Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017)
Mitschrift des Vortrages von Bruder David,
bearbeitet von Hans Businger
(00:50) «Nach so ergreifender Musik fühlt man fast, dass man sich entschuldigen muss, die Stille jetzt durch Worte zu unterbrechen. Aber vielleicht gelingt es uns stattdessen, die Stille, die aus der Musik kommt, zu Wort kommen zu lassen. Und das gelingt am ehesten durch Dichtung. Und darum bin ich auch eingeladen worden, ein paar Worte zu sagen zu den vier Zeilen, die im nächsten Stück aus einem Sonett von Rilke vertont werden. Die Zeilen lauten:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.›[1]
Ich glaube, das ist eine der schönsten Strophen, die ich in der deutschen Sprache überhaupt kenne, schon der Musik nach, und ich habe öfters vor einem Publikum, das nicht Deutsch versteht als Beispiel, wie schön die deutsche Sprache sein kann, gerade diese vier Zeilen zitiert. Das ist fast reine Musik. Und ich möchte jetzt diesen Beginn des Gedichtes weiter ausdeuten, wie Rilke das selber tut im Rest seines Sonettes. Und dann werde ich es am Ende noch einmal lesen.
Aber jetzt möchte ich ein paar Stichworte nennen zu dem, was wir jetzt gehört haben:
‹Sei allem Abschied voran›: Das Gedicht beginnt mit dem Abschied ‒ ‹sei dem Abschied voran› ‒, und die Strophe endet dann mit überstehen, denn diesen Abschied überstehen, heißt überhaupt überstehen.
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.›
Dieses Wort eben ist ein ganz wichtiges Wort in diesem Zusammenhang. Man könnte ja meinen, dass das ein Frühlingsgedicht sei, das damit beginnt, wie der Winter jetzt eben geht.
Nein, das ist ein ganz anderes eben, das ist eben ohne viel Aufhebens: der Winter macht keinen großartigen Abschied, er geht eben. Oder: So ist das Leben eben, wie in dem bekannten Gedicht von Goethe, das sich schon fast wie ein Volkslied anhört: ‹Sah ein Knab’ ein Röslein stehn›. Das wichtigste Wort in dem ganzen Gedicht ist:
‹Mußt’ es e b e n leiden.› ‒
‹Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.›
Das Wort eben klingt fast wie Leben ohne ‹L›, und das heißt soviel wie:
Das Leben eben nehmen, wie es kommt.
An diesem kleinen eben hängt sehr viel.
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter› ‒
das ist der Tod, der endlose Winter ‒,
‹dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.›
Das heißt, wir können nur leben und überstehen, wenn wir den Tod ins Leben hereinnehmen. Und wieder Goethe:
‹Und wenn du das nicht hast, dieses Stirb u n d Werde
Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.›[2]
Und das ist in dieser ersten Strophe schon ausgedrückt.
(06:16) Und jetzt das Gedicht im Zusammenhang mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike in den Sonetten an Orpheus:[3] Eurydike, die junge Frau des Orpheus wird von einer Schlange gebissen und muss in die Unterwelt hinab. Das ist die Geschichte, die hinter der folgenden halben Zeile steht:
‹Sei immer tot in Eurydike.›
Das richtet sich an jeden von uns: Wer und was ist deine Eurydike?
Wer ist der liebe Mensch, oder was war geliebt und ist jetzt schon in der Unterwelt?
Das gehört auch zu deinem Leben dazu:
Sei ‹tot in Eurydike› heißt nicht: Sei tot, sondern es heißt: Sei so lebendig, dass du sogar den Tod deiner Eurydike ‒ den Tod von all dessen, was dir gestorben ist ‒, in deine Lebendigkeit hineinnehmen kannst.
Denn gleich das nächste Wort ist:
‹… s i n g e n d e r steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.›
Was ist dieser ‹reine Bezug›, in den wir zurücksteigen?
Es ist die Offenheit fürs Leben.
Aus dem Tod, wenn wir den hineinnehmen können in unsere Lebendigkeit, sind wir im ‹reinen Bezug› zum Leben.
Und dieser reine Bezug zum Leben ist Hoffnung:
Hoffnung gehört zum Überleben dazu
Abschied nehmen gehört zum Überleben dazu.
Wir müssen lernen, Abschied zu nehmen.
Und wir müssen lernen:
Hoffnung:
Und Hoffnung ist ganz etwas anderes wie die Hoffnungen. Es ist wunderbar, wenn man viele Hoffnungen hat. Und wenn man ein Mensch der Hoffnung ist, hat man auch viele Hoffnungen. Aber die Hoffnung ist etwas ganz anderes.
Die Hoffnung ist Offenheit für Überraschung.
Das ist wahre Hoffnung. Die Hoffnungen, die wir haben, sind immer Dinge, die wir uns vorstellen können. Aber Überraschung ist das, was alles übertrifft. Hoffnung öffnet sich für das, was alles übertrifft.
Und das brauchen wir zum Überstehen: die Offenheit für das Leben.
(09:02) Und dann geht's nach ‹Sei immer tot in Eurydike ‒, singender steige …›:
‹Hier unter Schwindenden› ‒
die Lebendigen sind auch zugleich die Schwindenden.
‹Hier unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige› ‒
er nennt die Welt das Reich der Neige ‒
‹sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›
Das ist das zentrale Bild vom Überleben. So lebendig sein, dass wir selber zu einem singenden, klingenden, preisenden, rühmenden ‒ das ist alles drinnen ‒ Glas werden, das in diesem Klang schon zerschlug.
In jedem Augenblick heißt das: Abschied nehmen von dem, was vorher war, nicht dran hängen, nicht sich ans Bleibende versteifen ‒ loslassen ‒, und den Augenblick klingen lassen wie ein ‹Glas, das sich im Klang schon zerschlug›.
In den letzten sechs Zeilen führt Rilke das noch weiter aus, dieses Bild vom Glas, das sich im Klang schon zerschlug:
‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›
Zu dem klingenden Glas gehört die Einzigartigkeit: Jeder Augenblick ist einzigartig.
Und in einer seiner Elegien, die immer parallel stehen zu den Sonetten an Orpheus, drückt Rilke das so aus:
‹… E i n Mal
jedes, nur e i n Mal. E i n Mal und nichtmehr. Und wir auch
e i n Mal. Nie wieder. Aber dieses
e i n Mal gewesen zu sein, wenn auch nur e i n Mal:
i r d i s c h gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.›[4]
Und dann:
‹Zu dem g e b r a u c h t e n sowohl, wie zum dumpfen und stummen
V o r r a t der vollen Natur› ‒
das Gebrauchte: Vergangenheit, Kindheit ‒, ist alles, was wir zurücklassen müssen, und der große Vorrat der vollen Natur ist Überraschung, das Überraschende: alles, was auf uns zukommt ‒, die Zukunft:
‹Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›
Alles, was in Raum und Zeit ist, alles, was zum Tod gehört, ist in Raum und Zeit zählbar und messbar. Aber wir gehören zu dem Unermesslichen. Wir gehören einerseits zum Messbaren in Zeit und Raum, anderseits zum Unermesslichen.
Und auch darüber in den Elegien eine wunderschöne Strophe:[5]
‹Siehe ich lebe. Woraus?› ‒
Woraus lebe ich? Was ist das Material für mein Leben? ‒
‹Siehe ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger›:
Ich lebe aus der Kindheit, aus der Vergangenheit ‒ aus allem ‹Gebrauchten› ‒, und aus dem ‹Vorrat der vollen Natur›: der Zukunft:
‹… Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger ….. Unzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen.›
Ich werde das Gedicht im ganzen Zusammenhang lesen und wir denken daran, es geht darin um Abschied nehmen, Hoffnung, Überraschung und Überstehen.
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.
Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›
(15: 36) Und was hindert uns daran so zu überleben? So zu überstehen?
Was uns hindert ist Furcht. Furcht vor Wandel. Wir wollen, dass alles immer bleibt. Wir fürchten den Wandel. Und da sagt Rilke im Sonett, das gerade vorher kommt in der Sammlung:[6]
‹W o l l e die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!›
Wenn es still ist und wir uns ins Bleiben verschließen wollen ‒ nicht die Wandlung ‒, und wenn’s so still ist, ist das nur die Wandlung vor dem Sturm, nur die Stille vor dem Hammer, der schon ausholt. Denn nichts kann sich dem Bleiben verschließen: das Leben ändert sich ständig. Und das macht uns Angst.
(17:36) Und das ist das Entscheidende: Wenn wir uns fragen: Wie können wir überstehen, heißt das eigentlich: Wie können wir Angst überwinden?
Angst lässt sich nicht vermeiden. Sie lässt sich nur überwinden. Furcht ist nicht unvermeidlich. Wir müssen unterscheiden zwischen Angst und Furcht. Furcht lässt sich vermeiden. Angst lässt sich dadurch überwinden, dass wir die Furcht überwinden. Angst kommt von demselben Wort wie Enge ‒ ‹miser et angustiae› ‒, das sind die Ängste, die Bedrängnisse. Angst ist im Deutschen dasselbe Wort wie im Lateinischen ‹angustiae› ‒ ‹Enge›. Und durch diese Enge kommen wir schon in die Welt. Wir haben als Fötus ein paradiesisches Leben. Und dann kommen wir durch die Enge des Geburtskanals in diese Welt. Jeder von uns hat das durchgemacht.
Und dann im Lauf dieses Lebens kommen wir immer wieder in Engpässe, immer wieder in Bedrängnis von allen Seiten. Und während wir uns als Babys während der Geburt ganz instinktiv dem Leben und der Überraschung überlassen haben ‒ wir waren offen für Überraschung und sind so geboren worden ‒, müssen wir das jetzt willentlich tun: Wir tun’s nicht mehr instinktiv, sondern instinktiv sträuben wir uns eigentlich, wir lassen so Borsten heraus und bleiben stecken in dieser Enge.
Und das müssen wir lernen: uns dem Leben anvertrauen. Und so wie uns das Leben durch den Geburtskanal in die Welt gebracht hat, bringt es uns immer wieder durch jede Enge. Unser Freund Klaus Christa[7] hat schon am Vormittag darauf hingewiesen: Die Enge, auf die wir zurückschauen und durch die wir immer wieder in neue Geburt kommen. Immer wieder wird es offen, immer wieder wird es weiter.
Die größte Angst und Enge, die hinter jeder andern Angst steht, ist die Todesangst, denn wir haben keine Ahnung, was nachher kommt: das macht uns Angst.
Aber wenn wir uns nicht fürchten, dürfen wir vertrauen, dass wir durchgehen jedem Abschied voran in größeres Leben, in größere Fülle des Lebens, in eine neue Geburt, wie wir es uns gar nicht vorstellen können. Die Raupe kann sich ja auch nicht vorstellen, dass sie dann als Schmetterling herumfliegen wird. Wir können es uns nicht vorstellen ‒, wir sollen uns gar nicht bemühen, es uns vorzustellen.[8]
Aber wir dürfen darauf hoffen, dass, so wie wir durch jede Enge ‒ wenn wir uns nicht sträuben, nicht fürchten ‒, immer wieder in eine neue Geburt kommen, wir auch im letzten Abschied überstehen können.
Abschied lernen, gehört zum Überleben,
Mut und Bereitschaft zur Verwandlung.
Und ich hoffe, dass wir, wenn wir jetzt diese Musik anhören, die das so viel schöner und so viel ergreifender immer wieder sagt, als Worte es ausdrücken können, dass wir nicht nur das irgendwie nachempfinden können, sondern, dass wir uns entschließen können: ent-schließen, öffnen für das Leben.
Wenn ein Konzert noch so schön ist und am Ende nicht zum Entschluss führt, dann fehlt, wie das Rilke zusammenfasst:
‹Namenlos bin ich zu dir entschlossen› ‒ ‹Erde du liebe, ich will.›[9]
Das sollen wir sagen können:
Leben: ‹namenlos bin ich zu dir entschlossen›.
Und nichts kann unser Herz besser ent-schließen als Musik.
Und dafür sind wir heute ganz besonders dankbar.»
______________________
[1] Siehe den Text dieses Sonetts in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 140-148, 150f.
Die Beziehung von Bruder David zu Rilke und besonders zu ‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter/dir› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) ist einzigartig und spürbar in allen seinen Büchern und Vorträgen; siehe Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (40:06)
Abschied, der Klang des Lebens enthält wegweisende Passagen zu diesem Sonett aus dem Credo (2015) und aus dieser Mitschrift (siehe Anm. 3 und 6). In Ergänzend: 2.-4. sind weitere Vorträge zusammengestellt, in denen Bruder David dieses Sonett vorträgt und deutet.
[2] J. W. Goethe: ‹Selige Sehnsucht›; siehe auch Tod und Auferstehung: Haupttext und Anm. 5; Sterben: Anm. 1; Sinne und Kind werden: Haupttext und Anm. 10
[3] Im inhaltlich parallelen Vortrag ‹Der Weg zu Fülle und nichts›, dem Audio 2.1 in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991) ab (19:53), geht Bruder David näher auf den Mythos von Orpheus und Eurydike ein; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 52-56
[4] Rilke: Die neunte Elegie
[5] Letzte Strophe der neunten Duineser Elegie
[6] Bruder David trägt dieses Sonett vor im Vortrag So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)
In den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014 bildete dieses Sonett ‒ wie auch ‹Sei allem Abschied voran› (siehe Anm. 1) ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage; siehe Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 151-155
[7] Klaus Christa ist Bratschist und künstlerischer Leiter von ‹Musik in der Pforte›
[8] Im Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (44:44):
«Das Wichtigste scheint mir, im Augenblick zu leben, ganz gleich, wie alt man ist: Im Augenblick zu leben. Denn der letzte Augenblick wird auch ein Augenblick sein. Mir sind die Jenseitsvorstellungen nicht wichtig: Wir wissen es nicht.»
Johannes Kaup: «Du hast so schön geschrieben, dass du mit Eichendorff Skifahren gehen wirst?»
Bruder David: «Träumen darf man schon, solange man weiß: das stelle ich mir halt so vor, das wünsche ich mir halt so, dann ist das schon gerechtfertigt. Man mag sich ja nur hineindenken in eine Raupe, die einmal ein Schmetterling werden wird. Diese Raupe kann sich sehr schwer vorstellen, dass sie einmal herumfliegen wird, und ebenso wenig kann ich mir das Leben jenseits des Todes vorstellen. Das ist eine Zeitverschwendung. Es gibt soviel hier zu erleben: darauf sollte ich mich konzentrieren.»
[9] Rilke: Die neunte Elegie:
«Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? ‒ Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? ‒ Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag
Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen ‒, einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.»