ‒ sehr positiv.
Aber wenn dieses Ich dann vergisst, dass es letztlich nur eine Ausdrucksform des Selbst ist, dann schrumpft es zusammen zum kleinen Ego.
Und das erste, was sich ereignet, ist, dass es Angst hat, weil auf einmal so viel andere da sind, und ich bin so ein kleines Ich unter Millionen und Milliarden von andern.
Aus der Angst wird dann Furcht: es fürchtet sich, und aus dieser Furcht wird alles, was auf unserer Welt schief geht:
Zunächst einmal Aggression, weil Furcht aggressiv macht, dann Konkurrenzkampf, weil die vielen Andern: da muss ich mich verteidigen oder muss ich mich stark machen gegen die Andern, und dann Habsucht, weil: da ist vielleicht nicht genug da für alle, da muss ich so viel wie möglich an mich reißen.
Und alle diese Aspekte: Aggression, Competition und Geiz und Neid, Habsucht: das entspringt alles dem kleinen Ego. Das charakterisiert dieses kleine Ego.
Und dieses kleine Ego hat ja auch die Welt gebaut, in der wir leben. Die Gesellschaft, die wir kennen, ist eine Ego-Gesellschaft. Und darum auch ist jedes einzelne Ego sehr vereinsamt, fühlt sich allein, fühlt sich einsam, abgeschnitten von allen Andern. Das Heilmittel dagegen ist, nicht alles das Positive, das wir durch unsere Eigenständigkeit errungen haben, aufzugeben, sondern zusätzlich uns bewusst zu werden:
Letztlich ist das nur eine Rolle, die ich spiele, und eine Rolle, die mein Selbst spielt, und dieses Selbst ist eines für uns alle.
(06:07) Dieses Selbst können wir ja auch leicht entdecken durch ein kleines Gedankenexperiment.
Wir können uns beobachten: Ich kann mich jetzt hier beobachten, wie ich hier sitze und spreche, und ich kann immer weiter zurückgehen. Wir verstehen diese Metapher ‹zurückgehen›, ‹in uns gehen›, ‹zurücktreten›, uns beobachten, bis wir den Punkt erreichen, wo ich der Beobachter bin, den niemand mehr beobachten kann ‒ das lässt sich leicht nachvollziehen.
Und dieser Beobachter ist das Selbst.
Dieser Beobachter ist einer für uns alle, denn er ist nicht mehr in Raum und Zeit. Er kann Raum und Zeit beobachten.
Er ist außerhalb von Raum und Zeit ‒ im Jetzt. Im Jetzt sind wir im Selbst.
Und weil wir nicht mehr in Raum und Zeit sind:
Dieses Selbst lässt sich ja nicht teilen. ‒
Um etwas teilen zu können, muss es in Raum und Zeit sein.
Es lässt sich nicht teilen, also können wir irgendwie uns der Wirklichkeit annähern, dass Ihr Selbst, mein Selbst, das Selbst jedes Menschen ein und dasselbe Selbst ist.
Und dieses Selbst ist so unerschöpflich, dass es sich immer wieder ausdrücken will und immer wieder ausdrückt in unzähligen Ich.
Jedes Ich ist ganz einzigartig.
Wenn wir Ich sagen, sagen wir etwas, was in dieser Art noch nie ein anderer Mensch gesagt hat und nie wieder sagen wird. Niemand hat genau die gleichen Eltern, ist zur gleichen Zeit, ist in die gleiche Kultur hineingeboren.
Unser Ich ist viel einzigartiger als wir das gewöhnlich annehmen. Und unser Selbst ist viel gemeinsamer, als wir das gewöhnlich denken.
(08:35) Denn, nachdem das Selbst, wie gesagt, Raum und Zeit nicht angehört ‒ mein Ich gehört Raum und Zeit an, aber nicht mein Selbst ‒, so finde ich mein Selbst immer, wenn ich über die Zeit hinausgehe. Und das ist das Jetzt.
Das Jetzt ist nicht ein kleiner Teil der Zeit, sondern richtig verstanden ist das Jetzt die Ewigkeit, also Nicht-Zeit ‒ das Gegenteil von Zeit, denn es geht über die Zeit hinaus.
Es ist falsch zu sagen, das Jetzt ist in der Zeit. Es ist richtiger zu sagen, die Zeit ist im Jetzt.
Denn wenn wir an die Vergangenheit denken, ist das jetzt ‒ wir können schon wissen: das war ‒, aber erinnern können wir uns nur immer als Jetzt. Und die Zukunft, wenn sie kommt, ist immer jetzt. Alles ist immer jetzt.
T. S. Eliot, der große amerikanisch-englische Dichter sagt: ‹All is always now› ‒ ‹Alles ist immer jetzt.›[1]
Wenn es Ist, ist es jetzt. Wenn es war, ist es nicht: es war. Wenn es sein wird, ist es nicht: es wird sein. Aber das Ist, ist Jetzt.
Und dieses Jetzt ist nicht ein kleiner Abschnitt in der Zeit.
Denn wenn’s ein kleiner Abschnitt in der Zeit wäre, könnte man es immer wieder unterteilen, und die Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist. Und solange es ein kleiner Abschnitt ist, kann man es immer teilen.
Also das Jetzt ist nicht in der Zeit.
Und wenn wir wirklich im Jetzt sind ‒ und das kann man üben ‒, wenn wir im Jetzt bleiben und sind, dann sind wir auch im Selbst.
Natürlich sind wir Ich. Wir sind eben −
T. S. Eliot nennt das Jetzt: ‹the moment in and out of time›, ‹der Augenblick, der innerhalb und außerhalb der Zeit ist› ‒ beides.[2]
Und wir leben in diesem Doppelbereich.[3]
Das ist sehr wichtig: Rilke hat sehr viel mit diesem Gedanken des Doppelbereichs gearbeitet, ist immer wieder auf den Doppelbereich zurückgekommen als Dichter.
Dieser Doppelbereich ist, dass wir einerseits in Raum und Zeit leben: einen gewissen Anfang haben, ein gewisses Ende unseres Lebens, überschaubar, und anderseits im Jetzt:
Einerseits das Ich ‒ in Zeit und Raum ‒, anderseits das Selbst: im Jetzt ‒ über Raum und Zeit erhaben.
Und diese beiden zusammenzuhalten ‒ es ist weder gemischt noch getrennt:
Es ist eben dieser sonderbare Doppelbereich; und in dem leben zu lernen, das ist in vielen spirituellen Traditionen eigentlich das Ziel.
Das ist Achtsamkeit: Achtsamkeit heißt, im Jetzt leben.»
(12:09) «Also ich habe wenigstens viel Zeit gehabt, ein langes Leben, um es zu üben. Und es hat sich aber ganz organisch entwickelt. Ich kann auf keinen Punkt hinweisen, der so der große Durchbruch oder die große Erleuchtung war. Ich bin, vor mehr als 60 Jahren jetzt schon, Benediktinermönch geworden, und unser benediktinisches Leben ist ein Leben der Achtsamkeit und der Dankbarkeit.
Und wenn wir dankbar sind ‒ richtig verstanden: es heißt ja nicht Danke, Danke sagen ‒, sondern Dankbarkeit kommt zustande, wenn einem etwas sehr Wertvolles frei geschenkt wird. Beides muss zusammenkommen:
Es muss für mich wertvoll sein ‒ braucht nicht viel Geld wert sein, aber es muss mir wertvoll sein ‒, und es muss mir wirklich frei geschenkt sein: nicht verkauft oder eingetauscht, oder später noch muss ich dafür arbeiten: es wird mir frei geschenkt.
Und wenn diese beiden Dinge zusammenkommen, dann steigt in uns diese Freude auf und diese Freude ist schon die Dankbarkeit, und die kann man dann ausdrücken, indem man Danke sagt oder singt oder sonst irgendwie ausdrückt.
Aber die eigentliche Dankbarkeit ist die Freude, die aufsteigt, wenn uns etwas für uns Wertvolles ganz frei geschenkt wird.
Und der nächste Schritt, den wir dann in unserer mönchischen Erziehung im Benediktinerorden machen, ist, dass wir erkennen, dass jeder Augenblick das größte Geschenk ist, das wertvollste Geschenk, das man sich nur vorstellen kann.
Alles Andere hängt davon ab, dass dieser Augenblick mir noch geschenkt wird. Und zugleich wirklich frei geschenkt ‒ total frei ‒, weil ich mir ja auf keine Weise noch den nächsten Augenblick erwerben kann oder verdienen kann ‒ ein Geschenk.
Und wenn diese beiden Dinge zusammenkommen, wenn dieses Bewusstsein ‒:
Das größte Geschenk wird mir jetzt ganz frei geschenkt ‒ jetzt, jetzt, jetzt ‒, dann lernt man dankbar zu leben oder im Jetzt zu leben ‒, das kann man so oder so ausdrücken.
Und im mönchischen Leben habe ich das eben immer wieder erlebt, das halt dann durchdacht und überlegt und analysiert, und bin zu den Einsichten gekommen, die ich da jetzt ausgesprochen habe.»
(15:21) «Es ist sehr naheliegend, dann zu sagen: ‹Ja, ja, für Mönche ist es leichter, aber für uns im normalen Alltag: Wie macht man das?›
Da muss man zunächst sagen: ‹Vollkommen richtig, darum wird man ja Mönch, weil man den leichtesten Weg sucht.›
Unser Abt hat uns immer als junge Mönche gesagt: ‹Bildet euch nicht ein, dass ihr besser seid wie die Andern. Ihr braucht diesen Rahmen, um das zu machen, was die Andern unter sehr schwierigen Umständen machen müssen.›
Aber letztlich ist es doch die Aufgabe jedes Menschen, dankbar zu leben.
Das heißt, im Jetzt zu leben, und das heißt, sein Selbst zu finden.
Das große Argument vieler Menschen ist: ‹Wir haben keine Zeit! Ihr habt als Mönche alle Zeit, die ihr braucht, aber wir als Mütter, die für die Kinder sorgen müssen und Väter, die in die Arbeit gehen oder Mütter, die noch dazu in die Arbeit gehen müssen. Wir haben keine Zeit.›
Und das muss man mit viel Mitgefühl anschauen. Da ist schon sehr viel dran. Aber in dieser schwierigen Situation ‒ gerade in dieser schwierigen Situation ‒ ist dankbar leben eine enorme Hilfe, weil man dadurch über diesen Zeitdruck hinauskommt.
Und zwar dankbar leben heißt ja, diesen Augenblick ‒ der ist mir jetzt geschenkt: Was ist mir jetzt geschenkt?
Was schenkt mir das Leben für Gelegenheit in diesem Augenblick?
Gelegenheit, mich zu freuen ‒ meistens ‒, Gelegenheit, etwas zu lernen: das kann sehr schwierig sein, Gelegenheit zu wachsen: das kann auch schwierig sein, Gelegenheit zu protestieren gegen etwas, was nicht so sein soll.
Das sind alles schwierige Situationen, aber das Leben schenkt mir jetzt, in diesem Augenblick, diese Gelegenheit, und ich habe nicht genug Energie, um sie auf etwas Anderes zu verschwenden. Ich muss sie auf diesen Augenblick einstellen. Das gilt für jeden Menschen in jeder Situation.
Und wenn ich jetzt aber zu sehr an die Vergangenheit denke, besessen bin davon, wieviel schöner die Vergangenheit war, oder mich als Opfer der Vergangenheit fühle und das immer wieder hereinbringe, oder: Wenn ich mir schon voraus bin und gar nicht warten kann auf die Zukunft, oder ständig befürchte: Was kommt da jetzt auf mich zu in der Zukunft?
Das sind alles Formen des in der Zeit Steckenbleibens, in der Vergangenheit, in der Zukunft Steckenbleiben, und daraus entspringt das: Keine Zeit haben. Weil noch etwas auf mich wartet:
Im Augenblick wartet nichts.
Nur die Gegenwart wartet mir entgegen, sonst wartet nichts auf mich.
Und sich darauf einzustellen, darauf einzulassen, das ist auch Menschen unter großem Zeitdruck ‒ was wir Zeitdruck nennen ‒ möglich, und nicht nur möglich, es ist die einzige Lösung für großen Zeitdruck.
Und Menschen, die Stellungen ausfüllen müssen, Rollen spielen müssen, in denen sie ständig unter dem sogenannten Zeitdruck stehen und die das wirklich gut machen, denen sieht man es ja an, wie sie’s machen: Sie nehmen eins nach dem andern.
Was jetzt, im Augenblick die Gelegenheit ist, die von mir eine Antwort verlangt, dem wird geantwortet. Alles Übrige muss warten und wird im nächsten Augenblick …, wenn seine Zeit kommt.
Das sind große Vorbilder, solche Menschen, und das sind gewöhnlich sehr beschäftigte und sehr kreative Menschen.
Aber die Andern, die unter diesem Zeitdruck zusammenbrechen, denen fehlt eben genau das: im Augenblick sein.»
(20:10) «Wie schaut die Welt des Selbst aus? ‒ Genau das Gegenteil:
Die Welt des Selbst ist zunächst furchtlos.
Also man kann das von jeder Perspektive, die wir schon angesprochen haben, ansehen: Wenn wir im Jetzt leben, wenn wir dankbar leben, das heißt, die Gelegenheit dieses Augenblickes wahrnehmen und darauf antworten, dann sind wir über die Zeit erhaben, dann sind wir im Jetzt.
Und wenn wir also in diesem Jetzt sind, dann haben wir keine Furcht. Das ist das Entscheidende.
Furcht ist ein sehr wichtiges Stichwort in dem Zusammenhang: Das Ego fürchtet sich ständig. Und das ist etwas anderes wie Angst.
Angst ist unvermeidlich im Leben. Jeder Mensch hat immer wieder Angst.
Das heißt: Angst hängt zusammen mit dem Wort Enge:
Wir kommen immer wieder in die Enge, wir kommen sogar schon in die Welt durch die Enge des Geburtskanals ‒ das ist unsere Urangst ‒, aber wir kommen furchtlos, denn wir haben den Instinkt, uns aufs Leben zu verlassen und durchzugehen. So kommen wir ins Leben.
Und immer wieder, wenn wir in die Enge kommen und furchtlos durch diese Angst durchgehen ‒ ‹ja, ich habe Angst, aber ich fürchte mich nicht› ‒, dann kommt eine neue Geburt.
Was heißt: ‹Ich fürchte mich?› Es heißt: ‹Ich sträube mich.›
Das ist das Gegenteil von Mut.
Mut hat auch Angst. Wenn man keine Angst hat, kann man auch keinen Mut zeigen. Das hängt damit zusammen. Nur, der wirklich Angst hat, kann sich trotzdem mutig erweisen.
Aber mutig erweisen wir uns, indem wir uns nicht gegen das sträuben, was uns Angst macht, sondern es aushalten ‒ durchgehen ‒, mit dem Leben durchgehen.
Und wenn wir das tun, dann ergibt sich aus dieser Furchtlosigkeit genau das Gegenteil, was sich aus der Furcht des Ego ergibt, nämlich zunächst Gewaltfreiheit ‒ Gewalt entspringt der Furcht ‒, kein Konkurrenzkampf, sondern eher Zusammenarbeit: nicht Rivalität, sondern Zusammenarbeit, und keine Habgier, sondern Teilen.
Also Gewaltfreiheit, Zusammenarbeit und Teilen.
Das ist, was die Welt des Selbst charakterisiert. Und das ist, was wir uns ersehnen. Das ist etwas ganz anderes.
(23:29) Wir leben in einer Gesellschaft, die eben durch das Ego geprägt ist, und die daher eine Art Pyramide ist. Der Stärkste ‒ zugleich auch wahrscheinlich der, der am meisten Furcht hat, das macht ihn so aggressiv ‒, ich sage ihn, das ist eine sehr männliche Haltung, aber es kann auch Frauen passieren:
Wer am meisten Angst hat, der kommt am höchsten hinauf, weil er die Andern am stärksten tritt. Und da baut sich diese Pyramide auf und jeder ‒ auf jeder Schicht ‒, buckelt nach oben und tritt nach unten, wie ein Radfahrer.
So baut sich diese Machtpyramide auf.
Das Gegenteil ist eine Welt, nicht der Pyramide, sondern der Vernetzung.
Eine Vernetzung, etwas Horizontales, eine vernetzte Gemeinschaft: Idealerweise kennt jeder jeden, das muss ein kleines Netz sein. Und eine Welt, die ein Netzwerk aus kleinen Netzwerken ist, das ist auch das Ideal, dem wir nachstreben dürfen für die Zukunft.
Die Machtpyramide ist ja in unserer Zeit ‒ und das charakterisiert unsere Zeit ‒ im Zusammenbrechen.
Besonders die, die an der Spitze stehen, sagen: ‹So kann’s nicht weitergehen.›
Wir haben einen Endpunkt erreicht.
Ob das jetzt in der Wirtschaft ist oder in der Politik: Auf vielen Gebieten, wo diese Machtpyramide so betont wird: sie bricht vor unsern Augen zusammen.
Und Raimundo Panikkar, ein ganz großer Denker des 20. Jahrhunderts, hat gesagt:
‹Wir sollen die Zukunft nicht in einem neuen Turm von Babel suchen, wieder so einen Turm bauen und bis zum Himmel kommen, sondern in wohlausgetretenen Pfaden von Haus zu Haus.›
Das ist die Zukunft, das ersehnen wir uns: ‹wohlausgetretene Pfade von Haus zu Haus.›
Und das ist die Welt des Selbst, wo wir alle zusammengehören, obwohl wir ‒ und gerade darum ‒ unsere individuelle Selbständigkeit und Einzigartigkeit betonen dürfen und können. Und auch geschätzt werden von den Andern, was wir für Begabungen haben:
Diese gegenseitige Wertschätzung, die gehört auch dazu ‒ für das Ich −, weil wir eben alle zusammen sind, und weil wir letztlich halt doch nur das eine Selbst sind, das so viele verschiedenen Rollen spielt.
Und da schaut man sich dann den Andern an: ‹Ich spiele auch nur eine Rolle, der Andere spielt auch seine Rolle.›
Wir müssen nun versuchen, unsere Rollen so gut wie möglich zu spielen.»
(26:47) «An dem Beispiel der Flüchtlinge und der Flüchtlingskrise, in der wir leben, zeigt sich eigentlich recht schön, wie das im Praktischen ausschaut:
Aus der Furcht ‒ Furcht vor den Andern: Fremdenfurcht und Furcht, wir können es nicht bewältigen ‒ das ist ja auch eine Furcht ‒, sträubt man sich.
Die Angst ‒ ‹Wie sollen wir mit so vielen auskommen, wie können wir das lösen?› ‒ diese Angst ist ganz verständlich, die sollten wir auch anerkennen.
Und zu behaupten: ‹Ich habe keine Angst›: Das ist auch nur eine Form, sich gegen die Angst zu sträuben, das ist auch Furcht.
Aber zuzugeben: ‹Ja, das ist wirklich beängstigend›, und dann zu sagen:
‹Aber das Leben hat uns in diese Situation gebracht, das Leben wird uns auch schöpferische Wege zeigen, mit dieser Situation umzugehen›:
Das ist schon der Ansatzpunkt, das ist schon ein ganz anderer Ansatzpunkt, der Kreativität erlaubt.
Es heißt noch nicht: ‹Ich weiß schon, was man da machen muss ‒, ich habe schon alles ausgedacht› ‒
‹Keine Ahnung, ich habe sogar Angst, dass mir gar nichts einfallen wird. Aber ich vertraue, ich sträube mich nicht. Diese Situation ist gegeben. Ich baue keine Zäune, das ist das Sträuben. Ich setze mich damit auseinander und gemeinsam werden wir irgendeine Lösung finden.›
Man braucht noch nicht das Rezept zu haben, man muss nur die Haltung haben, aus der sich früher oder später die Lösung entwickelt.
Vielleicht ganz ohne Rezept sich einfach entwickelt, weil man gewisse Grundsätze, zum Beispiel Ehrfurcht vor dem Andern: Das ist ja nicht nur Nummer 50364 von den Flüchtlingen, das ist ein Mensch mit einem ganz eigenen Schicksal ‒, dem trete ich ehrfürchtig entgegen und versuche gemeinsam:
‹Was können wir da machen?›
Und wenn genügend Leute fragen: ‹Was können wir da machen?› ‒ das ist schon ein Weg auf eine Lösung hin, wenn genügend Leute fragen.
… Aber das Gegenteil ist, zu sagen: ‹Abschließen, Mauern, Zäune, niemanden mehr hereinlassen› …
Das ist ganz ein anderer Ansatz. Und dieser kreative Ansatz entspringt dem Bewusstsein:
Wir sind ein Selbst, das viele, viele verschiedene Rollen spielt, aber es ist das eine Selbst und es wird schon etwas herauskommen, wenn wir unsere Rolle gut spielen: Der Flüchtling spielt die Flüchtlingsrolle, der Helfer spielt die Helferrolle. Der Zuschauer spielt die Zuschauerrolle. Wir müssen unsere Rollen gut spielen.»
(30:10) «Dieses Stichwort Heimat für das Selbst, das ist schon ein sehr schönes Wort. Das gefällt mir sehr gut. Besonders, weil die Gedanken an das Selbst ja auch eine wichtige Rolle spielen, wenn das Ich, das eben in Raum und Zeit begrenzt ist, ans Ende kommt.
Also ich lebe in diesem Doppelbereich, aber ein Teil dieses Doppelbereichs kommt ans Ende und war vor gar nicht langer Zeit nicht und wird in gar nicht langer Zeit nicht mehr da sein.
Was also zu dem Doppelbereich gehört an meiner leiblichen Existenz und alles, was mit Raum und Zeit zusammenhängt, ist zeitlich begrenzt.
Und da ergreift uns dann auch wieder zugegebenermaßen die Angst: ‹Was ist dann? Ist dann alles aus?›
Das wäre vielleicht nicht einmal das Ärgste, aber meine Beziehungen, meine Lieben, die Menschen: ‹Bin ich von denen dann getrennt oder finde ich sie wieder?›
Da hilft dieser Gedankengang vom Selbst sehr, weil:
Alle die Menschen, die mir in meinem Leben lieb waren, sind Ausdruck dieses einen Selbst.
Das Selbst ‒ haben wir schon gesehen ‒, ist über Raum und Zeit erhaben.
Und wenn meine Zeit zu Ende ist, dann bleibt das Jetzt.
Das Jetzt ist nicht in der Zeit.
In diesem Jetzt ist das Selbst mit allen, in denen sich dieses Selbst ausgedrückt hat. Also wir sind verbunden.
Vorstellen können wir uns das nicht, weil unsere Vorstellung jetzt, in diesem Leben, von Raum und Zeit abhängt. Wir können nur in raumzeitlichen Begriffen und Bildern denken.
Wir können es uns nicht genau vorstellen, aber wir können uns schon vernünftigerweise daran heranarbeiten:
‹Ich lebe ja schon jetzt in diesem Doppelbereich auch zugleich in der Ewigkeit, in dem, was über die Zeit hinausgeht. Und wenn dann meine Zeit um ist, bleibt all das. Und jeder Augenblick nimmt an der Ewigkeit teil.›
Zum Beispiel in der christlichen Tradition spricht man von der Auferstehung des Fleisches oder der Auferstehung der Toten ‒ eigentlich Auferstehung des Fleisches ‒, das ist viel weiter gefasst, das heißt: das überzeitliche Leben von allem, was vergänglich ist.
Bergengruen, der Dichter, sagt ja: ‹Weil nichts vergänglicher ist als die Vergänglichkeit.›
Die Vergänglichkeit, also Zeit vergeht, aber in der Zeit, in unsern besten Augenblicken, in unsern innigsten Beziehungen haben wir etwas erlebt, was im Jetzt war, was über die Zeit hinausgeht.
Besonders in ganz großen Augenblicken unseres Lebens sind wir uns ja irgendwie bewusst: ‹Die Zeit steht still›, sagen wir oder so ‒ für Liebende steht die Zeit still ‒, das gehört zum Überzeitlichen:
‹Warum soll das verloren gehen, weil meine kleine Zeitspanne hier um ist?›
Das gehört zum großen Jetzt. Und ist unverlierbar. ‒
Das kann tröstlich sein.»
(34:44) «Mein innigster persönlicher Wunsch ist eigentlich, inmitten aller Angst die Furcht in mir selber zu überwinden und andern Menschen zu helfen, sich nicht zu fürchten.
Denn alles, was schief geht, entspringt dieser Furcht. Und wenn man zu Menschen freundlich ist – richtig freundlich sein –, dann nimmt man ihnen irgendwie die Furcht weg.
Die Angst kann man niemandem wegnehmen, nur die Furcht:
‹Sträube dich nicht!›
Und darum kommt es mir sehr viel drauf an, freundlich zu sein.
Ich hoffe immer, wenn ich in der Früh die Augen aufschlage, dass ich heute einmal Gelegenheit habe, wirklich jemandem was recht Liebes zu tun, was die freut.
Und wenn wir uns freuen, bricht dieser Sträube-Mechanismus irgendwie zusammen und dann fürchten wir uns nicht.
Das ist schon der wichtigste Satz:
‹Fürchte dich nicht!›
Und den möchte ich selber verwirklichen und Andern dazu helfen.»
________________
[1] «... wie eine chinesische Vase
Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist.
Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt,
Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein,
Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht,
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher
Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende.
Dass alles immer jetzt ist. ...»
«The stillness, as a Chinese jar still
Moves perpetually in its stillness.
Not the stillness of the violin, while the note lasts
Not that only, but the co-existence,
Or say that the end precedes the beginning,
And the end and the beginning were always there
Before the beginning and after the end.›
And all is always now.»
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «Burnt Norton», V, Quelle: FN 1) 113; 2-5) 115; 6) 115f.
[2] Kennen Sie
«… den Augenblick in und außer der Zeit,
Den Wachtraum, verloren im Sonnenstrahl,
Den ungesehenen Thymian, das Wetterleuchten im Winter,
Den Wasserfall oder Musik, die so innig gehört wird,
Dass du sie nicht mehr hörst, weil du selbst die Musik bist,
Solange sie forttönt.»
… the moment in and out of time
The distraction fit, lost in a shaft of sunlight
The wild thyme unseen or the winter lightning,
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but you are the music
While the music lasts.
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, Quelle: AH 1-2) 122; 3-5) 119
[3] Der Doppelbereich Tod ‒ Leben, Ich ‒ Selbst, Zeit ‒ Ewigkeit und Doppelbereich Ich-Selbst
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