in der Erfahrung von Stille und Ergriffenheit


STILLE

«Stille hängt nicht davon ab, ob die Umgebung ruhig oder lärmerfüllt ist. Das wird verständlicher, wenn wir die Vorstellung von Lärm und Ruhe durch den Gegensatz Tumult und Gelassenheit ersetzen.

Stille ist eine heiter gelöste, gelassene Haltung des Herzens.

Innere Stille, und um die geht es hier, kann sich auf zweifache Weise bekunden: durch Schweigen und Wort ‒ durch ein Wort, das nicht das Schweigen bricht, sondern ein Wort, in welchem das Schweigen zu Wort kommt.

In unsrem ganzen Alltag sollte unser Schweigen sowie alles, was wir sagen, aus der Stille kommen.

Dies lässt sich üben und Menschen, denen es im täglichen Leben gelingt, strahlen Frieden aus.

Bisher haben wir von Wort und Schweigen gesprochen, die aus unsrer eigenen Stille aufsteigen. Aber auch unsre Antwort auf ein Wort, das wir hören, wird nur dann durch gehorsames Tun zum Verstehen führen, wenn sie aus der Stille kommt.» (157f.)


SCHWEIGEN

«Schweigen ist eine der beiden Weisen, auf welche Stille sich bekundet.

Die zweite Weise ist das Wort. Im Wort äußert sich die Stille ‒ sie drückt sich aus, geht aus sich heraus, indem sie ‹zu Wort kommt›.

Im Schweigen bleibt die Stille bei sich selbst.

Ein Bild kann das veranschaulichen.

Ein Gong, den wir betrachten, bleibt bei sich; ein Gong, den wir anschlagen, ‹äußert sich› ‒ sein innerstes Wesen wird äußerlich offenbar.

Um Stille in ihrem Wesen zu erfahren, müssen wir mit ihr einswerden, dadurch, dass wir uns ins Schweigen versenken, uns ins Schweigen hinablassen.

Schweigen kann zu einem wirkungsvollen Mittel werden, um im Tumult des Alltags immer wieder stille Gelassenheit zu finden, indem wir Schweigepausen in unsren Tagesablauf einbauen.» (155)


WORT

«Wort als spirituelles Phänomen hat zugleich zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Funktionen:

Es definiert einen Begriff und es offenbart eine unbegreifliche Wirklichkeit, die über Begriffe hinausgeht.

Dahinter stehen zwei gegensätzliche Bewegungen. Im Dienste der Wissenschaft fängt das Wort Begriffe ein, im Spiel der Dichtung aber setzt es Sinn frei.

In beiden Bereichen ‒ Verstand und Weisheit ‒ können wir unsre Empfänglichkeit üben. Dann erst werden wir die Macht des Wortes voll zu würdigen wissen.

Die Macht des Wortes zeigt sich aber auch auf einer andren Weise ganz handgreiflich und oft schmerzlich: Worte lassen sich nicht zurückrufen und was sie in Bewegung setzen, lässt sich nicht leicht rückgängig machen.

Darum ist es eine wichtige Aufgabe, schweigen zu lernen, bis für das rechte Wort der rechte Augenblick gekommen ist.» (164)


VERSTEHEN

«Verstehen wird oft irrtümlich gleichbedeutend mit dem Wort ‹begreifen› verwendet.

Diese beiden Formen intellektuellen Erfassens ergänzen einander, entspringen aber zwei unterschiedlichen Haltungen.

Beim Begreifen greifen wir willkürlich und einseitig nach dem zu Erfassenden, beim Verstehen gehen wir aber darüber hinaus und lassen uns selber unwillkürlich ergreifen ‒ in jener gegenseitigen Umarmung, die wir Ergriffenheit nennen.

Beim Begreifen bekommen wir immer nur einen Teil dessen in den Griff, was wir erfassen wollen.

Was uns aber in Ergriffenheit ergreift, ist das Ganze ‒ letztlich das große Geheimnis.» (162)


ERGRIFFENHEIT

«Ergriffenheit ist zunächst ein Zustand, den wir fühlen.

Das schließt aber nicht aus, dass sie auch eine höchst wichtige intellektuelle Komponente hat.

Begreifen und ergriffen werden sind einander entgegengesetzte Bewegungen.

Wie Begriffe zum Begreifen führen, so führt Ergriffenheit zum Verstehen.

‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›, schreibt Bernhard von Clairvaux (1090-1153) in seinem Kommentar zum Hohen Lied.

Ergriffenheit geht über das Begreifliche hinaus, indem sie auch das Unbegreifliche versteht.

Darin besteht Weisheit.

Ergriffenheit und Begreifen dürfen keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden.

Sie ergänzen einander, so wie Emotionen und Intellekt nur gemeinsam unsrer Welterfahrung gerecht werden.

Wo eine anti-intellektuelle Atmosphäre vorherrscht, besteht immer die Gefahr, klares Denken durch sentimentale Schwärmerei ersetzen zu wollen.

Ergriffenheit aber ist, auch wenn sie bis zum Gefühlssturm ansteigen kann, klar und nüchtern.» (135)

[Quelle: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021)]




Quellenangaben

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