AUDIO Vorträge

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Die Würde des Menschen (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,[1]
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (45:52-56:16),
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


«Und da kommen wir zu einer Definition von Würde, da könnte man sagen: Würde ist der unbedingte Wert jedes einzelnen Menschen als Repräsentant des großen Geheimnisses; so stellt sich das große Geheimnis dar.

Und was meine ich mit Geheimnis? Das ist gar kein so geheimnisvoller Begriff, das lässt sich ganz klar sagen: Unter Geheimnis verstehen wir eine Wirklichkeit, die wir nicht begrifflich erfassen können, wohl aber durch ihre Wirkkraft auf uns verstehen können. Das große Geheimnis können wir verstehen, wenn es  u n s  ergreift.[2]

Bernhard von Clairvaux sagt: ‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.›[3] Und wir wissen alle zum Beispiel, dass man Musik nicht analytisch begreifen kann, aber man kann sie verstehen, wenn sie einen ergreift. Und das ist ein Beispiel vom großen Geheimnis, das uns ergreift und unsere Beziehung zu diesem großen Geheimnis.

Und wir sind Repräsentanten dieses großen Geheimnisses, denn wir sind uns selber ja Geheimnis. Wir können uns selber nicht ausloten: du kannst dich verstehen, aber nicht begreifen. Also bist du dir selber Geheimnis und die ganze Umwelt und die ganze Mitwelt.

Und vor diesem großen Geheimnis des Lebens tragen wir Verantwortung. Das gehört unbedingt zur Würde dazu. Wir haben unbedingten Wert, weil wir Repräsentanten dieses großen Geheimnisses sind, und haben davor Verantwortung. Da kommen alle andern Menschen, alle andern Bereiche dazu; diese Verantwortung lässt sich nicht trennen von der Würde. Wer Würde hat, der hat Verantwortung, ist sich verantwortungsbewusst.

Verantwortung bedeutet, dass wir so leben, dass wir jeden Augenblick ‒ idealerweise ‒ den Anruf des Lebens hören. Denn das Leben gibt uns jeden Augenblick etwas Neues, das kann man als einen Anruf verstehen, weil es auch etwas von uns will. Meistens ist es sehr angenehm: es will nur, dass wir uns daran freuen ‒ meistens ‒, hie und da auch sehr schwierige Dinge, und wir müssen antworten. Und das ist Verantwortung im letzten Sinn.

Der große russische Philosoph Ende des 19. Jh., Wladimir Solowjow,[4] spricht von drei Haltungen, die uns wirklich zu Menschen machen, und das hat sehr mit der Würde zu tun.[5]

Das Erste ist: Die Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis. Wir erleben das meistens in unseren besten und lebendigsten Augenblicken, in unseren Gipfelerlebnissen, zugleich mit Furcht und Begeisterung. Wir sind zugleich angezogen und erschrocken in diesem Doppelereignis, wenn wir in einem großen Gewitter sind oder in den Bergen.[6] Diese Ehrfurcht ist nicht Furcht.[7]

Das Zweite, was uns zu Menschen macht ‒ gegenüber der Umwelt und Mitwelt ‒, ist Mitgefühl: ‹Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu›.[8]

Und das Dritte ‒ uns selbst gegenüber ‒, sagt Solowjow, ist Scham. Das ist ein erstaunliches Wort, das er hier verwendet: es schützt unsern Intimbereich. Es hat mit unserer Würde zu tun, indem ich mich schäme, mich unwürdig zu benehmen. Die Scham behütet meine Einzigartigkeit, während das Mitgefühl meine Zugehörigkeit betont. Und die Ehrfurcht ist die Grundlage für Mitgefühl und Scham.

In unserer Gesellschaft ist das Bewusstsein der Würde weitgehend verlorengegangen. Das sagen alle, die sich mit diesem Begriff der Würde beschäftigen, und warum? Es gibt sicher viele Gründe; einer, der mir in die Augen sticht, ist unsere Vereinzelung. Die Vereinzelung ist das Gegenteil vom Bewusstsein der Zugehörigkeit. Viele Menschen erleben das als Einsamkeit, man kann es aber in diesem Zusammenhang als etwas sehr Positives sehen: Wir haben unsere Eigenständigkeit gefunden: das war ungeheuer schwierig, dafür haben Generationen unserer Vorfahren viel bezahlt an Energie und Leid, dass wir nicht einfach Teile der Gesellschaft sind, sondern eigenständige Wesen. Das ist etwas sehr Wichtiges. Aber wir haben das soweit getrieben, dass unsere Verbundenheit zu den andern verlorengegangen ist.

Und jetzt stehen wir vor dem nächsten Schritt, dass wir alles das Positive, das durch unsere Eigenständigkeit erworben wurde, mitnehmen und die Verbundenheit wieder erleben und diese Verbundenheit  l e b e n. Das ist die große Aufgabe.

Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gewürdigt wird, und zwar als Person, nicht als Nummer oder Fall.[9] Und Person ‒ das Wort kommt vom lateinischen Wort ‹persona›, der Maske, die die Schauspieler in Athen und Rom getragen haben, und heißt eigentlich ‹das Durchtönende›: ‹per-sonare› heißt durch-tönen.[10] Wir sind Person, weil durch uns das große Geheimnis sich ausdrückt und wir aufeinander horchen und das Geheimnis durchtönt durch uns.

Und C. F. Lewis schreibt einmal: Wenn wir wirklich einen andern Menschen sehen könnten mit offenen und gesunden Augen, wären wir so hingerissen, dass wir niederfallen würden und anbeten ‒ irgendeinen Menschen. Weil eben das große Geheimnis durch  j e d e n  Menschen durchtönt. Und das ist letztlich Grund unserer Würde.»

Am Schluss des Vortrags ermutigt Bruder David alle, die zuhörten, einen Entschluss und Vorsatz zu fassen, und «der Entschluss kann nicht kräftig genug sein, und der Vorsatz kann nicht spezifisch genug sein:  d a s  werde ich tun ‒, etwas ganz Kleines, zum Beispiel: Ich werde die andern anders anschauen und sie anlächeln.»

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[1] Siehe diese Mitschrift auch in Würde, Rückgrat, Scham im Abschnitt: Ehrfurcht und Scham

[2] Siehe in Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 42

[3] Siehe auch Andreas Salcher im Gespräch mit Bruder David (2018), Anm. 6

[4] Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1853-1900); ältere Schreibweise: Wladimir Sergejewitsch Solowjew

[5] Siehe Jean-Claude Wolf: Humanismus oder warum wir keine Tiere sind: Überlegungen im Ausgang von Wladimir Solowjew

[6] Orientierung finden (2021), 63; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:

«Rudolf Otto (1869-1937) hat die Begegnung mit dem Geheimnis unter dem Aspekt des ‹Heiligen› gründlich untersucht. Er beschreibt die beiden Gefühle, die das Heilige in uns auslöst, als «tremendum» ‒ das heißt, es lässt uns ehrfürchtig erschaudern ‒ und ‹fascinans› ‒ das heißt, es löst begeistertes Entzücken aus.»

[7] EHRFURCHT in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 133:

«Nach allem, was wir über Furcht und Angst geschrieben haben, verlangt der zweite Teil dieses Wortes nach einer Erklärung. Die Ehrfurcht weigert sich ‒ denn Weigerung ist die Haltung der Furcht ‒, Ehre anzutasten. Ehrfurcht ist ein Erkennungsmerkmal eines spirituell wachen Menschen. Dieses Wachsein ist verlangt, um die Gegenwart des Geheimnisses zu spüren. Da das Geheimnis in allem, was uns begegnet, gegenwärtig ist, ist Ehrfurcht eine Lebenshaltung spiritueller Menschen. Diese Ehrfurcht zeigt sich in der Begegnung mit allen Lebewesen als Anerkennung der Würde, die ihnen zukommt. Von größter Bedeutung ist heute Ehrfurcht vor der Menschenwürde.»

[8] Diese Haltung ist auch als Goldene Regel bekannt, siehe Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamin-Gespräch mit Bruder David
(30:26) Wann ist Ethik ethisch? und Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017)

[9] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 188; siehe auch Sterben und Angst

«Wir wissen, dass es um den Tod herum sehr häufig Krankheiten, Leiden und Schmerzen gibt. Das allein genügt, mir Angst zu machen, wenn ich es mir ausmale. Hinzu kommt, dass man heutzutage früher oder später nur mehr ein Fall oder eine Nummer wird in einem Krankenhaus. Diese Entpersönlichung macht mir ebenfalls Angst. Aber das Leben macht uns, abgesehen von Alter und Sterben, immer wieder auf die eine oder andere Weise Angst. Wir brauchen Mut.»

[10] Die Rolle ist das Ich, der Schauspieler ist das Selbst (2011)
Zum Video:
   Das Ich als Maske und das Selbst ‒ kurzer Ausschnitt aus ‹Ich und Selbst› im Zentrum Buddhas Weg im Odenwald (DE); siehe auch Ich-Selbst: Ergänzend: 1.2.

 

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