Jetzt und ewiges Leben
Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Morgens, mittags und abends erinnert das Angelusläuten vom Kirchturm die Gläubigen an die Botschaft, die der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria brachte, und an ihre Antwort, wie wir sie im Evangelium nach Lukas (1,26-38) lesen.
«Angelus» heißt (nach seinem ersten Wort im lateinischen Text) dieses täglich dreimal wiederholte Gebet. Es stellt gewissermaßen die christliche Parallele dar zu den durch Gebet geheiligten Zeiten im Islam und in anderen Traditionen.
An den drei Wendezeiten des Tages ‒ wenn die Nacht dem Tag weicht, wenn die Sonne sich am Mittag vom Aufstieg zum Abstieg wendet, und wenn der Tag sich abends neigt ‒ feiert das Angelusgebet den Einbruch des ewigen Jetzt in die Zeit und erinnert uns daran, in diesem Jetzt zu leben.
Die traditionelle Form dieses Gebetes ist einfach. Eine Abfolge der gleichen drei Verse zu jeder Tagzeit bildet sein Herzstück.
«Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geist.»
Dieser erste Vers bietet ‒ vorausschauend ‒ eine Zusammenfassung dessen, worum es geht. Der zweite zitiert aus dem Evangelium (Lk 1,38), wie um uns einzuladen, selber mit Maria zu sprechen:
«Siehe, ich bin eine Magd des Herrn, mir geschehe nach Deinem Wort.»
Und der dritte Vers ‒ er stammt aus dem Prolog zum Johannesevangelium (Joh 1,14) ‒ will anzeigen, was sich damals ereignete und immer noch ereignet, wenn wir selber wie Maria das Wort Gottes mit offenem Herzen empfangen:
«Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt» ‒
hat (richtiger) «unter uns Wohnung genommen», wohnt also heute wie damals unter uns.
Diese drei Verse sind miteinander verwoben durch ein dreimal wiederholtes Ave Maria, ein kurzes Gebet, das auch zum Großteil aus Worten des Verkündigungsengels an Maria besteht.
Von Kindheit auf habe ich den Angelus gebetet und kann bezeugen, dass er Kraft hat, dem Tagesablauf Form und Halt zu geben. Dreimal am Tag ruft uns dieses Gebet, inmitten aller Eile und Geschäftigkeit der Zeit, zurück ins zeitlose Jetzt.
Wann sollte denn das Wort Fleisch werden, wenn nicht jetzt?
Wie sollte das geschehen, wenn nicht dadurch, dass ich mich empfänglich öffne für den Heiligen Geist?
Was aber könnte mein Leben mächtiger verändern und dadurch auch meine Umwelt? Beim Angelus-Glockenläuten fließt der Mythos der Jungfrauengeburt[1] durch das Ritual des Angelus-Gebetes als lebensspendende Kraft in unser tägliches Leben ein.
Zu beten, nicht nur wenn es uns danach zumute ist, sondern wenn es Zeit ist ‒ und die Glocken erinnern uns daran ‒, das hilft uns, unser Leben auf den großen kosmischen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten einzustimmen. Es «erdet» und verankert uns sozusagen in jener größeren kosmischen Wirklichkeit, die unsere verschwindend kleine Existenz hält und trägt.
Und Du? Nimmst Du Dir manchmal Zeit, zu unterbrechen, was immer Du tust und tief zu atmen? Die Welt braucht unser bewusstes Bemühen, immer wieder aus der Zeit ins Jetzt zurück zu kommen und uns in jungfräulicher Empfänglichkeit dem Heiligen Geist zu öffnen.[2]
Durch den Glauben sind wir selber mitten in der Zeit dennoch in dem Jetzt verankert das über die Zeit hinausragt. Das gibt uns festen Halt im Auf und Ab unseres Bemühens, für Gottes Liebe Zeugnis abzulegen.[3]
Wenn Gott den Spatzen nicht vergisst, dann kann sein kurzes Zwitscherleben niemals verlorengehen. Nur in der Zeit kann etwas enden. Wenn aber die Zeit selbst längst nicht mehr ist, bleibt alles, was aus der Zeitperspektive so flüchtig erschien ‒ jedes Spatzentschilpen ‒, taufrisch aufgehoben in Gottes ewigem Jetzt.
Das Jetzt ist über die Zeit erhaben, wir erleben es aber in der Zeit ‒ Augenblick um Augenblick ‒ sozusagen «gebrochen», wie das farblose Licht, wenn es uns ‒ Farbe um Farbe ‒ aufleuchtet.
Darin liegt viel Trost für alle, die über einen Todesfall trauern, denn im ewigen Jetzt dürfen wir ja unsere Freunde, unsere Verwandten und unsere lieben Tiere wiederfinden ‒ allerdings auch alle, mit denen wir uns jetzt in der Zeit streiten; es ist also keine schlechte Idee, uns jetzt schon auszusöhnen.[4]
So ruft auch in meiner Erinnerung Auferstehung des Fleisches Augenblicke wach, in denen meine Lebendigkeit so intensiv wurde, dass sie plötzlich Zeit und Vergänglichkeit überragte und im ewigen Jetzt ‒ wenn auch nur flüchtig ‒ an Unvergänglichkeit streifte.
Ich schließe meine Augen und öffne sie innerlich. Jetzt grünt um mich ein Sommermorgen in den Ost-Tiroler Alpen. Von der blühenden Bergwiese, zu der mich ein Fußpfad heraufführte, geht es fast senkrecht hinunter zum Sommerheim der Wiener Sängerknaben, bei denen ich Präfekt bin. Mit offenen Augen ist das «damals in meinen Studententagen», in der Erinnerung aber ist es jetzt.
Auch damals war es ja jetzt; und jetzt ist immer jetzt.
Das Jetzt lässt sich nicht vervielfachen; es ragt über die Zeit hinaus.
Nur wir verfangen uns immer wieder in der Illusion von Zeit.
Manchmal aber scheint es uns, dass die Zeit still steht, weil wir einen Augenblick lang ganz im Jetzt sind ‒ und so in der Ewigkeit, dem ‹Jetzt, das nicht vergeht›.
(In meiner Erinnerung ist das so ein Augenblick:) Tief unter mir probt der Chor, und durch die große Stille steigt Ton um Ton silberklar zu mir empor ‒ da Vittorias (c 1548-1611) Motette «Duo Seraphim».
Wovon der Text spricht, wird jetzt hier Wirklichkeit: Von Anbetung hingerissen, rufen zwei flammen-geflügelte Engel einander zu: «Heilig, heilig heilig!»
Das ist zugleich meine eigene innerlichste Stimme, die da singt; und nichts sonst ist von Bedeutung, als dieses unerschöpfliche «Heilig, heilig, heilig!» im ewigen Jetzt.
Ein zweites solches Erlebnis fällt mir ein, weil es auch mit Musik verbunden ist, und auch auf die Auferstehung des Fleisches Licht wirft. In der Zeit spielt es sich ein paar Jahre später ab, in der bleibenden Wirklichkeit aber ist es jetzt.
Wieder bin ich Präfekt bei einem Knabenchor, diesmal in Florida. Es ist der Abend vor den langen Ferien. Die meisten der jungen Sänger sind schon auf der Heimreise. Einer steht noch beim Klavier und singt Händels Arie «O hätt’ ich Jubals Harf’ und Miriams süßen Ton» ‒ wohl zum letzten Mal, denn er steht kurz vor dem Stimmbruch und wird nicht zum Chor zurückkehren.
Selbst unter all diesen ausgewählten Knabenstimmen ist sein Alt von einzigartiger Schönheit. Wie bernsteinfarbener Honig fließt das Abendlicht schräg durch die hohen Bogenfenster des halbdunklen Raumes und scheint in dieser Altstimme Klang zu werden.
Jetzt muss ich eine blitzschnelle Entscheidung treffen. Neben mir steht das Gerät, das mir erlaubt, diese Stimme auf einem Tonband zu «verewigen». Soll ich die Taste drücken? Fast schon strecke ich die Hand aus, aber etwas in mir sagt ein klares «Nein!» Dieser Augenblick ist ja schon ewig.
Erinnerungen verblassen und verlöschen. Wenn aber meine Zeit um ist, wird das Jetzt jenes Tiroler Sommermorgens, das Jetzt jenes Abends in Florida, wird jedes Jetzt meines Lebens lebendige Gegenwart sein.
Nichts geht verloren, so flüchtig es erscheinen mag, denn «Alles ist immer jetzt».[5]
Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches und das schließt natürlich auch die Toten ein ‒ weil alles Vergängliche unvergänglich aufgehoben ist im Jetzt, das nicht vergeht.
Es muss nicht wiedergebracht werden aus dem Staub, wie die Leiber der Verstorbenen auf mittelalterlichen Bildern vom jüngsten Gericht. Es ist ja mit dem auferstandenen Christus «in Gott verborgen» (Kol 3,3), gegenwärtig.
Darum vertraue ich, dass wir unsere Lieben mit jeder Sommersprosse und mit jedem Grübchen in der uns so lieben Wange «wiedersehen» werden, wenn wir «Gott schauen». «Gib mir Liebende», sagt Augustinus, «denn die wissen, was ich meine». Das kann auch ich hier sagen.
Vielleicht bist Du schon alt genug, um Fotos von Verwandten und Freunden zu besitzen, die Du von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod kanntest.
Dann schließt Deine Liebe doch das Nackerpatzerl (liebevolle österreichische Ausdrucksweise für kleines nacktes Kind) in der Badewanne ebenso ein wie den zahnlückigen Volksschüler, den ruppigen Buben auf dem Fahrrad, den zum Abschluss-Ball geschniegelten Maturanten, das junge Ehepaar, und so Bild um Bild bis zum letzten matten Lächeln.
In welchem der Bilder siehst Du den von Dir geliebten Menschen? Nicht doch in jedem? Musst Du wählen?
Dieses Jetzt des Lebens ist gegenwärtig im «Jetzt, das nicht vergeht», das heißt in der Ewigkeit.
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren», schrieb Rilke.
«Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
(«Inständig sammeln wir den Honig des Sichtbaren, um ihn anzuhäufen in der großen goldenen Wabe des Unsichtbaren.»[6])
Unsichtbar heißt hier: dem Bereich der Sinne entzogen. Sommermorgen und Winterabend, das «Heilig, heilig, heilig!» der Seraphim und «Miriams süßer Ton» sind nicht nur physiologisch gespeichert in meinem zur Verwesung bestimmten Gehirn.
Sie sind meinem über Zeit und Raum erhabenen Selbst mit der Glut des Geistes eingebrannt. Wenn einst der Wassertropfen meines Lebens ins Meer zurückkehrt, wird er nach dieser Musik schmecken, und das Meer wird diesen Geschmack unverlierbar enthalten.[7]
Manchmal in unserem Leben, und gerade wenn wir bis in die tiefsten Schichten unseres Seins wach und lebendig sind, können wir eine Art Zeitlosigkeit erfahren.
Minuten oder sogar Stunden können uns in diesem Bewusstseinszustand wie ein einziger Augenblick erscheinen.
Die Uhren ticken weiter, aber für uns steht die Zeit still.
Solche Augenblicke liefern den Erfahrungsinhalt für den Begriff von Ewigkeit.
In elegantem Latein definiert Augustinus Ewigkeit als «nunc stans»: Das «Jetzt», das nicht vergeht, weil es jenseits aller Zeit «steht».[8]
Ewigkeit hebt die Zeit auf. Danach sehnt sich das menschliche Herz.
Wie Goethes Faust wollen wir alle zum Augenblick sagen: «Verweile doch, du bist so schön!» Oder wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) es ausdrückte: «… alle Lust will Ewigkeit ‒, will tiefe, tiefe Ewigkeit!»
Unser ganzes Wesen sehnt sich nach Befreiung von einer Zeit, die alles Gegenwärtige ununterbrochen zur Vergangenheit abbaut, so wie das Meer die Sandburgen, die wir als Kinder bauten, am nächsten Morgen immer wieder eingeebnet hatte. Mit unserem ganzen Leben geht es uns so:
«Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfäIlt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.»[9]
Der Gegenpol zu solchem Zerfall ist aber nicht einfach Bestand; damit blieben wir ja immer noch im Bereich von Zeit.
Was wir als Ewigkeit erahnen, ist nicht statisch, sondern im höchsten Grad dynamisch. Es ist jene von Zeit befreite Lebendigkeit, nach der sich alles in uns sehnt ‒ Ewiges Leben also.
Weil die uns hie und da flüchtig geschenkte Erfahrung davon weit über unsere jetzige Begrenztheit hinausgeht, schreiben wir sie dem göttlichen Leben zu, dem Heiligen Geist.
Je besser wir lernen im Jetzt zu leben, umso lebendiger werden wir. Das kann jeder Mensch durch eigene Erfahrung überprüfen. Auf Grund dieser Erfahrung vertrauen wir im Glauben, dass wir, wenn unser zeitliches Leben um ist, in Gottes ewiges Leben eingehen werden mit jener Lebendigkeit, die jetzt schon unsere eigentliche ist.
Tief innerlich verstehen wir, was Rilke meint, wenn er sagt:
«Mit kleinen Schritten gehen die Uhren neben unserem eigentlichen Tag.»[10]
Wer bekennt: Ich glaube an das ewige Leben, der verlegt das Schwergewicht seines Lebens auf das Jetzt, in dem die Zeit aufgehoben ist.
Von dieser Mitte her können wir «in Fülle» leben, weil Zeit für uns auf eine höhere Ebene hinaufgehoben ist. Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. Das Jetzt in der Zeit gibt uns ja Zugang zum Jetzt, das über Zeit erhaben ist.
Wir dürfen darauf vertrauen, dass alles, was schön und gut und echt ist an der Zeit, aufgehoben und geborgen ist im ewigen Jetzt; mit jeder für uns bedeutsamen Einzelheit ist es liebend aufbewahrt dort, wo wir letztlich zuhause sind ‒ in Gott.
Weil wir an das ewige Leben glauben, dürfen wir das Leben hier ‒ wo immer wir sind ‒ im großen Jetzt, das die Zeit aufhebt, feiern.[11]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4, 7, 10f.)
[Ergänzend:
1. Filme
1.1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
(08:35) «Das JETZT ist nicht ein kleiner Teil der Zeit, sondern richtig verstanden ist das JETZT die Ewigkeit, also Nicht-Zeit ‒ das Gegenteil von Zeit, denn es geht über die Zeit hinaus. Es ist falsch zu sagen, das JETZT ist in der Zeit. Es ist richtiger zu sagen, die Zeit ist im JETZT»
1.2. Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.›
2. Audios
2.1. Vertrauen in das Leben (2014)
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde› – Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)
2.2. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011):
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Gespräch:
(06:23) Ein bayerischer Biergarten im Himmel: Das Jetzt ist nicht in der Zeit ‒ die Zeit ist im Jetzt
2.3. Die Weisheit, die alle verbindet (2010)
Gespräch:
(11:56) Im Jetzt leben ‒ ‹All is always now› (T. S. Eliot)‚ ‹Nunc stans›: das Jetzt, das nicht vergeht (Augustinus) / (14:04) Warum gib es überhaupt Zeit? Bruder David zu Zeit und die Gelegenheit, Jetzt und Sterben, Tod / (15:44) Wie viele Gelegenheiten hast du verpasst in deinem Leben? ‹Was immer wir wählen, wird uns geschenkt, und was wir zurückweisen, wird uns am Ende auch geschenkt› (Tania Blixen [Isak Dinesen]: ‹Babettes Fest›)
2.4. Wähle das Leben (1992)
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(17:35) ‹Nunc stans› – Ankommen in der Ewigkeit
(26:02) Wenn jedes Jetzt meines Lebens gegenwärtig ist / (28:44) Nicht ohne meinen Hund
2.5. «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 61f.; siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3.:
(11:07) «Im tiefsten fragt unser Herz das, von Anfang an: W e r b i n i c h? ‒ Was bedeutet aber diese Frage? Die Betonung müsste da auf dem ‹b i n› liegen.
Ich muss mit dieser Spannung leben, dass ich der bin der dieses ‹bin› nie in der Zeit findet und es doch in der Zeit verwirklichen muss.»
2.6. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(39:47) Im Jetzt leben: Deshalb das Desinteresse der jüdischen Propheten an Themen, die in den Religionen ihrer Nachbarvölker einen zentralen Platz einnehmen. ‒ «Von einem einzigen Punkt aus, wenn ich wirklich da bin, habe ich zu allem Zugang»: Br. David ermutigt zum wissenden Nichtwissen
3. Weitere Texte
3.2. Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 1.3. Audio und 2. Sext ‒ INBRUNST UND HINGABE, 94f.
3.3. Orientierung finden (2021): ‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.:
«Wir stellen uns typisch die Zeit als eine Linie vor, auf der das Jetzt der kurze Abschnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. Aber wie kurz dieser Abschnitt auch sein mag, wir können ihn in die Hälfte teilen. Dann ist die eine Hälfte n i c h t, weil sie vergangen, also nicht mehr ist; die andre Hälfte ist auch n i c h t, weil sie zukünftig, also noch nicht ist. Wir können diesen Teilungsprozess ad infinitum fortsetzen. Es zeigt sich also, dass dieses Jetzt, mit dem wir doch so vertraut sind, gar nicht in der Zeit ist. Im Gegenteil, wir sind berechtigt zu sagen: Die Zeit ist im Jetzt.
Alle Vergangenheit war ja einmal jetzt, und wenn die Zukunft kommt, wird sie jetzt sein.
‹Alles ist immer jetzt›, sagt T. S. Eliot ‒ ‹all is always now›.
Nur was jetzt ist, ist, sonst war es oder es wird erst sein, ist also nicht.
Wie erstaunlich: Mitten in der Vergänglichkeit erleben wir etwas, das Dauer hat ‒ das Jetzt. Johann Gottfried Herder (I744-1803) schrieb:
Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
und schwinden wir,
und messen unsre trägen Tritte
nach Raum und Zeit;
und sind (und wissen's nicht) in Mitte
der Ewigkeit.
Das Jetzt ist ‹der Schnittpunkt des Zeitlosen mit der Zeit› (T. S. Eliot) ‒ der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.
Ewigkeit ist ja nicht eine endlos lange Zeit, sondern der Gegenpol zu Zeit, ‹das beständige Jetzt›, das ‹nunc stans›, wie Augustinus Ewigkeit definiert. Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit.
Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.
Außen stehst du mitten in der Zeit; innen in dir aber ist die ‹Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst›, wie Rilke in der ‹Elegie an Marina› schreibt.
Und für T. S. Eliot ist das Jetzt ‹der Augenblick in und außerhalb der Zeit› ‒ die Ewigkeit inmitten der Zeit.
Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit. Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt leben. Nur dann bin ich ‹Ich-Selbst›.»
3.4. Credo (2015): ‹gestorben›, 128f.:
«Meine Generation im Wien jener Zeit wuchs in Todesnähe heran. Über unseren Teenager-Jahren hingen die Gewitterwolken des Zweiten Weltkriegs, und täglich schlugen Blitze ein. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen ist mir meine Jugend als eine Zeit strahlender Lebensfreude in Erinnerung. Bombenangriffe töteten täglich Unzählige; unsere etwas älteren Freunde fielen einer nach dem andern, an der Front; wir selber konnten an keine Zukunft denken. ‒
Dann war der Krieg plötzlich zu Ende, und ich wurde mir bewusst, dass ein Leben vor mir lag. Das kam wie ein Schock.
Da erinnerte ich mich an eine Mahnung aus der Regel des hl. Benedikt ‹Den Tod allzeit vor Augen haben!› und es war mir auf einmal klar: Mit diesem Bewusstsein sind wir ja aufgewachsen!
Zugleich sah ich aber ein, dass wir gerade deshalb so intensiv gelebt hatten. Wir mussten immer im Augenblick leben, und das ist ja der Schlüssel zur Lebensfreude. Es ist auch der springende Punkt im Mönchsleben.
Die Mönche der verschiedensten Religionen ‒ das sollte ich später erfahren ‒ sind sich darin einig dass alles darauf ankommt, im Jetzt zu leben.
Um die Lebensfreude, mit der ich aufgewachsen war, nicht versickern zu lassen, wurde ich schließlich selber Mönch. Und ich muss gestehen ich würde es wieder tun.
Auch das Mahnwort ‹memento mori› ‒ ‹Denk an das Sterben› ‒, das oft auf klösterlichen Sonnenuhren zu lesen ist, zielt auf das Im-Jetzt-leben ab.
Darum findet man nicht selten auch die Version ‹vergiss nicht zu leben!› Dies ist ja gemeint mit dem ‹Vergiss das Sterben nicht›. Also: ‹Carpe diem!› Nütze jeden Augenblick! Ein ‹guter Tod› ist ja die Frucht eines vollen Lebens. Diese Frucht reift mit jedem Atemzug; wenn wir rückhaltlos leben, dürfen hoffen, dass sie mit unserem letzten Atemzug ausgereift sein wird.»
3.5. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 89-91:
«Das Jetzt ist ein ganz geheimnisvolles Geschenk.
Wir meinen, das Jetzt sei diese kleine und kleinste Strecke auf dieser Linie der Zeit, die aus der Vergangenheit kommt und in die Zukunft geht: Links ist die Vergangenheit, die ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und rechts ist die Zukunft, die ist noch nicht, also auch nicht.
T.S. Eliot: ‹All is always now› ‒ im Jetzt,
und das ist nicht diese winzig kleine Strecke dazwischen.
Solange es eine Strecke ist, können wir sie in die Hälfte teilen und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist, und wenn jemand sagt: ‚Das ist Haarspalterei!‘ Stimmt! Aber solange es ein Haar ist, kann man es spalten. (Gelächter). ‒
Und wir kommen zu der Einsicht, dass das Jetzt gar nicht in der Zeit ist, im Gegenteil: Die Zeit ist im Jetzt.
Wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern, sind wir im Jetzt in der Vergangenheit.
Wir können uns nicht an die Vergangenheit erinnern und in der Vergangenheit sein.
Die ganze Vergangenheit ist eingeheimst in das Jetzt.
Und wenn wir an die Zukunft denken, ist sie auch Jetzt und wenn die Zukunft kommt, wird sie Jetzt sein:
‹All is always now› — ‹Alles ist immer Jetzt›.
Und die Zeit ist einfach eine Ausdrucksweise dieses übervollen Jetzt, das uns nicht nur diese eine Gelegenheit geben will, sondern die vielen Gelegenheiten.
E s teilt aus, es schenkt und schenkt und schenkt eine Gelegenheit nach der andern: Das ist das Jetzt.
Das Jetzt ist das Geheimnis, das Jetzt ist auch die Ewigkeit.
Das ist ja die Definition von Ewigkeit in der westlichen Tradition: ‹Nunc stans›, ‹Stehendes Jetzt›: Sehr elegant auf Lateinisch, nur zwei Wörter: nunc heißt jetzt und stans: es bleibt stehen.
Das Jetzt, das nicht vergeht.
Das ist die Ewigkeit, Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit.
Dieses Jetzt ist nicht nur das Jetzt des sich Freuens, sondern auch das Jetzt des Ringens, des Sturmes, – nicht nur das Bauen, sondern auch das Ringen ist das Tun.»]
___________________
[1] Credo (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 94:
«Die dichterische Vorstellungskraft der frühen Christen sah im Jungfrauenschoß, aus dem der neue Adam geboren wird, ein Spiegelbild der jungfräulichen Erde, aus welcher der alte Adam im Paradies geformt wurde. In beiden Bildern bedeutet Jungfräulichkeit einen taufrischen Neubeginn. So wie ein Skifahrer durch ‹jungfräulichen› Pulverschnee die erste Spur zieht, so bahnt Jesus einen ganz neuen Weg zu Gott. Das ist die entscheidende Aussage dieses Glaubenssatzes.»
[2] Credo (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 99f. und 101
[3] Credo (2015): ‹Am dritten Tage auferstanden von den Toten›, 155
[4] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 212
[5] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Ergänzend: 3.3. und in Stillehalten
[6] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105f.
[7] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 217-220; siehe auch Seele
[8] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›.
[9] R. M. Rilke, 8. Duineser Elegie
[10] Credo (2015): ‹Das ewige Leben›, 223f.; R. M. Rilke: ‹Heil dem Geist, der uns verbinden mag›,
das vollständige Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 96f.
Jetzt im Doppelbereich
Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Durch meinen Leib bin ich an die Zeit gebunden und mein Ich ist vergänglich, mein Selbst aber hat Bestand. Und doch erlebe ich mich als Einheit, als ich selbst ‒ nicht als ich u n d selbst.
Dieses Einssein ist mir jedoch nur bewusst, solange ich im Jetzt lebe, im Augenblick, im Doppelbereich von Zeit und Ewigkeit.
Sobald ich an Vergangenem hängen bleibe oder mich in Zukunftsfantasien verstricke, bin ich mir nur mehr des Zeitablaufs bewusst, und es bedrückt mich, dass meine Zeit rasch abläuft und ausläuft.
«Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt», sagt der Dichter.[1]
Ich sehe es jetzt mehr noch als in früheren Lebensabschnitten als meine große Aufgabe an, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren und zu erkennen, dass ich nicht in einem Nebeneinander von Zeit und Ewigkeit lebe, sondern in ihrem Ineinander, in der dynamischen Spannung des einen Doppelbereichs.
Auf Reisen fällt mir das nicht schwer. Da muss ich einfach im Augenblick leben. Und Reisen wurden mir geschenkt in meinem hohen Alter ‒ zahlreicher und weiter und spannender als je zuvor.
Zugleich mache ich immer weitere Reisen nach innen in neue Gebiete des Doppelbereichs. Er ist ungeteilt und unteilbar eins. Das rufe ich mir immer wieder ins Bewusstsein. Meine Reisen in seine Tiefen sind nicht ein Verlassen dessen, was als Oberfläche erscheint. Nein.
I n Raum und Zeit kommt Ewigkeit zum Vorschein ‒ scheint hervor, wirft Licht auf meinen Weg. Alles, was hinter mir liegt auf diesem Weg, war notwendig, um mich genau an diese Stelle zu bringen. Alles, was vor mir liegt, ist nur von diesem Standpunkt aus erreichbar.
Rilke hilft mir zu benennen, was zu entdecken vor mir liegt. «Weltinnenraum», «das Offene», die «Mitte des Immer», das «Namenlose», letztlich die «Unbetretbarkeit» ‒ das Geheimnis. Es ist groß und einfach. Was ich dagegen rückblickend gewahre, ist schier unüberschaubar in seiner tausendfach vernetzten Vielfalt.
Aber alles, was ich erlebe, hat ja schon jetzt eine Dimension, die über Zeit und Raum erhaben ist.
T. S. Eliot nennt das Jetzt «the moment in and out of time»[2] ‒ es gehört der Zeit an und doch auch nicht.
Im Doppelbereich des Jetzt sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.
«Alles ist immer jetzt», sagt wieder T.S. Eliot, «All is always now»[3] ‒ und spricht damit eine Wahrheit aus, die sich nicht leugnen lässt, denn was nicht jetzt ist, ist nicht, es hat nur eine Schattenwirklichkeit in Vergangenheit oder Zukunft.
Im Jetzt aber kann es nicht verloren gehen, da ist es in einem dreifachen Sinn «aufgehoben»:
Es besteht nicht länger (wie etwa ein Gesetz, das aufgehoben wird), es wird aber auf eine höhere Ebene hinaufgehoben und bleibt dort bewahrt (wie ein Goldreif in einer Schatzkammer gut aufgehoben ist).
In diesem Sinn verstehe ich, warum Rilke im Aufheben unsere Lebensaufgabe sieht: «Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Leidenschaftlich heimsen wir den Nektar des Sichtbaren ein in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[4]
Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup: «Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit ‒ in der Erfahrung des Jetzt ‒ eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht.»
«Freilich komme ich dabei um eine Schwierigkeit nicht herum: Jemand könnte sagen: Nur durch meine Sinne, die in Raum und Zeit sind, kann ich das erfahren, und nur mit meinem Gehirn kann ich es denken; wenn aber mein Gehirn zu Staub zerfällt, was dann?
Ich kann nur antworten: Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum.
Und dieser Dimension meines Daseins ‒ dem Bleibenden ‒ gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre.
Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe.
Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet.
Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit. Im Jetzt rühre ich an das Bleibende.[5]
Darauf muss ich mich einlassen, muss mich einfühlen ins Jetzt und dort heimisch werden. Im Getriebe der Zeit geht dieses Bewusstsein allzu leicht verloren.»
«Unser ganzes Leben ist eine Auseinandersetzung in Raum und Zeit mit dem Großen Geheimnis, das über Raum und Zeit hinausgeht.
Schon jetzt nimmt jedes Erlebnis im Doppelbereich an diesen beiden Aspekten teil. Wenn also Raum und Zeit wegfallen, ist das, was ich erlebt habe, damit nicht ausgelöscht. Das zeigt uns schon jetzt unsere Erinnerung, die Tatsache, dass wir uns überhaupt an etwas erinnern können.»
Johannes Kaup: «Aber Erinnern ist ein zeitliches Phänomen.»
Bruder David: «Erinnerung ist ein Phänomen in der Zeit, aber dass Erinnerung nur in der Zeit ist, ist eine sehr reduktionistische Vorstellung. Ja, es gibt etwas wie neuronale Konstellationen oder Engramme, Aufzeichnungen irgendeiner Art, die dann wieder aufgerufen werden. Da ist etwas dran, aber das ist nicht das Wesentliche von Erinnerung.
Erinnerung ist nicht Wiederbringung von Vergangenem, sondern ‹Er-inner-ung›:
Etwas ist ins Innerste eingegangen und gehört nicht nur meinem persönlichen Innersten an, sondern dem Weltinnenraum.
Rilke fasst das in die dichterische Vorstellung, dass wir Menschen die ‹Bienen des Unsichtbaren› sind.
Unser ganzes Leben besteht darin, jeden Augenblick, jede Erfahrung in die ‹große goldene Honigwabe› des Weltinnenraums einzuheimsen.
Nichts kann dort je wieder verloren gehen. Was ich einheimse in diese große goldene Honigwabe, ist mein einzigartiger Beitrag.
Wir sind so verschieden voneinander, dass es wohl nie zwei Menschen gegeben hat, die, sagen wir, eine Rose angeschaut und dasselbe gesehen haben.
Mit meiner einzigartigen Sensibilität reichere ich den Weltinnenraum an.
Ich bereichere ihn mein Leben lang, nicht nur durch alles Angenehme, was ich erlebe, sondern auch durch jedes Leiden. Alles hat Wert und Bestand. Nichts geht verloren.»
Johannes Kaup: «Vom Leiden hoffen wir, dass es ebenfalls verwandelt wird. Deswegen frage ich noch einmal anders: Wird auch die Vergänglichkeit verwandelt?»
Bruder David: «Sie wird schon jetzt verwandelt. Jetzt oder nie.
Der mystische Dichter Kabir fragt: ‹Wenn du als Lebender nicht deine Ketten sprengst, sollen Geister es tun, wenn du tot bist?›
Er meint, ewige Seligkeit, nur weil die Würmer dich fressen, sei ein Wunschtraum. Was du jetzt findest, wirst du dann gefunden haben, was du jetzt versäumst, wirst du dann versäumt haben. Schon jetzt musst du den großen Gast empfangen und umarmen.»
Johannes Kaup: «Ich muss da noch einmal nachhaken. Unvergänglichkeit bedeutet, wenn ich es recht verstehe, dem zeitlichen Strom des Vergehens entrissen zu sein. In gewisser Weise können wir uns nicht anders denken als als leibliche Wesen. Dass der Körper sich bereits zu Lebzeiten verändert, ist unbestritten. Mir geht es um unsere Gestalt. Wir sind immer Gestalt und dadurch erkennbar. Ich möchte einmal, so es mir vergönnt ist, Sie, Bruder David, im Himmel an der ‹Honigwabe› wiedertreffen und Sie erkennen können.»
Bruder David: «Auch jetzt ist es doch schon so, dass wir nach zwanzig Jahren keine Schwierigkeit haben, einen alten Bekannten wiederzuerkennen, und doch ist keine einzige Zelle in seinem Körper dieselbe geblieben.
Es ist die Gestalt, die wir wiedererkennen. Und Gestalt des Leibes ist die Definition von Seele.»
Johannes Kaup: «Anima forma corporis es, (Thomas von Aquin), sagen die scholastischen Theologen. Die Seele ist die Gestalt des Leibes.»[6]
Bruder David: «Sie ist es, was diesen Leib zu diesem Leib macht. Und nicht nur zum Leib, sondern was diesen Menschen zu diesem einzigartigen Menschen macht.»
Johannes Kaup: «Die Seele ist diese Lebendigkeit.»
Bruder David: «Im Doppelbereich haben wir alle eine doppelte Lebendigkeit ‒ in Raum und Zeit und im großen Selbst, das über Zeit und Raum hinausgeht.»
Johannes Kaup: «Bruder David, ich habe noch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man neunzig Jahre alt ist. Da kommt sicher einiges auf mich zu. Doch nicht nur ich bewundere, dass Sie in Ihrem Alter noch so wach, so neugierig und lebendig sind. Was ist das, was Sie heute im vielleicht letzten Lebensjahrzehnt beschäftigt, umtreibt, bewegt?»
Bruder David: «Es kristallisiert sich für mich immer klarer heraus, dass meine große Aufgabe darin besteht, im Jetzt zu leben und das immer wieder zu üben.
Das sehe ich als meine Hauptaufgabe an, und zugleich ist es ein großes Geschenk, das so viele Jahrzehnte lang üben zu dürfen.
Vielleicht wird uns das Leben nur verlängert, weil wir noch nicht gelernt haben, wirklich im Jetzt zu leben.»
Johannes Kaup: «Woran haben Sie heute noch besondere Freude? Worüber können Sie nach wie vor staunen und was macht Ihr Herz ganz weit?»
Bruder David: «Um das zu beantworten, müsste ich alles aufzählen, was mir im Lauf des Tages begegnet. Alles macht mich staunend, mehr als je zuvor. Schon wenn ich am Morgen die Augen aufschlage. Dass mir noch einmal ein Tag geschenkt wird, ist das nicht eine große Überraschung?
Johannes Kaup: «Ich bin auch noch da ...»
Bruder David: «Aha! Es gibt mich noch. Alles, alles wird immer staunenswerter.
Johannes Kaup: «Das heißt staunenswerter, je älter Sie werden ‒ wie das? Sie könnten ja auch sagen: ‹Ich bin schon abgebrüht, ich kenne das schon.›»
Bruder David: Wie Augustinus sagt: Alles ist Gabe, alles ist Gnade, alles ist Geschenk.
Johannes Kaup: «Bruder David, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.»
Bruder David: «Ich danke Ihnen für Ihre Fragen.»
[Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich, 2006-2016›, 181-185 und ‹9. Dialog, 188-191, 193]
[Ergänzend:
1. Filme
1.1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
(09:46) T. S. Eliot nennt das JETZT: ‹the moment in and out of time›, ‹der Augenblick, der innerhalb und außerhalb der Zeit ist› ‒ beides. Und wir leben in diesem Doppelbereich. Das ist sehr wichtig: Rilke hat sehr viel mit diesem Gedanken des Doppelbereichs gearbeitet, ist immer wieder auf den Doppelbereich zurückgekommen als Dichter.
Dieser Doppelbereich ist, dass wir einerseits in Raum und Zeit leben: einen gewissen Anfang haben, ein gewisses Ende unseres Lebens, überschaubar, und anderseits im JETZT:
Einerseits das ICH ‒ in Zeit und Raum ‒, anderseits das SELBST: im JETZT ‒ über Raum und Zeit erhaben. Und diese beiden zusammenzuhalten ‒ es ist weder gemischt noch getrennt: Es ist eben dieser sonderbare Doppelbereich; und in dem leben zu lernen, das ist in vielen spirituellen Traditionen eigentlich das Ziel.
1.2. Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.›
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Doppelbereich:
(04:26) Erst in dem Doppelbereich werden die Stimmen ewig und mild (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, X)
(39:16) Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)
2.2. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Transkription S. 2, 11-13 und 27f.:
Wer bin ich? Ich-Selbst oder Ego? ‒ (00:15) Immer wieder kommen wir auf den Doppelbereich / (07:14) Der Doppelbereich von ‹innen› und ‹außen› / (21:37) Das Selbst ist immer Jetzt ‒ Einheit und Vielheit ‒ Wandel und Bestand ‒ ‹die Mitte des Immer› (Rilke, Elegie an Marina) ‒ von außen betrachtet bin ich Materie, von innen betrachtet bin ich Geist: Einheit, besser: Nicht-Zweiheit ‒ a-dwaita / (55:57) Seele ist ein abstrakter Begriff, der unsere Verschiedenheit wie auch Einzigartigkeit ausdrückt ‒ In der Definition ‹Anima forma corporis est› (Thomas von Aquin›) ist ‹forma› nicht ‹etwas›, sondern ‹Causa formalis› (Aristoteles): Was mich zu mich selbst macht
2.3. «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 61f.:
(11:07) «Im tiefsten fragt unser Herz das, von Anfang an: W e r b i n i c h? ‒ Was bedeutet aber diese Frage? Die Betonung müsste da auf dem ‹b i n› liegen.
Die Frage erhebt sich ja gerade deshalb, weil ich weiß, dass vor nicht so langer Zeit ich noch nicht war. Es hat mich einfach nicht gegeben. Und ich weiß auch, dass ich in absehbarer Zeit nicht mehr sein werde, jedenfalls nicht in der Form, in der ich mich jetzt kenne. Ich war nicht, ich werde nicht sein, und trotzdem weiß ich, ich bin! Dieses ‹bin› ist aber, wenn wir recht zusehen, nicht der Zeit unterworfen; es ist ewig; ich kenne mich als ewig und muss mich doch in der Zeit verwirklichen.
Ich weiß, ich bin, aber ‹bin› muss immer in der Gegenwart sein; wenn es in der Vergangenheit ist, heißt es ‹ich war›. Dann bin ich nicht, denn ich bin nicht mehr. In der Zukunft ‹bin› ich auch nicht; ‹ich werde sein›, aber ich bin noch nicht.
Ich ‹bin› nur in der Gegenwart. Und diese Gegenwart, dieser gegenwärtige Augenblick ist etwas, was uns immerfort entgeht und entgleitet. Es ist im tiefsten Sinn fragwürdig.
Wir stellen uns das so vor, dass unser Leben ein langer Weg ist, eine Linie, die aus der Zukunft auf uns zukommt und in die Vergangenheit versinkt. Die kleine Wegstrecke, auf der wir jetzt stehen, das ist die Gegenwart: hier b i n ich.
Solange wir aber von einer Wegstrecke sprechen, hindert uns nichts daran, diese Strecke in die Hälfte zu teilen. Die eine Hälfte ist dann nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist. Wo bin ich dann? In dieser Klemme sind wir vielleicht geneigt, die Gegenwart nicht mehr als Zeitstrecke, sondern als Zeitpunkt zu verstehen. Aber ein Punkt hat keine Ausdehnung; ein Zeitpunkt hat also keine Dauer, die doch zum Begriff der Zeit gehört. Sobald wir aber an Dauer denken, sind wir wieder beim Bild einer Zeitstrecke und eine Strecke lässt sich immer halbieren: die eine Hälfte ist nicht mehr, die andere Hälfte ist noch nicht. Hat also unser Bewusstsein von ‹ich bin› überhaupt Platz in der Zeit?
Nein. Wir existieren, und existieren heißt wörtlich: herausreichen, herausstehen. Wir reichen heraus aus der Zeit ins Sein, ins Ewige.
Ewig heißt ja nicht: lange, lange Zeit; Ewigkeit ist ‒ wie Augustinus definiert ‒ das ‹nunc stans›, also das Jetzt, das niemals vergeht.
‹Ich bin› gehört also zur Ewigkeit, zum Jetzt, das bleibt. Dieses bleibende Jetzt kennt schon jedes Kind, wenn es nur versteht, was ‹ich bin› heißt. Jeder Mensch reicht eben existenziell über die Zeit in die Ewigkeit hinein, in das Sein.
Ich muss mit dieser Spannung leben, dass ich der bin, der dieses ‹bin› nie in der Zeit findet und es doch in der Zeit verwirklichen muss.
Eben da erhebt sich nun die existenzielle Frage des Menschen: Wer bin ich denn? Und das heißt letztlich: Wie bin ich, von Zukunft verunsichert und von Vergangenheit ausgelöscht, dennoch verbunden mit dem, was wirklich ist?
Was ist meine Beziehung zum Wirklich-Seienden, zum Sein?
Das ist die Frage, die hinter dem: Wer bin ich? steht. Das Herz des Menschen hat von Anfang an schon immer diese Frage gestellt und stellt sie immer neu.
Jedem Menschen stellt sich diese Frage, ob das reflexiv erfasst und deutlich ausgesprochen oder nur so ganz ahnend erlebt wird. Die Frage ist da und das Herz gibt auch Antwort darauf.»
3. Weitere Texte
3.1. Im Buch Orientierung finden (2021):
‹Innen / Außen ‒ zwei Aspekte der einen Wirklichkeit›, 76f.:
«Von biologischem Leben können wir erst sprechen, wenn es ‒ wie bei den einfachsten Einzellern, die wir kennen, ‒ ein Innen gibt, das, durch die Zellwand vom Außen getrennt, auf die Außenwelt reagiert. Auf unser menschliches Leben und Erleben angewandt, sind Innen und Außen bildliche Ausdrücke für zwei Aspekte der einen Wirklichkeit.
Der Unterschied ist uns aus täglicher Erfahrung vertraut: Im Außen kennen wir nur Vielfalt. Innen aber können wir jene Einheit erfahren, welche die Vielfalt zusammenfasst, enthält und übersteigt.
So übersteigt unsre innerste Du-Erfahrung Einheit, aber auch Zweiheit.
Darum spricht der Hinduismus hier nicht von Einheit, sondern von Nicht-Zweiheit ‒ a-dwaita. Was mir als Außen bewusstwird, ist an Raum und Zeit gebunden und beständigem Wandel unterworfen. Als Innen kann ich etwas erleben, was unteilbar und immer jetzt ist. Rilke spricht von der ‹Mitte des Immer› und drückt mit diesem Bild ein innerstes Bleibendes aus.
Unter diesen beiden Aspekten von Innen und Außen erlebe ich die eine ungeteilte Wirklichkeit als Doppelbereich.
‹Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
Wisse das Bild.
Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.›[7]
Einen Aspekt dieses Doppelbereichs auf den andren zu reduzieren, würde dem Unterschied von Innen und Außen nicht gerecht. Aber den Unterschied als Dualität zu verstehen, widerspricht der nahtlosen Einheit unsrer Erfahrung.»
‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.:
«Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit. Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.»
«Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit. Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt leben. Nur dann bin ich ‹Ich-Selbst›.»
A-DWAITA, in: Das ABC der Schlüsselworte, 128
DOPPELBEREICH, in: Das ABC der Schlüsselworte, 132f.
3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 98-105; 108f., 118-123; siehe 121f.:
«Als unser letztes Gedicht heute, möchte ich eigentlich um der letzten Zeilen dieses Gedichtes willen, ein Gedicht von Clemens Brentano lesen.
Es heißt ‹Eingang› und ist das Eingangsgedicht zu einem seiner Gedichtbände.»
Beim ersten Vers: ‹Was reif in diesen Zeilen steht›, fügt Bruder David humorvoll an: «Und das gilt auch zugleich für die Dichtung Rilkes, für alle Gedichte. Ich stelle mir vor, dass im Himmel sich alle Dichter treffen und nicht mehr wissen, wer was geschrieben hat.»
(Entspanntes Lachen im Saal). ‒
Und nach der Zeile: «Ans Feldkreuz angeschrieben
Und das ist jetzt die Inschrift: O Stern und Blume ‒
Die ‹Stern-Blume›, Stern ‒ Blume: Doppelbereich.
Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!
Lieb und Leid gehören so zusammen wie Geist und Kleid, wie Stern und Blume.
O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!»]
_____________________
[1] ‹Stimme eines jungen Bruders
Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.
Ich möchte sterben. Laß mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.›
R. M. Rilke, Das Stunden-Buch
[2] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe auch Stillehalten
[3] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten
[4] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105f.
[5] Siehe auch Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2021): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:
«Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit − in der Erfahrung des Jetzt − eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht. (...) Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum. Und dieser Dimension meines Daseins − dem Bleibenden − gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre. Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe. Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit.»
[6] Bruder David geht auf die Definition von Thomas von Aquin ein weiter unten im Audio in Ergänzend: 2.2. (55:57)
[7] Rilke: ‹Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten› (Sonette an Orpheus 1. Teil, IX); siehe in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 99-101
Jetzt in diesem Augenblick
Film, Audios und Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krlähmer
(Film 13:35) Isha Johanna Schury: «Aber was ich bei Dir jetzt heraushöre, ist, dass es unabhängig von dem äußeren Umstand immer mein inneres Jetzt gibt, und das innere Jetzt kann ich jederzeit mit Freude, mit erkennender Freude füllen, indem ich zulasse, zu erkennen, dass ich bereits beschenkt bin, weil ich schon atmen darf, weil meine Augen sehen dürfen, weil meine Ohren hören dürfen, und ich einfach hier sein darf und diesen Moment jetzt erleben darf. Verstehe ich das richtig?»
David Steindl-Rast: «Darum ist es so entscheidend, dass wir innehalten und dann horchen: hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir?
Es gibt mir eine Gabe, immer die Gelegenheit, die das Leben jetzt mir schenkt, ist eine Gabe, aber wie es heißt: In jeder Gabe ist eine Aufgabe enthalten und sehr häufig kommt es vor, dass unsere Ideen, was wir jetzt werden müssen oder sollen oder was wir noch aus uns machen sollen usw.: Das hat sehr wenig damit zu tun, was das Leben von uns will.
Und das ist eine der großen Schwierigkeiten: Nicht seine eigenen Ideen zu haben, sondern hinzuhorchen …
Wenn ich sage: Das Leben ‒ das sind die ganzen Umstände, in denen ich mich jetzt zur Zeit befinde ‒, und dahinter steht natürlich das große Geheimnis des Lebens selber, ist uns ein unauslotbares Geheimnis.
Wenn ich sage ‹Geheimnis, dann meine ich nicht irgendwie so was wie Geheimnistuerei oder etwas Verschwiegenes. Ich meine etwas ganz Konkretes:
Wir sind im Leben immer wieder konfrontiert mit einer Wirklichkeit, die hinter allen anderen Wirklichkeiten steht, eine Wirklichkeit, die wir nicht begreifen können. Wir können sie nicht in den Griff bekommen, aber wir können sie verstehen, wenn wir hinhorchen.
(18:43) Isha Johanna Schury: «Woher weiß ich, welche Stimme gerade auf mich einspricht? Ich will sie unterscheiden, dass ich auch wirklich höre: Welche Stimme ist jetzt das wirkliche Leben und welche Stimme ist vielleicht mein Ego oder mein Brauchen, mein Wollen, meine Angst?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht meine Güte und mein Mitleid. Wer heute nicht mit tiefem Mitleid und Schmerz auf die Welt schaut, dem fehlt etwas.
Wenn man wirklich wach ist, musss man heute schon an der Welt leiden, leider.
Aber im gegebenen Augenblick ein gutes Glas Wasser zu haben, was Millionen Menschen fehlt, und einfach jetzt dieses Glas Wasser mit Freude und Genuss zu trinken …
Alle diese Ängste und Schmerzen für die Welt sind im Augenblick nicht wichtig für dich. Was für dich dir das Leben jetzt schenkt, ist dieses Glas Wasser und an dem darfst du dich vollkommen freuen und es genießen.
Darum ist dieses Eine jetzt wichtig und das Andere ist natürlich im großen Bild viel wichtiger, aber für dich jetzt ist etwas wichtig, was dir jetzt das Leben sagt.»
(28:35) Isha Johanna Schury: «Warum haben wir immer so das Gefühl, etwas zu versäumen, Bruder David?
Die Menschen haben immer das Gefühl, sie versäumen etwas und landen nie in ihrem Jetzt, sind immer entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und wenn doch Liebe im Leben nur im Jetzt stattfindet, warum versäumen wir dann so gern oder so oft unser Leben?»
David Steindl-Rast: «Es ist wieder die Frage: Können wir im Jetzt wirklich leben, können wir uns Üben, im Jetzt zu leben?
Und wenn wir dankbar leben, wenn wir im Augenblick ‒ in jedem Augenblick idealerweise ‒ hinhorchen, ganz da sind, für das, was das Leben uns zuspricht in diesem Augenblick und es dann versuchen zu tun, der Aufgabe gerecht zu werden: Wenn wir das tun, dann leben wir im Augenblick.
Und im Augenblick hat dieses Gefühl, etwas zu versäumen überhaupt keinen Platz, wird sind ja so beschäftigt mit dem, was wir jetzt tun, dass uns das gar nicht in den Sinn kommt.
Ich verstehe schon, was du damit meinst: immer das Gefühl haben, ich versäume etwas, aber das kommt nur davon, dass wir eben nicht wirklich im Jetzt leben.
Die Übung der Dankbarkeit ‒ Dankbarkeit als ein spiritueller Weg, das ist er ja ‒, auf diesem Weg zu gehen, ist eigentlich ein sehr sicheres Mittel, nicht in diese Angst zu verfallen, etwas zu versäumen.»
(37:05) David Steindl-Rast: «Und wir erleben immer wieder, dass das Leben es besser meint und besser weiß als wir. Das Leben ist weiser als unser kleiner Verstand.»
Isha Johanna Schury: «Ja! Das heißt, wir könnten uns dieses ganze Tamtam schenken mit ‹Finde deinen Lebenssinn, finde dies, finde jenes›: Macht das Sinn? Wahrscheinlich nicht so viel, oder?»
David Steindl-Rast: «Es ist schon eine sehr gute Frage: ‹Wie kann ich meinen Lebenssinn finden›? Und die Antwort ist: ‹Nicht dadurch, dass ich in mir grüble und mir selber Pläne mache ‒ das ist ja ein winziger Teil des ganzen Lebens ‒, sondern ich kann den Sinn meines Lebens dadurch finden, dass ich auf das Leben selber, wie es mir gerade jetzt in diesem Augenblick begegnet, hinhorche und antworte.»
(43:56) Isha Johanna Schury: «Ich hätte dich jetzt gefragt, ob sich aus dir noch etwas mitteilen möchte, abschließend für unser Gespräch, wo du das Gefühl hast, das möchte noch hinaus?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht den Gedanken, den Tod allzeit vor Augen zu haben.
Das ist ein Satz aus der Regel des hl. Benedikt, der mich schon, bevor ich Benediktiner geworden bin, sehr berührt hat, und ich habe erkannt ‒ damals war ich so ungefähr 19 oder 20 Jahre, höchstens ‒, dann habe ich erkannt, dass unser ganzes Leben bis dahin dadurch geprägt war, dass wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Das war ja mitten im Krieg und unsere Freunde sind immer wieder gefallen an der Front, die Bomben sind gefallen links und rechts, also, wir hatten den Tod allezeit vor Augen.
Und rückblickend, damals habe ich gesehen: ‹Ah, darum waren wir so glücklich!
Darum waren wir so freudig! Weil wir ‒ damals hätte ich das nie so ausdrücken können ‒, weil wir im Jetzt leben mussten.
Wenn man den Tod vor Augen hat, muss man im Jetzt leben.
Warum ich dann Mönch geworden bin und Benediktiner, hat viel damit zu tun, dass ich wirklich den Tod täglich vor Augen halten wollte. Und ich muss sagen, wenn ich auch sonst Vieles besser machen hätte können, aber das ist mir jedenfalls gelungen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es keinen Tag in meinem Leben gegeben hat, an dem ich nicht viele Male den Tod vor Augen hatte.
Und darum muss ich sagen, ich hatte wirklich ein sehr freudiges Leben. Dafür bin ich auch sehr dankbar.»
[Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch› (Bruder David)
1.2. Wie uns dankbar leben heil und gesund macht (2011): Audio und Transkription:
(08:50) ‹Und da könnte man es ganz einfach sagen: Spiritualität ist aus der Ganzheit leben. Das ist dann diese Lebendigkeit, die aus der Ganzheit kommt, aus der Verbundenheit mit allen und allem.
Und da muss ich eben wieder auf ein persönliches Erlebnis zurückgreifen, denn wir wollen ja nicht etwas über die Sache sagen, sondern Ihr Erlebnis wecken: Wo haben Sie diese Einheit mit allen erlebt? Wo haben Sie diesen Geist, Lebensatem, diese Lebendigkeit, die alles verbindet, wo haben Sie die erlebt? (S. 3)
(15:02) Worauf es ankommt, ist, wir erleben dieses Einssein mit allem, und zwar mit uns selbst, mit allen und allem und mit dem Grund des Lebens, dem Lebensgrund. Und in diesen Augenblicken sind wir über ‒ da müssen Sie wirklich genau aufpassen, war das auch wirklich so bei mir? ‒, da sind wir irgendwie über die Zeit erhaben.
Es kann ein Augenblick sein, in dem sich so viel ereignet, als ob es Stunden gewesen wären, fast ein Leben lang. Es kann aber auch sein, dass eine ganze Stunde plötzlich vorüber ist, wie wenn es nur ein Augenblick gewesen wäre.
Also die Zeit verschiebt sich in diesen Gipfelerlebnissen, wir sind im Jetzt! Das ist das Entscheidende, wir sind wirklich im Jetzt. Und meistens sind wir nicht im Jetzt. Meistens sind unsere Gedanken 49% schon in der Zukunft und können es nicht erwarten oder fürchten, befürchten, was sich ereignen wird und 49% hängen noch an der Vergangenheit und bedauern, dass wir nicht mehr dort sind, oder beweinen die Umstände, dass wir uns als Opfer ansehen. Wir hängen an der Vergangenheit, wir strecken uns aus in die Zukunft. Und ungefähr 2% sind da für unser Bewusstsein, im Augenblick zu leben, im Jetzt zu leben. Und in diesen Augenblicken der Gipfelerlebnisse ‒ das ist für Maslow auch so bedeutend ‒, sind wir im Jetzt: vollkommen, 100% im Jetzt. Und darum erleben wir diese große Befreiung.
Es ist eine Befreiung von der Zeit. Wir sind jetzt im Jetzt ‒, wir sind wirklich Wir selbst. Nicht unser kleines Ich, sondern unser Selbst. (S. 4f.)
(23:29) In dem Augenblick, wo wir dankbar sind ‒ wieder, erinnern Sie sich an einen Augenblick, in dem Sie wirklich dankbar waren ‒, sind wir im Jetzt. Man kann für die Vergangenheit dankbar sein, man kann für die Zukunft dankbar sein, dankbar sein kann man immer nur im Jetzt.
Sind wir im Jetzt, sind wir Wir selbst. (S. 7)
(27:57) Wie kann man das also jetzt im Alltag auch üben? Wie kann man das praktizieren? Wie können wir es methodisch tun? Und wie können wir uns methodisch immer wieder an die Gelegenheit erinnern, die uns da geboten wird, und diese Gelegenheit verwenden im Jetzt?
Wie können wir immer wieder ins Jetzt kommen? Denn das ist das Ziel jeder spirituellen Übung. (S. 8)
(33:56) Wenn wir im Jetzt leben lernen, und das lernen wir durch die Dankbarkeit: Jedes Mal, wo wir dankbar sind, verschieben wir unser Gewicht vom Ich auf das Selbst. (S. 10)
(35:52) Und wenn wir im Selbst sind und im Jetzt sind, dann sind wir über den Tod erhaben. Dann brauchen wir keine Furcht mehr vor dem Tod haben.
Denn der Tod kommt, wenn meine Zeit um ist, aber das heißt gar nicht, dass mein Selbst davon betroffen wird.
Das Jetzt ist nicht in der Zeit.
Das wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich sage, das Jetzt ist nicht in der Zeit. Aber unsere westliche Philosophie hat das schon sehr lange gewusst:
Die Zeit ist im Jetzt!
Wir stellen uns das meistens so vor, dass die Zeit eine lange, lange Linie ist. Auf der einen Seite ist die Vergangenheit, auf der anderen Seite ist die Zukunft. Wo ist jetzt das Jetzt? Es ist der kleine Abschnitt zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Wenn es ein kleiner Abschnitt ist, lade ich Sie dazu ein, diesen kleinen Abschnitt in die Hälfte zu schneiden und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist: Wo ist das Jetzt? Das ist Haarspalten. Gut ‒, solang es ein Haar ist, können wir es spalten.
Wir können es spalten, bis wir finden, dass das Jetzt, das wir erleben, zu unserem Leben gehört, nicht in der Zeit ist: In der Zeit frisst die Vergangenheit nahtlos die Zukunft auf. (S. 10f.)
1.3. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Vertiefungsseminar:
(00:43) Dankbarkeit, der kürzeste Weg ins Jetzt zu kommen
1.4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen (Mitschrift):
Wir sind JETZT im Augenblick, wir sind völlig gegenwärtig, JETZT im Augenblick
Fragen im anschließenden Gespräch:
Erlösung aus der Verstrickung in der Zeit
1.5. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
2.1. Der Weg zu Fülle und Nichts ‒ Vortrag und Kanon:
(30:52) Bruder David übersetzt und deutet die Zeilen von John Cage (Übersetzung ins Deutsche) ‹If you let it, it supports itself. You don’t have to. Each something is a celebration of the nothing that supports it. When we remove the world from our shoulders we notice it doesn’t drop. Where ist the responsibility?› / (33:30) ‹Wo ist dann unsere Verantwortung?› Darin, es zu feiern: Bruder David liest und deutet von Rilke: ‹Rühmen, das ists!› und die Schlussverse des Sonetts ‹Sei allem Abschied voran› ‒ Chronos: Zeit der Uhren und Kairos: Zeit zum Entschluss , Gelegenheit, völlig zu sein ‹dieses einzige Mal› / (37:53) Br. David liest das Sonett noch einmal
1.6. Retreat-Woche in Assisi (1989); siehe auch Erlösende Kraft: Ergänzend: 2.3.:
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
2. Weitere Texte
2.1. Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Text und Anm. 2:
«Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit ausdrücken können, Bewegung und Ruhe. Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt. Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.»
Dr. Henning Klingen: «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›»
2.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 20:
Ein Teilnehmer fragt, welche Formen und Wege es gibt, um ins Schweigen zu kommen und darin zu wachsen. Er erwähnt Zen-Meditation.
Bruder David: «Das Stichwort für dieses ins Schweigen kommen, ist ‹Innehalten›.
Der Grund, warum wir nicht immer schon im Schweigen sind, ist: Wir sind die Eilenden, Wir sind die Treibenden, sagt Rilke (Sonette an Orpheus 1. Teil, XXII):
Wir sind die Treibenden,
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.[1]
Und das Bleibende ist das Jetzt, das große Jetzt, der Augenblick und wir sind meistens so in der Zeit gefangen, wir hängen noch an der Vergangenheit und weinen, dass sie nicht mehr da ist, oder fühlen uns als Opfer der Vergangenheit, oder wir sind ganz ungeduldig in der Zukunft. Also wir sind in der Zeit gefangen. Das ist wie ein reißender Strom ‒ und ein reißender Strom ist noch ein zu schönes Bild, weil es nicht so organisch ist wie ein reißender Strom ‒, sondern ganz mechanisch: Wir sind in dieser mechanischen Zeit der Schweizer Uhren eingefangen, und im Augenblick des Innehaltens ‒ ein schönes Wort, ‹Innerlichkeit› ist da drin ‒ wird es schon schweigen, wird es schon still. Das werden wir dann gleich ein bisschen üben.»
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 83-85:
«Zeit hat zwei Aspekte: Einen Positiven und einen Negativen. Der Negative ist, dass wir uns in der Zeit verfangen.
Die meisten von uns müssen zugeben, dass wir oft an der Vergangenheit hängen oder die Vergangenheit bedauern und sehr mit der Vergangenheit beschäftigt sind oder / und zugleich auf die Zukunft schon nicht mehr warten können, und auch mit ihr beschäftigt sind, oder uns vor der Zukunft fürchten, und es bleibt ganz wenig Energie übrig, um im Jetzt zu sein.
Und auf dieses Jetzt kommt wieder alles an. Im Jetzt zu sein, das ist das Entscheidende.
T.S. Eliot, den ich schon mehrmals zitiert habe, sagt:
‹All is always now.› ‒ ‹Alles ist immer Jetzt.›[2]
Das klingt zuerst wie eine Binsenwahrheit, aber es ist eine ganz tiefe Einsicht.
Es ist nur Jetzt.
Wenn wir nicht im Jetzt sind, dann sind wir nicht wirklich da.
Was sich in uns an die Vergangenheit klammert oder auf die Zukunft schon ausrichtet, ist nicht da.
Das heißt nicht, dass man sich nicht erinnern soll. Erinnerung ist etwas Wunderbares:
Im Jetzt kann Erinnerung sein oder Planung, ist etwas ganz Wichtiges, kann auch Jetzt sein.
Aber es muss immer Jetzt sein, denn wenn’s nicht Jetzt ist, war es nur oder wird sein, und das i s t nicht.
Und wir wollen sein!
Nur im Sein, in der Lebendigkeit des Jetzt-Seins begegnen wir dem Geheimnis.
Der negative Aspekt der Zeit ist, dass wir in ihr gefangen sind.
Der positive Aspekt der Zeit ist, dass sie uns immer wieder neue Gelegenheiten schenkt.
Wir können uns hier überhaupt fragen: Warum soll es überhaupt Zeit geben? Warum ist nicht alles Jetzt?
Wenn alles nur Jetzt wäre, gibt es nur diese eine Gelegenheit, und das Leben ist so großzügig, dass es uns, wenn man diese Gelegenheit verpasst, eine neue Gelegenheit gibt.
Und wenn wir diese Gelegenheit beim Schopf ergreifen, führt es zu einer weiteren Gelegenheit. Immer wieder eine neue Gelegenheit, solange wir leben, von Anfang bis Ende eine große Gelegenheit nach der andern.
Und dieses Innewerden bezieht sich letztlich auf die Gelegenheit.
Das Innehalten, damit wir diesen Automatismus der Zeit brechen und wirklich im Jetzt sind. ‒
Das Innewerden bezieht sich auf: die Gelegenheit innewerden.
Wozu ist jetzt, das Jetzt, die Gelegenheit?
Und meistens ist es die Gelegenheit uns zu freuen. Uns einfach an dem Geschenk zu freuen.
Wir können es kaum glauben, das ist 99% der Zeit, einfach jeder Augenblick eine Gelegenheit, uns zu freuen.
Aber wenn wir beginnen innezuhalten, innezuwerden, und dann zu antworten auf die Gelegenheit, die uns geboten wird, wird uns plötzlich b e w u s s t, dass eine Gelegenheit nach der andern eigentlich Gelegenheit ist, uns zu freuen.
Man kann das nur übersehen, weil wir entweder so in der Zeit befangen waren, dass wir gar nicht in der Gegenwart waren, oder weil wir alles so als gegeben hingenommen haben und nicht weiter darüber nachdenken.
Durch das Innehalten wachen wir dann auf und werden wirklich inne, was uns jetzt geschenkt ist.
Im Augenblick nachdenken, innehalten, innewerden: Was wird uns jetzt geschenkt?»
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 88f., 91:
Eine Teilnehmerin fragt Bruder David:
«Wo ist die Entscheidung in dem Stop ‒ Look ‒ Go?»
Bruder David: «Das Entscheidende ist im Augenblick zu sein. ‒
Und das Stop ‒ Look ‒ Go ist eine Methode ins Jetzt zu kommen.
Wenn wir im Jetzt sind, dann fließt die Entscheidung schon durch uns durch und wir brauchen uns gar nicht mehr kompliziert zu entscheiden.
Wir sind eins im Selbst, im Jetzt, und es fließt durch.
Und wir kennen diese Situation, nicht von außen, sondern von innen.
Wir alle haben diese Situationen erlebt, in denen es sich einfach getan hat.
Und nachher fragt man sich, wie hast du denn das gemacht? —
Keine Ahnung! Es hat sich wie von selbst ergeben.
Es ergibt sich.»
Bruder David bringt das Beispiel eines Feuerwehrmannes, der ein Kind aus den Flammen rettet. Und der Reporter fragt: «Wie war das, diese Entscheidung zu fassen?» «Entscheidung? — Ich hab es schon getan, bevor ich etwas gewusst hatte.»
«… Das ist dieselbe innere Kraft, Lebenskraft, die wir durch uns fließen lassen, wenn wir im Jetzt sind.»
Ein Mann meldet sich: Er kann nicht gut zuhören. … Er strengt sich an …
Bruder David: «Nur immer wieder üben und keine Energie daran verschwenden, sich zu ärgern, weil’s nicht gelungen ist. Die Energie wird schon gebraucht für den nächsten Ausgenblick und die nächste Gelegenheit.
Immer wieder anfangen. Das ist eben das große Geschenk, dass das Leben uns noch eine Gelegenheit und noch eine Gelegenheit gibt.»]
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[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Gedichte, 3; siehe auch Arbeit und Schweigen (1989), 296; Orientierung finden (2021), 98, und Audio in Ergänzend: 1.5.
[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten
Ich-Selbst
Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Wenn ich von meinem Selbst spreche, meine ich mein ureigenstes Wesen. Ich bin mir bewusst, dass ich «in mich gehen» kann, in einen inneren Bereich, der nur mir selbst zugänglich ist. Nur ich kann mein Bewusstsein erfahren, die andren erfahren nur meine von außen sichtbare Gegenwart als Körper unter andren Körpern. Aber normalerweise sagen wir nicht «Ich b i n ein Körper», sondern «Ich h a b e einen Körper». Das ist jedoch seltsam, wenn wir es bedenken. Da sitzt ein Körper und sagt: «lch h a b e einen Körper.»
Wer spricht denn da? Es ist mein verkörpertes Selbst, das spricht ‒ als eins mit meinem Körper. Und zugleich spricht es über meinen Körper als seine sichtbare Erscheinung. Innen und außen können nicht getrennt, sondern nur unterschieden werden.
Wenn ich also «lch-selbst» sage, dann meine ich eine Einheit, mein verkörpertes Selbst. Wie aber kann ich mein Ich klar von meinem Selbst unterscheiden? Kann ich den Unterschied zwischen Selbst und Ich bewusst erleben?
Das lässt sich an einem Experiment erproben. Unser reflektierendes Bewusstsein ermöglicht es uns, uns selbst zu beobachten. Beobachte dich also, wie du dasitzt und diese Zeilen liest. Damit uns das gelingt, müssen wir uns innerlich von dem, was wir beobachten, «distanzieren».
Schau noch einmal genau hin mit deinem inneren Auge: Siehst du irgendwie gleichzeitig dich selbst als beobachtet und als Beobachter? Dann musst du dich noch ausschließlicher auf das Beobachten konzentrieren. Früher oder später wird es dir gelingen, nur mehr das Beobachtete zu beachten, weil du dich vollständig mit dem Beobachter identifizierst. Wenn dir das gelingt, hast du das Ziel erreicht. Der Beobachter, den niemand mehr beobachtet, ist das Selbst.
Wo ist dieses Selbst? Nirgends und überall. Du kannst es nicht verorten. Daher ist es auch nicht in Teile zerlegbar. Daraus entspringt die überraschende Einsicht, dass es nur ein einziges Selbst gibt: eins für uns alle ‒ ein grenzenloses, unteilbares Ganzes!
Trotzdem ist unser Ich einzigartig und verschieden von jedem andren Ich.
Das eine unerschöpfliche Selbst drückt sich immer wieder in einem neuen Ich aus. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht einmal unsre Fingerabdrücke sich zweimal unter Milliarden andrer finden. Und doch meinen wir alle ein und dasselbe Selbst, wenn wir «Ich selbst» sagen. In jedem, dem ich gegenüberstehe, begegnet mir das eine Selbst, das uns allen gemeinsam ist. Dies ist von schwerwiegender Bedeutung für meine Beziehung zu andren.
Das Selbst ist nicht nur über den Raum erhaben, sondern auch über die Zeit und ist in diesem Sinne überzeitlich.
Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, finde ich ein andres, ein kindliches Ich, nicht mein jetziges. Trotzdem aber ist mein Selbst damals wie heute das gleiche; es bleibt auch in meiner Erinnerung unverändert. Schulfreunde erkennen einander nach dreißig Jahren wieder, obwohl nicht ein einziges Molekül in ihren Körpern mehr das gleiche ist. Sie erkennen einander, weil das bleibende Selbst sich im stets veränderlichen Ich des andren ausdrückt. Trotz all unsrer Einschränkungen ist jeder Mensch eine neue Verwirklichung der unbegrenzten Möglichkeiten des Selbst.
Erinnerst du dich an den Beginn deiner allerersten Freundschaft ‒ vielleicht schon im Kindergarten? War das nicht ein Augenblick überwältigten Staunens: Wie kann ein andres Kind so völlig anders sein und gleichzeitig so ich? Nicht wie ich ‒ die große Verschiedenheit zwischen uns macht das Ganze erst so spannend ‒ und doch im wahrsten Sinn des Wortes ich!
Der griechische Philosoph Aristoteles (385-332 v. Chr.) verstand Freundschaft als «eine einzige Seele, die in zwei Körpern wohnt» ‒ ein einziges Selbst in unsrer Terminologie.
Natürlich wohnt in allen Körpern «ein einziges Selbst», wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber die Augen von Freunden sind offen für diese ausschlaggebende Tatsache und sie sind sich ihrer Bedeutung füreinander bewusst.
Wenn wir uns dessen in Bezug auf alle andren wenigstens manchmal bewusst sein könnten, dann wäre unsere Welt ein freundlicherer Ort.
Im Laufe meines Lebens wurde mir mehrmals die Freude zuteil, Menschen kennenzulernen, deren Ich das Selbst mit großer Klarheit durchscheinen ließ. In ihrer Gegenwart fiel es mir leichter, «ich selbst» zu sein. Sie machten mir bewusst, dass auch ich ein einzigartiger Ausdruck des einen großen Selbst bin.
Verschiedene Traditionen geben dem Selbst unter diesem Aspekt unterschiedliche Namen. Für die Pima in Arizona heißt es z. B. «I’itoi», für Hindus «Atman», für Buddhisten «Buddha-Natur». Christen nennen es «Christus in uns».
In diesem Sinne schreibt der heilige Paulus: «lch lebe, aber nicht ich, Christus lebt in mir» (Gal 2,20).
Dieses Selbst immer klarer durchscheinen zu lassen durch unser Ich, stellt die große Aufgabe dar, «zu werden, wer wir wirklich sind».
Das ist die Aufgabe, «unsre Rolle im Leben gut zu spielen», wie man sagt.
Was heißt das aber? Unsre Rolle im Leben ist kein festes Drehbuch, und sie zu spielen, bedeutet zu improvisieren ‒ wie Schauspieler bei Improvisationsaufführungen oder wie Jazzmusiker. Jazz entfaltet und verändert sich ständig auf unvorhersehbare Weise, weil die Spieler aufeinander hinhorchen und jeder von allen andren beeinflusst wird.
Was ein Einzelner beitragen kann, wird von seinem Instrument mit all dessen Möglichkeiten und Grenzen bestimmt. Das Instrument, das wir von Geburt an mitbekommen, ist weitgehend durch Faktoren bestimmt, die nicht unter unsrer Kontrolle stehen. Wie viel hängt allein schon von Zeit und Ort unsrer Geburt ab ‒ von Zeit und Ort unsres «Auftritts» auf der Bühne des großen Welttheaters, auf der das Stück schon seit Jahrtausenden läuft.
Und denken wir an unsre Stärken und Schwächen, unsre ererbten Begabungen und Unzulänglichkeiten. Ganz gleich, wie wir mit ihnen umgehen, werden sie jedenfalls die Möglichkeiten und Grenzen unsrer Improvisation weitgehend mitbestimmen. Die Erfüllung unsrer Aufgabe «gut zu spielen», kann also nicht vom Instrument abhängen, auf das wir ja keinen Einfluss haben. Sie muss davon abhängen, wie «gut» wir es spielen.
Woran kann ich aber erkennen, dass ich meine Rolle gut spiele? Was heißt hier «gut»? Die Antwort ergibt sich aus dem, was wir über das Selbst gesagt haben:
Sie lautet: Du musst als «Du selbst» spielen. Wie gut wir «unsre Rolle im Leben spielen», hängt nicht von unsrer Veranlagung ab, sondern davon, dass unser Ich immer transparenter wird für das Selbst.
Das bedeutet auch, dass wir uns dessen bewusst bleiben, dass wir ‒ die Spieler ‒ alle ein Selbst sind. Und dass wir unsre gegenseitige Zugehörigkeit durch unsre Art zu spielen bekräftigen. Dann wird unser Spielen ‒ alles, was wir tun ‒ ein «gelebtes Ja zur Zugehörigkeit» ausdrücken. Das aber ist genau unsre Definition von Liebe.
Wenn du darüber nachdenkst, wirst du finden, dass Liebe in all ihren authentischen Formen «das gelebte Ja zur Zugehörigkeit» ist. «Unsre Rolle gut zu spielen», heißt also, durch alles, was wir im Leben tun, Liebe auszudrücken.
Das entspricht der Forderung, die wir in jeder Form von Spiritualität wiederfinden und die in der jüdisch-christlichen im allbekannten Gebot ihren Ausdruck findet: «Liebe deinen Nächsten als dich selbst!» (Lev 19,18).
Nicht «wie dich selbst» lautet es, sondern, «a l s dich selbst» ‒ da dein Selbst ja auch das Selbst deines Nächsten ist. In jedem unsrer Mitspieler begegnen wir unsrem gemeinsamen Selbst ‒ auch in unsren Feinden. Daher ist «Liebe deine Feinde» (Mt 5,44) keine widersprüchliche Zumutung.
Zum Beispiel bleiben alle, die den Regenurwald zerstören, meine Feinde, obwohl ich als Christ sie lieben will. Würde Liebe alle zu Freunden machen, dann könnte ich ja niemals Feinde lieben. Meine Liebe wird sich daran zeigen, dass ich zwar alles tue, um ihren Bemühungen entgegenzuwirken und es ihnen unmöglich zu machen, Schaden anzurichten, ihnen aber gleichzeitig den Respekt erweise, der jedem Menschen gebührt, und sie so behandle, wie ich selbst behandelt werden möchte, wenn unsre Rollen vertauscht wären.
Inmitten meiner tatkräftigen Opposition darf ich niemals vergessen, dass das Selbst meiner Feinde mein Selbst ist.
Es gibt nur e i n Selbst. In dem Ausmaß, in dem wir diese Tatsache aus dem Bewusstsein verlieren, ist uns auch nicht mehr bewusst, dass letztendlich das Selbst alle Rollen spielt.
Wenn ich das vergesse, werde ich wie ein Schauspieler, der sich so in seine Rolle verliert, dass er sich am Ende nicht mehr von der Rolle unterscheiden kann. Wenn dies geschieht, hat mein Ich mein Selbst vergessen. Wir nennen das Ich, das seine Beziehung zum Selbst verloren hat, das Ego.
[Orientierung finden (2021): ‹Das Selbst ‒ mein ureigenstes Wesen›, 19-23]
[Ergänzend:
1. Filme
1.1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
«Wenn man von der Selbstfindung spricht, denken leider sehr viele Menschen nicht an wirkliche SELBST-findung, sondern an noch größere Vereinzelung dadurch, dass man sein EGO, sein kleines ICH in Zeit und Raum beweihraucht oder genau definiert oder was immer. Wirkliche SELBST-findung heißt ja, das in uns selbst finden, was uns mit allen andern verbindet.
Das SELBST ist, was uns mit allen andern verbindet. Letztlich gibt es nur ein SELBST. Und dieses eine SELBST drückt sich in vielen ICH aus.»
1.2. Die Rolle ist das Ich, der Schauspieler ist das Selbst (2011)
Zum Film: Das Ich als Maske und das Selbst ‒ kurzer Ausschnitt aus ‹Ich und Selbst› im Zentrum Buddhas Weg im Odenwald (DE)
2. Audios
2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch› (Bruder David)
2.2.Lebendige Spiritualität (2015)
Der Doppelbereich
Die Themen des Gesprächs:
‹Selbstlos› ‒ Selbst ‒ Heilung
2.3. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Transkription S. 2, 11-13 und 27f.:
Wer bin ich? Ich-Selbst oder Ego?
2.4. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription:
(18:43) Was meinen wir, wenn wir Ich sagen und was meinen wir, wenn wir ‹Ich selbst› sagen?
(29:51) Wie kommen wir in Kontakt mit unserem Selbst? Durch alle die verschiedenen Formen der Meditation und der spirituellen Praxis: Auch dankbar leben ist ein ganz ebenso gültiger Weg wie jede andere spirituelle Praxis, ein Weg mit dem Selbst in Kontakt zu kommen, aus dem Selbst heraus zu leben
2.5. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Heilung von Körper und Geist: Gespräch mit Pater Johannes und Bruder David:
(22:04) Ich und Selbst unterscheiden: Das Selbst, der Quellgrund in uns
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Sehen lernen:
(01:24:43) Ich und Selbst: die göttliche Wirklichkeit in uns
3. Weitere Texte
3.1. Das grosse Geheimnis (2019): Interview in Visionen (3/2019) zum 93. Geburtstag von Bruder David:
«Erwachen – was löst der Begriff aus in einem 93jährigen Benediktiner mit viel Zen-Erfahrung?»
Bruder David: «Die christliche Taufe bedeutet ursprünglich ‹Erleuchtung› – griechisch ɸωτισμος (phōtismos). Und in einem Taufhymnus aus dieser frühesten Zeit des Christentums heißt es: ‹Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten› (Epheser 5:14). Erwachen und Erleuchtung sind hier aufs Engste verbunden. Worum aber geht es dabei? Um diese Frage zu beantworten, muss ich etwas weiter ausholen.
Wir Menschen leben im Doppelbereich von Ich und Selbst. Unser Ich steht in Raum und Zeit, hat Anfang und Ende, ist also vergänglich. Wir rühren aber auch an Unvergängliches (das Große Geheimnis habe ich es genannt) und wissen in unseren lebendigsten Augenblicken – etwa in Gipfelerlebnissen – dass wir mit unserem innersten Selbst auch dieser Wirklichkeit angehören. Dabei kann uns bewusstwerden, dass unser Selbst über Raum und Zeit erhaben, und daher unvergänglich und unteilbares Eines für uns alle ist. Es gibt nur ein Selbst, ob wir es Christus nennen, wie in dem erwähnten Taufhymnus, oder unsere Buddha-Natur, oder Ātman, oder mit sonst einem Namen. Wenn wir vollbewusst ‹ich selbst› sagen, betonen wir zugleich unsere Einzigartigkeit als Ich und unsere Verbundenheit mit allen Andren im Selbst. Alles, was wir aus dieser Mitte heraus tun, blüht auf in Harmonie mit dem Universum.
Aber leider vergisst unser Ich allzu oft sein Selbst und schrumpft dadurch zum Ego zusammen. Das Ego ist ein Ich, das vergessen hat, dass es durch sein Selbst mit dem Ganzen verbunden ist. Daher muss das Ego sich vereinzelt und von all den anderen Egos eingeschüchtert und bedroht fühlen. Aus Furcht wird es bereit zu Gewalt, Rivalität und Habsucht – alle drei Grundübel unserer Gesellschaft. Wenn mein Ego aber wieder zu vollem Selbstbewusstsein erwacht, dann wird es zum Ich-Selbst und kann Gewalt durch Gewaltfreiheit ersetzen, Rivalität in Zusammenarbeit verwandeln und Habsucht in Teilen. Das sind Stichworte für eine Gesellschaft, wie wir alle sie uns ersehnen.»
3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 103-112, 148-150:
«Das SELBST ist eines, aber ist so unerschöpflich, dass es sich immer wieder, immer wieder neu in noch einem ICH und noch einem ICH und noch einem ICH ausdrücken will, muss und kann. Drum gibt es so viele ICH und nur ein SELBST für uns alle. Und wenn man nur bedenkt, wenn man mit dem Bewusstsein, mit dem SELBST-Bewusstsein, lebt, wie anders man sich dann zu anderen Menschen verhält: Jeder Mensch, auch der unsympathischste, bin ich selbst. Nicht ich, aber das ist mein SELBST, wir haben nur ein SELBST, auch wenn er unsympathisch ist, der Mensch, nur ein ganz anderes ICH. Aber es hilft schon, zu wissen, er ist mein SELBST.»]
Jetzt im Stundengebet
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
Die stille Ekstase der Gregorianischen Gesänge spricht Menschen aller Glaubensrichtungen an. Was übt diese zeitlose Faszination aus? Die Gesänge sprechen auch heute unser Herz an: Sie rufen uns auf, in das Jetzt einzutreten, innezuhalten, zuzuhören und auf die Botschaft des jetzigen Augenblicks zu achten. Sie sprechen den Mönch in jedem von uns an und ebenso unsere Seele, die sich nach Frieden sehnt und nach der Verbindung mit jener letztendlichen Quelle von Sinn und Wert.
Mit Informationen übersättigt, oft jedoch jeglichen Sinnes beraubt, haben wir das Gefühl, in einem endlosen Strudel von Pflichten und Anforderungen gefangen zu sein, gefordert von Dingen, die wir erledigen und in Ordnung bringen müssen. Auch wenn wir uns bange von einer Aktivität in die nächste stürzen, spüren wir dennoch, dass es im Leben mehr geben muss als unsere geschäftlichen Termine. Unbehagen und hektisches Herumjagen sind das Ergebnis unserer verkehrten Zeitempfindung ‒ einer Zeit, die stets abzulaufen scheint.
Die westliche Kultur verstärkt diese irrtümliche Auffassung von Zeit als beschränktem Gut: ständig arbeiten wir auf Termine hin, ständig fehlt uns die Zeit, ständig ist die Zeit abgelaufen.
Die Gesänge hingegen rufen ein anderes Verhältnis zur Zeit wach, in dem Zeit wohl wertvoll, aber nicht knapp ist. Sie beschwören die Urform des klösterlichen Lebens herauf, in welcher die Zeit harmonisch dahinfließt. Die verfügbare Zeit entspricht der vorliegenden Aufgabe. Es ist immer genügend Zeit da für alles, was getan werden muss.
Die reinen, klaren und erhabenen Töne der Gesänge erinnern uns daran, dass es sehr wohl eine andere Art und Weise gibt, in dieser lauten, zerstreuten Welt zu leben, und dass diese nicht so unerreichbar ist, wie es scheint.
Wenn wir uns den Gregorianischen Gesang anhören, werden wir nicht nur der ineinander verwobenen Stimmen der Mönche gewahr, sondern auch eines beinahe unhörbaren Echos, einer zusätzlichen Tiefendimension dieser Musik. Und es ist diese heilige, transzendente Qualität der in einer hohen Kapelle gesungenen melodischen Linien, welche viele am Gregorianischen Gesang so sehr berührt.
Gerade diese Tiefendimension gleicht der Jetzt-Dimension der Zeit. Denn «jetzt» findet nicht innerhalb der chronologischen Zeit statt, sondern transzendiert sie.
Hier kann Zeit nicht als etwas, das knapp wird, begriffen werden, sondern als etwas, das wie Wasser aus einer Quelle steigt und zu jener Fülle der Zeit anschwillt, die jetzt ist.
Genau in die Mitte dieses Lebens im Jetzt holen uns die Gesänge zurück.
Der Gregorianische Gesang regt uns durch seine Harmonie, Ganzheit und Gesundheit dazu an, aus den Vorgegebenheiten und Spannungen des Arbeitstages auszutreten, unser eingefahrenes Selbst loszulassen und uns in unserem wahren Selbst einzufinden.
Der Gesang ist eine Einladung an unsere Seele, den Zynismus hinter uns zu lassen, das innere Geschwätz abzustellen und hinzuhorchen.
Die Stunden sind die «Jahreszeiten» des Tages. Früher wurden sie mystisch verstanden. Frühere Generationen, die nicht von der Uhr beherrscht wurden, verstanden die Stunden persönlich und begegneten ihnen als Boten der Ewigkeit im Fluss der Zeit, der wächst, erblüht und Früchte trägt. Im sich entfaltenden Rhythmus aller Dinge, die auf Erden wachsen und sich verändern, war die Vorgabe jeder Stunde von einer unendlich reicheren und komplexeren Eigenart als unsere sterile Uhrzeit. Man verstand sie als Boten einer anderen Dimension ‒ gleichsam als Engel ‒ die anzeigten, dass jeder Stunde ihre ureigene Bedeutung innewohnte.
Auch heute noch ‒ inmitten unserer vollgepackten Geschäftstermine ‒ können wir feststellen, dass die Zeit vor der Morgendämmerung, die frühen Morgenstunden, der Vormittag und die Mittagszeit eine eigene Qualität haben. Die Zeit mitten am Nachmittag, wenn die Schatten länger werden, hat einen anderen Charakter als die Zeit der Abenddämmerung, wenn wir das Licht einschalten.
So ist eine Gebetszeit denn eher eine unsichtbare Kraft als eine Maßeinheit.
Die Stunden, in denen die Mönche zum Gebet und zum Gesang zusammengerufen werden, sind Engel, denen wir zu bestimmten Zeitpunkten im Laufe des Tages begegnen.
Die Gebetszeiten werden «kanonische» Gebetszeiten (oder Stundengebete) genannt, weil das Wort «Kanon» ursprünglich einen Messstab bezeichnete und weil der Tag nach seinen verschiedenen Stimmungen gemessen wird. «Kanon» kann aber auch Gitter bedeuten, wie ein Spalier, an dem man Reben hochzieht. So können wir uns die Gebetszeiten auch wie einen Rahmen vorstellen, der den klösterlichen Tag und das gesamte mönchische Leben trägt und unterstützt.
Die mönchische Beziehung zur Zeit wird geformt durch die Stunden des Gebetes; dadurch steigert sich unsere Aufmerksamkeit für die feinen Unterschiedlichkeiten im Ablauf des Tages. Und je größer diese Sensibilität wird, desto empfindlicher werden wir für den gegenwärtigen Augenblick.
Die Wechselgesänge jeder Stunde helfen den Mönchen, voll in die flüchtige Dimension des Jetzt einzutreten.
Der Gesang bereitet uns darauf vor, auf den Ruf jeder Stunde zu antworten; denn das wirkliche Leben findet weder in der Uhrzeit noch in der chronologischen Zeit (nach dem Griechischen chronos) statt, sondern in dem, was die Griechen kairos nannten: der Zeit als Gelegenheit oder als Begegnung.
Aus der mönchischen Perspektive ist die Zeit immer eine Reihe von Gelegenheiten, von Begegnungen.
Wir leben im Jetzt, indem wir uns auf den Ruf eines jeden Augenblicks einstimmen, indem wir hören, was jede Stunde und jede Situation von uns verlangt, und indem wir darauf antworten.
Die Gebetszeiten sind noch in einem anderen Sinn mönchische Tagzeiten. Das englische Wort «season» (oder das französische «saison») hat eine lateinische Wurzel, die «säen» bedeutet.
So sind denn die Stunden des Tages die eigentlichen Stationen oder Abschnitte des Tages, zu denen wir in uns, und draußen in der Welt, bestimmte Samen säen. Die Samen, die wir säen, sind die Tugenden, die jeder Stunde eigen sind.
Tun wir einen Schritt aus der bloßen Uhrzeit hinaus, in der wir lediglich reagieren, und gehen stattdessen in die Tageszeit der Stunden ein, indem wir bewusst auf die Botschaft des Engels einer bestimmten Stunde antworten.
Jede Stunde des klösterlichen Tages stellt eine unverwechselbare Aufforderung dar und verlangt daher nach einer einmaligen Antwort.
Dieses wechselseitige Spiel von Botschaft und Antwort findet wiederum ihren symbolischen Ausdruck in der antiphonalen Struktur der Gesänge.
Anrufung und Antwort ist das Wesen dieser Musik. Die Gesänge sind kein Vortrag eines Solisten, sondern die Darbietung eines Chorals. Und die ganze Gemeinde singt, nicht nur einige spezialisierte Sänger. Wichtig ist nicht der Sänger, sondern der Gesang und eine über sich selbst hinausgehende Antwortbereitschaft, die dieser Gesang erfordert.
Die Regel des heiligen Benedikt - das «Spalier» (denn Regel heißt griechisch canon), das Gitterwerk, das 1500 Jahre lang das mönchische Leben getragen hat ‒ erinnert die Mönche daran, dass sie sich jedes Mal, wenn sie singen, in Gegenwart von Engelchören befinden. Und sie singen wie die Engel, von denen man sagt, sie würden einander gegenseitig anrufen und in nie endendem Lobpreis antworten.
So drückt sich auch das spirituelle Leben als Ganzes aus, das wesensgemäß ein Leben der Liebe ist, in der wir Gott und einander zuhören und antworten. Liebe (Agape) ist keine Privatangelegenheit.
In den Gesängen, die nicht so sehr ein akustisches Phänomen als vielmehr eine innere Erfahrung sind, begegnen wir einer Wirklichkeit, die wirklicher ist als das, was wir in unserem geschäftigen Alltagsleben erleben. Weshalb ist das so?
Einer der Gründe für ein Gefühl des Unbehagens in unserem Alltagsleben könnte darin liegen, dass wir entweder über die Vergangenheit grübeln oder uns Sorgen über die Zukunft machen und deshalb nicht im Hier und Jetzt sind, wo unser wirkliches Selbst weilt.
Die Gesänge rufen uns aus der chronologischen Zeit heraus, in der «jetzt» niemals gefunden werden kann, und in das ewige Jetzt hinein, das gar nicht in der Zeit zu finden ist.
Wenn wir uns die Zeit als Linie vorstellen, die von der Zukunft in die Vergangenheit reicht, dann frisst die Vergangenheit die Zukunft ständig und ohne den geringsten Rest auf.
Solange wir uns «jetzt» als eine ganz kurze Zeitstrecke vorstellen, hält uns nichts davon ab, diese Strecke zu halbieren und dann nochmals in zwei zu teilen.
Weil sich die chronologische Zeit immer weiter teilen lässt, gibt es kein «jetzt» auf unseren Uhren, und in der Uhrzeit lässt sich keine «stille Mitte»[1] finden. Es ist ein Gedankenexperiment, das uns klar machen kann, wie wir im Jetzt etwas erfahren, das in der Zeit gar nicht enthalten ist, sondern weit über sie hinausgeht: die Ewigkeit.
Die Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit. Sie ist, wie Augustin sagte: «Das Jetzt, das nicht vergeht.»
Wir können die Ewigkeit nicht dadurch erreichen, dass wir einfach in einer chronologischen Reihenfolge vorangehen, und dennoch ist sie uns in jedem Augenblick als geheimnisvolle Fülle der Zeit zugänglich.
Wir werden ab und zu, in den Augenblicken, in denen wir am lebendigsten sind, in unseren Gipfelerlebnissen, in das Mysterium der Zeit aufgenommen.
Von solchen Momenten sagen wir etwa: «Die Zeit stand still» oder: «So viel hatte in einem einzigen winzigen Augenblick Platz» oder: «Stunden vergingen, und es war wie im Nu, wie eine Sekunde.»
Unser Zeitgefühl verändert sich in solchen Momenten der tiefen und intensiven Erfahrung, und dann wissen wir, was Jetzt bedeutet.
Wir fühlen uns in jenem Jetzt, in jener Ewigkeit zu Hause, weil das der einzige Ort ist, wo wir wirklich sind.
Wir können nicht in der Zukunft sein, wir können nicht in der Vergangenheit sein; wir können nur in der Gegenwart sein.
Wir sind nur in dem Maße wirklich, in dem wir im gegenwärtigen Hier und Jetzt leben.
Opus Dei nennen es die Mönche, wenn sie die Stunden des klösterlichen Tages besingen: das Werk Gottes. Wenn wir verliebt sind, ist der Lobpreis des geliebten Geschöpfes, das uns gegenübersteht, keine Mühe. Ebenso wenig sind es die Gesänge der Mönche. Der Gregorianische Gesang ist ein Lobpreis, der von Herzen kommt. Wenn die Gesänge auch manchmal ein Schmerzensschrei oder ein Ausdruck unserer Not sind, so behalten sie dennoch stets die Ober- und Untertöne des Lobpreisens bei. Lobpreisen ist unsere Antwort auf die Herrlichkeit Gottes, darauf, dass Gottes Gegenwart in allem, in jedem Menschen und in jeder Situation erstrahlt. Je liebevoller wir sind, desto öfter sehen wir diese strahlende Herrlichkeit. Je öfter wir sie erstrahlen sehen, desto eher ist Lobpreisen unsere spontane Antwort darauf. Das ist es, wozu der Mensch gemacht ist. Wir sind wesensgemäß diejenigen, die lobsingen. Das ist unser höchstes Ziel.[2]
In der traditionellen christlichen Spiritualität heißt es, dass alles sub specie aeternitatis anzusehen ist, was soviel heißt, wie die Dinge vom Gesichtspunkt der Ewigkeit aus zu betrachten.
Im Alltagsleben sind wir versucht, den Dingen ein subjektives Maß anzulegen, sei es den irdischen Erfolg, das Erreichen unserer Ziele oder die Erfüllung der Erwartungen anderer. Unser Leben hat aber nur dann Tiefe und Sinn, wenn wir es von einer höheren Warte aus betrachten und unsere zeitlichen Ziele am ewigen Jetzt messen. Dieses Jetzt hallt in den Gesängen nach.
Wir wissen, dass es uns nicht wirklich glücklich macht, nur Ziele auf der pragmatischen, materiellen, zeitlichen (und damit auch befristeten) Ebene zu erreichen.
Wenn uns etwas mit einer tiefen und anhaltenden Freude erfüllt, dann bedeutet dies, wirklich zu sein, ganz lebendig und gegenwärtig im Jetzt zu Hause zu sein.
Doch wer kann lange in diesem gesegneten Bereich verweilen? Wir stellen uns gerne vor, die großen spirituellen Meister, die großen Asketen, könnten das. Können sie?
In einer alten Geschichte aus den Anfängen des christlichen Klosterlebens kommt das schön zum Ausdruck: Ein junger Mönch reist zu einem alten, hoch geachteten Mönch weit draußen in der ägyptischen Wüste und berichtet ihm, dass er immer wieder seinen Geistesfrieden verliert. Der junge Mönch sucht eine Anleitung, um seinen inneren Frieden zu bewahren. Zu seinem großen Erstaunen antwortet ihm der alte Mann: «Ich habe dieses Gewand nun siebzig Jahre getragen, und nicht einen einzigen Tag lang habe ich Frieden gefunden.»
Wenn sogar dieser erfahrene Mönch feststellt, dass der Frieden des Augenblicks ständig bedroht ist, was sollen wir dann erst dazu sagen? Was zählt, ist aber nicht, dass dieser Friede ein fester Besitz ist, sondern vielmehr, dass wir nie aufhören, danach zu streben. Vollkommenheit heißt nicht etwas erreichen; Vollkommenheit liegt im unermüdlichen Streben.[3]
Die gregorianischen Gesänge erscheinen vollkommen, auch wenn sie nicht von Berufssängern vorgetragen werden. Es gehört zur Eigentümlichkeit dieser Musik, dass jeder lernen kann, im Choral mitzusingen.
Diese Gesänge sind eine Volkskunst: Ihre Unvollkommenheit gehört zu ihrer Vollkommenheit. Sie haben für alle Arten von Stimmen und Gesangstalenten Platz; im Kloster werden die Gesänge von allen gesungen, die gerade da sind und die den Geist der Gemeinsamkeit teilen. So sind Unvollkommenheiten unvermeidlich, genau wie im Leben. Und gerade darum geht es: Eine bemerkenswert überirdische Schönheit entsteht, wenn ganz normale Leute mit all ihren Unzulänglichkeiten sich diesem Gesang hingeben.
Singen ist ein wesentlicher Bestandteil vieler religiöser Überlieferungen ‒ der buddhistischen, jüdischen, hinduistischen, islamischen und anderer. Das kommt daher, dass an einem gewissen Punkt der religiösen Erfahrung das Herz einfach singen will, das Singen bricht aus ihm heraus.
Obwohl es widersprüchlich scheint, kann man sagen, dass das Wort dann entsteht, wenn das Schweigen seine Fülle gefunden hat.
Wie es im Buch der Weisheit heißt: «Denn während tiefes Schweigen alles umfing und die Nacht in ihrem schnellen Laufe bis zur Mitte vorgerückt war» – als also die Nacht am dunkelsten und tiefsten war –, «da sprang sein allmächtiges Wort vom Himmel her, vom königlichen Thron» (Weish 18,14f.):
In der Weihnacht beginnt das Schweigen zu singen.
Dieses Buch ist eine Reise durch die Stunden des mönchischen Tages. Um die Musik der Stille zu hören und ihre Botschaft zu erlauschen, müssen wir aus der Uhrzeit in den klösterlichen Fluss der Zeit eintreten, der sich in den Horen, den Stunden des Gebetes äußert.
Wir müssen die Gewohnheit zu reagieren aufgeben und lernen, auf das zu antworten, was im Augenblick gegeben ist.
Wenn wir mit dieser inneren Haltung dem Engel jeder Stunde begegnen, dann werden wir offen sein für den Samen, den der Engel uns zu säen aufträgt, und die Tugend, die sich daraus entfaltet, wird in unserem Leben Frucht tragen.
[Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 15-17, 27-32]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Gregorianische Gesänge, siehe QR Code in Musik der Stille (2023), 32:
Antiphona I: Sancta Maria, sucurre miseris ‒ Psalmus 109 Dixit Dominus; Interpretation: Heinrich Isaac-Ensemble, Karlsuhe; Leitung: Hans-Georg Renner
1.2.Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen:
(57:56) Im Gespräch: Das Geheimnis als Vater und Mutter (Gleichnis vom verlorenen Sohn) – Als tiefes Schweigen (Weihnachtsantiphon, Weish 18,14f.)
1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Teil 3: ‹Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht› (Angelus Silesius):
(06:39) ‹Es ist jetzt 12 Uhr›: Das Läuten zum Angelus Gebet ist Anstoß zu einer Betrachtung über den Einbruch der Ewigkeit in der Zeit, in der auch die Katzen nicht fehlen
2. Weitere Auszüge aus : Musik der Stille (2023):
Beginn des Vorworts von Anselm Grün, 1f.:
«Der heilige Benedikt hat den Tag für seine Mönche so geordnet, dass sie siebenmal am Tag das Lob Gottes singen und in den nächtlichen Vigilien das Wort Gottes meditieren. Die frühen Mönche hatten noch ein Gespür für die Heiligkeit der Zeit. Jede Stunde sollte durch ein Gebet geheiligt werden. Heilig ist das, was der Welt entzogen wird, worüber die Welt keine Macht hat.
Durch die Heiligung der Zeit im Stundengebet wird deutlich, dass nicht wir es sind, die über die Zeit verfügen, dass die Zeit viel mehr Gott gehört und dass sie uns geschenkt ist. Jeder Augenblick ist, so verstanden, eine angenehme Zeit, eine Zeit der Gnade.
Jede Stunde hat ihre eigene Qualität. Das wird im Charakter der einzelnen Gebetszeiten deutlich, vor allem in den Hymnen.
Der Benediktiner David Steindl-Rast beschreibt die Gnade, die jede Stunde für uns bereithält. Und er verbindet das Geheimnis der Stunden mit der Musik des gregorianischen Chorals.
Der gregorianische Choral kennt acht verschiedene Töne. In diesen acht Tönen singt er die Psalmen. Wie jede Stunde ihre eigene Qualität hat, so auch jeder Choralton. Jeder Ton eröffnet einen Klangraum, in dem Gott anders erklingt. Jeder Ton eröffnet im Herzen des Singenden einen eigenen Geschmack. Und jeder Ton öffnet auch im Herzen der Sänger Räume, damit alle Bereiche der menschlichen Seele von Gottes Heil durchdrungen werden. Der ganze Mensch soll durch das Singen des Chorals geheilt werden.»
‹Die Tagzeiten›, 23-26; Text vollständig in Sinn und Feier:
«Die Glocke erweckt uns zum Jetzt und fordert uns auf, das zu tun, wofür es Zeit ist, weil es jeden Moment Zeit ist, etwas zu tun, auch wenn es bloß Zeit zum Schlafen ist.
Ein altes Motto lautet: ‹Age quod agis› ‒ ‹Tue, was du tust›.
Freiheit liegt darin, das, was du tust, wirklich zu tun.
Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt.
Der Gesang lehrt uns noch etwas anderes über das Leben in der Gegenwart. Von einem Pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts. Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht. Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten.
Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.
Sich auf die Gesänge einzulassen, kann eine Art nüchterner Ekstase auslösen. Ekstase heißt wörtlich außerhalb von sich stehen.
Wenn wir singen oder Gesängen zuhören, haben wir Zugang zu jener Dimension, die außerhalb der Zeit ist: dem Jetzt.
Paradoxerweise brechen wir aus der Uhrzeit genau dann aus, wenn wir ganz im Augenblick sind.
Der Augenblick und die Ekstase gehören zusammen: Wenn wir wirklich hier, jetzt, in diesem Augenblick sind, dann sind wir ganz spontan auch ekstatisch.
T. S. Eliot spricht von ‹Musik, so innig gehört, dass sie nicht gehört wird, weil man selbst die Musik ist, solange sie forttönt.›[4]
Und in dieser Erfahrung sieht er einen Aspekt vom ‹Augenblick in und außer der Zeit›.[5]
Wenn wir lernen, die beiden miteinander zu verbinden und in und außer der Zeit zu leben, dann lassen wir aus der Polarität zwischen Zeit und Jetzt, zwischen Augenblick und Ekstase eine schöpferische Spannung entstehen.
Dank dieser inneren Einstellung können wir ein volles und schöpferisches Leben leben.»
‹Die Tagzeiten›, 26f.; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4. und Erlösende Kraft:
«Die Beschäftigung mit dem Gesang entwickelt jene Haltung des Zuhörens und Antwortens in uns, die wir auf jede Handlung im Laufe des Tages übertragen können.
Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.
Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.
Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.
Deshalb sagte Rilke: ‹Jeder Engel ist schrecklich.›
Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel? Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.
‹Denn das Schöne›, sagt Rilke, ‹ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.›[6]
Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben. Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.
T. S. Eliot bemerkt: ‹Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.›[7]
Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen, Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug: ‹Tut Wirklichwerden weh?› Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort: ‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»
‹Vigil ‒ NACHTWACHE›, 36-39:
«DIE VIGIL IST DER SCHOSS der Stille und die längste Stunde. Der Gang zum Oratorium noch vor der Morgendämmerung unter dem Sternenhimmel, wenn die Mönche sich zur Vigil einfinden, erfüllt uns mit Ehrfurcht und ist ein geeigneter Beginn des klösterlichen Tages.
Die Vigil lädt dazu ein, sich der Nacht hinzugeben und trotz der großen Furcht, die sie einflößen kann, auf die Dunkelheit zu vertrauen. Es gilt zu lernen, dem Mysterium mit jenem Mut entgegenzutreten, der lebendig macht. Dann entdecken wir, was im Prolog zum Johannesevangelium mit dem geheimnisvollen Wort ausgesprochen wird: ‹Das Licht leuchtet in der Finsternis›. Das heißt nicht, dass das Licht in die Finsternis hineinleuchtet, wie etwa der Strahl einer Taschenlampe in ein dunkles Zelt. Nein, das Erfreuliche an der Botschaft des Johannesevangeliums ist, dass das Licht mitten in der Finsternis leuchtet. Das ist eine große Offenbarung; die Finsternis selbst leuchtet.
Deswegen singt der Psalmist: ‹Zur Finsternis will ich sprechen: Sei mein Licht!› Die Finsternis selbst als Licht zu erkennen, kann sehr tröstlich sein. Wenn Finsternis in uns herrscht, dann rufen wir mit dem Propheten aus: ‹Wächter, ist die Nacht bald hin?› Wann wird es endlich Tag?
Die Herausforderung besteht darin, tief genug zu schauen, um zu erkennen, dass diese Finsternis alles ist, was wir brauchen, und in ihr finden, was wir suchen. Wenn wir uns in den Gregorianischen Gesang vertiefen, dann hören wir Klang gewordene Finsternis, eine Finsternis, die leuchtet.
Der Nachtwind ist die natürliche Stimme der Vigil. Der Wind ist ein Symbol für Geist, den spiritus, ein Wort, das auch ‹Atem› und ‹atmen› bedeutet. Der Heilige Geist oder spiritus sanctus ist jener Lebensatem, der in der Finsternis weht. Der Gesang ist hörbar gewordener Geist. Er ist ein Symbol für den Wind, der im Geist weht, und wir wissen nicht, von woher er kommt und wohin er fährt. Er ist voller Überraschung und ganz und gar schöpferisch.
Um in diesem Choral mitzusingen, lernt man als Mönch, richtig zu atmen. Wer bewusst atmet, lernt, in seiner Mitte und dort gegenwärtig zu sein, wo er sich gerade befindet.
In einem seiner Gedichte spricht Robert Frost scherzhaft vom Wind, der nicht wusste, wie er blasen sollte, bis wir Menschen ihn in uns aufnahmen und ihm Stimme verliehen. Gesang – wie Poesie – ist der Wind, wie er sein sollte: ‹Der Zweck war Gesang›.[8]
Wir alle haben mit dunklen Zeiten zu kämpfen, wie Jakob, der nachts mit der göttlichen Gegenwart in Form eines dunklen Engels rang, der so verführerisch schön und doch so beängstigend war. Am Ende der Nacht sagt der Engel: ‹Lass’ mich los›. Jakob aber antwortet: ‹Ich lasse dich nicht, bis du mich gesegnet hast›. Als die Dämmerung anbrach, segnete ihn der Engel, aber er verletzte ihn auch, indem er ihn am Hüftgelenk berührte. Von jenem Tag an hinkte Jakob. Es gibt diese geheimnisvolle Verletztheit, die mit einem großen Segen einhergeht.[9]
Wenn wir der Nacht wirklich in ihrer ganzen Schönheit und ihrem ganzen Schrecken entgegentreten, dann haben wir keinerlei Zusicherung, dass wir unversehrt davonkommen. Gehst du aber verletzt daraus hervor, kann dies auch ein Zeichen des Segens sein, den du dort empfangen hast.
DIE STUNDE DER VIGIL ist auch ein Zeichen für das Erwachen, das wir inmitten unseres Lebens vollbringen sollen. Die Welt, in der wir leben, ist in der Tat eine umnachtete Welt. Das Wachen in der Nacht, das Warten auf Licht, ist eine Wachsamkeit, die uns eindringlich darauf hinweist, den Tag hindurch aus der Welt des Schlafs in eine andere Wirklichkeit zu erwachen.»
‹Laudes ‒ TAGESANBRUCH›, 50f., 57-58:
«Die Musik schwingt sich empor: Es ist ein Gesang der Freude und ein Gesang der Dankbarkeit. Diese festliche Stimmung der Dankbarkeit und Freude zieht sich den ganzen Tag durch die Gesänge hindurch, sogar dann, wenn sie gemessener und zurückhaltender werden. Welche Gesänge wir uns auch anhören, es ist ein Widerhall dieser tiefen Freude darin zu hören, weil Freude selbst mitten im Leiden und mitten im Schmerz angebracht ist.
Freude ist jene Art von Glück, das nicht davon abhängt, was uns zustößt. Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt. Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist? Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein? Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade jetzt geschenkt ist. Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.»
«Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken. Die Freude äußert sich im Lobpreis Gottes und durchzieht sogar die klagenden Melodien der Gesänge. Freude ist etwas, das wir pflegen können: wenn wir erst einmal diese dankbare Freude in den Gesängen hören und ihre Schönheit unser Herz ergreift, dann können wir auf leichte und natürliche Weise anfangen, Dankbarkeit zu üben.»
«Die schlanken melodischen Linien des Gregorianischen Chorals in ihrer Einfachheit und überirdischen Schönheit wecken unsere volle Aufmerksamkeit. Sie entspringen einer tiefen Stille, und haben die Kraft, uns selbst still werden zu lassen, wenn wir sie nicht nur mit den Ohren aufnehmen, sondern mit dem Herzen. Diese Musik stumpft niemals unser Gehör ab, sondern verfeinert es. Ihre ‹asketische› Schönheit und ihre lautere Sinnlichkeit vermitteln den Hörenden mühelos Sammlung und jene besondere Lebenshaltung, die daraus entspringt.»
‹Prim ‒ BEWUSSTER BEGINN, 72-75; siehe Stop ‒ Look ‒ Go: Ergänzend: 1.:
«Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.»
«Man singt ja gemeinsam mit anderen, und gerade deshalb ist der Gesang so schön. Es ist nicht nur eine Stimme, die singt, sondern da singt eine Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft singt nicht einfach nur, sondern sie singt ganz bewusst mit der gesamten Schöpfung, mit den Vögeln, den Bäumen, dem Wasser und den Engeln, mit der sichtbaren und der unsichtbaren Kreatur.»
«Solange wir unsere Arbeit aus Liebe tun für diejenigen, die uns etwas bedeuten, macht sie Sinn. Die Liebe ist der beste Grund für unsere Mühsal. Liebe verwandelt alles, was wir tun und erleiden, zu einer Musik, die sich erhebt und weit hinaufschwingt wie ein Lobgesang.»
Terz ‒ SEGEN, 88f.:
«Unser Unbehagen in der Welt, die wir uns geschaffen haben, spricht von unserer Sehnsucht, am Strom der Gnaden teilzuhaben, Gottes Geist in einer wahren Begeisterung zu erleben und zu spüren, dass Lebensfreude mehr ist als ein flüchtiges Gefühl. Der Gregorianische Gesang ist die Musik, die unsere Verbindung zum Ganzen ausdrückt. Er sagt uns, dass wir letztlich nicht verwaist und entfremdet sind. Der Geist des Universums belebt unseren Leib und fließt als Gesang aus unserem Mund»
Sext ‒ INBRUNST UND HINGABE, 94f.,100, 102f.; siehe auch Besinnung:
«Am Mittag läutet es zum Angelus. Die Glocken läuten, wenn der Tag seinen Höhepunkt erreicht hat, und zu diesem Zeitpunkt beten wir den Angelus. Dieses Gebet ist nach den ersten Worten der Verkündigung im Lukas-Evangelium benannt ‹Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom Heiligen Geist.› In dem Bild der Gottesmutterschaft Marias feiern wir den Einbruch der Ewigkeit in die Zeit. Und genau das verkündigt eigentlich jeder Engel: dass das Ewige jetzt in unsere Zeit einbricht.»
«DIE SEXT IST mit der Stille und dem Frieden des Mittags verbunden, aber sie lenkt den Blick auch auf Krisen und Gefahr.»
«Der Mittagsteufel ist die Stimme der Negativität, der Verzweiflung und der Depression. Sein Gegenspieler, der ihm entgegengesetzte Engel, ist die Freude. Das Gegenteil von Freude ist nicht die Traurigkeit, sondern die Faulheit, welche die Mühe scheut, auf den geschenkten Augenblick voll und ganz zu antworten, und die Trübsinnigkeit, die daraus entspringt.
Die Gregorianischen Gesänge erinnern uns daran, dass Leid ‒ etwa Kummer über einen Schicksalsschlag, den Tod eines Kindes, das Ende einer Freundschaft, große Enttäuschung – mit Freude doch letztlich vereinbar ist. Sie können inmitten der Freude tieftraurig klingen, niemals aber trübsinnig. In vielen Gesängen ertönen Psalmen, die alle Wechselfälle des Lebens umfassen. Trotzdem schleicht sich nie Verzagtheit ein, weil diese Musik im tiefsten Glauben wurzelt.»
Non ‒ DIE SCHATTEN WERDEN LÄNGER, 107:
«Früher am Tag schwangen Kraft und Begeisterung mit, doch mit der Non begegnen wir der Wirklichkeit, dass im Menschenleben nichts für immer währt. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass wir etwas nicht ewig behalten können? Wie gehen wir mit der unausweichlichen Unbeständigkeit des Lebens um? Genau das ist die Frage dieser Stunde.
Die Gesänge verkörpern sowohl die Vergänglichkeit als auch Dauerhaftigkeit. Keine Note klingt länger an als etwa eine Sekunde. Die Gesänge sind Bewegung und Veränderung. Dennoch vermitteln die ununterbrochenen Gesänge durch alle rhythmischen und melodischen Wechsel hindurch eine Qualität von Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit.»
Vesper ‒ DAS LICHTERANZÜNDEN, 122f.; siehe auch Erlösende Kraft: 3.2.:
«Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln. Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns. Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.
Wenn wir tagein, tagaus in den acht Gebetszeiten in der Gemeinschaft singen, dann sinkt die rhythmische Ruhe der Gesänge tief in unsere Seele. Wir tragen sie dann in uns, wohin wir auch gehen. Diese Stille ist unsere innere Klausur. Und es mag wohl sein, dass diejenigen, die ein Einsiedlerleben in der Abgeschiedenheit wählen, das nur tun können, weil sie vorher jahrelang in Gemeinschaft gebetet und gesungen haben. Sogar wer diese Gesänge zu Hause hört, wird ihren mönchischen Geist tief in sich aufnehmen und ihre heilige Ruhe zu einer wesentlichen Dimension seines Innenlebens machen können.»
«Wir rücken näher zusammen, wenn es dunkel wird. Die Stunde der Vesper ist ein Aufruf zur Nachbarlichkeit. Diese dunkle Stunde der Weltgeschichte lädt uns ein, unsere Nachbarn näher kennenzulernen und mit ihnen gemeinsam zu arbeiten und zu feiern. Wenn das Gemeinschaftsbewusstsein, das den Gregorianischen Gesang prägt, zu einem stärkeren Füreinandersorgen führt, dann kann das ein großes Geschenk der Mönche an die Welt sein.»
Komplet ‒ DER KREIS SCHLIESST SICH, 132f.:
«In Rilkes Stunden-Buch heißt es in einem Gedicht von geheimnisvoller Schönheit: ‹Ich komme aus meinen Schwingen heim, mit denen ich mich verlor.› Die Aktivität hat mich verschluckt, ich war besessen von Bewegung und Tun, und jetzt trete ich hinaus aus meinen Schwingen, um still zu sein.
Ich war Gesang, und Gott, der Reim,
rauscht noch in meinem Ohr.
Ich werde wieder still und schlicht,
und meine Stimme steht;
es senkte sich mein Angesicht
zu besserem Gebet.[10]
Er nennt dieses Gebet der Stille ‹ein besseres Gebet›, zumindest besser für diese Stunde. Die Komplet ist die Stunde, in der wir die Rückkehr der Gesänge, der Worte in die Stille feiern, aus der sie kommen.»
Das grosse Schweigen ‒ die MATRIX DER Zeit, 142f., entlässt uns am Schluss wieder in den Alltag; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.4.:
«Wir haben nun alle mönchischen Tageszeiten durchlaufen, den Kreis geschlossen und sind im großen Schweigen angelangt, der Brücke der Stille zwischen Komplet und Vigil, die erneut den Kreislauf der Stunden eröffnet. …
Die Botschaft der Stunden lädt uns ein, täglich nach dem wirklichen Tagesrhythmus zu leben. Aufmerksam, bewusst und absichtsvoll zu leben, unser Leben von innen heraus zu lenken und uns nicht von den Forderungen der Uhr oder äußeren Terminen oder von bloßen Reaktionen auf irgendwelche Geschehnisse fortreißen zu lassen.
Wenn wir dem wirklichen Rhythmus zufolge leben, werden wir selbst wirklicher.
Wir lernen, auf die Musik dieses Augenblicks zu lauschen, lernen, ihr süßes Flehen und ihre nüchternen Anweisungen zu hören.
Wir lernen, im Herzen ein wenig zu tanzen, unsere inneren Pforten einen Spalt weiter zu öffnen und auf die Musik der Stille, den göttlichen Herzschlag des Universums, zu horchen.»]
________________________
[1] R. M. Rilke: ‹Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)
[2] Im Retreat-Woche in Assisi (1989) weist Bruder David bereits zu Beginn im Audio ‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5) auf den wunden Punkt der Verkündigung hin: Die Trennung von Glauben und Loben.
[3] In Zeit der grossen Glocken:
«In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt.
Wir sind jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das Zeit überwindet.
Das Jetzt ist nicht in der Zeit. Jetzt geht über Zeit hinaus.
Nur wir Menschen wissen, was ‹jetzt› bedeutet, weil wir ‹existieren›, ‒ weil wir aus der Zeit ‹herausragen›. Das ist ja die Bedeutung von Existenz. Und all diese klösterlichen Glocken wollen uns einfach erinnern: Jetzt! ‒ und sonst nichts.
Freilich können wir nicht behaupten, dass es uns schon gelungen sei. Um nochmals Eliot zu zitieren:
‹For most of us, this ist the aim
Never here to be realised;
Who are only undefeated
Because we have gone on trying.›
‹For us, there is only the trying. The rest ist not our business.›
‹Das Ziel hienieden
Den meisten von uns unerreichbar,
Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Weil wir es stets aufs Neue versuchten.›
‹Für uns gilt nur der Versuch. Der Rest ist nicht unsere Sache.›»
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V und East Coker, V
[4] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]; siehe auch Mystische Erfahrung: Anm. 1 und Stillehalten:
‹For most of us, there is only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.›
‹Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.›
[5] Siehe Anm. 4
[6] R. M. Rilke: Erste Duineser Elegie
[7] T. S. Eliot: Four Quartets, Burnt Norton, I; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.3. und Erlösende Kraft: Ergänzend: 3.1.:
‹Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.
Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.›
[8] Robert Frost: ‹The aim was song›
[9] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 94f.:
«Das ist unser Wachstum eigentlich, nicht Siege, sondern vom immer Größeren besiegt zu sein.»
[10] R. M Rilke: ‹Ich komme aus meinen Schwingen heim› (Das Stunden-Buch)
Anfängergeist
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Robert Graf
Johannes Kaup: «Im Buddhismus gibt es eine zentrale Haltung, die man als Anfängergeist beschreiben könnte. Das ist im Englischen mit beginner's mind ein etwas missverständlicher Ausdruck, weil man meinen könnte, hier ginge es um den Gegensatz von unerfahrenen Schülern und erfahrenen Lehrern. Was ist dieser Anfängergeist, der auch für Sie sehr wichtig wurde?»
Bruder David: «Wer Anfängergeist hat, erlebt zum Beispiel jeden Tag so, als ob es der erste Tag wäre.
Mit Anfängergeist putzt man sich jedes Mal die Zähne so, als ob man sich noch nie die Zähne geputzt hätte.
Wenn man es einmal praktisch versucht, sieht man erst, was das für einen Unterschied im Leben macht. Wie interessant plötzlich alles wird, wie lebendig. Man bemerkt Dinge, die man vorher nie bemerkt hat. Darum sprechen buddhistische Lehrer vom typischen Dahinleben als einem Schlafwandeln. Ein schlafwandelnder Mensch wandelt eben durch die 24 Stunden des Tages dahin, aber ein wacher Mensch erlebt das Leben in voller Lebendigkeit. In diesem Sinn wach zu sein heißt, mit Anfängergeist zu leben. Bin ich nicht immer Anfänger? Ich habe ja diesen jeweils neuen Tag noch nie erlebt.»
Johannes Kaup: «Dieses Gespräch auch noch nicht. Wir haben schon ein paarmal miteinander gesprochen und es ist immer wieder neu. Wir fangen etwas Neues an, erkunden noch Unerhörtes. Ich jedenfalls komme mir auch immer wieder wie ein Anfänger vor.
Bruder David: «Das ist gut, das müssen wir beide ...»
Johannes Kaup: «… aus einem frischen Geist tun. Man könnte auch sagen, es geht darum, die Dinge von ihrem Ursprung her immer wieder neu und tiefer zu verstehen. Man versucht den Dingen auf den Grund zu gehen, zur Quelle zu gehen und nicht die fixierten Begrifflichkeiten, die Vorurteile, die gedanklichen Einbahnen, die Meinungen über Menschen und Sachen als Schablone zu übernehmen, sondern diese zurückzustellen und einzuklammern.»
Bruder David: «Jede Benennung ist schon eine Verallgemeinerung und sozusagen eine Ablage in irgendeiner Schublade. Solange ich etwas nicht benenne, bleibt es reines Erlebnis. Auch das gehört zum Anfängergeist: Ich habe noch keinen Namen dafür.
Wenn ich es benenne, erlebe ich es gar nicht so richtig, sondern der Name kommt zwischen das, was ich tue, und mein lebendiges Erleben. Es wird zur Gewohnheit.
Die Rabbiner sagen: Die Gewöhnung ist das eigentliche Exil.
Was war das eigentliche Exil? War es, in Babylon zu sein oder in Ägypten? Nein. Sie antworten: Das eigentliche Exil besteht darin, dass man sich daran gewöhnt. Das Exil ist die Gewöhnung.[1] Sobald wir uns an etwas gewöhnen, erleben wir es nicht mehr mit Anfängergeist, sondern sind im Exil.»
Johannes Kaup: «Ich möchte das doch noch mit dem Gedanken von vorhin in Verbindung bringen. Sie haben gesagt, Sie brauchen Ordnung, Stabilität und Wiederholung. Wie verträgt sich Ordnung, Stabilität und Wiederholung mit diesem Anfängergeist, der die Dinge immer wieder neu sehen, erleben und begreifen möchte, der sozusagen aus der Ursprünglichkeit heraus lebt?»
Bruder David: Vielleicht ist mir gerade deshalb Wiederholung so lieb, sogenannte eintönige Arbeit. Manche Brüder finden es langweilig, wenn wir gemeinsam die Rundbriefe ausschicken. Aber jeder Briefumschlag, in den man etwas hineinsteckt, ist neu: Diesen einen habe ich noch nie in der Hand gehabt.
Wenn wir im Augenblick leben, wird er für uns taufrisch und überraschend.
Diese Einsicht steht wohl auch hinter dem großen Versprechen Gottes in der Apokalypse: ‹Siehe, ich mache alles neu› (Offenbarung 21,5).
Wenn wir bewusst in Gott leben und weben und sind, dann wird alles jeden Augenblick neu.
Es meint nicht: An einem gewissen Punkt der Geschichte werde ich alles erneuern und von da an beginnt es wieder zu altern, nein. Vielmehr: Sieh her! Wach auf! Jeden Augenblick mache ich alles neu. Das ist das große Versprechen. Eigentlich gibt es also gar keine Wiederholung.»
Johannes Kaup: «Es ist paradox: Wir leben aus einer Quelle, die sich ständig schenkt. Zugleich zieht sich der Grund dieser Quelle zurück, ist nicht sichtbar und fassbar. Das beschreibt gut die Situation, in der wir leben. Wir können das unergründliche Geheimnis Gott nicht festhalten. Aber aus dem Anfängergeist heraus können wir entdecken, dass sich uns ständig etwas neu schenkt.»
Bruder David: «Der Quellgrund, der hinter dem Herausquellen liegt, ist ja noch nicht Quelle. Anfängergeist achtet jeden Augenblick auf das Herausquellen, auf den Ur-Sprung.»[2]
Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das TAO. Watercourse Way nennt Alan Watts das TAO auf Englisch. Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden.
Um mit dem TAO zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum ‹Anfängergeist› des Kindes zurückfinden.
Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt. ‹Du hast noch kein Ich, das sich von dem, was geschieht, unterscheidet›, wie Alan Watts es ausdrückt. ‹Deshalb geschieht Dir auch nichts. Es geschieht einfach.› Du nimmst teil, sagt er an ‹den wundervollen Tanzfiguren … fließenden Wassers›.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im ‹Fließweg›. Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.
Wie beim Baby ‹geschieht einfach› das Lebensbejahende, aber mit unsrer Zustimmung. Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.»[3]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f.)
[Ergänzend:
1. Musik der Stille (2023), S. 53:
«Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren, und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten. Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. Diese erfrischende Haltung, Dinge immer wieder neu zu betrachten, nennen buddhistische Mönche ‹Anfängergeist›.
Gelegenheit, diese Haltung einzunehmen, ist nicht nur Mönchen vorbehalten, sie ist allen zugänglich. Wie Rilke im Stunden-Buch sagt: ‹Nichts war vollendet, eh ich es erschaut.›[4] Niemand hat je gesehen, was ich sehe, weder mit meiner ganz eigenen Anschauungsweise noch von meinem ganz persönlichen Standpunkt aus. Ich bin Schöpfer eines jeden neuen Tages. Mir ist Gelegenheit gegeben, alles in diesem neuen Licht zu betrachten, und als der einmalige Mensch, der ich bin, dies zu würdigen und darauf zu antworten.»
2. ‹Es nicht benennen›:
2.1. Schmecken, Ahnen, Weisheit:
«Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns ‹langsam namenlos› im Munde.»
Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal
2.2. Riechen, Düfte, Erinnerung:
«Solange man dem nicht einen Namen gegeben hat, war es ein großes Erlebnis. Und dann sagt man ‹pille› (‹bitter›) und aus ist es, abgestempelt. Aber solange man nicht benennt, hat es einen ungeheuren Effekt. Und so ist es auch nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Geruch. Und das sollte man immer wieder mal ausprobieren: nicht benennen: ‒ erleben!»
Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(43:44) ‹Der Duft› (Rilke, aus dem Nachlass) – ‹Rose, du thronende› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, VI)
2.3. Stille zulassen:
«In einem Kloster, das ich besuchte, trieb das Kreischen der Kreissäge beim Nachbarn eine der Schwestern buchstäblich die Wände hoch. ‹Wie kann denn so ein Geräusch Gabe Gottes sein?› Mein Vorschlag war: nur hinhorchen; nicht benennen. Und in diesem Fall wirkte es. ‹Ich hab's versucht›, berichtete die Schwester nach ein paar Tagen, ‹und was ich da hörte, klang wie die Stimme eines Erzengels!› Zwar verstehe ich mich nicht auf die Unterscheidung von Engelstimmen, aber ich glaube, mir würde schon die Stimme eines ganz gewöhnlichen Engels genügen.»
Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011)
Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch:
(13:52) Wie wir Stille finden können, wenn Lärm und Geräusche uns stören / (17:47) Die Tiefe des menschlichen Herzens, diese Tiefe liegt hinter allem: diese sehr tiefe Traurigkeit, die gehört dazu, und das Heimweh der Menschen liegt am Grund von allem Lärm]
__________________
[1] Siehe auch Sakramentales Leben: ‹Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.›
[2] Ich bin durch Dich so ich (2016): 5. Dialog, 1966-1976, 103-105
[3] Orientierung finden (2021): ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 88f.]; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.1.
[4] ‹Da neigt sich die Stunde und fasst mich an›: Das Gedicht, mit dem Rilke das Stundenbuch eröffnet, in Sehen ‒ schöpferisches Schauen, Sinn und Feier, Anm. 2, Stop ‒ Look ‒ Go, Anm. 2
Überraschung
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Wenn ich mich an die spirituellen Giganten erinnere, die zu treffen ich die Ehre hatte ‒ Mutter Teresa, Thomas Merton, Dorothy Day, S.H. der Dalai Lama ‒ kann ich noch immer die kraftvolle Energie spüren, die sie ausstrahlten.
Aber woher hatten sie diese Vitalität?
In dieser Welt gibt es keinen Mangel an Überraschungen, aber solch eine strahlende Lebendigkeit ist selten.
Mir ist aufgefallen, dass all diese Leute von tiefer Dankbarkeit waren, und so habe ich das Geheimnis verstanden.
Eine Überraschung macht uns nicht automatisch lebendig, Lebendigkeit ist eine Sache von Geben-und-Nehmen, von Erwiderung.
Wenn wir zulassen, dass die Überraschung uns lediglich stört, dann wird sie uns betäuben und unser Wachstum hemmen.
Jede Überraschung ist eine Herausforderung, dem Leben zu vertrauen und so zu wachsen.
Überraschung ist ein Samen.
Dankbarkeit sprießt, wenn wir uns dem Aufruf der Überraschung stellen.
Die Großen auf dem Gebiet des Geistes sind so sehr lebendig, weil sie von so tiefer Dankbarkeit sind.
Dankbarkeit kann durch Übung vertieft werden. Aber wo sollen Anfänger beginnen?
Der naheliegende Ausgangspunkt ist Überraschung.
Du wirst merken, dass du die Samen der Dankbarkeit wachsen lassen kannst, nur indem du ihnen Raum gibst.
Wenn Überraschung passiert, weil etwas Unerwartetes auftaucht, lasst uns nichts erwarten.
Lasst uns Alice Walkers Rat befolgen:
«Erwarte nichts. Lebe einfach von der Überraschung.»
Nichts zu erwarten, das kann bedeuten, dass du nicht für selbstverständlich nimmst, dass dein Auto startet, wenn du den Schlüssel drehst.
Versuche das, und du wirst überrascht sein von einem Technikwunder, das aufrichtige Dankbarkeit verdient.
Oder vielleicht bist du von deiner Arbeit nicht gerade begeistert, aber wenn du für einen Moment aufhören kannst, sie für selbstverständlich zu nehmen, dann wirst du die Überraschung spüren, überhaupt eine Arbeit zu haben, während Millionen andere arbeitslos sind.
Wenn dich das einen Funken Dankbarkeit spüren lässt, wirst du den ganzen Tag über ein kleines bisschen freudiger, ein kleines bisschen lebendiger sein.
Wenn wir aufhören, alles für selbstverständlich zu nehmen, werden unsere eigenen Körper zu den größten Überraschungen überhaupt.
Es erstaunt mich immer wieder, dass mein Körper in jeder Sekunde zugleich 15 Millionen rote Blutkörperchen produziert und zerstört, 15 Millionen! Das ist fast zweimal die Einwohnerzahl von New York City.
Mir wurde gesagt, dass die Blutgefäße in meinem Körper, hintereinander aufgereiht, um die ganze Welt reichen würden. Trotzdem benötigt mein Herz nur eine Minute, um mein Blut durch dieses filigrane Netzwerk und wieder zurück zu pumpen. So hat es das in den vergangenen 75 Jahren Minute für Minute, Tag für Tag getan, und es pumpt immer noch alle 24 Stunden 100.000 Herzschläge. Für mich geht es dabei um Leben und Tod, dennoch habe ich keine Ahnung davon, wie das funktioniert und es scheint trotz meiner Ahnungslosigkeit erstaunlich gut zu funktionieren.[1]
Solange wir unserer Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie die Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.
In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hereinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig.
Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran.[2]
Es hilft, täglich wenigstens eine Überraschung wahrzunehmen, irgend etwas, was überraschend und unvorhergesehen ist.
Vielleicht ist es das Wetter, vielleicht ein Anblick, auf den wir aufmerksam werden.
Es kann ein angenehmes oder ein unangenehmes Ereignis sein. Wenn wir unser Herz öffnen, um etwas Überraschendes hineinzulassen, wird es uns immer klarer, wie viele Überraschungen jeder Tag enthält, und mit der Zeit erkennen wir, dass wir in einem Universum leben, das irgendwie zu uns spricht. Wenn wir das erst einmal erkannt haben, hören wir ganz selbstverständlich hin, weil wir die Botschaft hören wollen.[3]
Ein Regenbogen ist immer eine Überraschung.
Das soll nicht heißen, dass man ihn nicht voraussagen könnte. Manchmal bedeutet überraschend unvorhersagbar, häufig aber bedeutet es mehr.
Überraschend im umfassenden Sinn bedeutet irgendwie grundlos, geschenkt, gratis.
Selbst das Vorhersagbare wird zur Überraschung, wenn wir aufhören, es für selbstverständlich zu halten.
Wüssten wir genug, dann wäre alles vorhersagbar, und doch bliebe alles grundlos.
Wüssten wir, wie das gesamte Universum funktioniert, dann wäre es immer noch überraschend, dass es das Universum überhaupt gibt. Mag es auch vorhersagbar sein, so ist es doch umso überraschender.
Unsere Augen öffnen sich diesem Überraschungscharakter unserer Welt im gleichen Moment, da wir aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich zu erachten. Regenbogen haben etwas an sich, das uns aufwachen lässt.
Es kommt vor, dass ein uns völlig Unbekannter uns am Ärmel zieht und zum Himmel zeigt:
«Haben Sie den Regenbogen bemerkt?»
Gelangweilte und langweilige Erwachsene werden zu erregten Kindern. Vielleicht verstehen wir nicht einmal, was uns da aufscheuchte, als wir jenen Regenbogen sahen.
Was war es? Es war das Geschenkhafte, das da in uns hereinplatzte, die Unentgeltlichkeit aller Dinge.
Wenn so etwas geschieht, dann ist unsere spontane Reaktion Überraschung. Plato erkannte jene Überraschung als den Anfang aller Philosophie. Sie ist auch der Beginn von Dankbarkeit.
Eine kurze Begegnung mit dem Tod kann jene Überraschung auslösen.
In meinem Leben kam das sehr früh zustande. Da ich im von den Nazis besetzten Österreich aufwuchs, gehörten Luftangriffe zu meiner täglichen Erfahrung. Und ein Luftangriff kann einem die Augen öffnen.
Ich erinnere mich an einen Tag, als die Bomben zu fallen begannen, unmittelbar nachdem die Warnsirenen abgeschaltet waren. Ich befand mich auf der Straße. Da es mir nicht gelang, schnell genug einen Luftschutzbunker zu erreichen, rannte ich in eine nur ein paar Schritte entfernte Kirche. Um mich vor Glassplittern und Trümmern zu schützen, kroch ich unter eine Kirchenbank und verbarg mein Gesicht in den Händen. Als aber die Bomben draußen explodierten und der Boden unter mir erzitterte, da war ich sicher, dass das gewölbte Dach jeden Moment einstürzen und mich lebendig begraben würde. Nun, meine Zeit war noch nicht gekommen.
Ein gleichbleibender Ton der Sirene verkündete, dass die Gefahr vorüber sei. Und da stand ich nun, reckte mich, klopfte den Staub aus meiner Kleidung und trat heraus in einen herrlichen Maimorgen.
Ich lebte. Welch eine Überraschung!
Die Gebäude, die ich vor weniger als einer Stunde noch gesehen hatte, waren jetzt rauchende Schuttberge.
Was mich aber auf überwältigende Art und Weise überraschte, war, dass es dort überhaupt noch irgendetwas gab.
Meine Augen fielen auf wenige Quadratmeter Rasen inmitten all dieser Zerstörung.
Es war als hätte mir ein Freund auf seiner Handfläche einen Smaragd angeboten.
Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich Gras so überraschend grün gesehen.[4]
Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann haben sich alle Schicksalsschläge und alles Arge, was mir widerfahren ist, immer als die Quelle einer guten Entwicklung herausgestellt.
Wir vergessen das nur allzu oft.
Und manchmal muss man auch lange warten, um es zu erkennen. So ist aber das Leben ‒ alles Schwere und alle Schläge wenden sich letztlich doch zu unserem Besten.
Rückblickend können wir das sehen. Und wenn wir uns üben, dann können wir daraus auch Vertrauen schöpfen im Voraus. Wir vertrauen uns dann dem Leben an. Wir sind offen für die Überraschungen, die uns das Leben schenkt.
Das alles entspringt aus der Dankbarkeit.[5]
Unser Herz sehnt sich nach der Überraschung, dass ein Geschenk auch wirklich ein Geschenk ist. Unser stolzer Intellekt aber stutzt bei einer Überraschung und will sie erklären, hinwegerklären.
Der Intellekt allein bringt uns nur ein Stück weit. Er hat einen Anteil an Dankbarkeit, aber eben nur einen Anteil.
Unser Intellekt sollte wach genug sein, die vorhersagbare Hülle der Dinge bis zu ihrem Kern zu durchschauen, um dort ein Körnchen Überraschung vorzufinden.
Das allein ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Aber Aufrichtigkeit verlangt ebenso, dass der Intellekt genügend demütig sei, das heißt genügend bodenständig, um seine Grenzen zu kennen.
Der Geschenkcharakter aller Dinge kann erkannt, nicht aber bewiesen werden ‒ zumindest nicht durch den Intellekt. Beweise finden sich im Leben. Und am Leben ist mehr, als der Intellekt zu fassen vermag.
Auch unser Wille muss seine Rolle übernehmen. Auch er gehört zur ganzen Fülle von Dankbarkeit. Es ist die Aufgabe des Intellekts, etwas als Geschenk zu erkennen, der Wille aber muss den Geschenkcharakter anerkennen. Erkennen und anerkennen sind zwei verschiedene Aufgaben.[6]
Es spielt keine Rolle, wie taub oder intellektuell verfangen wir sind, Überraschung ist immer nahe.
Selbst wenn in unserem Leben außerordentliche Überraschungen selten sind, das ganz Normale möchte uns immer wieder aufs Neue überraschen.
Wie ein Freund mir eines Wintermorgens aus Minnesota schrieb: «Ich war vor Sonnenaufgang auf den Beinen und beobachtete Gott dabei, wie er alle Bäume weiß anmalte. Den Großteil seiner besten Arbeit tut Er, während wir schlafen, um uns beim Aufstehen zu überraschen.»
Es ist ebenso wie bei der Überraschung, die wir in unserem Regenbogen fanden.
Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche.
«Natur ist niemals verbraucht», sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe.
«Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.»
Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals.
Bei einem Regenbogen ist das offensichtlich.
Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, «ein Schleier aus dem Atem eines Windes», wie Robert Frost das nennt, «ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht.»
Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden.
Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein.
Vielleicht sah ich «an diesem Morgen des Morgens Liebling», Gerard Manley Hopkins «vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben», oder einfach die zwei Zentimeter Zahnpasta auf meiner Zahnbürste.
Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, dass es überhaupt etwas gibt ‒ dass wir hier sind.
Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen lässt, öffnet «die Augen unserer Augen».[7]
Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Zentimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.
Überraschung führt uns auf den Weg der Dankbarkeit. Dies gilt nicht nur für unseren Intellekt, sondern auch für den Willen.
Es spielt keine Rolle, wie beharrlich sich unser Wille an unsere Selbständigkeit klammert, das Leben bietet uns die Hilfe, die zum Entkommen aus dieser Falle nötig ist.
Selbständigkeit ist eine Illusion. Und früher oder später zerbricht jede Illusion am Leben. Wir alle wären nicht das, was wir sind, ohne unsere Eltern, Lehrer und Freunde. Selbst unsere Feinde helfen dabei.
Niemals hat es jemanden gegeben, der sich selbst zu dem gemacht hat, was er ist. Jeder von uns braucht andere. Früher oder später begreifen wir diese Wahrheit.
Ein plötzlicher Trauerfall, eine lange Krankheit oder irgendetwas anderes ‒ ganz überraschend hat uns das Leben eingefangen.
Eingefangen?
Überraschend befreit, sollte ich besser sagen. Vielleicht schmerzt es, aber Schmerz ist ein geringer Preis für die Freiheit von Selbsttäuschung.[8]
(Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-6, 8)
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(18:34) «Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: ‹Überrasche mich!›, dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.»
2. Audios
2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(15:21) Das Leben will uns überraschen ‒ mit Hoffnung leben im Jetzt
2.2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(56:56) Offenheit für Überraschung in Angst und Panik
2.3. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(19:29) Offen für Überraschung im Augenblick tiefster Dankbarkeit ‒ Überraschung ist ein Name Gottes
2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen
3. Weitere Texte
3.1. Das Leben ist überraschend
Sinnenfreudiges Morgenlob mit Gedichten von Gerard Manley Hopkins; siehe auch Schönheit
Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:
«Wann und wo immer ich etwas mit Ehrfurcht beachte,
beschenkt es mich mit namenloser Überraschung,
weil bei allem ‹mehr dahintersteckt›.
Heute will ich also ehrfürchtig auf alle Dinge schauen.»
Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019):
«Ob krank oder gesund, wir sollten unseren Sinn für Überraschungen schärfen. Der Anfang der Dankbarkeit ist, sich vom Leben überraschen zu lassen – nicht von außergewöhnlichen Dingen, sondern von ganz alltäglichen! Es ist beispielsweise unglaublich, wie mein Blut tagtäglich Sauerstoff zu den Zellen transportiert. Oder wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, staune ich über die Schönheit des Abendlichts auf dem See. In solchen Momenten wird das Geschenkhafte der Welt deutlich. Nichts ist selbstverständlich, sondern alles ist geschenkt, unentgeltlich. Wir müssen aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich hinzunehmen.»
Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln ‒ Technik im Buch Dankbar leben (2018):
«Zuerst einmal können wir nicht damit beginnen, dankbar zu sein, es sei denn, wir wachen auf.
Aufwachen zu was? Zu Überraschungen!
Solange uns nichts überrascht, gehen wir wie betäubt durchs Leben.
Wir brauchen Übung, um zu einer Überraschung aufzuwachen. Ich schlage vor, eine einfache Frage als eine Art Wecker zu verwenden: ‹Ist das nicht überraschend?›
‹Ja, natürlich!›, ist die richtige Antwort, egal, wann und wo und unter welchen Umständen diese Frage gestellt wird.
Ist es nicht letztendlich überraschend, dass da überhaupt etwas ist anstatt nichts?
Fragen Sie sich selbst mindestens zweimal am Tag: ‹Ist das nicht überraschend?›, und Sie werden schon bald wacher durch die überraschende Welt gehen, in der wir leben.
Überraschung kann uns ein Anstoß sein, genug, um uns aufzuwecken und uns daran zu hindern, alles für selbstverständlich zu halten.»
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 68f.:
Wir sagen, das Leben überrascht mich. (Schmunzelnd:) Und das Leben überrascht uns immer. Keine Gefahr! Wenn’s lebendig ist, ist es überraschend, wenn es nicht überraschend ist, sind wir schon im Bereich des Mechanischen, die Maschine. Das Leben ist grundsätzlich Überraschung.»
3.2. Hoffnung ist Offenheit für Überraschung
«2. Durch ‹Look› üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.
Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.
Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.»
«Hoffnung, so verstanden, unterscheidet sich von Hoffnungen. Auch wenn all unsere Hoffnungen zerschlagen werden, diese Hoffnung überlebt als ‹radikale Offenheit für Überraschung›. Das Leben ist immer überraschend, und dem Leben dürfen wir vertrauen. Darum ist es diese, unsere gemeinsame Hoffnung, die ich Euch ans Herz lege und die ich uns allen von ganzem Herzen erwünsche und erbete.»
Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Hoffnung: Offenheit für Überraschungen›, 115, 117, 122 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 115, 117, 121f.]:
«Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst. In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern. Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.»
«Die Überraschung in der Überraschung jeder neuen Entdeckung besteht darin, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt. Hoffnung hält die Gegenwart offen für eine völlig neue Zukunft. Wir wollen jedoch nicht vergessen, dass es wenig Sinn hat, von Gott, Vergangenheit und Zukunft in einem Atem zu sprechen. Gott lebt im ‹Jetzt, das nicht vergeht›.
Hoffnung hält uns im doppelten Sinne offen: für eine Zukunft in der Zeit und für eine Zukunft jenseits von Zeit, für Gottes Jetzt.»
«Warten ist nur dann ein Ausdruck von Hoffnung, wenn es ein ‹Warten auf den Herrn› ist, auf Gott, dessen Name Überraschungen heißt ‒ und auf sonst nichts. Solange wir auf eine Verbesserung der Situation warten, machen unsere Ambitionen einigen Lärm. Und wenn wir auf eine Verschlechterung der Situation warten, dann werden unsere Ängste laut. Die Stille, die in jeder beliebigen Situation auf das Aufleuchten des kommenden Herrn wartet ‒ das ist die Stille biblischer Hoffnung.»
3.3. Überraschung ist ein Name Gottes
Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Hoffnung: Offenheit für Überraschungen›, 109 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 109]; siehe auch ST 139:
«Überraschung aber ist ein Name Gottes.
Tatsächlich ist Überraschung vielleicht der einzige Name, mit dem wir es wagen dürfen, den Namenlosen zu benennen. Zwar gelingt es auch dem Namen Überraschung nicht, Gott zu benennen. Indem wir ihn aussprechen, gelingt es uns aber zumindest, unser Herz für die Erkenntnis offen zuhalten, dass Gott mit keinem Namen eingefangen werden kann. Und das macht gerade aus unserer Unzulänglichkeit einen Erfolg.»
Das Vaterunser (2022): ‹Geheiligt werde dein Name ‒ Mein liebster Gottesname heißt Überraschung›, 46:
«Die Ergriffenheit, die mir vor dem Bild des Gottes Shiva in Chidambaram in Indien geschenkt wurde, kann ich nicht unterscheiden von dem, was mich manchmal beim Beten des Vaterunsers ereignet.
Es sollte uns daher gelingen, uns den Gottesnamen ‹Vater› immer wieder frisch zu eigen zu machen und ihn rühmend zu beten. Wir dürfen auch selber immer wieder neue Gottesnahmen erfinden.
Mein eigener liebster Gottesname ist ‹Überraschung›.»]
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[1] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Wunder des Lebens›, 57-61; siehe auch Lass dich überraschen (2019): ‹Jede Überraschung fordert uns auf, dem Leben zu vertrauen und so zu wachsen›
[2] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Staunen wie ein Kind›, 48; siehe auch Musik der Stille (2023), 55
[3] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Lass dich überraschen›, 51; siehe auch Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast›, TEIL 2, 102
[4] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Nichts ist selbstverständlich›, 52-56; siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 16f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 13f.]; siehe auch ST 137f.
[5] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Alles zu unserem Besten›, 113f.; siehe auch Spiritualität und Verantwortung: Christa Spannbauer im Gespräch mit Br. David (2009)
[6] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Erwachen›, 78f.; siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 19f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 16f.]
[7] Siehe auch den Titel der Festschrift zum 80. Geburtstag von Bruder David Die Augen meiner Augen sind geöffnet (2006), inspiriert vom Gedicht XAIRE / 65 von E. E. Cummings im Beitrag von Max Milz Nicht quantifizierbar: Anm. 3
[8] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 26f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 23f.]
Heiliger Geist – Lebensatem Gottes
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[1]
Pfingsten steht in der christlichen Tradition für die Feier des Geistes, und Geist ist Atem, göttlicher Atem, der uns lebendig macht und uns alle verbindet. Und in der Lesung zu Pfingsten heißt es von diesem Geist-Atem Gottes: er füllt das All; er hält alles zusammen; und er spricht und kennt alle Sprachen. Dem sollten wir nachgehen.
Zunächst einmal: Er erfüllt das All. Das «All» steht hier für Kosmos, für Universum und für die ganze Geschichte, von Anfang bis Ende aller Zeit. Der Geist-Atem Gottes, so wird uns gesagt, erfüllt dies alles; und da auch wir atmen ‒ so können wir folgern ‒ sind auch wir mit alledem verbunden.
Und tatsächlich sagt uns die Wissenschaft, dass wir mit jedem Atemzug ganz kleine Spuren von Edelgas einatmen. Zum Beispiel macht das Argon 1% unserer Atemluft aus. Da es keine Verbindung eingeht, ist es von allem Anfang an in der Luft gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach atmen wir daher mit jedem Atemzug Argonatome ein, die Buddha eingeatmet hat, und Jesus und Moses. Auch in diesem Augenblick hat jeder von uns Atome in sich, die jeder große Mann und jede große Frau der Geschichte, an die Sie denken mögen, nach wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit einmal ebenfalls in sich hatten. So sind wir bereits physisch mit der ganzen Geschichte von Anfang bis Ende und mit jedem Ort der Erde verbunden.
Wir wissen darüberhinaus, dass unser Körper aus Sternenstaub gemacht ist, aus demselben Stoff also wie die Himmelskörper, die wir nur mit den stärksten Teleskopen überhaupt sehen können, die Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt von uns sind. ‒ Die Materie war ursprünglich eins. Und so hängen wir schon über Raum und Zeit mit allem zusammen.
Aber viel mehr noch hängen wir zusammen durch den Geist. Was meinen wir damit?
Albert Einstein sagte einmal, dass die Fülle der Natur, die uns umgibt, die Fülle dessen, was wir erforschen können, erstaunlich sei, dass aber noch erstaunlicher sei, dass wir diese Fülle verstehen können.
Wie können wir diese Fülle, wie das Universum verstehen? Wir können sie nur verstehen, weil wir nicht nur physisch eins sind mit dem Universum, sondern weil wir auch den Geist, den Geist-Atem in uns haben, der alles er-füllt.
Wir können «Fülle» hier auch durch das Wort «Sinn» ersetzen. Da wir also den Sinn, der alles erfüllt, in uns haben, vermögen wir in uns auch den Sinn dessen zu verstehen, was uns umgibt; wir sind ihm verbunden.
Wir könnten aber genauso sagen, Sinn sei «Nichts». Wenn nämlich etwas Sinn hat, fügt der Sinn dem ja nichts hinzu. Es ist somit «Nichts», nicht aber ein leeres Nichts, sondern jenes Nichts, das für uns weit bedeutender ist als alles, was besteht. Wenn wir auch alles besäßen und es hätte keinen Sinn für uns, dann wäre dieses alles völlig belanglos. Der Sinn ist jenes Nichts, das das All wertvoll macht, es zum Leben bringt. Daher sprechen wir auch, wenn wir diesen Sinn meinen, von Geist, von Atem, weil Atem Leben bedeutet. Und wenn es heißt, dass wir Menschen erst durch Gottes Lebensatem lebendig werden, dann bedeutet dies, dass wir das Leben Gottes teilen.
Was meinen wir jedoch mit diesem so oft missverstandenen Begriff «Gott»? Hat das Vorgetragene Bedeutung aus Ihrem persönlichen Erleben heraus, auf das es bei Sinnfragen ja letztlich ankommt? Ich will versuchen, aus meinem Erleben eine Brücke zu schlagen. Vielleicht erinnert Sie das an Ähnliches, was Sie selbst erlebt haben.
Wenn wir fragen, wann wir diesen Geist, diesen Sinn-schaffenden Lebensatem erleben, so scheint mir die Antwort aus der gemeinsamen Erfahrung zu sein: Wir erleben ihn dann, wenn wir einmal wirklich in der Gegenwart stehen.
Meistens befinden wir uns ja doch nicht in der Gegenwart, sondern haften noch halb an der Vergangenheit und sind schon halb ausgestreckt auf die Zukunft.
Hie und da aber erleben wir einen Augenblick, in dem wir ganz geistes-gegenwärtig sind, wie es das schöne Wort ausdrückt. Und Gott, richtig verstanden, ist dann das, was uns ent-gegenwartet, wenn wir wirklich in der Gegenwart sind. Oder man kann es auch so sagen: das Göttliche ist die Gegenwart, in der wir aufgehoben sind.
Erinnern Sie sich an diese besten, lebendigsten Augenblicke Ihres Lebens? Augenblicke, in denen Sie ganz in der Gegenwart aufgehoben waren?
Nicht wahr, wir erleben uns aufgehoben in dreifacher Hinsicht.
Zunächst im Sinn von ausgelöscht: Was uns da ent-gegenwartet, das löscht uns aus, aber nicht in negativer Weise, sondern wie die Sterne ausgelöscht werden, wenn die Sonne aufgeht.
Wir erfahren uns aber auch aufgehoben in dem Sinn, dass wir auf eine höhere Ebene hinaufgehoben werden. Die Gegenwart, wenn wir uns ihr wirklich stellen, hebt uns über uns selbst hinaus. Von solchen Augenblicken pflegen wir zu sagen, «in diesem Moment bin ich über mich selbst hinausgewachsen».
Und schließlich ‒ und dies ist das Wichtigste ‒ sind wir auch aufgehoben im Sinn von geborgen. Wir wissen in unseren besten und lebendigsten Augenblicken, dass wir in dem, das uns entgegenwartet, zuhause sind, völlig aufgehoben und wohl geborgen.
Weil Gottes Geist das All und uns erfüllt ‒ so haben wir gesehen ‒ deshalb können wir das All verstehen. Und da er alles zusammenhält, sind wir in der Einheit aufgehoben; und auch dies in dreifachem Sinn.
Wir sind in einer Einheit aufgehoben, in der unser kleines Ich ausgelöscht ist ‒ dies ist die negative Seite.
Wir erleben uns in ihr aber auch hinaufgehoben in Gemeinschaft und Bezogenheit.
Und wir erfahren uns schließlich geborgen in Gemeinschaft, zugehörig zum großen Haushalt der Erde.
Ich erinnere Sie nur an etwas, was gewiss auch Sie erfahren haben: In solchen Augenblicken, in denen wir, wie wir sagen, uns selbst verlieren, finden wir uns, da sind wir wirklich ganz die wir sind.
In Zeiten dagegen, in denen wir uns anklammern an das, was wir zu sein glauben, da verlieren und zerstreuen wir uns.
Wenn wir uns über uns selbst hinaus in eine Einheit hineingehoben erleben, die gleichzeitig grenzenlose Gemeinschaft bedeutet, dann finden wir uns, aber wir finden uns nicht in unserem kleinen Ich, sondern in unserer Einzigartigkeit, in unserem höchsten, umfassendsten Selbst als Person, und wir erleben uns verbunden mit der ganzen Schöpfung und dem ganzen All.
Und darum heißt es auch vom Geist Gottes, dass er nicht nur das All erfüllt, nicht nur alles in Einheit zusammenhält, sondern dass er jede Sprache kennt. Wenn wir eine solche Geisterfahrung hatten, wie ich sie geschildert habe, dann sind wir versucht zu denken, unsere Sprache ‒ oder genauer gesagt, die Sprache unsrer religiösen Tradition ‒ sei die einzige, in der wir diese Geisterfahrung ausdrücken können.
Aber der Geist Gottes kennt und spricht alle Sprachen, nicht nur die der Menschen, sondern die der ganzen Schöpfung. Jedes Tier ist ja eine eigene Sprache, die der Geist spricht, jede Pflanze, jeder Kristall, jeder Stein, jeder Stern, jedes Meer, ‒ das Weltall ist ein Sprechchor von verschiedenen Sprachen, die alle der eine Geist spricht.
Und das Pfingstwunder wird gerade so beschrieben, dass alle die vielen Völkerschaften, die das Brausen des Geistes vernahmen, sich wunderten, dass jeder einzelne von ihnen die eigene Sprache vernahm!
Es ist die Einheit in der Vielfalt, die hier erfahren wurde ‒ ein ganz und gar ökumenisches Ereignis! Daher bedeutet das Pfingstfest auch geschichtlich den Durchbruch aus der Enge einer Religion (die hier, mehr oder weniger zufällig, das Judentum war), in den Universalismus!
Was sich aber im Laufe der Zeit aus diesem Pfingstereignis heraus entwickelt hat, das ist ‒ jedenfalls bis heute noch ‒ kein solcher Ausbruch aus der Enge, sondern nur die Entstehung einer anderen Religion, nämlich des Christentums.
Wir können bedauern, wir können es aber ebenso begrüßen. Denn diese Religion hat doch im Wesentlichen nur die eine Aufgabe: Mit jeder neuen Generation erneut über sich selbst hinauszuführen in den Universalismus, auch wenn sie noch so oft in sich selbst steckenbleibt.
Das Gleiche aber gilt ja auch für jeden einzelnen von uns. Auch wir haben doch eigentlich die Aufgabe, aus jenem tiefsten Erleben unserer All-Einheit heraus zu leben, und dennoch bleiben wir täglich wieder in uns selber stecken. Wie können wir dieses dann den Religionen verübeln, die doch nur die Konglomerate sind aus den vielen einzelnen von uns.
Besinnen wir uns also darauf, dass auch heute noch, 2000 Jahre nach dem Pfingstereignis, unverändert die Herausforderung an uns besteht, aus Religion im engeren Sinn ‒ ob das nun die jüdische, die christliche, die buddhistische oder eine andere Religion ist ‒ in den Universalismus auszubrechen, ohne die Religion zurückzulassen.
Wir lassen uns ja auch selbst nicht zurück, wenn wir über uns hinauswachsen, im Gegenteil. Genauso die Religion. Und auch sie wird erst wirklich sie selbst, wenn sie universalistisch wird.
Sie wird aufgehoben in dreifachem Sinn: Ausgelöscht, soweit sie in der Vereinzelung, im Gegensatz zu den anderen, steht; hinaufgehoben auf eine höhere Stufe und in eine umfassendere Ordnung; und aufgehoben im Sinn von Bewahrung, bei der ihr Bestes zum Vorschein kommt.[2]
Der Heilige Geist ist der göttliche Lebensatem in uns. Geist und Fleisch stehen einander im biblischen Sprachgebrauch als Pole gegenüber. Fleisch bezeichnet alles, was unvermeidlich dem Tod verfallen ist. Fleisch muss ja verwesen, wenn es nicht mehr vom Lebensatem lebendig erhalten wird. Geist ist dieser Lebensatem, zunächst ganz konkret biologisch, dann in alle Grade des Lebendigseins übertragen, bis zur höchsten spirituellen Wirklichkeit, unserer Teilnahme am göttlichen Leben.
In dieser letzten Bedeutung sprechen wir vom Geist als Heilig im Sinne höchster Transzendenz. An den Heiligen Geist zu glauben heißt, auf unsere innerste Verbundenheit mit dem lebendigen Gott zu vertrauen und entsprechend zu leben.
Wir können uns bewusstwerden, dass «leben» nicht etwas ist, was wir «tun», wie kochen, laufen oder Schach spielen. Leben ist vielmehr ein Vorgang, an dem wir teilnehmen durch alles, was wir tun und erleiden ‒ ein Vorgang, der sich in uns abspielt, der aber weit über uns hinausgeht.
Es ist etwas, was wir nicht durch Analysieren verstehen können, sondern nur im Durchleben.
Wir können uns auch verschiedener Intensitätsgrade der Lebendigkeit bewusst werden.
Deine Lieblingsspeise wird Deine Lebendigkeit um einige Grade erhöhen.
Gute Musik wird sie noch etwas höher schrauben.
Das Lebensgefühl, wenn du dein erstgeborenes Kind in deinen Armen hältst, liegt auf einer noch weit höheren Ebene.
Anderseits kann es auch vorkommen, dass deine physische Lebendigkeit, sagen wir durch Krankheit oder Altersbeschwerden, hinuntergedrückt ist. Auch emotional fühlst du dich niedergeschlagen und deine Denkschärfe ist geschwächt; und trotzdem kannst du gerade in einer solchen Lage einer unerwarteten Lebensintensität gewahr werden; trotz erschlaffter Vitalität brennt tief in dir die Lebensflamme stetig, still und stark.
Solange wir uns gesund und kräftig fühlen, achten wir meist kaum auf dieses innerste Lebensfeuer.
Wenn in ihm unsere Sehnsucht nach der letzten Wirklichkeit glüht, wenn es uns wärmt und wach hält und uns Kraft gibt unserer Umwelt in Liebe als Mitwelt zu begegnen ‒ mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben ‒, dann nennt die christliche Tradition diese Lebendigkeit den Heiligen Geist.
Jeder Mensch kann diese uns unendlich übersteigende und zugleich einbeziehende Lebenskraft in sich erfahren, ganz gleich welchen Namen wir ihr geben.
«Ich glaube an den Heiligen Geist»
Worum es in diesem Glaubenssatz geht, ist nicht ein Fürwahrhalten, dass es «eine göttliche Person» gibt, die Heiliger Geist heißt.
Es geht vielmehr um ein gläubiges Sich-verlassen auf das Leben in uns, das letztlich Anteilnahme an der göttlichen Lebendigkeit ist.
So dem Leben zu vertrauen heißt: fest damit rechnen, dass jeder Tag uns genau das bringen wird, was wir brauchen ‒ wenn es auch nicht immer das ist, was wir uns wünschen.
Für mich persönlich war es eine folgenreiche Fügung, dass ich eingeladen wurde, im Sommer 1969, fünfzehn kleinen Klöstern-auf-Zeit im Staat Michigan beim Start zu helfen und sie zu betreuen; über die ganzen USA verstreut gab es Hunderte. Aus den stillen Gebetsgemeinschaften nahmen viele regelmäßig an den sprudelnden sprühenden charismatischen Gebetsabenden teil.[3]
Etliche von uns bereiteten sich in diesem Sommer auf die Geisttaufe vor, eine Erneuerung der Verpflichtungen, die man in der Taufe auf sich nahm, jetzt aber mit besonderer Offenheit für ein Leben im Heiligen Geist und für seine Gaben.
Als Tag für diese Feier hatte ich für mich den 20. Juli ausgewählt, weil das der 43. Jahrestag meiner Taufe war. Freilich konnte ich noch nicht voraussehen, welche spektakuläre zusätzliche Bedeutung dieser Tag in jenem Jahr erhalten sollte. Als wir am Abend des 20. Juli noch ganz glühend von Begeisterung aus dem Schulraum kamen, in dem wir gebetet und die Geisttaufe empfangen hatten, fiel mein Blick auf den Vollmond, der von hoch oben durch eines der Fenster herunterschaute. Eine kleine Menschengruppe stand da in der Eingangshalle vor einem Fernsehgerät. Warum waren sie alle so still? Als ich näher kam, bemerkte ich, dass sie atemlos zuschauten, wie der erste Mensch seinen Fuß auf die Mondoberfläche setzte.
«Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit», konnten wir aus 380.000 Kilometer Entfernung Neil Armstrong sagen hören und zugleich zum Mond aufblicken.
Bis heute kann ich kaum glauben, wie alles für mich zusammenstimmte, um eine Einsicht zu unterstreichen, die ich wohl nie vergessen werde:
Ja, der Heilige Geist ergreift und verändert uns durch tiefe innere Erfahrungen, aber derselbe Heilige Geist ergreift und verändert auch unsere äußere Welt.
Die leidenschaftliche, geduldige Forschungsarbeit von Wissenschaftlern, die Schöpferkraft von Technikern, Künstlern, Musikern, Dichtern und Schriftstellern, und der Einfallsreichtum von Frauen und Männern, die sich auf unzähligen anderen Gebieten im Dienst an der Menschheit um eine bessere Welt mühen, sie alle sind von ein und demselben Heiligen Geist inspiriert.
Jede Saite einer Windharfe antwortet mit einem anderen Ton auf denselben Wind. Welche Tätigkeit lässt dich selber am stärksten mitschwingen, wenn der Wind des Heiligen Geistes dich anrührt, der «weht, wo er will» (Joh 3,8)?
Die Turbulenz der Charismatischen Erneuerung in den Sechziger- und Siebzigerjahren hat sich gelegt, aber die Kirchen werden nie mehr zum alten Trott zurückkehren können. Ungezählte Christen hatten da tief spirituelle Erlebnisse und werden nie mehr ihre persönliche Erfahrung offizieller Lehre unkritisch unterwerfen.
Was hältst du persönlich von dieser Einstellung? Hat sie Grenzen, die respektiert werden wollen? Wie siehst du die Rolle des Heiligen Geistes in dieser Hinsicht? Wo siehst du den Heiligen Geist heute die Welt bewegen?[4]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 4)
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 3:
(23:08) Unser innerstes Leben ist göttliches Leben, der Lebensatem Gottes: ‒ Einatmen und ausatmen, geben und nehmen
1.2. «Vom Rhythmus des Lebens»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989) (06:02-15:47); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 13-15:
«Leben ist zu breit, als dass wir hoffen könnten, das ganze Spektrum hier zu behandeln. Wir müssen daher auswählen. Aber im Leben hängt alles mit allem zusammen. Welchen Bereich des Lebens sollen wir hier in Frage stellen, ins Auge fassen? Biologisches Leben, psychologisches Leben, soziologisches Leben, sogar politisches, ökonomisches Leben spielt da herein; jedes hat seine Rhythmen.
Ich möchte vorschlagen, dass wir uns heute auf den umfassendsten Bereich des Lebens einstellen, auf das g e i s t l i c h e Leben.
Geistliches Leben, das ist ‒ im Deutschen ‒ ein schwieriges Wort und missverständlich, weil man gleich an ‹die Geistlichen› denkt. Was heißt also ‹Geistliches Leben›?
Es heißt: Leben im Geist, Leben aus dem Geist, Leben im Heiligen Geist, Leben aus dem Heiligen Geist. Und Geist heißt Lebensatem Gottes.
Lebensatem ‒ alle die Wörter, die unserem Wort ‹Geist› voranstehen in der biblischen Tradition, ruach, pneuma, spiritus ‒ alle bedeuten Lebensatem.
Beinahe ist es ein Pleonasmus, von geistlichem, also lebendigem Leben zu sprechen ‒ so etwas ist ein weißer Schimmel oder ein schwarzer Rappe ‒, aber es ist doch nicht wirklich ein Pleonasmus. Wenn wir nämlich vom g e i s t I i c h e n Leben sprechen, dann meinen wir damit w a h r e s Leben, wahrhaftige Lebendigkeit, aufblühendes Leben, fruchtbares Leben ‒ ganz im Gegensatz zu dem, was wir so häufig Leben nennen, nämlich unser halbtotes, sich selbst verneinendes, geistloses Dahinleben. Das nennen wir auch Leben. Und daher muss man es ausdrücklich sagen: Wir meinen hier geistliches Leben, nämlich wirkliche Lebendigkeit.
Was können wir über diese wirkliche Lebendigkeit sagen?
1. Wir haben sie von Gott als Geschenk.
Im Buch Genesis, im 2. Kapitel (1 Mose 2,7), lesen wir: Gott, der Bundesgott, formte den Menschen aus Erde und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Das heißt, in biblischer Sicht sind wir jene Lebewesen, die durch Gottes eigenen Lebensatem lebendig sind. Das ist der Mensch.
Was können wir weiters über diese wahre Lebendigkeit aus der Sicht der christlichen Tradition, der biblischen Tradition sagen?
2. Wir haben sie mit Gott gemeinsam.
Diese Lebendigkeit ist Gottes Lebendigkeit in uns. Freilich, wir haben sie nur so gemeinsam, wie das Wasser in einem Krug und das Wasser im Meer gemeinsam sind, aber es ist doch eine Gemeinsamkeit. Wir Menschen atmen Gottes Atem.
3. Wir kennen Gott durch diese Lebendigkeit, wir kennen Gott nur durch diese Lebendigkeit des göttlichen Lebens in uns.
Denn man kann zwar über Gott etwas wissen, von außen, aber kennen kann man Gott nur von innen. Selbst erahnen können wir Gott nur von innen. Der heilige Paulus spricht das sehr schön aus im ersten Korintherbrief, im 2. Kapitel (1 Kor 2,10-12).
Er sagt: Wer kann schon einen anderen Menschen wirklich kennen? Nur der Geist, der in dem Menschen selber ist, kennt den Menschen wirklich. Und in Parallele dazu sagt er: Wer könnte dann hoffen, Gott zu kennen? Nur der Geist Gottes selbst kann die Tiefen Gottes ausloten.
Da könnte man nun glauben, dass Paulus aus diesen beiden Prämissen den Schluss zieht, wir sollten uns gar nicht bemühen, Gott zu kennen. Wenn wir schon einen anderen Menschen nicht kennen können, um wieviel weniger Gott.
Aber da springt er jetzt in der Kraft dieses selben Heiligen Geistes über die beiden Prämissen sozusagen hinweg und zieht kühn den Schluss: Wir haben den Heiligen Geist Gottes empfangen und erkennen Gott daher mit Gottes eigener Selbsterkenntnis. Wir kennen Gott von innen her, weil uns an Gottes eigener Lebendigkeit Anteil g e s c h e n k t ist.
Gottes Lebensatem ist uns geschenkt, wir können also Gott von innen her verstehen, durch diesen Heiligen Geist, durch diese Lebendigkeit in uns.
4. Diese Lebendigkeit macht uns zu Menschen, macht uns erst zu Vollmenschen.
Wir Menschen werden zu lebendigen Wesen, indem Gott uns Anteil nehmen lässt am göttlichen Atem, am Heiligen Geist.
Und je mehr wir uns aufschließen und lebendig werden durch Offenheit aller Sinne und durch Opferbereitschaft, umso mehr werden wir wahrhaft menschlich: als Gotterfüllte erfüllen wir unsere menschliche Berufung.
5. Zugleich aber verbindet uns dieser Heilige Geist auch miteinander.
Im Römerbrief sagt Paulus: Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, sind Söhne und Töchter Gottes (Röm 8,14). Das ist der Geist Gottes, den wir Menschen schon von Anfang an empfangen haben und dann in Fülle zu Pfingsten. Nach dem biblischen Menschenbild gibt es keinen Menschen in der ganzen Welt, der nicht aus Gottes eigenem Leben lebt, wenn er sich nur diesem Leben aufschließt, und so wirklich Mensch wird. Und darum verbindet uns der Heilige Geist mit allen, denn alle, die sich dem Geiste Gottes aufschließen, alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen (und Paulus betont dieses ‹alle› hier), sind Söhne und Töchter Gottes.
6. Nicht nur mit den Menschen verbindet uns dieser Heilige Geist, dieser Lebendigkeit in uns, sondern mit allen und allem, mit den Tieren, den Pflanzen, ja mit dem ganzen Kosmos.
In den Psalmen hören wir immer wieder vom Atem Gottes, der ausgeht und alles lebendig macht; wenn er zurückgezogen wird, fällt alles wieder ins Nichtsein zurück. Wir hören auch schon im Alten Testament, dass der Geist Gottes den ganzen Erdkreis füllt und alles zusammenhält, alles vereinigt und jede Sprache kennt.
Da ist die vereinigende Kraft des Geistes ganz deutlich ausgesprochen. Und wie sehr wir dieses Gemeinsamkeitsbewusstsein mit der ganzen Schöpfung gerade heute brauchen! ‹Geistliches Leben› bedeutet also Lebendigkeit im Heiligen Geist Gottes. Gerade auf diesen Aspekt des Lebens möchte ich hier am Anfang unserer Tagung eingehen, wenn vom ‹Rhythmus des Lebens› die Rede sein soll.»
1.3. Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 2:
(20:10) Bruder David spricht über seine Geisttaufe am 20. Juli 1969 und die Charismatische Erneuerung, wie er sie erlebt hat.
1.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(10:23) Mit Jesus bricht durch, was in Israel angelegt war: Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem. Jesus ist nicht in erster Linie Verkünder, sondern erinnert uns, dass wir in unserem eigenen Herzen mit dem innersten Gesetz unseres Lebens, in eins mit dem Baugesetz ‒ dem Hologramm ‒ des Kosmos, vertraut sind.
2. Weitere Texte
1. Wendezeit im Christentum, Teil I (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 94f.:
«Der Heilige Geist bedeutet, dass wir die göttliche Wirklichkeit durch Gottes eigenes Selbsterkennen erfahren, an dem wir teilhaben. Gottes Selbsterkennen ist ein Aspekt dessen, was wir den Heiligen Geist nennen. Der hl. Paulus hat eine wunderbare Stelle in seinem ersten Brief an die Korinther formuliert (1 Kor 2,10-12): ‹Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch niemand, was in Gott ist, als der Geist Gottes.› Nun könnte man denken, aus diesen Sätzen sei der Schluss zu ziehen, dass kein Menschenwesen jemals Gott kennen könne. Wenn wir nicht einmal einen anderen Menschen in seinem Innersten kennen, wie könnten wir dann Gott kennen? Doch macht Paulus hier einen unglaublichen Sprung und sagt: ‹Wir haben aber nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist.› Das heißt, wir kennen Gott aus innerer Sicht, gewissermaßen durch Gottes Selbsterkennen. So gesehen ist die Dreifaltigkeit eine Art, über unsere menschliche Verbundenheit mit der göttlichen Wirklichkeit zu sprechen. Es ist eine Lehre, die ihre Wurzel in unserer mystischen Erfahrung hat.» [ST 63]
2 Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 59-63:
«Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht. Er gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.»
Dazu ergänzend aus Credo (2015): ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, 52f.:
«Im biblischen Schöpfungsmythos geht es anders zu als in Collodis ‹Pinocchio›, wo Gepetto eine Puppe schnitzt, die ihm davonläuft.
Der biblische Schöpfer haucht dem Werk seiner Hände seinen eigenen Lebensatem ein. Könnten wir (und so der ganze Kosmos) inniger verbunden sein mit Gott?
Hier muss das Bild von Gott als unser Vater das Bild von Gott als unser Schöpfer ergänzen und berichtigen. Es geht hier um ein Gegenüber, mit dem wir doch im Innersten eins sind.
Weil Lebendiges nicht e r zeugt, sondern g e zeugt wird, verlangt etwas in uns danach, dass auch Pinocchio zuletzt nicht Puppe bleibt, sondern in der Geschichte Collodis der Fleisch-und-Blut-Lausbub wird, der er eigentlich schon von Anfang an war.
‹Gezeugt, nicht geschaffen; eines Wesens mit dem Vater›, sagt eine andere Fassung des Glaubensbekenntnis von Christus aus.»[5]]
_____________________
[1] Sakramentales Leben; Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 119
[2] Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): ‹Wo stehen wir›?
[3] Ebd. S. 185:
«Es begann im Februar 1967 mit einer förmlichen Explosion von Geistesgaben während eines Einkehrtages für Studenten der Duquesne University [in Ann Arbor, Michigan, eine kleine Universitätsstadt im Mittelwesten der USA] Von da aus verbreitete sich die Charismatische Erneuerung wie ein Lauffeuer über die ganze Welt. Solche Geistesgaben ‒ z. B Zungenreden (ein ekstatisches Beten in meist unverständlichen Lauten), prophetische Mahnreden und Heilung durch Handauflegung ‒ die in kleineren evangelischen Kirchen der Pfingstbewegung schon lange bekannt waren, fanden nun plötzlich in den großen traditionellen Kirchen Eingang; in jeder beliebigen Anglikanischen oder Römisch-Katholischen Pfarrkirche konnte man jetzt auf solche Phänomene stoßen.»
[4] Credo (2015): ‹Ich glaube an den Heiligen Geist›, 182-184, 186f.
[5] ‹genitum non factum, consubstantialem Patri› (Großes Glaubensbekenntnis); siehe auch Religionen und heiles Gottesbild: Anm. 3
Singen
Text mit Video-Film von Br. David Steindl-Rast OSB
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(Video-Film gelesen von Bettina Buchholz) Singen ist eine meiner großen Freuden in dieser Zeit von Advent und Weihnachten. Aber heuer ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass dieses Singen an der Schwelle eines neuen Jahres eigentlich das Einüben einer Haltung ist, die wir beibehalten wollen. Singen weckt uns auf und macht uns erst so recht lebendig. Ist diese wache Lebendigkeit nicht die Haltung, mit der wir allem entgegengehen wollen, was uns bevorsteht?
Wie wichtig diese Haltung ist, nicht nur für uns selbst, sondern für das Wohl der Welt, hat Howard Thurman (1899-1981), den ich als einen großen Denker, Lehrer und Friedensaktivisten schätze, so ausgedrückt:
«Frag’ dich nicht, was die Welt braucht. Frag’ dich, was deine eigene Lebendigkeit weckt, und mach’ dich dran, es zu tun. Denn was die Welt braucht, sind wache, lebendige Menschen.»
Solche Menschen schauen auf das Leid der Welt und ihre Augen kennen brennende Tränen, die nach innen fließen. Sie verstehen aber Augustinus, wenn er sagt:
«Schau auf das Ganze: Preise das Ganze!»[1]
Und darum kennen sie innen auch ein Singen, das weiterklingt, wenn das Singen der Weihnachtsengel verklungen ist. Auch davon schreibt Howard Thurman:
«Wenn das Singen der Engel verklungen ist,
Wenn der Stern nicht mehr am Himmel steht,
Wenn die Könige und die Weisen heimgekehrt sind,
Wenn die Hirten wieder ihre Herden weiden,
Dann fängt das Weihnachtswerk an:
Verlorene finden,
Gebrochene heilen,
Hungernde speisen,
Gefangene frei machen,
Nationen neu erbauen,
Menschen Frieden bringen
Und im Herzen singen.»
Was mit dem Singen der Engel begonnen hat, wird am Ende zum Singen im Herzen der Menschen. In diesem Singen drückt sich die wache Lebendigkeit aus, mit der allein wir das verwirklichen können, was wir zu Weihnachten feiern – heilen, befreien, Frieden in die Welt bringen – und all das nicht als grimmige Weltverbesserer, sondern aus Freude, freudig, preisend, trotz aller Hammerschläge des eigenen Schicksals und des Schicksals der Welt.
Vom Menschenherzen, das auf diese Weise singt, sagt Rilke:
«Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»[2]
Zum Segen für unsere arme Welt wünsche ich Euch (und mir selbst) so ein singendes Herz – in dieser festlichen Zeit, aber auch an jedem Tag des kommenden Jahres.
Euer Bruder David[3]
Der Gesang lehrt uns etwas über das Leben in der Gegenwart. Von einem pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts. Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht. Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem pragmatischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten. Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.
Singen ist ein wesentlicher Bestandteil vieler religiöser Überlieferungen ‒ der buddhistischen, jüdischen, hinduistischen, islamischen und anderer. Das kommt daher, dass an einem gewissen Punkt das Herz einfach singen will, das Singen bricht aus ihm heraus. Obwohl es widersprüchlich scheint, kann man sagen, dass das Wort dann entsteht, wenn das Schweigen seine Fülle gefunden hat.[4]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f.)
______________________
[1] Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: siehe die Audios in Ergänzend: 2.1-2.3
[2] R. M. Rilke: Die zweite Duineser Elegie
[3] Weihnachtsgrüsse 2014 mit Ernst Barlachs Bronzefigur ‹Singender Mann›
[4] Musik der Stille (2023): ‹Zum Gregorianischen Gesang›, 24f. und 31; siehe auch ST 119
Reich Gottes
Texte und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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«Dein Reich komme»
«D e i n R e i c h und was damit gemeint ist, können wir wohl nur dann recht verstehen, wenn wir die geschichtliche Lage beachten, in der dieses Gebet entstanden ist.
Jesus und seine Jünger waren Juden, gewalttätig unterdrückt und ausgebeutet von der römischen Besatzungsmacht. Erst im Gegensatz zum gewalttätigen Weltreich der Römer gewinnt die Bitte um dein Reich seine volle Wucht.
Dein Reich auf Erden gewaltfrei zu verwirklichen, das war die große Leidenschaft Jesu. Dafür lebte er und dafür musste er sterben.
Da stand Gottesreich gegen Römerreich.
Politische Machthaber spüren so etwas sofort. Sie erkannten die Konkurrenz und schlugen zu. Für unpolitische Nächstenliebe ist noch nie jemand ans Kreuz geschlagen worden.
Je aufrichtiger ich dein Reich erbete, umso tatkräftiger muss ich auch bereit sein, dafür einzutreten ‒ auch politisch. Gib du mir Mut dazu und nimm mir die Angst vor den Folgen. Amen.»
«D e i n R e i c h ist ‹nicht von dieser Welt› ‒ eben nicht von der Art der Weltreiche. Sondern es ist das von jedem Menschenherzen ersehnte Friedensreich.
In der Natur steht es uns als dein Welthaushalt schon vor Augen. In der Gesellschaft muss es als Gotteshaushalt erst noch verwirklicht werden durch das freie Ja der Liebe. Denn du zwingst uns deine Ordnung nicht auf. Du bist ja Vater, nicht Gewaltherrscher.
Und doch wirst du immer wieder ‹am höchsten Thron› einer Machtpyramide dargestellt.
Das ist zwar ein aufrichtiges Bemühen, dich zu ehren, aber auch eine herzzerreissende Blasphemie.
Genau als Gegenpol zur Machtpyramide hat Jesus ja dein Reich verstanden: nicht auf Eroberung gegründet, sondern auf Umdenken: nicht auf Angstmacherei gestützt, sondern auf gegenseitiges Vertrauen; nicht durch Gewalt verwirklicht, sondern gewaltfrei. Nicht von dieser Welt, aber mitten in ihr. Amen.»
«D e i n R e i c h, wie Jesus es verstanden hat, ist kein abgegrenzter Herrschaftsbereich ‹hier oder dort›, sondern ‹mitten unter› uns, als die uns von dir geschenkte Möglichkeit, die wir verwirklichen können, wenn wir nur wollen.
Deine ‹Herrschaft›, also die Wirkkraft deiner Liebe, steht uns jederzeit zur Verfügung. Und auch eine Gelegenheit, das Ja gegenseitiger Zugehörigkeit zu sprechen, ist stets zur Hand.
Dein Reich ist das freudige Zusammenleben, das sich ereignet, wenn eine Gemeinschaft nach deiner Musik zu tanzen beginnt.
Schon ‹zwei oder drei› genügen, um damit zu beginnen: zwei Liebende, die miteinander eine Familie gründen, oder drei Freunde, die den Keim einer Gemeinschaft bilden.
Und woran können wir dein Reich erkennen?
An gelebter Liebe. Daran, dass Menschen sich bedingungslos zuhause fühlen dürfen und sich geachtet wissen in ihrer Eigenständigkeit ‒ an Menschenwürde also.
Wecke in mir die wache Bereitschaft, mich dafür einzusetzen. Amen»
«D e i n R e i c h meint nicht erst die himmlische Herrlichkeit, die wir erhoffen, wenn wir beten: ‹Lass uns eingehen in dein Reich›.
Der indische Mystiker Kabir sagt es ganz unverblümt:
‹Dass deine Seele Seligkeit finden soll, nur weil dein Leichnam verwest, ist ein Hirngespinst. Wenn du hier nichts findest, kannst du dort auch nur eine Wohnung im Totenreich erwarten.›
Ein Reich der Lebendigen ist dein Reich, und Lebendigkeit muss deshalb sein Hauptmerkmal sein, schon hier auf Erden.
Freilich bleibt im Diesseits alles Stückwerk ‒ auch dein Reich.
Die Richtschnur unsres Bauens muss ins Jenseits auslaufen.
Wir wissen ja: ‹Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen.›[1]
Jetzt und immer bist und bleibst du der Schnittpunkt aller Beziehungen und der Mittelpunkt deines Reiches.
Das Dichterwort gilt:
‹Jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt uns den Zirkel aus der Zeit.›[2]
Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e›, beten wir, und das klingt recht passiv. Wo immer wir aber aktiv unser Zusammenleben gestaltet haben, ist in der ganzen Menschheitsgeschichte kaum jemals ein Aufdämmern deines Friedensreiches erkennbar geworden. So sehr wir alle es auch ersehnen, scheinen wir uns doch völlig verirrt zu haben. Der ganze Karren ist verfahren. Ist es zu spät, umzukehren?
Ein Geschenk muss dein Reich jedenfalls sein. Du schenkst uns ja auch sonst alles, was es gibt. Aber, wie alles andre auch, bleibt es nur ein Angebot. Es wird wahrhaft zum Geschenk, wenn wir uns dankbar erweisen, indem wir aus dem Angebotenen etwas machen.
Und das tun ja doch unzählige Menschen, die sich ehrlich und aufopfernd bemühen, Ansatzpunkte für ganze neue Formen geschwisterlichen Zusammenlebens zu finden.
Lass auch mich Ansatzpunkte für Neues als dein Geschenk erkennen und sie mutig und dankbar nutzen. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› ‒ so bitten wir und wissen doch, dass es schon da ist, mitten unter uns ‒ als stete Möglichkeit.
Wenn du zwei oder drei von uns zusammenführst, dann liegt darin auch schon dein Angebot, ‹in deinem Namen› beisammen zu sein.
Dein Name ist ja ‹Liebe›, und jede Begegnung ist eine neue Gelegenheit, das Ja der Liebe zum Ausdruck zu bringen.
Mit diesem Ja ‹heiligen› wir deinen Namen und empfangen mit weit offenen Armen einander und so dein Reich.
Dein Name und dein Reich sind also keimhaft gegenwärtig, wann und wo immer wir Menschen gemeinsam unser Leben gestalten.
Mach du uns wach und achtsam für dieses uns anvertraute Aufkeimen und lass uns mit Geduld auch die zartesten Pflanzen der Liebe so geduldig pflegen, dass aus ihnen dein Reich aufblühen kann. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› als gesellschaftliche Wirklichkeit! In der Ordnung des Kosmos wirkst du als ihre innerste Lebendigkeit, ‹du sanftestes Gesetz›.
Im Erd-Haushalt stellt uns die Natur ein lebendiges Bild jenes harmonischen Zusammenlebens vor Augen, das dein Reich ‒ der Gottes-Haushalt ‒ uns schenken will.
Die Natur baut keine Machtpyramiden, sondern vernetzt Netzwerk mit Netzwerk, so wie in der Musik sich Motiv mit Motiv verwebt.
Wo immer wir ehrfürchtig auf die Natur achten, zeigst du uns Leitbilder für die Gestaltung deines Reiches.
Lehre uns, ihnen zu folgen, bei allem, was wir bauen.
Dann dürfen wir wohl auch der schier unerschöpflichen Erneuerungskraft der Natur vertrauen, dass sie nicht nur die Verwundungen heilt, die wir ihr zugefügt haben, sondern auch unsrer Kultur den Weg zu heilem Sein weist. Amen.»
«‹Dein Reich k o m m e› ‒ das ersehnen wir. Und wir wissen auch, dass letztlich nur du diese Sehnsucht erfüllen kannst.
Und doch dürfen wir dein Reich nicht völlig ohne unser Zutun als dein Geschenk erwarten. Was aber ist unsererseits notwendig, damit dein Reich sich unter uns ereignen kann?
Was kann ich in meinem winzigen Umkreis dazu beitragen?
Mein Einflussbereich reicht allerdings weiter, als mir oft bewusst ist. Alles hängt ja mit allem zusammen! Und jeder Anstoß setzt sich grenzenlos fort.
Sooft wir einander Gutes tun aus dem Bewusstsein, dass wir füreinander da sind, setzen wir ein unaufhaltbares Ja der Liebe in Bewegung.
Sooft wir einander gegenseitig Achtung erweisen, springt ein Fünkchen vom Glanz dieses Reiches über, das weiter und weiter leuchtet.
So beizutragen zum Kommen deines Reiches, dazu schenke mir Kraft und Entschlossenheit. Amen.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn du von den ‹Kreisen freudigen Lebens› sprichst, höre ich die Freude als das entscheidende Wort heraus. Und Freude ist ansteckend. Darum gefällt mir das Bild für freudiges Zusammenleben, das du gerne verwendest: eine Gemeinschaft, die nach der Musik Gottes zu tanzen beginnt.»
Bruder David: «Der Name Gottes ist Musik, der Tanz der Liebe ist sein Reich. Und obwohl unser Bemühen stets Stückwerk bleibt, bleibt die Hoffnung lebendig, dass das Reich Gottes wenigstens jenseits von Zeit und Raum Vollendung findet.
Paulus sagt: ‹Was Gott will, ist allen Menschen offenbar, Gott hat es uns offenbart. Schon seit Erschaffung der Welt drücken die Werke der Schöpfung seine unsichtbare Wirklichkeit aus› (frei nach Röm 1,19f.). An den Werken der Schöpfung kann unsre menschliche Vernunft also wahrnehmen, was Gott will. Das ist mir eine große Ermutigung.
So viele, die vom Christentum nichts wissen oder gar nichts wissen wollen, bauen dennoch tatkräftig mit an dem Friedensreich, das wir Christen das Reich Gottes nennen.»
«Das Lernen von der Natur ist dabei ein wesentlicher Bereich, in dem sich jederzeit Neues ereignet. Es geht um eine Forschungshaltung, die in der Fachsprache ‹Bionik› genannt wird oder auch ‹Biomimetik› ‒ die Befragung und Nachahmung der Natur, um schwierige technische, gesellschaftliche oder organisatorische Probleme zu lösen.»
«Die Natur heiligt den Namen Gottes, indem sie uns zeigt, wofür Gott eintritt.
Wenn wir vorurteilslos bereit sind, von der Natur zu lernen, dann finden wir in ihr schon samenhaft das Modell für das Reich Gottes angelegt.
Dante nennt ja die Liebe das innerste Geheimnis des Universums:
‹Liebe, die die Sonne rollt und andere Sterne›,[3]
lautet ein berühmter Ausspruch von ihm.
Vielleicht können wir die Evolution als die allmähliche Entfaltung dieses innersten Wesens verstehen ‒ als das Offenbarwerden des Reiches der Liebe, nach dem sich alles sehnt.»
Brigitte Kwizda Gredler: «So verstehe ich auch Pierre Teilhard de Chardins berühmten Ausspruch:
‹Eines Tages, nachdem wir Herr der Winde, der Wellen, der Gezeiten und der Schwerkraft geworden sind, werden wir uns in Gottes Auftrag die Kräfte der Liebe nutzbar machen. Dann wird die Menschheit zum zweiten Mal in der Weltgeschichte das Feuer entdeckt haben.›»
Bruder David: «Dann wird die Vaterunserbitte um das Kommen des Gottesreiches in Erfüllung gegangen sein.»[4]
(Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 4)
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch:
(57:20) ‹Die Gesellschaft, in der die Starken die Schwachen unterdrücken, das ist die typische menschliche Gesellschaft. Leider. Eine Gesellschaft, die aus der Angst und aus der Unterdrückung lebt.
Und der entgegen stellt Jesus das Reich Gottes. Und das Reich Gottes ist eine Übersetzung dieses tiefsten Zugehörigkeitsgefühls in eine soziologische Wirklichkeit, in gesellschaftliche Wirklichkeit.
Er ist nicht nur Mystiker, er hat nicht nur diese tiefe Erfahrung der Zugehörigkeit, die sich ausdrückt dadurch, dass er alle Menschen, auch die Ausgestoßenen als Brüder und Schwestern anspricht und sich Gott so ganz eng verbunden fühlt: diese Familie Gottes, zu der auch die Tiere und Pflanzen gehören. Das ist ganz stark angelegt, aber nicht nur dieses Mystische, sondern dann die Übersetzung dieses Mystischen in ein tägliches Leben, in Gesellschaftsformen, die unsrer Art von Gesellschaftsform, wo einer den andern frisst und beißt, entgegengesetzt ist.
Und das versucht er zu verwirklichen und das nennt er Reich Gottes, und Bekehrung ist dann eine Umkehr von der Art von Gesellschaft, die wir kennen ‒ typisch ‒ zu der andern Gesellschaft.
Aber ich möchte nicht einfach so die Gesellschaft abschreiben. … das ist das Gute, dass es heutzutage ‒ wahrscheinlich wie immer in der Geschichte ‒, viele Zellen gibt, viele Ansatzpunkte, wo Menschen schon in einer Familie, in einer Freundschaft, in einer Pfarre, in irgendeinem Freundeskreis genau das zu verwirklichen beginnen. Und sie kommen in Konflikt mit der vorherrschenden Gesellschaft.›
1.2. Audio Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition:
«Das Bild des Messias strahlte in einer anderen solchen Gnadenstunde auf, als sich Vertreter vieler Religionen 1972 auf Mount Saviour[5] trafen. … Ich weiß nicht mehr, ob es Reb Shlomo Carlebach war oder Reb Zalman Schachter, der bei unserem letzten gemeinsamen Abendessen eine chassidische Geschichte erzählte, die uns zu Herzen ging, weil sie von dem sprach, was unter uns Wirklichkeit geworden war: ‹Der gelehrte Rabbiner und seine Schüler waren beisammen und so glühend war die Liebe unter ihnen, dass der Meister einen von ihnen zum Fenster schickte: ‹Schnell, schau hinaus, ob der Messias nicht gekommen ist!› Enttäuscht kam die Antwort: ‹Alles da draußen wie eh und je.› ‹Aber Rabbi›, fragte ein anderer Schüler, ‹müssten wir hinausschauen, wenn der Messias gekommen wäre? Würden wir es nicht hier herinnen gleich wissen?› ‹Ja! Aber hier›, sagte der Meister strahlend, ‹hier ist der Messias ja gekommen!›»[6]
2. Weitere Texte
2.1. Osterbrief 2023
«Jesus hat ein Zusammenleben gelehrt, das er ‹Reich Gottes› nannte, das wir aber auch ‹Gotteshaushalt› nennen könnten, Gemeinschaftsleben, das dem Gemeinsinn der Vögel näher steht, als der Gesellschaftsordnung seiner und unserer Zeit. Er sagte: ‹Schaut euch die Vögel des Himmels an› (Mt 6,26) und baute eine auf ‹Wir-Denken› gegründete Gemeinschaft: Das ‹Reich Gottes›. Es war, wie wir heute sagen würden, ‹der Natur nachgebildet› ‒ der Natur, in deren innerstem Mysterium wir ‹Gott› begegnen. Dafür lebte und dafür musste er sterben, denn die Machtpyramide des ‹Ich-Denkens› erkannte, dass sie an ihrer Wurzel bedroht war.»
2.2. Vom mystischen Wasser kochen ‒ 99 Namen hat Gott im Islam (2019): Interview von Josef Bruckmoser mit Bruder David:
«Sind Ihnen von diesen 99 Namen einige besonders nahe gekommen?»
«Interessanterweise fällt mir keiner ein, aber es fallen mir viele ein, die mir eher unsympathisch sind, wie z. B. der König oder der Mächtige. Das sind Bezeichnungen für Gott, die sich auch weitgehend mit dem Christentum decken. Solche Namen Gottes kommen der Pyramide der Macht im Christentum wie im Islam sehr gelegen, weil weltliche wie religiöse Machthaber diesen Anspruch Gottes für sich selbst ausnützen. Das steht meinem Verständnis von Christentum völlig entgegen. Wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, ist es genau das Gegenteil einer weltlichen Machtpyramide, an deren Spitze ein König sitzt. Das Reich Gottes ist keine Pyramide, es ist ein Netzwerk von Netzwerken. So hat Jesus das als Wanderprediger mit seinen Leuten gelebt. Seine mystische Erfahrung der Nähe Gottes machte ihn zum Revolutionär. Er hat gesellschaftliche und religiöse Macht untergraben und wurde dafür am Ende hingerichtet. Papst Franziskus versucht, die kirchliche Machtpyramide durch menschliche Beziehungen und Netzwerke zu ersetzen. Zwischen ihm und Vertretern dieser Machtpyramide spielt sich leider ein schwerer Zusammenstoß ab.]»
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[1] «An Zimmern
Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.»
Friedrich Hölderlin
[2] R. M. Rilke: ‹Wer seines Lebens viele Widersinne› (Das Stunden-Buch); das Gedicht in Sinnorgan Herz und
(29:15) im Audio Fragen, die uns bewegen (2005)
[3] Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: «L'amor che move il sole e I'altre stelle» ‒ «die Liebe, die alles bewegt.» ‒ Das zentrale Geheimnis des kosmischen Rundtanzes ist die Liebe.
[4] Das Vaterunser (2022): ‹Dein Reich komme›, 49-53 und ‹Reich Gottes als konkrete Aufgabe›, 55f.
[5] Bruder David trat 1953 in das kurz zuvor neu gegründete Benediktinerkloster Mount Saviour in Elmira, NY, ein.
[6] Ich bin durch Dich so ich (2016), 98
Reich Gottes ‒ die Vision leben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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Je mehr Menschen verschiedenster Art und je mehr ihrer Anliegen ich auf meinen Reisen kennenlernen durfte, umso häufiger stieg in mir die Ahnung auf, dass sich in unserer Zeit eine weltgeschichtliche Umwälzung anbahnte. Immer ging es bei den denkwürdigsten Begegnungen um Tränen, aber auch um unauslöschliche Hoffnung. Besonders ein Gespräch mit Studenten in Zaire löste Einsichten aus, die sich im Lauf des 8. Jahrzehnts meines Lebens herauszukristallisieren begannen.
Ich bin in Kinshasa. Die Unruhen haben ein solches Ausmaß erreicht, dass ich jede Nacht in eine andere, diesmal vielleicht etwas weniger gefährdete Unterkunft gebracht werden muss. Einmal besuchte ich Doktoranden in einem heruntergekommenen Studentenwohnbau. Hier leben sie mit ihren Frauen und Kindern auf engstem Raum zusammengepfercht. Der eine Tisch ist zugleich Kochtisch, Esstisch, Spieltisch für die Kinder und Schreibtisch, auf dem die teuren Bücher und die Unterlagen für ihre Doktorarbeit ständig in Gefahr sind. Trotz unvorstellbarer Entbehrungen sind diese Männer endlich dem Ziel ihrer Mühen nahe.
«Was erhofft ihr euch am heißesten für eure Zukunft?», frage ich und denke dabei ‒ ich gestehe es ‒ an Reichtum und Einfluss. Die Antwort macht mich sprachlos:
«Wenn wir es einmal geschafft haben, hoffen wir, der Versuchung widerstehen zu können, mit den Wölfen zu heulen. Wir wollen es einmal anders machen als die, die Macht und Geld haben. Aber dabei mitzuhalten ist nicht leicht; wir werden auf vieles verzichten müssen.»
Hier ist eine radikal neue Vision der Zukunft. Der Mut dieser Pioniere, gegen den Strom zu schwimmen, geht mir zu Herzen und erschüttert meine Vorstellungen. Er ist revolutionär.
«Revolution» wird nach und nach zu einem wichtigen Begriff. Ich verwende ihn allerdings halb scherzhaft, weil es um etwas ganz anderes geht als bei Revolutionen, die wir aus der Geschichte kennen. Die Revolution, die heute der weltgeschichtliche Augenblick von uns verlangt, muss sogar die hergebrachte Vorstellung von Revolution revolutionieren.
Bisher bestand Revolution darin, dass die jeweilige Machtpyramide auf den Kopf gestellt wurde und die ehemaligen Revolutionäre von unten nach oben stiegen; ansonsten blieb alles beim Alten.
Das Neue besteht nun darin, dass die Machtpyramide nicht umgekehrt, sondern total abgebaut und durch ein Netzwerk ersetzt werden muss.
Buddha setzte sich zum Ziel, das in seiner Sangha zu verwirklichen, und Jesus wollte es in der Gemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger verwirklicht sehen:
«Die Könige der Nationen herrschen über sie, und die Gewalthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter euch sei wie der Geringste und der Befehlende wie der Dienende.»
Etwas Ähnliches wollten offensichtlich auch die Doktoranden in Kinshasa. Das Ziel, das ihnen und vielen anderen Gruppen, denen ich begegnen durfte, mehr oder weniger klar vorschwebte, war keine verbesserte Machtpyramide, sondern vielmehr ein Netzwerk gegenseitiger Ermächtigung.[1]
Bruder David, damals noch mit dem Geburtsnamen Franz Kuno Steindl-Rast:
«Werfen wir nur einen Blick auf unsere Zeit, um zu sehen, wo wir überhaupt stehen.
‹Der Mensch liegt in größter Not.›
Dieser Aufschrei, [den Gustav Mahler durch seine zweite Symphonie klingen lässt], gilt unserer Zeit mehr als der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Ja, es gibt keinen erschütternderen Hilferuf aus unserer Zeit als diesen: ‹Der Mensch liegt in größter Not›. Aber nicht nur er, alles, was von ihm geschaffen wurde, ist zerstört und geschändet, alles, was ihm zum Dienste und zur Freude vom Schöpfer gegeben wurde, hat er missbraucht und entweiht. Es scheint so, als ob der Fluch auf alles gefallen sei, das er berührte.»
«Wenn wir in kurzen Streiflichtern einige Punkte berühren, die nun über das persönliche Augenblickserlebnis hinausgreifen, wird der Eindruck in einer erschütternden Weise noch vertieft: Krieg in China, Terror in Palästina, Hetze und Propaganda verschiedenster Ideologien und Parteirichtungen, Hunger in allen Winkeln der Erde, Mangel an den nötigsten Gebrauchsgütern, Schleichhandel mit Arzneimitteln und Waren und Spenden für notleidende Völker, Aufruhr gegen Kirche und Christentum, bettelnde und sich verkaufende Kinder in allen Straßen der Städte der ganzen Erde, Raub, Totschlag, Schändung Quälerei, [6] Rachgier, Ehrgeiz, Verzweiflung, Selbstmord.
Es ist Karfreitag und die Welt schlägt Christus ans Kreuz und merkt nicht, dass sie sich selbst ‒ mordet in ihm. Denn was bleibt, wenn die Liebe getötet ist?
Ich weiß nicht, ob es nach den wenigen Sätzen noch viel bedarf, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass der Mensch ein Enterbter und Entrechteter ist.
‹Der Mensch liegt in größter Not.›
Wir alle sind mitgerissen in dieses Chaos und fühlen die hilflose Einsamkeit des einzelnen Menschen, weil wir zu vielen Malen erlebt haben, dass wir in Auflehnung gegen Untergang und Verderben allein gestanden sind. Wir wissen, dass nicht alle dem Ruf nach Macht und Ehrgeiz folgen, wir wissen, dass sogar viele bereit sind, wenn es sein soll, selbst ihr Leben einzusetzen. Aber sie stehen allein in ihren Bestrebungen und Hoffnungen, sie werden umspült von einer Masse ablehnender und angreifender Menschen, dass sie sich hilfesuchend nach Gleichgesinnten umsehen müssen. Sie erkennen mit einmal, dass sie allein auf einem verlorenen Posten stehen, und einzig der Wunsch, das Leben sinnvoll einzusetzen, lässt sie Ausschau halten, wenigstens eine kleine Schar ähnlich Denkender und ähnlich Fühlender zu finden.»
«Wir müssen uns langsam zu der Erkenntnis durchringen, dass jeder von uns mitverantwortlich ist für den Ablauf der Geschichte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, und darüber hinaus vielleicht noch mitbestimmend an der Gestaltung kommender Jahrhunderte. [Wir mögen uns hier nur daran erinnern, wie die Wellen der französischen Revolution noch an die Ufer der Gegenwart schlagen, wie Ideen ausgehend von einigen Wenigen noch die Gehirne vieler beherrschen.]
Es nützt uns sehr wenig, zu bedauern, in eine so verworrene Situation hineingeboren zu sein. Kritik, Bedauern und Unzufriedenheit mit der Lage der Welt und der Menschheit führt bestens zur Resignation und zur Zurückgezogenheit des Einzelwesens. Bewährung bedeutet uns aber aufopfernde Stellungnahme zu den Gegebenheiten der Gegenwart. Freilich ist damit ein Übergang von der passiven zu einer aktiven Lebensgestaltung erforderlich. Das bedeutet, die Defensivstellung aufgeben und zum Angriff übergehen. Solange wir nur darauf bedacht sind, die überlieferten Schätze und Positionen zu bewahren, wird man uns Stück für Stück des eigenen Lebensraumes entreißen, ja, wir werden auf das Versprechen hin, geduldet zu sein, wichtige Bastionen aufgeben, um uns am Ende kaum mehr von Menschen anderer Gesinnung zu unterscheiden.
[11] Allein zu einer wirklichen Bewährung gehört mehr als nur Aktivismus. Es wäre verfehlt, zu meinen, damit den richtigen Weg zu einer Gesundung schon gefunden zu haben. Jeder Schritt, der unternommen wird, möge allein aus der einer Erkenntnis entsteigenden Notwendigkeit geboren werden.
Wir selbst scheinen verbraucht und müde, dass es einem unmöglich vorkommt, das Erbe der gegenwärtigen Situation übernehmen zu können. Aber vielleicht sind es gerade unsere Ausgelaugtheit und Müdigkeit, die uns so klar vor Augen stellen, dass es höchste Zeit ist, endlich den neuen Boden vorzubereiten, der ein gesünderes und in der Ordnung verwurzeltes Leben möglich macht. Nicht die Fortsetzung des alten Weges, sondern der Aufbruch zu einem neuen wird die Bewährung unserer Generation in dieser Zeit sein.
Es ist leicht, an bestehenden Dingen Kritik zu üben, ohne selbst einen Ausweg daraus zu kennen, d.h. wenigstens Ansatzpunkte dazu zu sehen. Darum soll hier angedeutet werden, worin nicht nur ein Ausweg aus einer Situation, sondern ein gültiger Weg liegen könnte. Um es klar und einfach zu sagen:
Ich meine damit eine christliche Generation, die imstande ist, eine Revolution der Herzen durchzuführen, die die Vormachtstellung einer materialistisch diesseits gerichteten Welt durchbricht.
Eine Generation, die endlich einmal zuerst das Reich Gottes sucht und damit den Traum eines in Organisation und Mechanisierung gesicherten Lebens aufgibt.
Eine Generation, die bereit ist, in ihre Herzen das Gesetz der Liebe zu brennen, weil Christus Mensch geworden ist, und er mit seinem Tod am Kreuze und seiner Auferstehung uns die Gültigkeit dieses Gesetzes bewiesen hat.
Eine aufbrechende christliche Generation würde bedeuten: bereit zu sein, vor der Welt Bekenntnis abzulegen, dass Christus nicht in die behüteten Räume unserer Wohnung, nicht in Klöster und Kirchen gebannt werden kann, sondern dass er Anspruch erhebt auf alle Menschen und alle Bereiche des Lebens. Allerdings nicht in Gewalt, [12] sondern allein in der Macht der Liebe.
Ich will Sie mit dieser Tatsache, wie gering der Anteil der christlichen Kräfte in unserer Generation ist, nicht beunruhigen, denn wer immer sich mit der Frage der Generation beschäftigt, wird auf den Begriff der ‹Wenigen› stoßen. Die Wenigen, die von einer nachkommenden Zeit gesehen, der Generation das Gesamtgepräge geben.
Es gibt in jeder Generation die kleine Schar dieser Wenigen, die den geheimen Hebel ihrer Zeit finden, wo sie sich fast selbstverständlich aus den eingefahrenen Geleisen einer Entwicklung heben lässt.
Um was Andere sich mühen und mit allen Anstrengungen nicht zustande bringen, gelingt diesen Wenigen, als ob ihre Hand geführt würde, traumwandlerisch, und es gelingt immer, wenn es der Schwerpunkt ist, an den sie die Hände legen.
Dass wir mit einer derartigen Auffassung von der Welt von den weitesten Kreisen als Narren, Phantasten und Utopisten abgetan werden, muss uns bei einiger Offenheit nicht wundern. Und auch die Generation vor uns wird wahrscheinlich kein anderes Urteil fällen. Aus diesem Grund ist unsere Stellung zu ihr schon in einer Weise bestimmt. Da wir mit ihr in unseren Gedankengängen in Widerspruch geraten, ist uns der geschichtliche Weg einer Nachfolge und Fortsetzung unmöglich geworden.
Die Grenze, die wir ziehen sollten, gilt vor allem den Richtungen, für die Verachtung der Natur, Zerschlagung aller uns als Sinnbilder gegebenen Formen, Zynismus und auswegloser Individualismus kennzeichnend sind.
Gegen die müssen wir eine scharfe Trennungslinie ziehen. Wir wollen gläubig die Natur und alle uns gegebene Formen sehen und sie aufschließen zu einem Hintergrund, dass sie zu leuchten beginnen als Gleichnis und Bild.»[2]
An einen gekreuzigten Verlierer zu glauben, heißt, für eine eher ungewöhnliche Wertskala einzutreten: für eine Gegenkultur mit utopischen Idealen.
Das Ideal, für das Jesus lebte und für das er gekreuzigt wurde, ist das «Reich Gottes», eine Weltordnung, die nicht auf Mächtigkeit, sondern auf Gerechtigkeit gründet. Wirklich daran zu glauben, heißt sich zu verpflichten, in unserer Gesellschaft gegen den Strom zu schwimmen.
Hast Du einmal Bilder von den Demonstrationen gesehen, die Dr. Martin Luther King in Selma, Alabama anstiftete, wo schwarze Bürgerrechtler vom Wasserstrahl aus Feuerwehrschläuchen niedergestoßen und von Polizeihunden angefallen wurden?
Hast Du selber einmal teilgenommen an einer öffentlichen Protestaktion für Menschenrechte oder für ein ähnliches Anliegen? Wann und wo (etwa bei den Abendnachrichten im Fernsehen) hast Du persönlich Christus unter Pontius Pilatus leiden gesehen?[3]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3)
[Ergänzend:
2. Das Vaterunser (2022): ‹Vater unser im Himmel›, 38f.:
«Wesentlich ist, mit sich und allen anderen im Frieden zu leben. Das heißt, bereit zu sein für alle Höhen und Tiefen des Lebens und sie als Impulse für unser Wachstum anzunehmen. Von ‹Leben in Fülle› spricht das Evangelium.
Je lebendiger wir werden, umso deutlicher erleben wir das.
‹Der ganze Weg zum Himmel ist Himmel›,
so lautet ein bekannter Ausspruch von Dorothy Day, die sich in den Slums von New York um die Ärmsten der Armen kümmerte. Ihre Freundschaft war eines der größten Geschenke meines Lebens. Wenn irgendjemand mit der Hölle auf Erden vertraut war, dann gewiss diese heiligmäßige Frau. Und ihr konnte man geradezu ansehen, dass sie zugleich auch jetzt schon im Himmel war.
Unsere Herzensbeziehungen zu Freunden und Verwandten machen die Erde zum Himmel. Das gilt nicht nur für unsere Beziehungen zu Menschen, sondern wohl auch für unsere Beziehungen zu Tieren. Sollte der Tod daran etwas ändern können? Schon jetzt erleben wir jede Beziehung in reiner Liebe als ‹Himmel auf Erden›. Und in dem Ausmaß, in dem unser Herz in Liebe mit dem Vater im Himmel verbunden ist, sind wir jetzt schon dort.»
3. Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 165f. und 168f.:
Johannes Kaup: «Noch einmal zurück zu den Vorbildern. Jesus haben Sie bereits genannt. Gibt es auch zeitgenössische Vorbilder?»
Bruder David: «Ja. Eine Frau, die ich sehr verehrt und bewundert habe, kommt mir sofort in den Sinn: Dorothy Day[4], die das «Catholic Worker Movement» gegründet hat.»
Johannes Kaup: «Das ist eine Organisation, die sich besonders um die Ausgegrenzten in der Gesellschaft kümmert.»
Bruder David: «Ja, diese Organisation ist auch heute noch ausserordentlich lebendig und erfolgreich. Sie ist entsprungen aus Dorothys Mitgefühl für die Armen und ihrer Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann mit der Armut in den USA. Aus ihrer ursprünglichen Gründung zusammen mit Peter Maurin 1933 in New York entstanden dann weitere Gemeinschaften. So wie Mutter Teresa nahm Dorothy Day sich der Ärmsten der Armen an, aber sie ging darüber hinaus und hinterfragte eine Gesellschaftsordnung, die für solche Armut verantwortlich ist. Deswegen musste sie immer wieder ins Gefängnis. Der brasilianische Erzbischof Hélder Câmara kannte den Grund dafür. Er sagte:
‹Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen arm sind, nennt man mich einen Kommunisten›.
Auch die christlichen Basisgemeinden in Lateinamerika waren Gemeinschaften, die aufgrund ihres gemeinsamen Lesens der Frohbotschaft die Machtpyramide infrage gestellt haben. Solche Ansätze werden oft als kommunistisch verschrien und angeprangert.»
Johannes Kaup: «Zu Recht oder zu Unrecht?»
Bruder David: «Zu Recht im besten Sinn von kommunistisch, also gemeinschaftlich denkend, aber zu Unrecht im Sinne der politischen kommunistischen Internationale.»
Johannes Kaup: «Also der kommunistischen Parteiideologien?»
Bruder David: «Genau.» ‒
«Ich frage mich immer wieder: Ist da wirklich alles einfach zerstört worden? Wir schauen zurück und sehen, dass im Lauf der Geschichte immer wieder kleine Gruppen, die in unseren Geschichtsbüchern verteufelt werden ‒ weil Geschichte von den Machthabern geschrieben wird ‒, sich bemüht haben, das Ideal zu verwirklichen, die Macht der Liebe gegen die Liebe zur Macht durchzusetzen. Diese Versuche sind jedoch immer wieder vereitelt worden. Ich denke zum Beispiel an die Bauernaufstände, die sicher häufig in dieser Richtung gegangen sind.»
Johannes Kaup: «Das lässt sich auch in Bezug auf die Orden beobachten, beispielsweise die Franziskaner, die anfangs sehr revolutionär waren. Sie konnten nur überleben, weil es einen demütigen Papst gab.»
Bruder David: «In ihrer ursprünglichen Form haben die Franziskaner nicht überlebt. Schon in der zweiten Generation wurden sie zu etwas anderem. Die Ordensregel wurde umgeschrieben. Sogar die ursprünglichen Geschichten wurden zensiert und umgeschrieben. Da frage ich mich: War dann damit einfach alles aus?
Die einzige Antwort, die ich für mich persönlich darauf finde, sind Hölderlins Verse:
‹Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.›[5]
Ich glaube an eine Vollendung aller positiven Bemühungen jenseits der Zeit. Dafür kann ich keine Beweise liefern, aber das Gute, das Schöne, das Wahre hat Bestand und unterliegt zu einem gewissen Grad nicht der Zeit. Alle Aufopferung, die wir dem Guten, Schönen und Wahren widmen, vor allem die Mühe, die wir dafür einsetzen, kann nicht verloren gehen. Mehr kann ich nicht sagen. Diese Überzeugung brauchen wir, sonst müssen wir verzagen.»
4. Am dritten Tag auferstanden von den Toten (2023):
Bruder David: «Da suche ich nach einem Vorbild, nach jemandem, der in unserer Zeit das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit auf die Seite des machtlosen, verlachten Weltverbesserers warf, obwohl er ebenso gut in der Gesellschaft der (verächtlich lächelnden) Mächtigen ohne Mühe seinen Platz halten konnte. Dag Hammarskjöld fällt mir ein.»
5. Dankbarkeit ist Zusammenfassung des Christentums (2019): Pressebericht:
«‹Die großen Vorbilder der Furchtlosigkeit waren deshalb Revolutionäre, darunter viele der Ordensgründer wie Benedikt oder Franziskus. Sie hatten eine ganz andere, auf einem Vertrauensnetzwerk basierende Gesellschaft vor Augen, die somit im klaren Gegensatz steht zu unserer von Gewalttätigkeit, Rivalität und Habsucht geprägten›, erklärte Steindl-Rast. Gewalttätigkeit werde im Christentum durch Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit ersetzt, Rivalität durch Zusammenarbeit und Habsucht durch das Teilen.»
6. Brücken statt Mauern (Ostern 2017):
«Unzählige Menschen guten Willens suchen heute Jesus Christus, stoßen sich aber an kirchlichen Mauern. Wollen wir als Christen für das eintreten, wofür Jesus gekreuzigt wurde und wozu der Auferstandene uns aussendet? Wenn wir Zeugen werden für das Reich Gottes, dann bauen wir zugleich die einzig gangbare Brücke zur Zukunft unserer Kirche. Die Liturgie von Jesu Christi Tod und Auferstehung ruft uns wieder dazu auf.»
7. Audios
7.1. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch Fließweg und Entscheidung
Eröffnungsvortrag:
(28:26) ‹Das ist unsere große Herausforderung::
‹Wir können im Leben entweder m i t der Maserung hobeln oder g e g e n die Maserung hobeln.
Wir können m i t dem Strich gehen oder g e g e n den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:
Wir können m i t dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen, g e g e n den Strom des Lebens zu schwimmen.
Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die m i t dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben
g e g e n den Strom schwimmen müssen.
Und darum schwimmen so wenige m i t dem Strom des Lebens.›
7.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch zur Frage:
(54:07) ‹Wenn wir die Christusnachfolge antreten, werden wir dann gekreuzigt werden, oder: Was muss dann gekreuzigt werden›?
‹Wenn wir so mit dem göttlichen Lebensstrom in uns schwimmen, dass wir gegen den Strom der Gesellschaft schwimmen, dann wird die Gesellschaft uns früher oder später kreuzigen.
Und das ist es auch, was wir an Jesus vorgezeichnet sehen und das ist, wofür wir uns entscheiden müssen.
Denn das ist ja gerade der Grund, warum wir es so schwer haben, wirklich mit diesem inneren Lebensstrom, diesem göttlichen Lebensstrom zu schwimmen. Das ist etwas Wunderschönes, ganz Begeisterndes. Aber wenn man in diese Konflikte kommt ‒ und früher oder später kostet es einem den Kragen ‒, dann ist das nicht so leicht.›
(57:20) [transkribiert in Reich Gottes: Ergänzend 1.1.]
(59:34) ‹Bei sich selber beginnen ‒ die Kreuzigung nicht suchen, aber auch nicht scheuen ‒ eine Gesellschaftsordnung, die mit dem Strom geht, und eine, die gegen den Strom des Lebens geht: ‹Und wir ‒ jeder von uns, fürchte ich ‒, geht an einem Vormittag mehrmals hin und her zwischen diesen beiden. Das Reich Gottes ist unter uns: es ist eine Wirklichkeit, die unter uns beginnt ‒ in uns und um uns ‒ aber sie ist noch nicht ausgereift, weil wir uns nicht entschieden genug dahinterstellen.›]
_____________________
[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 1996-2006, 155f
[2] Franz Kuno Steindl-Rast: Die Kunst und die junge christliche Generation (1946)
[3] Credo (2015): ‹gekreuzigt›, 112 und ‹Gelitten unter Pontius Pilatus›, 107
[4] Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
«Die christliche Sozialistin und Journalistin Dorothy Day bewundern Sie sehr. 1906, als sie acht Jahre alt war, erlebte sie das starke Erdbeben in San Francisco mit. Damals schaute sie den Menschen auf der Straße zu, wie sie sich gegenseitig halfen und fragte sich: «Warum können wir nicht immer so leben?» Diese Frage lebte sie ihr ganzes Leben.»
Bruder David: «Ja, ganz tapfer.»
«Wie können wir es schaffen, immer so zu leben?»
[5] Friedrich Hölderlin: ‹An Zimmern›, in der Abschrift von Ernst Friedrich Zimmer; siehe auch Reich Gottes: Anm. 1
Reich Gottes ‒ erlösende Kraft
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Die heutige Bibelforschung ist von dem Ehrgeiz abgekommen, eine detaillierte Biographie von Jesus erstellen zu wollen. Die verfügbaren Daten reichen einfach nicht aus. Doch wir können etwas viel Wichtigeres erreichen. Wir können recht zuverlässig rekonstruieren, was für ein Mensch Jesus war. Es gibt heute ein sehr großes Interesse an der Person des vorchristlichen Jesus. Das Bild, das dabei zum Vorschein kommt, zeigt uns Jesus als einen Pionier des menschlichen Bewusstseins, und dies genau an der Grenze der Mystik.
Die von Jesus ausgehende Wirkung kann als eine neue Phase in der menschlichen «Gotteserforschung» verstanden werden.
Zudem stehen und fallen das Werk seines Lebens und seine Lehre mit der Mystik. Sie hängen beide an der «Erfahrung der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit Gott» ‒ Jesu eigener Verbundenheit und der der Menschen, an die diese Botschaft gerichtet ist.
Wir können in dieses Thema einsteigen, indem wir zwei grundlegende Fragen über Jesus stellen, den vorchristlichen Jesus. Was lehrte er eigentlich? Und wie lehrte er?
Lassen Sie mich die beiden Antworten vorwegnehmen (die Gelehrten sind sich in diesen beiden Punkten praktisch einig). Der Kern der Botschaft Jesu ist die Verkündigung des Reiches Gottes, und seine charakteristische Lehrmethode besteht im Erzählen von Gleichnissen.
Wir müssen nun den Inhalt dieser beiden gedrängten Antworten auseinandernehmen, um festzustellen, welchen Weg Jesus bei der Überschreitung der Grenzen des Bewusstseins vorzeichnete und so anderen die Möglichkeit gab ihm zu folgen.
Im Markusevangelium, dem frühesten der vier Evangelien, finden wir eine Zusammenfassung der Lehre Jesu (1,15). Markus fasst sie in einem einzigen Vers zusammen, so dass man unzweifelhaft das Wesentliche erkennt:
«Jesus … kam … und predigte die frohe Botschaft Gottes. Er sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes hat sich genaht. Kehrt um und glaubt an die frohe Botschaft!»
«Die Zeit ist erfüllt» ‒
das bedeutet «Jetzt.»
Wartet nicht auf etwas anderes, der Augenblick ist jetzt gekommen.
«Das Reich Gottes hat sich genaht» ‒ «Hat sich genaht» bedeutet
«Hier, an diesem Ort.»
Hier und Jetzt geben den Rahmen für die Verkündigung ab.
Jetzt ist der Zeitpunkt, hier ist der Ort.
Schaut nicht woanders hin, wartet nicht auf einen anderen Augenblick.
Und nun heißt es:
«Kehrt um und glaubt an die frohe Botschaft.»
Das Wort, das Markus für Umkehr verwendet, bedeutet eine grundlegende innere Wandlung. Es bedeutet eine völlige Umkehrung unserer gewohnten Denk- und Lebensweise.
Was bedeutet dann «Reich Gottes», das eine solche welterschütternde Reaktion rechtfertigt?
Die Antwort auf diese Frage führt uns geradewegs zurück in die Mystik und hilft uns zu verstehen, wie Jesus die Grenzen des Bewusstseins erweiterte.
Die Bibelwissenschaft ist sich heute weitgehend einig über die Bedeutung des Begriffs «Reich Gottes» in der Botschaft von Jesus. «Reich Gottes» bedeutet nicht einen Ort oder ein Reich wie etwa das britische Weltreich. Es bedeutet auch nicht eine Gemeinschaft ‒ die Gemeinschaft all derer, für die Christus der König ist. Und es bedeutet auch nicht die Herrschaft oder Macht Gottes in einem abstrakten Sinn.
Im Gegenteil, der Begriff «Reich Gottes» bezieht sich auf die unmittelbar erfahrbare Realität.
«Reich Gottes» bedeutet für Jesus Gottes manifest gewordene erlösende Kraft.
Wenn wir den Begriff «Reich Gottes» in der Botschaft Jesu als «Gottes manifest gewordene erlösende Kraft» auffassen, dann können wir sofort erkennen, wie relevant er für unser Thema christliche Mystik ist.
Wann erfahren wir ‒ in unserem eigenen Erleben ‒ Gottes «Macht» oder «erlösende Kraft»?
Verstehen wir diese Begriffe richtig, dann muss die Antwort lauten: in unseren lebendigen Augenblicken, in jenen mystischen Augenblicken, über die wir bereits gesprochen haben.
Wie können wir Begriffe wie «Gottes Macht» oder «Erlösung» mit unserer heutigen Zeit in Verbindung bringen?
Wir könnten es vorziehen, den Begriff Gott zu vermeiden. Führt man diesen Begriff ein, so stiftet man heute vielfach Verwirrung. Auf der anderen Seite aber verwenden wir hier Begriffe der christlichen Tradition, der jüdischen Tradition. Deswegen müssen wir auch versuchen, die Terminologie dieser Tradition zu verstehen.
Wann machen wir heute Erfahrungen, die denen der erlösenden Kraft Gottes gleichkämen?
Ich meine, wir machen sie in jenen Augenblicken, in denen wir von Empfindungen der Lebendigkeit überwältigt werden. Denken Sie an die Beispiele von Eugene O'Neill[1] und Mary Austin[2], die ich Ihnen vorgelesen habe. In ihnen werden Augenblicke beschrieben, in denen Menschen von etwas übermannt wurden, das stärker war als sie.
Und auch wir wissen, wenn wir uns an ähnliche Augenblicke erinnern, dass wir über die Grenzen unseres normalen Bewusstseins durch eine Kraft, eine erlösende Kraft hinausgetragen wurden.
Führen Sie es sich wieder vor Augen. Es ist das Gefühl, aus einem Käfig herausgelassen zu werden. Eine über uns stehende Macht befreit uns, rettet uns vor dem Ertrinken.
In unseren mystischen Erlebnissen werden wir plötzlich von der Entfremdung erlöst. Wir sind zu Hause, wir sind keine Waisenkinder, keine Ausgestoßenen. Wir gehören zum Ganzen dazu. So erfahren wir in unseren größten Augenblicken das «Reich Gottes».
Wir gehen aufrechter, sobald wir diese Erfahrung gemacht haben. Wir sind in einem viel wahreren Sinn wir selbst, sobald diese erlösende Kraft in unserer Erfahrung manifest geworden ist. Das allein ist schon eine Bekehrung, eine Wandlung, eine neue Denkweise, durch die das bisherige Denken auf den Kopf gestellt wird. Die meiste Zeit leben wir, als ob wir entfremdet wären, aber nun wissen wir, dass wir dazugehören.
Diese Manifestation erlösender Kraft verlangt nach weiterer Bekehrung.
Wenn wir in jedem Augenblick unseres Alltagslebens das ausleben könnten, was wir erfahren, wessen wir uns in unseren mystischen Augenblicken bewusstwerden, dann wäre dies Bekehrung. Das Leben, das aus einer solchen Kraft heraus gelebt wird, würde die Welt vollkommen verändern.
Auf der Grundlage dieser Erfahrung können Sie Jesus als Person verstehen. Er hat eine enge Verbindung mit Gott erfahren, ihm wurde Gottes erlösende Kraft zuteil.
Sie können jetzt verstehen, wie er umherzieht und jedem erzählt:
«Habt ihr das nicht erfahren? Dieses Reich Gottes, diese Offenbarung von Gottes erlösender Kraft, ist hier und jetzt Wirklichkeit. Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Vertraut auf dieses Bewusstsein, das ist alles, was ihr zu tun braucht. Vor allen Dingen aber lebt danach, das ist Bekehrung.»
Diese frohe Botschaft ist aber zu froh, um wahr zu sein. Aus diesem Grund leben wir nicht in ihrem Sinn. Wir leben auch nicht im Sinn unserer größten Erfahrungen. Wir machen sie ‒ und eine Stunde später haben wir diese Empfindung der Lebendigkeit beinahe wieder vergessen. Wir unterdrücken sie wieder, zweifeln sie an. Vielleicht war sie nur Illusion. Unser mystisches Erlebnis kann einfach nicht wahr sein. Wir verdrängen es. Jesus aber sagt:
«Vergesst es nicht. Es ist Wirklichkeit. Lebt danach!»
Diese Botschaft kehrt im ganzen Neuen Testament in vielen Formen immer wieder. Aus diesem Grund spricht Jesus auch in Gleichnissen.
[Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 184-186]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen
Vortrag:
(25:35) ‹Jesus verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer. Das ist das völlig Neue. Er kommt nicht wie ein Prophet, der sagt: ‹So spricht Gott der Herr› und Gottes Autorität steht hinter ihm ‒ auch so, aber nicht hauptsächlich. Er kommt nicht als ein großer Charismatiker, der sagt: ‹Ich habe alle Autorität in mir ‒ auch das zu einem gewissen Grade ‒ er strahlt Autorität aus, aber dort liegt nicht die Betonung. Die Betonung liegt ‒ wie man zum Beispiel aus seiner Lehrmethode zeigen kann, er lehrt in Gleichnissen: ‹Ihr wisst das doch schon›. ‒ ‹Wer von euch weiß das nicht schon›: so beginnen die Gleichnisse. Er nimmt an, dass jeder von seinen Zuhörern ‒ jeder ‒, nicht nur die Gelehrten ‒ er hat gar nicht so viele Gelehrte unter seinen Zuhörern ‒, das sind die Leute von der Straße, die Armen, die Ausgestoßenen sehr weitgehend, die Frauen, die Kinder, die völlig unberechtigt waren, ganze Berufsklassen, die rechtlos waren, die Kranken, die als Sünder angesehen wurden, denn warum wären sie sonst krank? ‒, alle die spricht er an und sagt zu ihnen: ‹Ihr wisst doch, worum es geht›!
‹Wer von euch weiß nicht, wie es geht, wenn man Saat aussät›? ‹Wer von euch weiß nicht, wie es geht, wenn man fischt›? ‒
‹Ah, das wisst ihr also ‒, dann wisst ihr auch alles, was nötig ist, um Gott zu verstehen von innen her›.
‹Wer von euch weiß nicht, wie Eltern ihre Kinder behandeln› (wenn sie’s richtig tun)? Und die Antwort ist: ‹Wir wissen das alle›! ‒ ‹Aha, ihr nennt doch Gott ‹Vater› ‒ wisst ihr dann nicht, wie Gott euch behandelt›? ‒ ‹Glaubt ihr wirklich an einen strengen Richter, wenn ihr Gott ‹Vater› nennt›: all dieses beinhaltet: Jesus verlegt die Autorität in die Herzen seiner Hörer.
Und das führt jetzt zu dieser Welle des Aufschwungs der Heilungen, der Sündenvergebung ‒ nicht dass Jesus herumgeht und sagt: ‹Ich vergebe dir deine Sünden›, kein einziges Mal ist das in der Bibel so beschrieben, er sagt nur: ‹Deine Sünden sind dir vergeben ‒ weißt du denn das nicht›? ‒ Sünde im Sinn von Trennung: ‹Was dich von Gott trennt, ist dir vergeben, bevor du es überhaupt je verursacht hast: So lieben dich Eltern: die Eltern halten das nicht gegen dich, der Vater, die Mutter hält das nicht gegen dich›!
Heilung: ‹Weißt du nicht? Dein Glaube hat dich geheilt›, nicht ‹Hokuspokus, jetzt bist du geheilt›. Und es heißt auch ausdrücklich: ‹In Nazareth, in seiner Heimatstadt zum Beispiel konnte er nicht viele Wunder wirken, weil der Glaube gefehlt hat› (Mt 13,58).
Das war also nicht seine Kraft, sondern der Glaube, den er geweckt hat Er hat sie auf ihre Füße gestellt. Immer wieder das Wunder: ‹Steh auf, du kannst auf deinen eigenen Füßen stehen› ‒und das ist wieder das erste Wunder, das die Apostel nach dem Tod und der Auferstehung Jesu wirken (Apg 3,6) ‒: ‹Steh auf! Im Namen Jesu, steh auf deinen eigenen Füßen›!
Das auf ‹seinen eigenen Füßen›, das ist die Autorität. So ermächtigt Jesus seine Hörer. Er verlegt die göttliche Autorität in ihr Herz und ermächtigt sie. Und das bringt ihn in Schwierigkeiten mit den Autoritäten.›
1.2. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(48:20) Die Kernaussagen des Johannesevangeliums drücken in theologischer Sprache und in anderer Perspektive dasselbe aus wie die Gleichnisse Jesu: ‹Die göttliche Autorität ist in dir›! Jesus setzt voraus, dass die göttliche Autorität in jedem seiner Zuhörer spricht, selbst in den Ausgestoßenen, selbst in den Sündern, in jedem Menschen.
‹Und das war nichts Neues, das war nur ein Durchbruch des Ältesten, so wie immer das Neuste der Durchbruch des Ältesten ist, auch heute›, denn schon in der ersten Seite der Bibel, im Schöpfungsmythos steht, dass wir Menschen ‒ Adam, der Mensch ‒ wir alle ‒ lebendig sind mit Gottes eigenem Lebensatem: Wir leben mit Gottes eigenem Leben.›
Und Johannes, von dem man, wenn man das Johannesevangelium oberflächlich liest, den Eindruck bekommen könnte, dass er Jesus auf ein Postament hinaufstellt, das zu hoch für uns ist, und eine Kluft aufreißt zwischen uns und Jesus: Gerade Johannes sagt an der zentralen Stelle im Prolog: ‹Und allen jenen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden› (Joh 1,12), das heißt, genau das zu werden, was er nach dem Johannesevangelium ist: Sohn Gottes.
2. Weitere Texte
2.1. Credo (2023): ‹… und an Jesus Christus, SEINEN EINGEBORENEN SOHN›, 72-74:
«Die ganze Frohbotschaft Jesu ist samenhaft in dem einen Wort ‹Abba› enthalten, mit dem er Gott aus seiner mystischen Erfahrung heraus ‹Vater› nennt.
Alles, was er in Leben und Lehre vertritt, entspringt dieser innigen Beziehung zu Gott als ‹Vater›. Darum drückt auch ‹Sohn Gottes› besser als jeder andere Titel sein Verhältnis zu Gott aus ‒ und nicht nur zu Gott, sondern auch zu uns. Jesus Christus ist in diesem Sinn ‹der Erstgeborene von vielen Geschwistern› (Röm 8,29). Von Jesu innigem Verhältnis mit Gott her werden drei entscheidende Begriffe verständlich, die der christlichen Tradition ihr besonderes Gepräge geben: Frohbotschaft, Reich Gottes und Erlösung.
‒ Die Frohbotschaft fasst einfach das Gottesverständnis Jesu zusammen. Johannes spricht dies so aus: ‹Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm› (1 Joh 4,16). Weil aber Liebe das gelebte ‹Ja› zur Zugehörigkeit ist, hat das Bleiben in der Liebe umwälzende Folgen für alle Lebensbereiche. Eine Welt, in der wir alle ‹Ja› sagen zu gegenseitiger Wertschätzung und Verantwortung, muss anders aussehen als die Welt, die wir kennen. Liebe wird so zur Triebkraft für die gewaltfreie Revolution, die Jesus angestoßen hat und die das Reich Gottes zum Ziel hat.
‹Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie wünsche ich, es würde schon brennen› (Lk 12,49).
‒ Das Reich Gottes ist die Welt, insofern sie ‹in der Liebe bleibt›. In Anlehnung an den Dichter Gary Snyder[3] können wir vom ‹Gotteshaushalt› sprechen, weil Haushalt uns vielleicht vertrauenserweckender klingt als Reich. Der Dichter spricht vom Erdhaushalt (‹Earth Household›), aber für Tiere, Pflanzen und die ganze unbelebte Natur ist der Erdhaushalt ja zugleich Gottes Haushalt, weil sie völlig eingebettet leben in die Ordnung und den Frieden einer allumfassenden ‹Familie›. Nur wir Menschen schließen uns aus, wie der verlorene Sohn im Gleichnis Jesu; wir gehen von zuhause fort in die Fremde, die Entfremdung. Hier beginnt alles Elend der Welt. Wo immer aber Liebe herrscht statt Macht, da wird auch unter uns Menschen der Erdhaushalt zum Gotteshaushalt.
‒ Erlösung ist Rückkehr aus der Entfremdung von uns selbst, aus der Entfremdung von Anderen und schließlich aus der Entfremdung von Gott. Sobald wir einsehen, dass wir ja nie aus Gottes Liebe herausfallen können, kommen wir ‹zu uns selbst›, wie der verlorene Sohn (Lk 15,17) ‒ zu unserem wahren Selbst ‒ das daheim ist im Haushalt Gottes als innig geliebtes Familienmitglied. Dann tanzt der Vater beim Freudenfest, das er dem einst verirrten Sohn bereitet hat. Im Johannesevangelium sagt Jesus:
‹Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben› (Joh 10,10).»
2.2. Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 61f.:
«Jesus kommt nun als der Menschensohn, als der Mensch, und sagt: Ihr seid gerettet. Weil einer es geschafft hat, seid ihr alle gerettet. Er kommt nicht, um uns zu sagen, was wir tun müssen, damit wir gerettet werden. Das wäre keine Frohe Botschaft. Es kamen ja schon viele, die uns sagten, was wir tun müssten, um gerettet zu werden, und wir konnten es doch nicht tun.
Das Neue, das mit Christus anbricht, fasst Markus (1,15) ganz klar zusammen: ‹Die Zeit ist erfüllt› (jetzt), ‹Das Reich Gottes ist herbeigekommen› (hier). Ihr seid also erlöst. ‹Tut Buße und glaubt die Botschaft›
Nun hängt alles daran, was wir darunter verstehen: ‹Tut Buße›! ‒ Es gibt eine weltliche Auffassung von Buße, und es gibt eine christliche Auffassung.
Buße tun heißt umdenken. Dass wir das mit ‹Buße tun› übersetzen, ist etwas gefährlich, etwas zu weltlich. Die weltliche Auffassung von Buße ist alt: Wir haben etwas falsch gemacht, und wir müssen es jetzt so schnell wie möglich gutmachen. Das Beste, was dabei herausschauen kann, ist Flickwerk, und auch das gelingt uns selten, wie wir wissen.
Das Neue ist: Gott hat es getan! Es ist bereits geschehen. Wir sind erlöst. Wir müssen nur umdenken, neu denken. Es heißt nicht: Tut zuerst Buße, und glaubt danach! Sondern: Tut Buße, indem ihr umdenkt und glaubt, was zu gut scheint, um wahr zu sein.
Die ganze Polemik zwischen Gesetz und Gnade steckt in diesem einen kleinen Satz: Denkt um und glaubt!
Glauben i s t umdenken.
Verlasst euch nicht darauf, was ihr als Buße tun könnt, um alles wieder zusammenzuflicken; das ist alles noch weltlich. Denkt wirklich um; glaubt, vertraut, verlasst euch auf die Frohe Botschaft: Einer ist gekommen, der es geschafft hat, der das geworden ist, was der Mensch sein sollte: Gottes Sohn. Es ist endlich Wirklichkeit geworden, und wir können alle daran teilnehmen durch unser gläubiges Leben.»]
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[1] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 170: Eugene O’Neill: ‹Eines langen Tages Reise in die Nacht› (1956), siehe Mystische Erfahrung
[2] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 175f.: Mary Austin: ‹Earth Horizon ‒ An Autobiography› (1932), siehe Gott
[3] Erdhaushalt, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134f.:
«Erdhaushalt ist ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (geb. 1930) geprägt hat. Dieses Wort veranschaulicht, dass unsre Umwelt zugleich Mitwelt ist, der wir uns verwandt fühlen dürfen und von der wir ernährt werden. Statt Umwelt Erdhaushalt zu denken und zu sagen, verändert ganz von selbst unsre Haltung, was zugleich zeigt, welche Wirkkraft Worte besitzen.»
Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Johannes Kaup: «Was das Revolutionäre betrifft: In welcher spirituellen Tradition sehen Sie sich da selbst? Welche Vorbilder haben Sie vor Augen?»
Bruder David: «Mein Vorbild ist vor allen anderen Jesus Christus als Revolutionär. Er war es in seiner Zeit und wurde auch als solcher anerkannt, denn die Kreuzesstrafe war nicht für religiöse Vergehen vorgesehen. Dafür wurde man mit Steinigung bestraft. Kreuzigung war ausdrücklich eine politische Strafe ‒ für davongelaufene Sklaven und Revolutionäre, Vergehen also, durch die der sogenannte Verbrecher die bestehende Gesellschaftsordnung unterminiert hat. Das hat Jesus durch seine Predigt vom Reich Gottes getan. Wenn er sagt:
‹Bei euch soll der Größte der Diener von allen sein›, dann unterminiert er die Machtpyramide seiner Zeit ‒ und auch unserer Zeit. Ist das nicht entschieden revolutionär?»[1]
Was aber machte ihn politisch so gefährlich? Es war seine radikale Spiritualität seine beständige Bemühung, sich auf Gott einzustellen und sich an Gott auszurichten statt an den Normen der Gesellschaft. In diesem Sinne war Jesus ein Aufrührer. Gerechtigkeit im Sozialleben war ihm ebenso wichtig wie Integrität im Privatleben.
Was er «Reich Gottes» nannte, stand in radikalem Widerspruch zur vorherrschenden Gesellschaftsordnung, in der die wenigen Privilegierten (gemeinsam mit der römischen Besatzungsmacht) die Masse unterdrückten und ausbeuteten.
Er verkehrte «in schlechter Gesellschaft»[2], teilte sein Brot gerne mit Leuten von der Straße, verbrüderte sich mit Ausgestoßenen, ja, er berührte sogar Aussätzige liebend und heilend.
Sein Blick drang durch jede soziale Maske und schaute direkt auf das strahlende Selbst jedes Menschen.
Dadurch gab er den Entmachteten ein Gefühl der Würde.
Den Mächtigen aber schien es, als ob er ihnen etwas an Unterwürfigkeit schuldig bliebe.
Gebeugte konnten sich in seiner Gegenwart plötzlich wieder aufrichten, Verunsicherte konnten aufrecht stehen.
Darum so viele Heilungen Lahmer, darum aber auch die Anklage, er sei ein Demagoge, er wiegle das Volk auf (Lk 23,5).
In dieser Hinsicht stand Jesus in der Tradition der Propheten in der Geschichte seines Volkes. Deren radikale Spiritualität war zu ihrer Zeit auch in Konflikt geraten mit einer Form von Religiosität, die, einfallslos, den Status quo um jeden Preis bewahren will und für die man als Preis das eigene Denken aufgeben muss.
Jesus hingegen betonte, dass ein wacher Verstand unbedingt zu unserer Gottesbeziehung gehöre.
Nach Markus zitiert Jesus das erste und wichtigste Gebot aus dem 5. Buch Mose, wo es heißt: «Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft» (Dtn 6,5).
Jesus fügt aber noch hinzu: «und mit deinem ganzen Verstand» (Mk 12,29).
Der Verstand ist zwar im hebräischen Begriff der Seele schon enthalten, hier hebt Jesus ihn aber noch ausdrücklich hervor.
Gemeint ist nicht ein besonderes intellektuelles Vermögen, sondern der gesunde Menschenverstand. Jesus ermächtigte seine Zuhörer dazu, sich mittels des ihnen von Gott geschenkten Verstandes selber ein Urteil zu bilden. Das können wir aus jenen Schichten der Evangelien herauslesen, die nach Sicht der Wissenschaft der ursprünglichen Lehre Jesu am nächsten kommen, nämlich den Gleichnisse Jesu.[3]
«Gelitten unter Pontius Pilatus»
Weil Jesus für Gottes Weltordnung eintrat, musste er notwendigerweise mit einer Weltordnung zusammenstoßen, die sich nicht an Liebe ausrichtet, sondern an Macht, die also im vollen Sinn des Wortes ver-rückt ist. In der Welt der Machtpolitik ist er dann der Unterlegene. Wenn er sich auflehnt, muss er mit Folgen rechnen.
Den römischen Statthalter Pontius Pilatus im Glaubensbekenntnis zu erwähnen heißt: Ich kenne die Mächtigen bei Namen, ich kenne ihre Taktiken und das Leid, das sie der Welt und mir selber antun können. Trotzdem setze ich Vertrauen auf Jesus Christus, den Verlierer in dieser Welt. Gerade weil ich die weltliche Macht von Neid, Geiz und Hass in mir selber kenne, will ich mich immer wieder ‒ im Vertrauen auf Gott ‒ für die Weltordnung der Liebe entschließen und einsetzen.
Der Zusammenstoß zwischen Christus und Pilatus wird uns bewusst, wenn wir uns die Diskrepanz zwischen unseren spirituellen Werten und der Wertordnung unseres täglichen Lebens eingestehen.
In Augenblicken, in denen wir wirklich wir selbst sind (in unseren Gipfelerlebnissen), wird uns das Wahre Schöne und Gute zur unleugbaren Erfahrung.
Aber wie schwer fällt es uns doch, um dieser Werte willen in unserer Gesellschaft gegen den Strom zu schwimmen.
Was in unserem Alltag gilt, wird meist doch weitgehend vom gerade vorherrschenden Pontius Pilatus diktiert.
Wir haben unzählige Gelegenheiten für Menschenwürde und Gerechtigkeit einzustehen und wenn wir das wagen, wird uns sehr bald durch eigenes Leiden bewusst gemacht, was es heißt, dass Jesus gelitten hat unter Pontius Pilatus. Auch in unserer Zeit bewahrheitet sich die neutestamentliche Behauptung:
«Alle die in Jesus Christus nach Gottes Ordnung leben wollen, werden Verfolgung leiden» (2 Tim 3,12):
Dietrich Bonhoeffer, Edith Stein, Franz Jägerstätter, die Blutzeugen und Desaparecidos in Lateinamerika, Maximilian Kolbe und unzählige Andere anderswo, sie alle sind jener Macht zum Opfer gefallen, die im Credo durch Pontius Pilatus verkörpert wird.
Transzendente Wirklichkeit wird hier geschichtlich verankert. Für uns, nicht weniger als für Jesus, ist Geschichte bedeutsam. Sie ist der Schauplatz, auf dem sich unsere Überzeugungen bewähren müssen.
Sich zu Jesus Christus zu bekennen, obwohl er unter Pontius Pilatus gelitten hat, setzt gläubiges Vertrauen voraus, dass die Schwachheit Gottes stärker ist als menschliche Macht (1 Kor 1,25).
Dass Jesus unter Pontius Pilatus leiden musste, ist wichtig, weil es uns zeigt, was Jesus seine Überzeugung kostete und was seine Nachfolge uns kosten kann.
Unzählige Blutzeugen ‒ gefeierte und längst vergessene ‒ haben im Laufe der Geschichte «gelitten unter Pontius Pilatus», und leiden immer noch irgendwo in der Welt an diesem heutigen Tag. In ihrer Niederlage aber erweisen sie sich stärker als ihre Henker.
Was wir hier vom Leiden Jesu Christi bekennen, hat also eine Wichtigkeit die weit über den Wortlaut hinausgeht, weil es zur Kraftquelle werden kann für alle, die verbunden mit Jesus Christus, spirituelle Werte den Machtsystemen der Welt entgegenstellen, für alle, die im Einsatz für eine heilige und geheilte Welt leiden.[4]
In der Wallfahrtskirche ‹Maria Schmerzen› in Wien, unserer Pfarrkirche in meiner Jugend, steht ein viel verehrtes Schnitzbild der Schmerzensmutter. Jedes Jahr am Freitag vor dem Karfreitag kamen tausende Menschen dorthin, um zu beten. Auch 1944 zog ein endloser Strom von Frauen in Schwarz zwischen den Weingärten den Kaasgraben hinauf zur Kirche. Sie trauerten um ihre gefallenen Männer, Brüder, Söhne oder Enkelsöhne, die als Kanonenfutter in Hitlers Armee gezwungen worden waren. Nur wenige von ihnen wussten, dass drei Tage vorher in einer Nachbarpfarrei ein junger Priester von der Gestapo verhaftet und des Hochverrats angeklagt worden war, weil er im Namen seines Herrn Jesus Christus gegen dieses sinnlose Hinschlachten von Millionen klar Stellung genommen hatte.
Dieser Priester hieß Heinrich Maier. Er war einer der Kapläne, die wir Studenten liebten, weil sie mit der Jugend umzugehen wussten. Während er an jenem Morgen die Messe feierte, kamen drei Männer in die Kirche gestampft und nahmen mit verschränkten Armen und gespreizten Beinen vor dem Altar Stellung. Diese Drohgebärde war alles, was die Mitfeiernden zu sehen bekamen. Kaum hatte der Priester den Altar verlassen, wurde er noch in seinem Messgewand in der Sakristei festgenommen und abgeführt.
Lisi Irdinger, die geistesgegenwärtige und mutige Pfarrhelferin verschwand schnell in Pater Maiers Zimmer, packte seine Schriftstücke und Unterlagen zusammen und brachte sie ins Zimmer von Pater Robert Firneis, eines Kaplans, der in die Armee eingezogen worden war und dessen Zimmer folglich nicht von der Gestapo durchstöbert werden durfte.
Spitzel hatten allerdings schon alles verraten, was man wissen wollte: Dieser hochintelligente und zweifach promovierte junge Kleriker war gefährlich für das Dritte Reich. Alle in der Pfarrei hatten ihn gern; schon das war verdächtig. Er hatte eine Gruppe der österreichischen Widerstandsbewegung gegründet, hatte sich mit ähnlichen Gruppen in Deutschland in Verbindung gesetzt, besonders mit Mitgliedern katholischer Gewerkschaften, und war sogar mit dem Geheimdienst der Alliierten in Kontakt. Er hatte versucht, das wahllose Bombardieren der Zivilbevölkerung zu bremsen, indem er half, alliierte Luftangriffe auf Waffenfabriken zu lenken. All das genügte, ihn des Hochverrates anzuklagen. Das Todesurteil lautete: Enthauptung.
Am Schmerzensfreitag des nächsten Jahres kamen nur noch eine Handvoll Trost suchender Frauen zur Wallfahrtskirche. Bombenangriffe bei Tag und Nacht hatten ganze Stadtteile Wiens in Trümmerfelder verwandelt. Die russische Befreiungsarmee rückte von Ungarn her täglich näher und das Ende von Hitlers «Tausendjährigem Reich» war in Sicht. Wir ahnten nicht, was die russischen «Befreier» in Wien anrichten würden. Vielleicht stand uns das Ärgste noch bevor. «Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende», sagten wir damals. Die Schreckensherrschaft war jedoch am Zusammenbrechen. Erst später erfuhren wir es: Pater Heinrich Maier war am Tag vorher hingerichtet worden.
Wenn ich jetzt an ihn denke, so vermischt sich das, was ich aus eigener Erinnerung weiß, mit dem, was mir erzählt wurde. Nackt war er im Gefängnis ans Fenstergitter gefesselt und gefoltert worden. Selbst unter Folterqualen hatte er keinen Namen eines Mitverschwörers verraten. Einer seiner Richter hatte ihn zynisch gefragt: «Sie nehmen alle Schuld auf sich, was bekommen Sie denn dafür?» «Von nun an werde ich sehr wenig brauchen», war die Antwort.
Ich weiß aber auch, dass manche sagten: «Waghalsig war er; da ist's ihm halt an den Kragen gegangen. Was hat er denn sonst erwartet?»
Ich weiß aber auch, dass wir junge Menschen damals von Helden wie Heinrich Maier lernten, was es heißt, Jesus Christus als «Unseren Herrn» zu bekennen.
Mit lauter Stimme hatte er das getan ‒ so berichteten seine Mitgefangenen. Wenige Augenblicke, bevor er für immer schweigen musste.[5]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3-5)
[Ergänzend:
1. Credo (2015): ‹Am dritten Tage auferstanden von den Toten›, 150:
«Von den religiösen Autoritäten seines Volkes verdammt und ausgestoßen zu werden, hieß für einen Juden zur Zeit Jesu, auch von Gott verstoßen zu sein.[6] Seine Hinrichtung schien dies zu bestätigen ‒ ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen›? (Mk 15,34) ‒, aber seine Auferweckung zeigte den Jüngern: Gott hatte ihn doch nicht verlassen. Das ist und bleibt der zentrale Aspekt des Auferstehungsglaubens.»
2. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 298:
«‹Kein Prophet kann außerhalb Jerusalems sterben› (Lk 13,33),
sagt Jesus, das heißt, er muss dort sein, wo es ums Wesentliche geht.
So müssen auch wir mitten drinstehen.
Dieses Drinstehen in einer Gemeinschaft ist so schwierig, dass man glauben sollte, es genüge schon. Drinnen zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen, ist schwer genug.
Darin, dass beides von uns verlangt wird, in der Gemeinschaft zu stehen und sie zugleich herausfordern, da liegt das Kreuz des Propheten.
Das Drinnenstehen ist der senkrechte Balken und das Herausfordern ist der horizontale Balken.
So endet jeder Prophet früher oder später am Kreuz. Versuchen Sie nur einmal bei irgendeiner Gelegenheit, wirklich aus dem tiefsten inneren Horchen, aus dem Herzen zu sprechen, besonders dann, wenn sich das, was Sie sagen wollen, mit der vorherrschenden Meinung nicht ganz verträgt. Sie werden auf die eine oder die andere Weise gekreuzigt werden.»
3. Audios
3.1. Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(07:58) ‹Denn zur Zeit Jesu war etwas, was für uns schon eigentlich verständlich ist, völlig unentdeckt. Und das war die Möglichkeit, dass ein Mensch mit Gott in guter Beziehung sein kann, ohne mit seinem Volk in guter Beziehung zu sein.[7] Die Beziehung eines Juden zur Zeit Jesu zu Gott, war die Beziehung eines Juden als M i t g l i e d des Volkes zu Gott. Aber dass jemand, von der Priesterschaft des Volkes ausgestoßen, doch eine gute Beziehung zu Gott haben könnte, dafür war Jesus ‹der Pionier des Glaubens›, wie ihn der Hebräerbrief nennt.[8] Das war etwas ganz Unerhörtes. Und so war es der Abschied von dem vertrauten Gottesbild. Das ist vielleicht der schmerzlichste Abschied. Aber Jesus als der Pionier der Gläubigkeit geht mit Vertrauen durch dieses ‹Mein Gott, warum hast du mich verlassen›[9] hin auf das ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist›[10]: den unbekannten Gott.›
3.2. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Wesen und Erscheinungsform der Kirche oder die Gemeinschaft der Glaubenden in Spannungen und Konflikten:
(34:30) ‹Jesus stirbt außerhalb von Jerusalem ‒
Jesus geht nach Jerusalem und er sagt:
‹Kein Prophet kann außerhalb von Jerusalem sterben.›
Er muss nach Jerusalem gehen.
Aber er stirbt außerhalb von Jerusalem, weil sie ihn hinausschmeißen.
Er geht ausdrücklich nach Jerusalem, um in der Mitte zu sein. Aber man exkommuniziert ihn.
Das war für mich historisch ganz sicher die Schwelle, über die Jesus hinausgegangen ist bei der Kreuzigung:
Das war der Augenblick, wo er aus Jerusalem ausgestoßen wurde.
Das berührt mich noch jetzt sehr stark, wenn ich daran denke.
Dieser Stein, da ist er drüber gegangen, in dem Augenblick, wo er wirklich ausgestoßen wurde.
Und für einen Juden aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu sein in dieser Weise, ist völlig anders, als es für uns wäre.
Für eine Johanna von Orleans ist es schon irgendwie möglich ‒ auch furchtbar schwierig ‒, aber irgendwie möglich, noch Christus treu zu sein und mit Gott verbunden zu sein, und von der Kirche ausgestoßen.
Das ist erst in unserem christlichen Bereich möglich ‒ denkbar.
Für einen Juden zur Zeit Jesu, also für Jesus ist es absolut undenkbar, mit Gott in Verbindung zu bleiben und vom Volk ausgestoßen zu sein, das ist einfach undenkbar.
Daher ist das vielleicht einer der ganz entscheidenden Durchbrüche ‒ menschlich gesprochen im Leben Jesu ‒ möglicherweise, man weiß es gar nicht, historisch lässt es sich nicht fassen ‒, aber möglicherweise hat Jesus sich irgendwie durchgerungen zu der Einsicht: Ja, ich bleibe doch mit Gott verbunden, obwohl das auserwählte Volk mich ausstößt, ‒ möglich ‒ wir wissen es nicht.
Andererseits der Schrei: ‹Mein Gott, warum hast du mich verlassen› könnte darauf hindeuten, dass er sich völlig ausgestoßen gefühlt hat, also bis zum Letzten: sich nicht mehr mit Gott verbunden wissen konnte, weil das einfach nicht in seinen Vorstellungskreis hineinpasst, dass man Gott verbunden sein kann und vom Volk ausgeschlossen.
Und vielleicht hängt das auch wieder mit der Einsicht zusammen, die zur Auferstehung gehört, dass er also doch von Gott anerkannt ist, trotzdem er ausgestoßen war. Wir wissen nicht sehr viel. Wir ringen da nur darum.«
(Zuhörer:) ‹Das hat aber bedeutende Konsequenzen!›
(Bruder David:) ‹Das hat auch für Jesus bedeutende Konsequenzen gehabt: ‹Haben sie mich verfolgt, werden sie euch verfolgen. Haben sie auf mich gehört, werden sie auf euch hören› (Joh 15,20).
Und das ist ein Punkt, in dem ganz ausdrücklich ‒ wenn man im Religionsunterricht oder auch im Theologieunterricht die Frage gestellt hat ‒ also: Hier ist Jesus als Anhänger seiner jüdischen Religion, versucht ein guter Jude zu sein und wird von den offiziellen Behörden deshalb, weil er versucht ein Judentum zu leben, das wir heute in der Rückschau als richtig und tiefer ansehen als das der Übrigen ‒ weil er das zu leben versucht ‒, wird er weggeräumt ‒:
Könnte das nicht heute wieder passieren, dass jemand wie Jesus oder Franziskus ein wirklich christliches Leben lebt und daher von den heutigen Behörden der Kirche – genauso dasselbe ‒ wieder weggeräumt wird?›]
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[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 163f.
[2] 1971 erschien von Adolf Holl das Buch ‹Jesus in schlechter Gesellschaft›. Es folgte der Entzug der Lehrberechtigung und dann die Suspendierung vom Priesteramt.
[3] Credo (2015): ‹gekreuzigt› (2015), 109f.
[4] Credo (2015): ‹Gelitten unter Pontius Pilatus› (2015), 102-105
[5] Credo (2015): ‹… und an Jesus Christus … UNSEREN HERRN›, 82f.:
[6] Siehe Galaterbrief 3,13 mit Bezug auf 5 Mose 21,23: ‹Verflucht ist jeder, der am Holz hängt›
[7] Siehe Anm. 6
[8] Hebräerbrief 12,2
[9] ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen› (Mk 15,34, Mt 27,46, Psalm 22,2)
[10] ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist› (Lk 23,46, Psalm 31,6)
Gleichnisse Jesu
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Nach Markus zitiert Jesus das erste und wichtigste Gebot aus dem 5. Buch Mose, wo es heißt:
«Gott lieben mit deinem ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft» (Dtn 6,5).
Jesus fügt aber noch hinzu: «und mit deinem ganzen Verstand» (Mk12,29).
Der Verstand ist zwar im hebräischen Begriff der Seele schon enthalten, hier hebt Jesus ihn aber noch ausdrücklich hervor. Gemeint ist nicht ein besonderes intellektuelles Vermögen, sondern der gesunde Menschenverstand.
Jesus ermächtigte seine Zuhörer dazu, sich mittels des ihnen von Gott geschenkten Verstandes selber ein Urteil zu bilden. Das können wir aus jenen Schichten der Evangelien herauslesen, die nach Sicht der Wissenschaft der ursprünglichen Lehre Jesu am nächsten kommen, nämlich den Gleichnissen.
Jesus lehrt in Gleichnissen. Das ist so bezeichnend für ihn, dass unser ältestes Evangelium (nach Markus) so weit geht, zu behaupten:
«Er sprach nur in Gleichnissen zu ihnen» (Mk 4,34).
Das typische Gleichnis Jesu wirkt ähnlich wie ein Witz: es überrascht und stellt uns auf gutmütige Weise vor uns selber bloß. Es geht in drei Schritten vor:
Häufig beginnt es mit einer Frage, die sich auf etwas allen Bekanntes bezieht. Zum Beispiel: «Wer von euch weiß nicht ...», dass ein wenig Sauerteig ausreicht, um Unmengen von Brot zu backen; dass uns das, was wir verlegt oder verloren haben, keine Ruhe lässt bis wir es finden; dass kein Geschäftsmann sich einen einzigartigen Gelegenheitskauf entgehen lassen wird; dass man in einem Weizenfeld nicht Unkraut jätet, weil man sonst alles zertrampelt; dass die Reichen reicher werden und die Armen ärmer; dass der Same, den wir säen seine Zeit braucht, ob wir Geduld aufbringen oder nicht; dass nicht alles, was wir aussäen, Frucht bringt, die Ernte uns am Ende aber trotzdem reich beschenkt.
Solche Fragen sind der erste Schritt. Die Antwort ist der zweite. Sie ist immer die gleiche: «Das weiß doch jeder!» sagen seine Zuhörer.
Aber damit ‒ und das ist der dritte Schritt ‒ sind wir auch schon auf den Leim gegangen. Wir müssen uns nämlich jetzt selber fragen: Wenn wir es so gut wissen, warum ziehen wir dann nicht die Konsequenz und wenden unsere Einsicht auf unsere Beziehung zu Gott an?
Dahinter steht nun die entscheidende Annahme: Gesunder Menschenverstand lehrt uns, was Gott will.
Wie schwerwiegend diese so einleuchtende Überzeugung ist, das muss man sich nur überlegen.
Nichts ist revolutionärer als die Vorrangstellung, die Jesus in seinen Gleichnissen dem gesunden Menschenverstand einräumt. Dieser stellt geradezu den Gegenpol dar zum konventionellen Denken.
Durch ihn spricht ja der Heilige Geist im Menschenherzen.
Jesus beruft sich also nicht darauf, sozusagen Sprachrohr der göttlichen Autorität zu sein; darin unterscheidet er sich von den Propheten vor ihm.
Er maßt sich auch nicht selber höchste Autorität an, sondern ‒ und das ist etwas völlig Neues in der Religionsgeschichte ‒ er appelliert an die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer:
Gott spricht zu uns durch unseren gesunden Menschenverstand ‒ das ist es, was jedes Gleichnis voraussetzt, und es ist zentral für das Gottesverständnis Jesu.
Dadurch löste seine Lehre eine gewaltige Autoritätskrise aus, deren Erschütterungen wir bis heute fühlen.
Jesus ermächtigte seine Zuhörer, für sich selber zu denken.
Das hat ungeheure politische Konsequenzen. Es war damals, und ist heute noch, bedrohlich für alle autoritären Strukturen; Jesus wird daher ‒ vom Standpunkt der Machthaber aus mit Recht ‒ als subversiv gebrandmarkt und gekreuzigt.
Von den einfachen Menschen aber, die Jesu zuhörten heißt es:
«Sie waren außer sich über seine Lehre, denn er lehrte wie einer, der Vollmacht hat.»
Und dann fügten sie vergleichend hinzu, «nicht wie die Schriftgelehrten» (Mk 1,22).
Mit diesem Vergleich ist sein Schicksal besiegelt. Die Schriftgelehrten werden ihm das nie verzeihen. Sie machten ihre Zuhörer klein; Jesus hob sie über sich selbst hinaus.
Dadurch war der verhängnisvolle Ausgang seiner Karriere praktisch unausweichlich. Gegen alle autoritären Machtansprüche einzutreten, hat nicht nur religiöse, sondern auch politische Konsequenzen. Das wissen wir. Die letzte Konsequenz für Jesus war seine Kreuzigung.
[Credo: ‹gekreuzigt› (2015), 110-112]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)
Vortrag:
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen: Bruder David erklärt die literarische Form von Gleichnissen. Ohne ihre Kenntnis verfehlen wir den springenden Punkt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Jesus lehrt in Witzen: Er stellt eine Frage, wir sagen: ‹Das wissen wir ja alle›! ‹Warum handelt ihr nicht danach›? der Witz ist auf unsere Kosten / (22:13) Er weist hin, wie die Gleichnisse Jesu eine religionsgeschichtliche Wende bedeuten: Jesus spricht nicht wie ein Prophet mit der Autorität Gottes, er nimmt auch nicht charismatisch seine eigene Autorität in Anspruch, sondern verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer: ‹Ihr wisst das doch›!
1.2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(30:59) Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit – Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter – (38:46) ‹Wisst ihr das denn nicht›?, sagt Jesus ‒ das ist ja seine Lehrmethode ‒ und wir sagen: ‹Ja wir wissen es!› ‹Aha, ihr wisst es so gut, der Hausverstand sagt uns das ja schon›! ‹Ah, was für ein Hausverstand ist denn das›? Das ist das Welthaus, das ist der Haushalt, dem wir alle angehören, der Welthaushalt, der Gotteshaushalt, zu dem auch die Tiere und die Pflanzen gehören: Hausverstand ist ein wunderschönes Wort.
2. Weitere Texte
2.1. Common Sense (2014): ‹Der Common Sense in den Gleichnissen Jesu, 45, 46f., 49f.:
«Frisch wie am ersten Tag leuchtet die ursprüngliche Botschaft Jesu in seinen Gleichnissen und nirgends sonst ist sie überzeugender. Wie Goldkörnchen im Sand, so lagerten sich die Gleichnisse in den frühesten Schichten der christlichen Tradition ab. Sie bewahrten das lebendige Wort der Lehre unverfälschter als die meisten anderen Evangelientexte.
Dass Jesus in Gleichnissen lehrte, ist eine der wenigen wirklich sicheren historischen Aussagen über ihn. Markus, der früheste Evangelist, behauptet sogar: ‹Ohne Gleichnis redete er nicht zu ihnen› (4,34). Damit mag Markus übertreiben, aber es lässt sich nicht leugnen, dass wir in den Gleichnissen das Herzstück der Botschaft Jesu finden können ‒ und zwar sowohl was den Inhalt angeht als auch die Form, in der er lehrte.
Die Gleichnisse enthalten nicht nur das Wesentliche seiner Botschaft; auch der Umstand, dass er sich für die Rede in Gleichnisform entschied, sagt etwas Entscheidendes darüber aus, worauf es ihm mit seiner Botschaft ankam.
Viele Gleichnisse Jesu sind jenen Sprichwörtern sehr ähnlich, in denen ein starkes Bild jäh eine Einsicht des Common Sense aufblitzen lässt. Zuweilen erweitert er das Bild zu einer kurzen Erzählung und bringt damit das zündende Element dieser Art von Sprichwörtern noch kräftiger zur Wirkung.
… Im dritten Schritt sieht Jesus uns fragend an. Er braucht die Frage eigentlich gar nicht auszusprechen: ‹Wenn das so offensichtlich ist ‒ warum handelt ihr dann nicht entsprechend? Wo ist denn euer gesunder Menschenverstand›?
Uns bleibt nur, über uns selbst den Kopf zu schütteln: Wir hätten zwar durchaus den gesunden Menschenverstand ‒ den Common Sense ‒, aber in den entscheidendsten Punkten unseres Lebens verhalten wir uns wie Dummköpfe. Das Gleichnis hat uns auf humorvolle Weise überführt. Ein Gleichnis Jesu nach dem anderen führt uns immer wieder spielerisch im gleichen Dreischritt unsere Torheit und Inkonsequenz vor Augen. Warum reizen uns die Gleichnisse Jesu in den Evangelien eigentlich nicht zum Lachen? Die Antwort ist nicht schwer zu finden: Wie oft kann man der immer gleichen Zuhörerschaft ein und dieselbe geistreiche Pointe präsentieren? Nach einigen Wiederholungen würden auch die Geduldigsten müde abwinken. Aber trotzdem blieben die Bilder, die Jesus gebraucht hat, seinen Jüngern kostbar. Und so bewahrte man sie in der Tradition und wiederholte sie immer wieder ‒ und machte aus den spritzigen Formulierungen moralisierende Geschichten.
… Die Gleichnisse sind also keineswegs zahme Erbauungsgeschichten, sondern enthalten solche nicht ungefährliche Pointen, mit denen Jesus sich über die öffentliche Meinung lustig machte: Willst du wirklich wissen, wer dein Nächster ist? Warte nur, bis du in Not kommst, dann sagt es dir ganz unerwartet dein Common Sense! Dann kannst du ganz selbstverständlich sogar in einem verachteten Ausländer deinen Nächsten erkennen, ein Mitglied der Menschheitsfamilie.»
2.2. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 184-186:
«Es gibt keinen anderen Lehrer in der Religionsgeschichte, der in diesem Maße Gleichnisse verwendet hat. Zwar war das Gleichnis nicht die ausschließliche Lehrmethode Jesu, aber doch so charakteristisch, dass Markus sagen kann, Jesus habe nur in Form von Gleichnissen gelehrt. Dass er nicht auch auf andere Weise gelehrt hat, ist jedoch eine Übertreibung. Doch weil das Gleichnis für ihn am typischsten war, ist es auch so wichtig für uns, dass wir begreifen, was ein Gleichnis ist. Es ist ein sehr einfaches Lehrmittel. Es kann eine kurze Geschichte sein, manchmal auch eine etwas längere, es kann aber auch lediglich ein ganz kurzer Ausspruch sein, etwa wie ein Sprichwort.
Die Art und Weise, wie manche Sprichwörter in uns wirken, vermittelt uns eine gute Vorstellung von der Wirkungsweise eines Gleichnisses. Nehmen wir zum Beispiel das folgende Sprichwort: ‹Früher Vogel fängt den Wurm›. Das entspricht dem gesunden Menschenverstand. Sie können es selbst beobachten, wenn Sie früh genug aufstehen. Später sind die meisten Würmer verschwunden. Diejenigen, die zu spät kommen, kriegen keine mehr. Sie haben das vielleicht schon häufig beobachtet, aber es sagte Ihnen nichts. Aber dann eines Tages kommen Sie hier im Esalen-Institut zu spät zum Essen und bekommen keines mehr. Oder Sie gehen in einen Schallplattenladen und müssen zu Ihrem Bedauern feststellen, dass die neue Platte, die Sie haben wollten, ausverkauft ist. Plötzlich erinnern Sie sich, dass der frühe Vogel den Wurm fängt. Ihre Situation hat überhaupt nichts mit Vögeln oder Würmern zu tun, aber sie hat eine ganze Menge mit der Wahrheit zu tun, die in diesem Sprichwort steckt.
Das ist der Ausgangspunkt eines jeden Gleichnisses. Es erinnert Sie an eine Beobachtung, die dem gesunden Menschenverstand entspricht. Oft fängt es in dem Sinn an: ‹Wer von euch weiß das nicht schon›? Wer von euch, der Kinder hat, weiß nicht, was Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden? Wer von euch, der schon einmal Brot gebacken hat, weiß nicht, wie sich Hefe verhält? Wer von euch, der schon einmal etwas verloren hat, weiß nicht, wie sehr man sich anstrengt, um es wiederzufinden? Das ‹Wer von euch› wendet sich an die Zuhörer und bedeutet: ‹Kennt ihr das nicht ohnehin schon›? Dies ist der erste Teil eines jeden Gleichnisses. Wer weiß etwa nicht, dass der frühe Vogel einen Wurm fängt, das ist ein Gemeinplatz.
Dann kommt Teil zwei, die Reaktion der Zuhörer. Diese sagen: ‹Nun, das weiß doch wohl jeder, oder›?
Und dann kommt Teil drei, und das ist ‒ in den besten Fällen ‒ schlicht Schweigen. Manchmal aber wird es auch ausgesprochen, und es ist der Teil, in dem Jesus sagt: ‹Aha, das weiß jeder, in Ordnung. Aber warum handelt ihr nicht danach›? Zack ‒ die Falle hat zugeschnappt!
Wir wollen nun anhand eines Beispiels sehen, wie das Lehrmittel des Gleichnisses wirkt. Die meisten Gleichnisse handeln vom Reich Gottes, aber das folgende wird als Antwort auf eine Frage gegeben. Die Frage lautet: Wenn ich meinen Nächsten lieben soll wie mich selbst, wer ist mein Nächster?
Wir nennen dieses Gleichnis das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Ich bin sicher, dass Sie alle es kennen.
Wenn man dieses Gleichnis als das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bezeichnet, dann ist es, als ob man einen Witz erzählt und ihm vorab eine Überschrift gibt, die die Pointe vorwegnimmt.
Für die Juden zu Lebzeiten Jesu gab es so etwas wie den b a r m h e r z i g e n Samariter nicht. Der einzige barmherzige Samariter war ‒ wie man heute sagen würde ‒ ein toter Samariter. Die Samariter waren absolute Bösewichter.
Außerdem handelt dieses Gleichnis gar nicht von dem Samariter. Das ist ein weiteres Problem. Die Geschichte handelt vielmehr von einem Mann, der in die Hände von Räuber fiel.
(Es gibt eine Faustregel: In Gleichnissen muss man sich immer ‒ wie in Witzen ‒ mit der ersten Person identifizieren, die erwähnt wird, sonst begreift man die Pointe nicht. Man kann einen anderen Gewinn daraus ziehen wie etwa im Gleichnis vom ‹barmherzigen› Samariter. Alle möglichen guten und interessanten Lehren basieren darauf. Wenn man aber wissen will, was Jesus sagte, muss man sich an die Regel halten, die für jede Volkssage, jeden Witz oder jeden volkstümlichen Ausspruch gilt. Man identifiziere sich mit der ersten Person, die erwähnt wird.)
Jemand fragte also Jesus: ‹Wer ist mein Nächster›? und Jesus erzählte folgende Geschichte: Da war ein Mann (das sind Sie!), der von Jerusalem nach Jericho ging und unter die Räuber fiel. Zwischen Jerusalem und Jericho kann man auch heute noch unter die Räuber fallen. Die Straße führt durch eine Schlucht mit steil abfallenden Wänden und es kann einem dort alles Mögliche widerfahren.
Dieser Mann nun fiel unter die Räuber, die ihn misshandelten und beraubten. Sie stahlen ihm alles, was er hatte, und ließen ihn h a l b tot liegen. Es ist sehr wichtig, dass dieser Mann nur h a l b tot ist. Das bedeutet, dass er immer noch am Leben ist und das Geschehen um ihn herum mitbekommt. Denken Sie daran: S i e selbst sind dieser Mann. Gleichnisse werden nicht aus der Perspektive eines außenstehenden Beobachters erzählt, sondern aus der Sicht der ersten Person, die erwähnt wird.
Sie liegen also da und jemand kommt vorbei. Plötzlich wissen Sie, wer Ihr Nächster ist. In Ihrem Herzen schreit es: ‹D a s ist mein Nächster! Er muss mir helfen›! Doch er geht auf der anderen Straßenseite vorbei und lässt Sie liegen.
Dann kommt wieder jemand vorbei. Wiederum schreit es in Ihnen: ‹Hilf mir! Ich bin dein Nächster›! Doch auch dieser Mensch geht vorbei. Sie liegen immer noch da und hoffen, dass jemand Sie als seinen Nächsten erkennt und entsprechend handelt.
Als nächstes kommt nun ausgerechnet ein Samariter vorbei. Wollen Sie, dass dieser Ausgestoßene Ihnen hilft? Ja, natürlich, sind wir nicht alle einander die Nächsten? Und siehe da, dieser schmutzige Samariter verhält sich wie ein Nächster.
Mit einem Schmunzeln fragt Jesus: ‹Welcher von diesen Dreien war also dem der Nächste, der unter die Räuber fiel›? ‹Jener, der ihm Barmherzigkeit erwies›, antwortet der Mann, der gefragt hatte, wer eigentlich sein Nächster sei. Dass es ausgerechnet der Samariter war, sagt er lieber nicht.[1]
Können Sie das Schweigen hören, das sich daraufhin ausbreitet? In diesem Schweigen dreht Jesus den Spieß um. Wenn der Samariter dein Nächster ist, wenn d u dich in Not befindest, ist er auch noch dein Nächster, wenn e r in Not ist?
Ich bin auf eine hübsche moderne Version dieses Gleichnisses gestoßen. Als ich einer Gruppe in Neuseeland dasselbe wie hier erzählte, meldete sich eine Ordensschwester zu Wort und sagte: ‹Genau das ist mir passiert. Ich bin vor nicht allzu langer Zeit mit dem Auto von Auckland nach Hamilton gefahren und wurde unterwegs entsetzlich müde. Plötzlich bemerkte ich, wie mein Auto auf der falschen Straßenseite fuhr. Ich hielt sofort an und rollte auf den Randstreifen (mit der Wagenfront in die falsche Richtung). Ich sagte mir: ‹Jetzt werde ich erst einmal ein bisschen schlafen. In diesem Zustand zu fahren ist zu gefährlich›. Als ich aufwachte, klopfte jemand gegen das Wagenfenster. Noch schlaftrunken und entgegen allen Vorsichtsmaßregeln kurbelte ich es hinunter. Draußen stand ein Mann mit einer Lederjacke und sagte: ‹Alles in Ordnung, meine Liebe? Rutschen Sie mal auf den Nebensitz, Sie stehen auf der falschen Straßenseite›. In meiner Verwirrung rutschte ich hinüber. Er stieg ein, brachte das Auto auf die richtige Straßenseite und sagte: ‹Mir scheint, Sie sind in keiner guten Verfassung. Wo wollen Sie denn hin›? ‹Nach Hamilton›, sagte ich. ‹Okay, wir werden Sie begleiten›. Und so wurde ich ‒ eine Nonne in Tracht ‒ nach Hamilton eskortiert, von einer Rockerbande auf Motorrädern.›»
2.3. Unsere Zukunft ‒ das Reich des Kindes (1987):
«Schauen Sie sich doch die Evangelien ‒ vor allem die synoptischen ‒ einmal genau daraufhin an. Sie werden feststellen, dass Jesus sich immer wieder auf die Autorität Gottes in den Hörern beruft. Und die typische Form, in der dies geschieht, ist die Gleichnisrede, die mit einer Frage beginnt, oft unausgesprochen, meist aber ganz ausdrücklich: ‹Wer von euch, der jemals Schafe gehütet hat, weiß nicht; wer von euch, der Brot bäckt, weiß nicht; wer von euch Eltern weiß nicht›?
Immer wieder: ‹Wer von euch weiß das nicht schon›, das steht am Anfang der Gleichnisrede. Und darauf folgt die Reaktion der Hörer, die immer wieder lautet: Na, jeder weiß das; das Kind in uns weiß das genau. Und zum Schluss tritt dann meistens Stille ein, in die hinein Jesus sagt: ‹Ah, ihr wisst das so gut! Warum handelt ihr dann nicht danach›? Und so finden sich die Hörer von der eigenen Erfahrung überführt.
Darum sind die Gleichnisreden heute noch genauso lebendig, wie sie vor 2000 Jahren waren: weil sie uns noch immer dahin führen, zuzustimmen ‒ ‹ja, das weiß ja sowieso jeder› ‒ und dann uns bewusst machen, dass wir nicht konsequent danach handeln.
Wenn wir wirklich aus diesem Geist des Kindes in uns lebten, wenn wir aus dem Bewusstsein heraus handelten, das wir von unseren besten Augenblicken her kennen, dann wären wir nicht so halbtot, wie wir es jetzt sind, und die Menschheit als Ganzes wäre nicht so gefährdet.»]
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[1] Dieser Abschnitt ist aus dem Buch Common Sense (2014), 49
Machtpyramide und Netzwerke
Filme, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
Mehr als früher hatte ich in meinen 70er-Jahren auch Gelegenheit, Menschen kennenzulernen, die in den USA und anderswo an führenden Stellen unserer Gesellschaft standen und von denen ich daher auch annehmen durfte, dass sie gut informiert waren. Immer wieder hörte ich gerade von Wohlinformierten das Sätzchen:
«So kann es nicht weitergehen! ‒ nicht in Politik, nicht in der Wirtschaft und auch in keinem anderen wichtigen Bereich.»
«Und warum nicht?», fragte ich.
«Weil wir im Begriff sind, uns selbst zu zerstören.»
(Dabei gab es damals noch viele, die Natur und Umwelt bedenkenlos ausbeuteten, den Klimawandel ein grünes Hirngespinst nannten und sich doch für sachkundig hielten.)
Durch Gewalt, Rivalität und Habgier standen wir nun vor der Selbstvernichtung. Und der sind wir in den 30 Jahren seither noch bedeutend näher gekommen. Zugleich sind in derselben Zeitspanne aber auch mehr und mehr Menschen aufgewacht zu der Erkenntnis, dass in Gewaltfreiheit, Zusammenarbeit und Teilen alle Hoffnung für die Zukunft liegt.
Pyramide und Netzwerk erwiesen sich auch als hilfreiche Modelle für das Verständnis meiner persönlichen Erlebnisse in diesem Lebensabschnitt.[1]
Johannes Kaup: «Bei ihrem Begriffspaar Kontemplation und Revolution haben Sie Revolution neu definiert, nämlich als Ende der Machtpyramide und als Aufstieg von Gemeinschaften, die sich netzwerkartig organisieren. Das klingt auf den ersten Blick sehr sympathisch. Ich glaube auch zu verstehen, welche Netzwerke Ihnen da vor Augen stehen. Aber ich werde zur Klärung ein kritisches Gegenargument bringen und missinterpretiere Sie jetzt als ‹Advocatus diaboli› bewusst: Auch eine subversive Nichtregierungsorganisation wie die Mafia organisiert sich neuerdings netzwerkartig. Selbst eine Terrororganisation wie der sogenannte Islamische Staat ist mit schlanken, autonom agierenden Zellen und Netzwerkstrukturen bei Attentaten in Belgien, Frankreich und der Türkei höchst erfolgreich. Wenn in einem Netzwerk Vertrauen nach innen herrscht, sagt das noch nichts über die Ethik der Netzwerkorganisation aus, sondern mehr über ihre Effektivität. Also an der Organisationsform alleine, fürchte ich, ist der neue Geist, den Sie im Sinn haben, nicht festzumachen?»
Bruder David: «Nein, nicht an der Form der Organisation, sondern am Gebrauch der Macht. Die Frage ist: Wird die Macht zur Ermächtigung aller in ihrer Eigenständigkeit verwendet? Das ist wichtig. Es muss für alle gelten, also grundsätzlich alle Menschen einschließen, nicht nur eine bestimmte Gruppe.»
Johannes Kaup: «Das heißt, die Netzwerke, die Ihnen vorschweben, sind universalistisch ausgerichtet.»
Bruder David: «Universalistisch und von Respekt für jeden einzelnen Menschen getragen. Aber Respekt ist vielleicht ein zu blasser Begriff. Es geht um tiefe Achtung vor dem Nächsten, vor allen anderen Menschen und vor dem Leben in all seinen Formen. Diese große Achtung, diese Ehrfurcht vor dem Leben muss zentral sein.»
Johannes Kaup: «Also das, was Albert Schweitzer einmal gesagt hat:
«Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.»
Bruder David: «Genau so. Das wäre die Spiritualität der Netzwerke, von denen ich spreche, und das unterscheidet sie fundamental von den Netzwerken der Mafia oder von Terroristen.»
Johannes Kaup: «Sie beschreiben, wie Sie in den 90er-Jahren als Lehrender[2] am legendären Esalen Institute in Big Sur diese unterschiedlichen Organisationsformen ‒ also Pyramide versus Netzwerk ‒ selbst gut beobachten konnten, samt den Konsequenzen, die das nach sich zog. Die Gemeinschaft, die sich in und um Esalen herum gebildet hatte[3], wollte genau dieses innovative, unterstützende, ermächtigende Netzwerk leben. Letzten Endes hat sich aber dann ein traditionelles Modell durchgesetzt mit einem Aufsichtsrat für den Wirtschaftsbetrieb. Wirken da vielleicht allzu menschliche Motive stärker als der altruistisch kooperative Geist? Brauchen diese Netzwerke, die Sie vorhin charakterisiert haben, nicht auch einen reformierten Menschen im weitesten Sinn oder Voraussetzungen für das menschliche Zusammenleben, die man nicht von vornherein in unserem Gesellschaftssystem mitbringt?»
Bruder David: «Ich glaube, wir brauchen ein neues Bewusstsein, um die notwendigen Veränderungen zu verwirklichen. Der Druck des Alten, der Machtdruck des Alten ist sehr groß. Es bedarf großer Anstrengung, uns gegen diesen Druck zu wehren. Und in Esalen ist das leider nicht geglückt.»
Johannes Kaup: «Warum?»
Bruder David: «Es gelingt leider nicht immer. Mut und Kraft reichen nicht immer aus.» [4]
(Film): Ein Teilnehmer: «Br. David: In den vielen Ausführungen, die ich von Dir gelesen und gehört habe, ist immer wieder ein Begriff vorgekommen, der mich sehr berührt hat und zwar, dass Dankbarkeit eine Revolution ist, die so revolutionär ist, dass sie selbst das Konzept der Revolution revolutioniert. Also dieses Wortspiel schon allein hat mich sehr berührt. In diesem Zusammenhang sprichst Du von einem Netzwerkt von kleinen Netzwerken. Kannst Du uns vielleicht zu diesen Netzwerken etwas mitteilen?»
Bruder David: «Ich versuche nur die Verbindung zu finden … Die Verbindung besteht eigentlich darin, dass das Leben eine Vernetzung ist. Leben ist ein Netzwerk aus Netzwerken. Das ist sowohl das Leben als dieses große Geheimnis, als auch unser Lebenslauf. Man wird als Individuum geboren und wird zur Person, indem man Verbindungen aufnimmt, Beziehungen. Je länger man lebt und je intensiver man lebt, umso mehr Beziehungen, also das Netzwerk von Beziehungen.
(26:53) Wir haben aber seit ungefähr 6000 Jahren Zivilisation dem Leben sozusagen übergestülpt. Zivilisation ist auf einem ganz anderen Prinzip aufgebaut als ein Netzwerk von Netzwerken. Leider, leider ist die Zivilisation, die wir kennen ‒ die einzige Zivilisation, die wir aus Erfahrung kennen ‒, eine Pyramide, eine Machtpyramide.
Das Netzwerk von Netzwerken wird durch Vertrauen aktiviert. Die Pyramide durch Furcht:
Das haben wir schon gesehen, das ist genau das Gegenteil von ‹Netzwerk›:
Die an der Spitze sitzen fürchten alle, weil ja sonst jeder eine Gefahr ist, selber an die Spitze zu kommen, und müssen sich daher durch Gewalt verteidigen. Diese Gewalt kann verschiedene Formen annehmen, aber es ist immer Gewalt.
Die etwas weniger hoch oben sind, die wollen hinaufkommen, sie müssen also die Ellbogen verwenden und mit den Füßen nach unten treten und nach oben buckeln, wie ein Radfahrer, und das ist Rivalität.
Also auf der Mittelschicht ist Rivalität.
Für alle besteht die Furcht, dass nicht genug da ist. Da kommt Habsucht herein. Wenn nicht für Alle genug da ist, dann muss ich so viel wie möglich an mich reißen.
(29:09) Also: Furcht von oben bis unten charakterisiert die Machtpyramide. Wir stehen leider an einem Punkt, an dem wir die Machtpyramide so weit ausgebildet haben, wo alles die ganze Zivilisation in Anspruch nimmt, dass wir uns selber zerstören. Furcht zerstört sich selbst, Furcht bringt immer das herbei, was wir fürchten, löst das aus, was wir fürchten.
Und in allen Bereichen haben wir leider ‒ das ist die große Schwierigkeit unserer gegenwärtigen Situation ‒ den Punkt erreicht, wo es so nicht weitergehen kann.
Daraus ziehe ich den Schluss, dass eben eine Revolution notwendig ist, die diese Pyramide umbaut in ein Netzwerk von Netzwerken. Aber natürlich nicht die Art von Revolution, die wir aus der Geschichte kennen, denn da handelt es sich ja immer nur darum, dass die, die an der untersten Schicht dieser Pyramide sind, jetzt an die Spitze kommen und dort dasselbe machen, was die andern früher gemacht haben. Es ändert sich nichts. Aber wir wagen die ganz andere Revolution. Es gibt schon viele, viele Netzwerke, ungezählte Netzwerke, aber sie sind noch nicht vernetzt. Das ist das Entscheidende.»[5]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4f.)
[Ergänzend:
1. Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität
2. Film Impuls zur Selbstfindung (2017); siehe auch Transkription:
(23:29) Wir leben in einer Gesellschaft, die eben durch das Ego geprägt ist, und die daher eine Art Pyramide ist. Der Stärkste ‒ zugleich auch wahrscheinlich der, der am meisten Furcht hat, das macht ihn so aggressiv ‒, ich sage i h n, das ist eine sehr männliche Haltung, aber es kann auch Frauen passieren:
Wer am meisten Angst hat, der kommt am höchsten hinauf, weil er die Andern am stärksten tritt. Und da baut sich diese Pyramide auf und jeder ‒ auf jeder Schicht ‒, buckelt nach oben und tritt nach unten, wie ein Radfahrer.
So baut sich diese Machtpyramide auf.
Das Gegenteil ist eine Welt, nicht der Pyramide, sondern der Vernetzung.
Eine Vernetzung, etwas Horizontales, eine vernetzte Gemeinschaft: Idealerweise kennt jeder jeden, das muss ein kleines Netz sein. Und eine Welt, die ein Netzwerk aus kleinen Netzwerken ist, das ist auch das Ideal, dem wir nachstreben dürfen für die Zukunft.
Die Machtpyramide ist ja in unserer Zeit ‒ und das charakterisiert unsere Zeit ‒ im Zusammenbrechen.
Besonders die, die an der Spitze stehen, sagen: ‹So kann’s nicht weitergehen.›
Wir haben einen Endpunkt erreicht.
Ob das jetzt in der Wirtschaft ist oder in der Politik: Auf vielen Gebieten, wo diese Machtpyramide so betont wird: sie bricht vor unsern Augen zusammen.
Und Raimon Panikkar, ein ganz großer Denker des 20. Jahrhunderts, hat gesagt:
‹Wir sollen die Zukunft nicht in einem neuen Turm von Babel suchen, wieder so einen Turm bauen und bis zum Himmel kommen, sondern in wohlausgetretenen Pfaden von Haus zu Haus.›
Das ist die Zukunft, das ersehnen wir uns: ‹wohlausgetretene Pfade von Haus zu Haus.›
Und das ist die Welt des Selbst, wo wir alle zusammengehören, obwohl wir ‒ und gerade darum ‒ unsere individuelle Selbständigkeit und Einzigartigkeit betonen dürfen und können. Und die Andern unsere Begabungen schätzen.›
3. Audios
3.1. Das glauben wir (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
(01:32) ‹Der verleugne sich selbst› ‒ das Kreuz:
‹Das Kreuz war zur Zeit Jesu die Todesstrafe für Menschen, die die Gesellschaftsordnung unterminiert haben. Und das waren davongelaufene Sklaven und Revolutionäre. ‹Wer mir nachfolgen will, muss das Kreuz auf sich nehmen› heißt im Klartext: ‹Wir sind daran, die Gesellschaftsordnung von Grund auf zu unterminieren, und daher gehen wir auf das Kreuz zu›. Laut den Weissagungen in den Evangelien war vorauszusehen, dass Jesus gekreuzigt wird, weil er der gesellschaftlichen Machtpyramide, aufgebaut auf Furcht, Gewalttätigkeit, Rivalität, Habsucht, nicht eine andere Pyramide entgegenstellt, sondern ein Netzwerk ‒ ‹in IHM leben, weben und sind wir› (Apg 17,28) ‒, ein Netzwerk der Furchtlosigkeit, der Gewaltfreiheit, der Zusammenarbeit und des Teilens. Immer wieder in der Geschichte, wenn Menschen diese Lebensform propagiert haben ‒ etwa Franziskus mit seinen Brüdern ‒ sind sie mit der Machtpyramide in Konflikt gekommen. Und leider auch mit der Machtpyramide, insofern die Kirche selbst diese Machtpyramidenstruktur angenommen hat. Der jetzige Papst Franziskus unterminiert die Pyramidenstruktur der Kirche ‒ endlich einmal ‒, so wie Jesus es gemacht hätte. Und man muss nur hoffen, dass er nicht auch gekreuzigt wird.›
3.2. Audio Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Was hindert gesundes spirituelles Wachstum?; siehe auch (Mitschrift):
(05:14) Gott als Machthaber getrennt von uns: ‹Durch diese Vergiftung des Gottesbildes werden wir daran gehindert, das MEHR immer tiefer zu verstehen, immer williger zu verwirklichen, immer freudiger und schöpferischer zu feiern. Und das verbindet sich dann noch mit religionspolitischer Machtpolitik. Denn es schafft dann eine Pyramide: oben ist dieser Machthaber und diese Pyramide geht herunter und weiter und weiter herunter, und jeder bemüht sich, ziemlich hoch auf dieser Pyramide oben zu sein ‒ je höher, umso besser ‒ und wir fühlen uns dann ein bisschen höher als die andern, die da weiter unten sind.
Das ist etwas außerordentlich Gefährliches. Auf der Ein-Dollar-Note finden Sie diese Pyramide oben geschnitten und über ihr das Auge Gottes: Das ist dieser himmlische Polizist, der uns überall sieht und uns bestraft. Das ist giftig und vergiftend.›
4. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
«Revolution ist für Sie ein wichtiger Begriff, der allerdings aus Ihrer Sicht revolutioniert werden müsste. Bisher wurde die jeweilige Machtpyramide immer einfach auf den Kopf gestellt. Die ehemaligen Revolutionäre stiegen von unten nach oben, ansonsten blieb alles wie bisher. Ihnen schwebt stattdessen ein Netzwerk vor. Was verstehen Sie darunter?»
«Die Idee ist, die Hierarchie der Macht abzubauen, also die Pyramide der Ausbeutung und Unterdrückung, und sie in ein Netzwerk umzuwandeln. Auch ein Netzwerk kommt keineswegs ohne Autorität aus, aber Autorität ist nicht Machtbefugnis. Das ist ein völliges Missverständnis, aber das ist oft die erste Bedeutung, die man heutzutage diesbezüglich im Wörterbuch findet. Autorität ist ursprünglich Grundlage für rechtes Wissen und Handeln. Und da gibt es Menschen, die auf einer höheren Bewusstseinsebene stehen und deswegen verlässlicher sind, wenn es darum geht zu klären, was man tun soll und wie. Es wäre wichtig, diesen Menschen auch in einem Netzwerk die Autorität einzuräumen. Was wir brauchen, ist eine Vernetzung von Netzwerken. Denn gewisse Probleme sollten nur auf der untersten Ebene gelöst werden. Und nur, wenn dort keine Lösung gefunden werden kann, sollte das Problem auf der nächsten Ebene behandelt werden. Hinter der Idee von einem Netzwerk von Netzwerken stehe ich, aber es muss mit Autorität höheren Bewusstseins verbunden sein.»
5. Kirche als Machtpyramide
5.1. Brücken statt Mauern: Bruder David zu Ostern 2017:
«Furcht baut Mauern,
Vertrauen baut Brücken.
Beides ‒ und das ist die Tragik der Kirchengeschichte ‒ finden wir innerhalb der einen Kirche. Sie wurzelt in der Predigt Jesus vom Reich Gottes, verweltlicht aber zur Machtpyramide und baut Mauern von Furcht, Ausgrenzung und Habsucht.»
5.2. Osterbrief 2023:
«Eine katastrophale Entwicklung war es, dass die Kirche schon bald von der Netzwerkstruktur des ‹Reiches Gottes› auf die der Machtpyramide Roms zurückfiel. In ihr aber sprangen immer wieder Gruppen auf, die das ursprüngliche Ideal verwirklichten.»
5.3. Dankbarkeit ist ein Erfolgsprinzip (2018): Interview von Antje Luz mit Bruder David:
«Die Geschichte der WM begann mit der päpstlichen Enzyklika von 1891. Sie besagte, dass soziale Themen keine wirtschaftlichen, sondern moralische seien. Sie prägte den WM-Gründer Jules Rimet, der um die Jahrhundertwende den Fußball für soziale Gerechtigkeit nützte. Menschen aus allen sozialen Schichten sollten spielen und Geld verdienen können. Können Sie uns mehr zu dieser Enzyklika sagen?»
«Das war die ‹Rerum Novarum› von Papst Leo XIII. Sie ist für mich eine der allerwichtigsten Enzykliken der Neuzeit, vielleicht die wichtigste, weil sie sich als erste ausdrücklich mit sozialen Themen befasst hat. Und das wichtigste Thema darin ist für mich das Prinzip der Subsidiarität als Mittel für soziale Veränderung. Papst Leo XIII. hat es da zuerst formuliert und Papst Pius XI. hat es in der darauffolgenden Enzyklika, das war die ‹Quadragesimo Anno›, aufgenommen und verfeinert.»
«Was besagt das Prinzip der Subsidiarität?»
«Jede Entscheidung soll auf der niedrigsten Ebene getroffen werden, die dazu fähig ist. Also eine Strukturierung der Organisation von unten nach oben. Das erlaubt Selbstbestimmung und war wirklich ein ganz wichtiger Impuls, den Papst Leo XIII. da gesetzt hat. Die Tragik ist, dass es weder in der Kirche noch in der Gesellschaft richtig aufgegriffen wurde. Also wenn die Kirche das seit 1891, seit über hundert Jahren, verwirklicht hätte, dann wären wir in der Entwicklung weit voraus.»
«Inwiefern?»
«Unsere Zivilisation hat von Anfang an eine Machtpyramide aufgebaut, die sich derzeit im Zusammenbrechen befindet. … Das Prinzip der Subsidiarität ist die Lösung, denn es ersetzt die Machtpyramide durch ein Netzwerk. Die Zukunft unserer Welt ist entweder ein Netzwerk von Netzwerken oder wir haben überhaupt keine Zukunft. Der große Denker Raimon Panikkar hat das sehr schön ausgedrückt. Er hat gesagt: «Unsere Zukunft ist kein neuer Turm, ganz gleich wie hoch, sondern unsere Zukunft liegt in wohl ausgetretenen Pfaden von Haus zu Haus.» Das ist das Netzwerk. Und in dem Sinn könnte natürlich auch Sport ein Netzwerk von Netzwerken sein. Es ist ja jetzt schon mehr darauf angelegt als der Rest unserer Gesellschaft. Es gibt keinen Sportpapst…»
5.4. Bruder David berichtet von seiner Romreise 2018:
«Nach Jahrhunderten von immer mehr ins einzelne gehender Gleichschaltung – die zwischen Christianisierung und Europäisierung nicht unterscheiden konnte – zeigt sich heute, dass das bei einer Weltkirche überhaupt nicht mehr möglich ist. Dem Papst setzt aber bei jedem Versuch die Machtpyramide in ein Netzwerk zu verwandeln der vatikanische Machtapparat Widerstand entgegen. Da könnte es ihm eben helfen, sich auf das Subsidiaritätsprinzip zu berufen, dem schon seine Vorgänger Ansehen und Gewicht verliehen haben.
Ich habe also in kürzester Form – in nur vier Zeilen auf Spanisch – mein Anliegen aufgeschrieben: die Bitte an Papst Franziskus, darüber zu sprechen, wie das Subsidiaritätsprinzip praktisch in der Kirche angewendet werden könnte.»
5.5. Weihnachten geht nicht nur uns Christen an (2016): Interview von Josef Wallner mit Bruder David:
«Als Benediktiner sind Sie ein Mann der Kirche. Warum tun sich viele Menschen mit der Kirche so schwer? Schmerzt Sie das?»
«Ja, es tut mir weh, aber ich tu mir ja selber mit der Kirche schwer. Die Krise der Kirche – das ist wiederum so ein Engpass, durch den wir mit Gottvertrauen durchgehen müssen. Der Engpass lässt sich kurz so umreißen: Jesus hat zu seinen Lebzeiten das Reich Gottes auf Erden damit angebahnt, dass er arme Menschen inspiriert hat, noch ärmeren zu helfen. Das kann man historisch ganz überzeugend rekonstruieren. Kirche hat ursprünglich mit kleinen Gemeinden begonnen. Paulus spricht von der Kirche im Haus von Nympha oder von Priscilla and Aquila. Die Kirche war eine konkrete kleine Gemeinschaft. Nur abstrakt konnte man von der Kirche im Allgemeinen sprechen, von der Vernetzung der kleinen selbständigen Netzwerke zum Zweck gegenseitiger Hilfe. Durch Kaiser Konstantin wurde aus dem Hilfsnetz eine Machtpyramide. Das ist die Katastrophe.
Mit der Kirche als Machtpyramide haben viele von uns große Schwierigkeiten. Aber diese Form von Kirche ist am Zusammenbrechen. Ob wir es wollen oder nicht. Man braucht schon gar nicht mehr daran rütteln. Wir müssen uns vielmehr bemühen wieder Netzwerke zu schaffen, damit die Botschaft vom Reich Gottes nicht verstummt, wenn die Machtpyramiden-Kirche verschwindet. Gott sei Dank haben wir in Franziskus einen Papst, der um eine neue Form von Kirche bemüht ist – um die ursprüngliche, soweit das in seinen Händen liegt. Er setzt auch ganz klare Zeichen, die zeigen, dass er nicht an der Spitze einer Machtpyramide stehen will. Papst Franziskus ruft vielmehr zur Zusammenarbeit und zum Miteinander auf. Ich bin sehr dankbar für unseren Papst.»]
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[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 1996-2006, 157f.
[2] Wie «gratefulness» nach Europa kam (2020)
[3] Ebd. 158-160 geht Bruder David auf die Geschichte von Esalen ein und fasst zusammen:
«Rückblickend scheint mir, dass sich hier der Gegensatz von Netzwerk und Pyramide in Kleinformat darstellte. Im Bereich von Programmen für Unternehmer hat Esalen sich zwar verdient gemacht und ich durfte selbst an Konferenzen teilnehmen, bei denen Geschäftsleute und bahnbrechende Vordenker aus dem Bereich der Ökonomie neue, humanere Modelle der Betriebsführung vorstellten. Verwaltungsmässig aber folgt Esalen dem herkömmlichen Modell und die Hoffnungen von Dick Price [der 1961 mit Mike Murphy das heutige Esalen gründete] und dem Netzwerk der ursprünglichen Kommune gehören der Vergangenheit an.»
[4] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 166-168
[5] Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019), siehe auch Mitschrift des Vortrages, 6f.
Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Geschichte war nie mein Lieblingsfach. Unter Hitler waren wir überzeugt, dass unsere Geschichtsprofessoren uns belogen, weil die ganze Vergangenheit zugeschnitten werden musste auf ihre glorreiche Krönung durch das Dritte Reich. Jetzt aber reizte es mich, etwa die Grundidee der (allerdings dann völlig aufs falsche Gleis geratenen) Französischen Revolution mit frischen Augen zu überprüfen, und ich fand sie begeisternd.
«Liberté, Égalité, Fraternité» ‒ war darin nicht die Idee für eine Neuordnung enthalten, die damals schon dringend notwendig war, von der heute aber unser Überleben abhängen könnte?
Freiheit beginnt und endet mit Gewaltfreiheit, zu der ich mich verpflichte. Gewalt macht unfrei, denn sie ist die Perversion von Macht.
Die einzig schöpferische Anwendung von Macht ist die Ermächtigung anderer, und sie befreit den, der ermächtigt, nicht weniger als den, der sich ermächtigt weiß.
Gleichheit ist nicht Gleichmacherei, sondern Gleichberechtigung. Es wurde mir immer deutlicher, dass eine dynamische Ordnung auf diesem Grundrecht beruht. Wo wir die Furcht überwinden, da wird aus dem Konkurrenzkampf ein Zusammenspiel von Geben und Nehmen unter Gleichberechtigten ‒ aber auch Gleichverpflichteten.
Brüderlichkeit betont die Gleichheit, indem sie ihren Ursprung benennt, dass wir eben alle der einen Menschheitsfamilie angehören, und weist zugleich auf den schönsten Ausdruck des Familiensinns hin: aufs Teilen.[1]
Johannes Kaup: «Das dominante Denkmodell, in dem wir jetzt noch leben und das auch in den 90er-Jahren ganz erfolgreich propagiert wurde, ist das Wettbewerbsdenken: Wir stehen alle im Wettbewerb miteinander, das wurde bis ins Bildungssystem hinein implementiert. Die Vertreter dieses Modells argumentieren so: Der Wettbewerbsgedanke steckt schon von Anfang an in allen Menschen. Es geht nur darum, dass man ihn zum Wohl der Gesellschaft lenkt. Man kann das schon im Kindergarten beobachten: Die Kinder konkurrieren um das beste Spielzeug, um die Gunst der Erzieherinnen, in der Schule konkurrieren sie um die besten Noten, am Arbeitsplatz um die beste Position, um das Einkommen, im Kunst- und Kulturbetrieb um die meiste Anerkennung, die beste Position, in der Politik um Wählerstimmen.
Überall, wo wir hinschauen, ist Wettbewerb. Aber Wettbewerb bedeutet auch: Es gibt Gewinner und Verlierer.
Ganz tief in uns drin haben wir gelernt, dass es ohne Wettbewerb keinen Antrieb gäbe, uns anzustrengen und weiterzuentwickeln, etwas Großes zu schaffen. Es scheint also, dass Konkurrenz und Selektion die entscheidende Triebfeder für den Fortschritt sind. Stimmt das Ihrer Ansicht nach?»
Bruder David: «Nur halb. Im Konkurrenzgedanken, wie wir ihn kennen, ist zweierlei enthalten: einerseits das Bestreben zu übertreffen und andererseits das Bestreben, den anderen zu übertreffen. Das ist zweierlei und nur in unserem Denken so vermischt, dass wir es kaum unterscheiden können. Aber es lässt sich unterscheiden.»
Johannes Kaup: «Der Unterschied könnte sein, einerseits gut zu sein und andererseits besser als ein anderer zu sein.»
Bruder David: «Das Gut-sein-Wollen, das Sich-selbst-übertreffen-Wollen ist positiv. Aber wie gut ich bin, daran zu messen, wie weit ich den anderen herunterdrücken kann, das ist falsch, weil es lebenszerstörend ist. Auch das lässt sich an der Natur ablesen: Hier will jede Pflanze sich und ihr innerstes Leben verwirklichen, aber nicht die andere unterdrücken.»
Johannes Kaup: «Es gibt auch Unkrautpflanzen, die andere überwuchern, sich auf Kosten der anderen entfalten.»
Bruder David: «Das ist Interpretation. Nicht auf Kosten der anderen. Sie wollen sich entfalten und tun das auch, aber nicht im Kampf gegen die anderen. Das als Kampf anzusehen, ist die Interpretation, die wir dem Beobachteten überstülpen. Die andere Pflanze muss sich umso mehr entfalten in ihrer Art und das heißt vielleicht, dass sie sich verändern muss. Es geht um gegenseitige Beeinflussung.»
Johannes Kaup: «In der Pflanzenwelt gibt es aber auch Verdrängung: In den Alpen wurde beispielsweise vor einigen Jahren eine Himalaya-Pflanze eingeschleppt und sie verdrängt massiv heimische Arten, einfach deshalb, weil sie widerstandfähiger ist. Von daher ist das Bild vielleicht etwas schief.»
Bruder David: «Aber die Verdrängung anderer Pflanzen ist ein Nebenprodukt der Selbstentfaltung, nicht das Ziel. Darin liegt der Unterschied. Für uns Menschen ist das höchste Ziel Entfaltung und Zusammenspiel aller. Ich erinnere mich an einen Bericht über Indianerkinder, die einen Fußball bekommen haben. Sie haben begeistert mit dem Ball gespielt, aber dann wurden sie in Mannschaften aufgeteilt und mussten gegeneinander spielen. Auf einmal haben sie das Interesse völlig verloren. Ihre Freude kam vom Miteinander, nicht vom gegeneinander Spielen.»
Johannes Kaup: «Ich finde, auch das Gegeneinander hat einen Reiz, solange es ein Spiel ist und nicht Scham und Angst erzeugt.»
Bruder David: «Solange man sich freuen kann, wenn der andere gewinnt.»
Johannes Kaup: «Ich spiele ebenfalls Fußball zusammen mit anderen. Aber ich möchte auch ein Tor schießen. Wenn allerdings ein anderer aus meiner Mannschaft die Möglichkeit hat, dann freue ich mich mit ihm.»
Bruder David: «Kann ich mich nicht auch freuen, wenn die andere Mannschaft ein Tor schießt? Geht es um das Besiegen der Gegenpartei oder um ein begeisterndes gemeinsames Spiel? Je besser ich spiele, desto mehr treibe ich den anderen an, noch besser zu spielen. Das wäre Konkurrenz, wie sie sein sollte, nicht wie sie ist.»
Johannes Kaup: «Das ist sozusagen Qualitätskonkurrenz und nicht Verdrängungskonkurrenz.»
Bruder David: «Ja! Das sind hilfreiche Begriffe in diesem außerordentlich schwierigen Bereich. Der eine Aspekt von Konkurrenz, die höchstmögliche Selbstverwirklichung, ist positiv zu bewerten und ist auch mit die Triebfeder für Entwicklung und Entfaltung.»
Johannes Kaup: «Das andere Verständnis der Konkurrenz scheidet die Menschen in die Erfolgreichen, die Gewinner, und die Verlierer auf der anderen Seite. Wir sehen das im Weltmaßstab: Manche Volkswirtschaften sind darauf angelegt, die übrigen abzuhängen. Das hat soziale Konsequenzen, wenn andere Nationen im Verlauf abgehängt werden in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Vom System her betrachtet, kann das nicht gesund sein.»
Bruder David: «Das System ist das Wichtige. Man muss auf das Ganze schauen und sehen, wie der Erfolg des Einzelnen im Rahmen des Ganzen wirkt. Im Rahmen des Ganzen ist das Sich-selbst-Übertreffen positiv zu werten, aber eine Selbstverwirklichung auf Kosten des anderen, das scheint mir im Großen gesehen das System nicht zu fördern.»
Johannes Kaup: «Vor allem, weil es von einer falschen Selbsterfahrung ausgeht, denn eigentlich sind wir immer von anderen, durch andere und auf andere hin.»
Bruder David: «Richtig. Diese Sichtweise auf die Dinge stammt schon von einem isolierten und abgetrennten, abgesonderten und daher sündigen Ich, vom Ego und nicht vom Ich-Selbst, das sich mit allen anderen verbunden weiß.»[2]
(Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1f.)
[Ergänzend:
Audio Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription des Vortrages:
(16:39) Was meinen wir mit Ego im Zusammenhang mit Ich und Ich-Selbst?
(20:41) Das Ich ist einzigartig ‒ das Selbst ist Eines. ‒ Wenn das Ich das Selbst vergisst, wird es zum Ego: Das Ich auf der langen fließenden Skala zwischen dem weit offenen lebensfrohen Ich-Selbst und dem ganz in sich verschrumpften kleinen Ego.
(26:44) Das Ego und die Folgen: Furcht, Gewalttätigkeit, Konkurrenzkampf, Gier:
(26:44) «Warum ist das Ego aber schlecht, was ist das Problem, wenn man vergisst, dass wir alle eins sind? Darum geht’s ja: Wenn man das Selbst vergisst, hat man vergessen, dass wir alle eins sind. Warum ist das so problematisch?
In dem Augenblick beginnt alles schief zu gehen.
Und zwar das Erste, das immer passiert, ist: Wir bekommen Furcht. Wir fürchten uns. Wenn ich glaube, dass ich jetzt allein bin ‒ man braucht sich ja nur einen Augenblick in dieses Ich jetzt einlassen und ganz wirklich versuchen, das Selbst ein bisschen auszublenden und zu vergessen, dann muss ich mich ja fürchten. Da sind diese ganzen Millionen und Milliarden von anderen Ich rund und mich herum: Wir haben nichts gemeinsam oder sehr wenig und jedes Ich ist die Mitte seiner Handlungen und seines Lebens. Da muss ich mich ja fürchten, dass die Anderen mir was antun.
Also das erste, was immer der Furcht entspricht, ist Gewalttätigkeit.
Ich muss mich wehren. Das ist ganz instinktiv und notwendig. Sobald ich das Selbst vergesse, muss ich mich wehren. Ich muss mich wehren, die Anderen könnten ja mir vorankommen, auf mich steigen, höher klettern als ich. Da beginnt der Konkurrenzkampf.
Furcht führt zu Gewalttätigkeit, führt zu Konkurrenzkampf, ich muss mich wehren gegen die Anderen, ich muss ihnen zuvorkommen ‒ Konkurrenzkampf ist ja auch ein Kampf ‒, und dann kommt der Kampf ums tägliche Brot. Und das artet aus in Gier, weil ich wieder Angst habe, Furcht, dass da nicht genug ist für so viele; um Himmelswillen! ‒ ist ja nicht genug. Da muss ich mich bereichern. Da muss ich schauen, dass auch für mich genug da ist.
Also alles, was in unserer Welt zum Verderben führt: zunächst die Furcht, dann die Gewalttätigkeit, dann die Konkurrenz ‒ der Konkurrenzkampf ‒, und dann die Gier: Das entspringt alles dem Ego. Und das in unserem persönlichen Leben.]
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[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 156f.
[2] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 169-171
Reich Gottes ‒ ‹auferstanden›
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Streng genommen kann es keinen äußeren Beweis für die Auferstehung geben, nur Indizien wie etwa das Zeugnis der ersten Christen oder das oben erwähnte Grabtuch von Turin.[1] Für ein Ereignis, das sich am Grat zwischen Zeit und Ewigkeit abspielt, kann es nur innere Beweise geben.
Wir wissen hier in der Zeit um etwas, was über die Zeit hinausgeht.
Das Leben des Auferstandenen gehört der Ewigkeit an, dem Jetzt, das alles Vorher und Nachher einschließt.
Jesus Christus ist «in Gott verborgen» (Kol 3,3).
Sein Leben ist in Gott aufgehoben, und zwar in dreifachem Sinn: in der Zeit ist es gelöscht; jenseits der Zeit ist es unzerstörbar bewahrt; zugleich ist es in Gottes Gegenwart hinein überhöht, so dass es im Geist der Liebe die ganze Welt durchwirkt.
Was man einen inneren Beweis nennen könnte, sieht so aus: Zu wissen, wofür Jesus lebte und sein Leben hingab, bedeutet, Gottes Weisheit und Macht darin zu erkennen.
Diese Weisheit ist aber nach weltlichem Ermessen Torheit, diese Macht Schwachheit. In der Sprache Martin Luthers:
«Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind» (1 Kor 1,25).
Gottes Autorität lässt sich aber nicht auf immer ignorieren. Es ist ja die Autorität der Liebe, um die es hier geht, und wir wissen im Innersten, dass dies die letztgültige Autorität ist.
Früher oder später ‒ am dritten Tag ‒ muss es sich erweisen: Liebe ist stärker als der Tod.
Wir wissen das in unserem Herzen, schon bevor das Zeugnis der Jünger von der Auferstehung es uns von außen her bestätigt.
Wie weit die Auferstehungstexte der Evangelien geschichtliche Berichte sein mögen, wie weit Bildersprache für etwas Unbegreifliches, ist diskutabel. Eines wissen wir jedenfalls:
Die Jünger erlebten das, was sie seine Auferstehung nannten als ein Ereignis, das ihr Leben von Grund auf veränderte.
Durch den Tod Jesu zerschmettert und mutlos gemacht, setzen sie sich kurze Zeit später (vielleicht nicht genau ‹am dritten Tag›) unbeirrt für die Ideale Jesu ein. Sie stehen vor den Obrigkeiten, die ihn zum Tod verurteilt hatten und sagen unerschrocken, ja, fast tolldreist:
«Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus, den ihr ans Kreuz gehängt und umgebracht habt, auferweckt. ... Und wir sind Zeugen dieser Ereignisse» (vgl: Apg 29-32).
Auch wenn das in diesen Worten erst am Ende des 1. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde, haben wir mit dem ersten Thessalonicherbrief schon aus dem Jahre 50 oder 51 ein schriftliches Zeugnis, das beweist, dass dieser psychologisch schwer erklärliche Umschwung kurz nach Jesu Tod stattgefunden haben muss.
Stellen wir uns einmal vor, dass ein Wissen um die äußeren Umstände, die den Glauben der Jünger an die Auferstehung und ihre darauf gründende Begeisterung auslösten, uns grundsätzlich versagt wäre. Würde uns das die Möglichkeit nehmen zu leben, wie Jesus lebte, ermächtigt von demselben Geist, der ihm Macht gab?
Wenn wir so lebten ‒ aus unserem Christus-Selbst heraus, dann könnte unser eigenes Lebenszeugnis ja als eine Art Beweis für sein Leben gelten ‒ hier und jetzt ‒ seinem Tod zum Trotz.[2]
Unsere polarisierte Welt fordert uns alle heraus, Brücken zu bauen statt Mauern. Für uns Christen wäre das zugleich ein Brückenschlagen auf die Kirche der Zukunft hin. Ein Blick auf Jesu Tod und Auferstehung kann uns das nahebringen.
Um die Gottesherrschaft mitten unter uns (Lk 17,21) aufzurichten, zog Jesus durch Galiläa und organisierte eine von der römischen Besatzungsmacht unterdrückte und ausgebeutete Unterschicht zur Selbsthilfe.
Er sandte auch Mitarbeiter aus (Lk 10,1), um das Reich Gottes ganz gezielt im Gegensatz zur Machtpyramide Roms als Vernetzung kleiner Netzwerke aufzubauen.
Trotz aller Gegensätze zwischen Kaiphas und Pilatus, saßen beide an der Spitze der Pyramide, die Jesus zu erschüttern drohte, wenn er sagte:
«Der Größte von euch soll euer Diener sein» (Mt 23,11).[3]
Die Gewalthaber machten also gemeinsame Sache und «eliminierten» den Revolutionär.
Jesus wurde als politischer Verbrecher hingerichtet. Die Kreuzesstrafe war ausschließlich Aufrührern und davongelaufenen Sklaven vorbehalten. Ihr Verbrechen: Sie unterminierten die Grundlage der römischen Machtpyramide. Und genau das hatte Jesus sich zuschulden kommen lassen.
Ein Jude verstand sich mit Gott durch seine Zugehörigkeit zum auserwählten Volk verbunden.
Da die höchste religiöse Autorität seines Volkes Jesus ausgestoßen hatte, mussten seine Jünger annehmen, dass er auch von Gott verdammt war.[4]
Aber das Umwerfende der Osterbotschaft war: Gott hat Jesus auferweckt und so das Herzstück seines Wirkens, die Aufrichtung der Gottesherrschaft gerechtfertigt.
Das sendet die Apostel als Zeugen für das Reich Gottes in alle Welt.
Ein Schlüsselwort der Auferstehungsbotschaft ist:
«Fürchtet euch nicht!» (Mk 16,6).
Auf Furcht setzt das Grundmodell der vorherrschenden Weltordnung: die Machtpyramide.
Bei Johannes heißt sie darum einfach «die Welt» – nicht die Welt, die Gott so sehr geliebt, sondern die Welt, die ihn nicht erkannt hat.
Von ihr sagt Jesus Christus:
«In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden» (Joh 16,33).
Auch für uns gilt:
«Dies ist der Sieg, der die Welt überwindet: unser Glaube» (1 Joh 5,4).
Der Auferstandene siegt durch gläubiges Vertrauen auf Gott über alle Furcht der Welt.
Furcht müssen wir dabei freilich von Angst unterscheiden. Angst ist unvermeidlich. Sie ist die Enge, in die uns das Leben immer wieder führt. Furcht sträubt sich und bleibt in der Angst stecken.
Der Glaube geht voll Vertrauen weiter und auch die engste Passage führt zu einer neuen Geburt.
Jesus selbst schwitzt Blut vor Todesangst (Lk 22,44), furchtlos aber vertraut er dem Vater und wird so zum «Erstgeborenen von den Toten» (Offb 1,5).
Furcht baut Mauern,
Vertrauen baut Brücken.
Beides ‒ und das ist die Tragik der Kirchengeschichte ‒ finden wir innerhalb der einen Kirche. Sie wurzelt in der Predigt Jesus vom Reich Gottes, verweltlicht aber zur Machtpyramide und baut Mauern von Furcht, Ausgrenzung und Habsucht.[5]
Eine katastrophale Entwicklung war es, dass die Kirche schon bald von der Netzwerkstruktur des «Reiches Gottes» auf die der Machtpyramide Roms zurückfiel. In ihr aber sprangen immer wieder Gruppen auf, die das ursprüngliche Ideal verwirklichten.
Ein Beispiel sind die ersten Jünger des heiligen Franziskus. Und jede Klostergemeinschaft ist ein Versuch «Reich Gottes» zu leben.
Überall in der Welt entstehen heute Gruppen, die oft vom «Reich Gottes» keine Ahnung haben, aber es doch verwirklichen, indem sie sich vom «Ich-Denken» zum «Wir-Denken» bekehren und für ihr Gemeinschaftsleben von der Natur lernen.
Ihre Ehrfurcht vor der Natur ist, ob sie es wissen oder nicht, Ehrfurcht vor Gott, der uns im innersten Mysterium der Natur begegnet.
Noch ist Zeit, diese kleinen Netzwerke zu einem weltumspannenden Netzwerk des «Wir-Denkens» zu verweben.
Wenn uns das gelingt, dann kann die ganze Menschheitsfamilie ein gemeinsames Alleluja singen.[6]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 5f.)
[Ergänzend:
2. Löwe Lamm und Kind (1992);
Vortrag:[7]
(37:15) «Wir können nicht genau sagen, worin sich die Auferstehung historisch ausgedrückt hat, wir wissen es nicht: war es das leere Grab, waren es Erscheinungen ‒ nichts davon ist letztlich zwingend, selbst wenn wir es historisch ganz genau festnageln könnten. Das Entscheidende daran ist, dass seine Jünger, die ihn verlassen haben, nach seinem Tod klar sehen: Er ist wirklich gestorben, er ist wirklich tot und siehe: Er lebt.
Und das wird auch wieder in dem Bild des Lammes ausgedrückt, das Lamm, das die Todeswunde trägt in der Apokalypse und doch lebendig ist.
Oder wie es in dem Osterhymnus heißt: ‹Agnus redemit oves›: ‹Das Lamm, das Opferlamm hat die Schafe erlöst.› Und zwar, weil er für uns und für unsere Entfremdung gestorben ist:
In der Art von Welt, die wir aufgebaut haben, muss jemand, der so lebt wie Jesus dafür sterben: Das ist das letzte Wort über die Autoritätskrise ‒, aber nur das vorletzte Wort, denn das letzte Wort ist das Wort von der Auferstehung:
Dieses Leben lässt sich nicht auslöschen.
Und das haben seine Jünger gesehen und das ist das Entscheidende an der Auferstehung und darum können wir uns nicht entschuldigen:
Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesu lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt.
Und dann ist das eine Herausforderung für uns: Für das Reich Gottes ‒ so kann man leben ‒, aus dieser Erfahrung der Zugehörigkeit kann man ein befreites Leben, ein erlöstes Leben leben, ein Leben des Zusammenwohnens von Löwe und Lamm, ein Leben, in dem alle eine Gemeinschaft teilen können.
Und das ist der Sieg des Löwen aus dem Stamme Juda, von dem es in Jesaja heißt (Jes 9,5): ‹Ein Sohn ist uns geboren, ein Kind ist uns geschenkt› und seine Namen zeigen das schon an:
‹Wunderbarer Ratgeber›: Einen solchen Sieg, einen Sieg, der aus der Schwachheit des Lammes entspringt, einen Sieg, der durch den Tod des Siegers errungen wird, das ist wunderbarer Rat, den hätten wir nie erfinden können.
Er heißt: ‹Wunderbarer Ratgeber›, ‹starker Gott›: Die Schwäche Gottes ist stärker als unsere Kraft.
‹Vater der Zukunft›: Nur darin liegt Zukunft überhaupt. Nur in diesem Zusammenbringen von Demut und Glorie, in diesem Sieg des Löwen und des Lammes liegt die Zukunft.
Und ‹Fürst des Friedens›. Aber eines Friedens, wie ihn die Welt nicht gibt.
Ich darf vielleicht mit einem Erlebnis abschließen, das immer wieder mich daran erinnert, es hat sich schon vor vielen Jahren ereignet, dass dieses Friedensreich, in dem das Kind Lamm und Löwe zur Weide führt, ja nicht erst am Ende der Zeiten sich ereignen wird, sondern jetzt schon unter uns aufbricht. ‹Das Himmelreich ist mitten unter uns› (Lk 17,21), wie Jesus sagt.
Und zwar war ich da auf einer Tagung, bei der Vertreter der verschiedenen Religionen teilnahmen: verschiedene Gruppen von Christen, Buddhisten, Hindus, Muslimen, Sufis, Juden, und einer der jüdischen Rabbis steht auf und erzählt aus der chassidischen Tradition ‒ das war ein wunderbares Erlebnis ‒ folgende Geschichte und der Rahmen gibt dem Ganzen erst das Gewicht:
Einer unserer großen Meister hat mit seinen Jüngern gemeinsam den Sabbat gefeiert und die Begeisterung und das Zusammensein hat einen solchen Gipfel erreicht, dass der Lehrer plötzlich einen der Schüler wegschickt und sagt: ‹Geh schnell zum Fenster und schau, ob der Messias nicht schon gekommen ist, das Friedensreich nicht schon angebrochen ist›. Und der Schüler geht zum Fenster und schaut hinaus, und draußen geht alles so vor sich wie bisher, man kauft und verkauft … Dann kommt er zurück und sagt: ‹Leider keine Rede vom Kommen des Messias›. Und da sagt ein anderer zu dem Meister: ‹Aber Rabbi, wenn der Messias wirklich gekommen wäre, müssten wir dann zum Fenster hinausschauen? Würden wir es nicht gleich hier bemerken›? Worauf der Rabbi sagt: ‹Aber hier ist er ja schon gekommen.›»[8]
3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Nur die dichterische Sprache ist tragfähig genug, um so viel Wahrheit zu tragen›: Das Glaubensbekenntnis im Licht der großen Menschheitsmythen:
(40:55) ‹Warum sucht ihr den Lebenden bei den Toten›? (Lk 24,5) ‒ ‹Wenn es sich hier davon handelt, von dem zu erzählen, der das Leben ist und der uns die Antwort darauf gibt, was Leben heißt, ist die einzige Form, die sich dafür anbietet, der Mythos vom Helden.›
(44:05) Vergleich mit der früheren Deutung der Auferstehung: ‹Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott› (Kol 3,3)]
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[1] Im Credo (2015), 133-137 und 152f. im Zusammenhang mit der Frage: ‹Wurde Jesus begraben? und: ‹welche äußeren Ereignisse könnten den Auferstehungsglauben der Jünger ausgelöst ‒ nicht bewirkt! ‒ haben?› gibt Bruder David einen Überblick zu den Forschungsergebnissen in Bezug auf auf das Sindon, das Grabtuch von Turin, wie auch auf das Sudarium (= Schweisstuch) von Oviedo, und bemerkt: ‹Zwingende Beweise, dass Sudarium und Sindon zusammengehören, werden sich kaum erbringen lassen, auch nicht der Nachweis, dass das Sindon das Grabtuch Jesu ist …›.
[2] Credo (2015), 151f. und 154
[3] Siehe auch Mk 10, 42-44; Lk 22,25f.
[4] Ausführlich in Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›: Ergänzend: 1. (Text), 3.1.-3.2. (Audios) und Anm. 6: Verweis auf Galaterbrief 3,13 und 5 Mose 21,23
[5] Brücken statt Mauern (2017)
[7] siehe auch die Transkription des Vortrags (25:21-36:05) in Jesus zu Beginn des Textes mit Quellenangabe in Anm. 5
[8] Siehe auch den Bericht von Bruder David im Buch Ich bin durch Dich so ich (2016), 98, in Reich Gottes: Ergänzend: 1.2. (Audio)
Heiliger Geist – Vernetzung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Vernetzung ist ein Begriff, der mir persönlich hilft, dem Wirken dessen in der Welt näher zu kommen, was das Credo den Heiligen Geist nennt. Freilich sollten wir von einem Begriff nicht allzu viel erwarten; er hilft uns bestenfalls zu intellektueller Klarheit.
Wahre Einsicht muss auf persönlicher Erfahrung gründen.
Da wir in jedem Augenblick Vernetzung erleben, fällt sie uns meist gar nicht mehr auf. Alles ist ja mit allem vernetzt.
Es kann also hilfreich sein, ein Beispiel zu wählen, bei dem uns eine ganz erstaunliche Vernetzung bewusst wird. C. G. Jung spricht da von Synchronizität. Wir erleben gewisse Ereignisse als bedeutungsvoll miteinander vernetzt, ohne dass sie wie Ursache und Wirkung verbunden wären.
Die meisten Menschen können sich an synchronistische Erlebnisse erinnern. Als Anregung für Erinnerungen der Leserinnen und Leser möchte ich hier von einer meiner eigenen berichten. In den Neunzigerjahren durfte ich am Schumacher College im Südwesten Englands unterrichten. Die umliegenden Teile der Provinz Devon bieten besonders reizvolle Gelegenheiten für Wanderungen. Es traf sich, dass ich zwei aufeinander folgende Tage frei hatte, und William Thomas, ein Mitarbeiter, mit dem ich mich dort angefreundet hatte, bot sich als Führer an für einen Streifzug durch das herrlich wilde Hochland des nahegelegenen Naturschutzparks.
Wir sprachen über vielerlei, als wir so miteinander durch eine Landschaft von karger, rauer Schönheit wanderten und da kam das Gespräch auch auf Synchronizität. William erzählte mir von einem Lehrer aus Indien, der sich in den Straßen von London um körperlich und geistig «gebrochene» Menschen annahm, wie er das ausdrückte. Es traf sich nun, dass William eine ganze Liste von Bezeichnungen für Schmetterling in verschiedenen Sprachen zusammengestellt hatte ‒ butterfly, mariposa, farfalla, papillon ‒ und so fragte er diesen Lehrer, wie man den Schmetterling in Indien wohl nenne. «Warte», sagte der, «ich habe den Dialekt, mit dem ich in Indien aufwuchs, schon so lange nicht mehr gesprochen; was war nur unser Wort für Schmetterling? Schmetterling …»
In diesem Augenblick, so erzählte William weiter, kam, wie auf den Ruf des Lehrers hin, ein Schmetterling da mitten in London, und setzte sich dem Lehrer auf die Brust. Noch dazu hatte dieser Schmetterling einen gebrochenen Flügel, wie um die «gebrochenen» Menschen zu verkörpern, die dem Herzen des Lehrers so nahe standen.
Ein eindrucksvolles Beispiel von Synchronizität. Was sich aber während Williams Erzählung ereignete, war noch eindrucksvoller. Auf unserer ganzen Wanderung hatten wir noch keinen Schmetterling gesehen, aber während William sprach, bemerkte ich, dass einer auf uns zugeflattert kam. Im Augenblick als er erzählte, «und der Schmetterling setzte sich dem Lehrer auf die Brust», schwebte unser eigener Schmetterling direkt vor mir und ‒ «Nein, nein, das kann doch nicht sein!» schrie alles in mir ‒ er setzte sich mir aufs Herz.
«Vernetzung» war auch für Thomas Mertons theologisches Denken ein wichtiger Begriff. Seine Erfahrung als Mönch hatte ihn gelehrt, dass der Heilige Geist alles mit allem vernetzt. Kurz vor seiner Reise in den Fernen Osten, von wo er nicht zurückkehren sollte, verbrachten wir gemeinsam einige Tage in einem Kloster in Nordkalifornien.
Das Thema Vernetzung war in unseren Gesprächen lebendig geworden, und jetzt stand Merton zur Eucharistiefeier am Altar der Kapelle. Die Wand hinter dem Altar war ganz aus Glas, ein einziges großes Fenster mit Ausblick auf eine von Mammutbäumen umstandene Lichtung. Sonnenlicht strömte in leuchtenden Farben schräg durch die Kronen der uralten Bäume herab. Das Tagesevangelium sprach vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest. Niemand konnte voraussehen, wie dramatisch die Vernetzung zwischen dieser Frohbotschaft und der Natur da draußen sich uns bald darauf darstellen sollte ‒ die Vernetzung zwischen Liturgie und instinktivem Verhalten, zwischen einem Ritual von uns Menschen und einem von Insekten.
Zur Zeit der Kommunion entfaltete sich vor uns ein erstaunliches Schauspiel: Völlig gleichzeitig mit unserer Kommunionsprozession in der Kapelle setzte sich draußen eine zweite in Bewegung, eine Hochzeitsprozession fliegender Ameisen ‒ tausende im Abendlicht glitzernder Flügelchen zogen über die Waldlichtung. In solchen Augenblicken weckt uns das Wunder der Vernetzung auf, und wir sind hellwach.
Jedoch selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, ereignet sich ununterbrochen die geheimnisvolle Vernetzung aller Dinge und Ereignisse um uns und in uns.
Weil Gott Liebe ist, und Liebe das gelebte «Ja» zur Zugehörigkeit, und Zugehörigkeit die Innenansicht sozusagen von dem, was wir von außen betrachtet «Vernetzung» nennen, dürfen wir sagen, dass der Heilige Geist die innigste Vernetzung von allem mit allem bewirkt.
Und weil Jesus Christus das «Ja» der Liebe zu vorbehaltsloser Zugehörigkeit vorbildhaft verwirklichte, dürfen wir ihn im Credo als «Empfangen durch den Heiligen Geist» bekennen.
Gewiss: das ist poetische Sprache; aber auf welche Weise sollten wir es denn sonst ausdrücken? Wir dürfen diese dichterische Ausdrucksweise nur nicht wörtlich nehmen. Carl Friedrich von Weizsäcker soll gesagt haben, man habe die Wahl, die Bibel wörtlich zu nehmen ‒ oder ernst. Wir wollen sie ernst nehmen. Dann werden wir uns aber nicht um ihre schwerwiegenden Anforderungen herumdrücken können.
Wir werden uns tief bewegt finden von der Kraft und Zartheit, der revolutionären Leidenschaftlichkeit und dem leidenschaftlichen Pazifismus Jesu Christi, der tatsächlich Gottes Lebensatem zu atmen scheint.
Dann wird das Beste in uns angefeuert werden durch sein Beispiel und seinen Geist in uns, den dieses Beispiel weckt.
Vernetzungen im Heiligen Geist sind nicht mechanisch zu verstehen. Die Verknüpfungen eines Fischnetzes oder selbst die Verbindungen in einem Cyber-Netzwerk bieten nur unzulängliche Bilder. Wir sollten eher an die Herzensverbindungen denken, die wir auf einem Hochzeitsfest feiern.
Wenn wir Beziehungen von Liebe und Freundschaft, von Treue und Vertrauen anknüpfen, dann können wir den Pulsschlag des Geistes in unseren Herzen fühlen.
In solchen Augenblicken beginnen wir zu ahnen, wie jene Welt aussehen könnte, nach der der Heilige Geist in uns sich sehnt.
Aber für diese Welt gibt es keinen im Voraus festgelegten Plan. Alles ist Improvisation. Jeder Einzelne von uns darf da mitträumen; wir sind Mitschöpfer.
Jesus erahnte Gottes Traum für die Welt und sprach vom Reich Gottes.
Dadurch dass wir uns um ein Herzensnetzwerk bemühen, tragen wir dazu bei, diesen Traum zu verwirklichen.
Und Du? Hast Du einmal Vernetzungen erlebt, die von Dir die Ausweitung eines zu engen Bewusstseins verlangten?
(Ich habe Beispiele dieser Art angeführt, als Fingerzeig auf noch weit tiefere Vernetzungen von allem mit allem im Heiligen Geist.)
Wenn Du die Kindheitsgeschichten Jesu bei Matthäus und Lukas als Aussagen über den erwachsenen Jesus liest, fühlst du dich bereichert, oder von etwas beraubt, das dir lieb war? Oder ein bisschen von beidem?
Wer außer Jesus kommt Dir in den Sinn, wenn Du daran denkst, dass der Heilige Geist Menschen braucht, um Herz mit Herz zu verknüpfen?
(Denke dabei nicht nur an die Heiligen der verschiedenen religiösen Traditionen, sondern auch an große Künstler, Erfinder, Diplomaten, Musiker, Autoren ...)
Kennst Du Vernetzungsbemühungen (vielleicht mit Hilfe des Internets), die durch den Heiligen Geist inspiriert zu sein scheinen?
Wenn wir um uns schauen, so erleben wir die Welt als sinnträchtig: schwanger mit Bedeutung. Jedes Ding sagt etwas aus ‒ manchmal so überwältigend wie ein sommerliches Gewitter, manchmal so zart wie ein Kücken, das soeben aus dem Ei geschlüpft ist.
In jedem Ding spricht uns etwas an, wenn auch nicht in Worten und Begriffen, so doch unserem Herzen vernehmlich.
Diese Erfahrung ist uns zugänglich; wir müssen nur unsere Scheu überwinden, und ‒ Selbsttäuschung vermeidend ‒ ein wenig introspektiv experimentieren.
Wir sollten vielleicht ein paar stille Minuten ohne Ablenkung mit einem Stein oder einer Blume verbringen und uns Rechenschaft darüber geben, was wir da erleben.
Hinter den Dingen begegnen wir einer Gegenwart, die uns «entgegenwartet», wie Rilke es ausdrückt: einer Gegenwart, die uns etwas sagt, oder schweigend auf unsere Antwort wartet.
Diese allgemein menschliche Erfahrung steht hinter dem «Gott sprach … und es ward» im biblischen Schöpfungsbericht. Wir haben es mit einem dichterischen Ausdruck zu tun, dafür dass jedes Ding und jede Begebenheit als Wort verstanden werden kann. Ein horchendes Herz weiß sich von Gott angesprochen in allem, was es gibt.
Auch in unserer Alltagserfahrung können wir diese große Gegenwart spüren.
In der Begegnung mit der Wirklichkeit wird uns nämlich etwas wie Vertrauenswürdigkeit bewusst, besonders in der Ordnung der Natur.
Es ist also nicht unvernünftig, wenn der Theologe H. Richard Niebuhr von «Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge» spricht.
In allem, was es gibt, spürt unser horchendes Herz den Pulsschlag einer großen Gegenwart, auf die wir uns gläubig verlassen dürfen.
Und je mehr wir uns darauf verlassen, umso mehr erfahren wir tatsächlich diese Verlässlichkeit.
Auch das kann jeder Mensch selber nachprüfen, und es führt folgerichtig zu Dankbarkeit.
[Credo (2015): ‹Empfangen durch den Heiligen Geist›: ‹Persönliche Erwägungen›, 89-92, 54f.]
[Ergänzend:
«Wir können unser Denken zu einem Werkzeug dieser schöpferischen Intelligenz machen, die stetig die Welt hervorbringt und erhält. Wenn wir uns dieser gütigen Kraft bereitwillig öffnen, hat sie die Kraft alles zu ändern, was nicht mit ihr in Einklang ist.»
2. Osterbrief 2023:
«Jesus hat ein Zusammenleben gelehrt, das er ‹Reich Gottes› nannte, das wir aber auch ‹Gotteshaushalt› nennen könnten, Gemeinschaftsleben, das dem Gemeinsinn der Vögel näher steht, als der Gesellschaftsordnung seiner und unserer Zeit. Er sagte: ‹Schaut euch die Vögel des Himmels an› (Mt 6,26) und baute eine auf ‹Wir-Denken› gegründete Gemeinschaft: Das ‹Reich Gottes›. Es war, wie wir heute sagen würden, ‹der Natur nachgebildet› ‒ der Natur, in deren innerstem Mysterium wir ‹Gott› begegnen. Dafür lebte und dafür musste er sterben, denn die Machtpyramide des ‹Ich-Denkens› erkannte, dass sie an ihrer Wurzel bedroht war.»
3. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 300:
«Einer der frühen Kirchenväter hat schon deutlich gesagt: ‹Wenn es wahr ist, frag nicht, wer es gesagt hat. Die Wahrheit kommt immer vom Heiligen Geist›. Wenn wir das nur auch heute noch wüssten!»
Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch zur Frage:
(27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)
4. Erinnerungen an die letzten Tage von Thomas Merton im Westen (1968); siehe auch Kosmische Intelligenz Ergänzend: 2.:
«‹Das Wichtigste ist, dass wir hier sind, in einem Haus des Gebets. Hier gibt es eine wahre und echte Verwirklichung des zisterziensischen Geistes, eine Atmosphäre des Gebets. Genießt es! Nehmt es in euch auf. Alles, die Redwood-Wälder, das Meer, den Himmel, die Wellen, die Vögel, die Seelöwen. In all dem werdet ihr eure Antworten finden. Da ist alles vernetzt›. (Die Vorstellung der ‹Vernetzung› war für Thomas Merton von geheimnisvoller Bedeutung.)
… An diesem Tag hatten wir als Evangelium das Gleichnis vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest gehört. Gleichzeitig mit dem Kommuniongang begannen fliegende Ameisen durch den ganzen Wald auszuschwärmen und erhellten ihn mit Zehntausenden von glitzernden Flügelchen wie in einem Hochzeitszug. Alles ‹vernetzt›.
Dort zu beginnen, wo du bist und dich der Vernetzungen bewusst zu werden, war Thomas Mertons Zugang zum Beten.»
5. Der Anspruch von Menschen und Tieren (1994):
Audio: Archetypen (C.G. Jung)[1] und das Erleben von Schamanen
Audio: Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze
Audio: Eine Kosmologie, die unser Leben bereichert]
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[1] C. G. Jung: «Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.» [Quelle: Synchronizität (Wikipedia)]
Sehen ‒ schöpferisches Schauen
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
«Augen ‒ was für ein staunenswertes Ergebnis der Evolution! Welch erschütterndes Ereignis ist ihre einmalige Entstehung, wie verblüffend ihre mehrmalige! Die Vielfalt von Augen in der Natur: welch Zeugnis unerschöpflicher Kreativität!
Was für ein einzigartiges Geschenk ist mein eigenes Augenlicht. Alle paar Sekunden erblindet ein Mensch irgendwo, meist in armutsgeprägten Ländern, an Augenkrankheiten, die durch einfache Mittel vermeidbar oder heilbar wären. Neun von zehn Menschen, die blind sind, müssten es nicht sein. Beim Augenaufschlagen am Morgen schon will ich daran denken. Unermüdlich will ich Elend bekämpfen.
Wie könnte ich sonst anderen überhaupt noch in die Augen schauen? Wie könnte ich Augenblick für Augenblick Auge in Auge mit Dir stehen?
‹Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens, in Deinem Licht schauen wir das Licht.›[1] Amen»[2]
Der kürzeste Weg von unseren Sinnen zum Sinn führt wohl über die Dankbarkeit.
Unsere Sinne führen uns hinaus in die Vielfältigkeit, weiter und weiter. Es ist ein wundervolles Abenteuer.
Aber wir können uns in der Vielfalt verlieren, wenn wir nicht jene heilige Einfalt finden, die uns tiefer und tiefer führt und alles zusammenhält.
Dazu verhilft uns die Dankbarkeit. Die Einfalt der Dankbarkeit ist ganz und gar nicht einfältig, im Sinne von Beschränktheit.
Sie ist mit Arglosigkeit verwandt, mit Ehrfurcht und mit Weisheit.
Weil sie arglos ist, geht sie heil durch den Dornwald argwöhnischen Misstrauens.
Arglos erkennt die Dankbarkeit jeden Augenblick mit allem, was er enthält, als Geschenk.
In Ehrfurcht anerkennt sie in (und zugleich jenseits von) allen Gaben den Geber. Preisend bekennt sie, dass alles Gnade ist.
Ergriffen von dieser Einsicht, führt die Dankbarkeit zu jener Weisheit, von der der Heilige Bernhard sagt:
«Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.»
In Dankbarkeit können wir vom Erkennen der Gabe zum Anerkennen des Gebers und von da zum preisenden Bekennen der Gnade fortschreiten und so durch unsere Sinne Sinn finden.
So reift unser Schauen: von einem Frühling, in dem wir arglos die Gabe als Gabe erkennen, zu einem Sommer, in dem wir den Geber ehrfürchtig anerkennen, und endlich zu einem Herbst, in dem wir die Gnade preisend bekennen.
In dieser Ernte weiser Preisung findet alles erst seinen Sinn.
Denn jede Gabe findet ihre Vollendung erst, wenn sie dankbar empfangen wird. Dann erst schließt sich sinnvoll der Kreis.
In Dankbarkeit ausgereiftes Schauen ist schöpferisch: Es gibt dem, was die Sinne empfangen, erst seinen Sinn.
Alle unsere Sinne können und sollen so bräutlich werden, indem sie die Jahreszeiten der Dankbarkeit durchlaufen.[3]
Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los ...
Rilke, Das Stunden-Buch
Das «Stop» ‒ der Bruchteil eines Augenblickes, in dem wir innehalten ‒ genügte, um unser Schauen ‹reifen› zu lassen, und jetzt kann wahr werden, was unser Dichter in eines seiner schönsten Bilder fasst:
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Alles, dessen wir innewerden, kommt wie eine Braut auf uns zu. Und wie begegnen wir diesem bräutlichen Entgegenkommen des Lebens?
Meist wird uns gar nicht bewusst, wie unsanft, ungeduldig, ja geradezu unverschämt und gewalttätig wir alles, was uns unter die Augen kommt, an uns reißen, einfach durch die Härte, mit der wir es anblicken.
Wir können jedoch lernen, mit sanften Blicken alles, was wir sehen, zu umarmen, wie ein Bräutigam die Braut umarmt ‒ und sich von ihr umarmen lässt.
Dann werden wir die Gelegenheit, nach der wir mit unsrem «Look» Ausschau halten, nicht in erster Linie als Möglichkeit verstehen, alles, was das Leben uns in diesem Augenblick schenkt, auszunutzen.
Es würde uns vielmehr darum gehen, es auszukosten.
Hier stoßen wir wieder auf eine oft übersehene Unterscheidung, die im abendländischen Denken unter dem lateinischen Begriffspaar «uti» (nutzen) und «frui» (auskosten) schon lange eine wichtige Rolle spielt.
Wenn wir lernen, diese beiden Lebenshaltungen ‒ denn das sind sie letztlich ‒ zu unterscheiden und zugleich zu verbinden, dann kann unser «Look», unser Innewerden, sich zu einem wahren Fest entfalten: zur Feier des Lebens.
Nicht nur unsre Augen können diese Haltung erlernen. Das «Look» hier nur aufs Schauen zu beschränken, wäre ein Missverständnis. Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet.[4]
Das Menschenherz ist das Organ der Sinnfindung. Mit dem Herzen horchen wir.
Mit dem Herzen können wir aber auch schauen.
Mit dem Herzen können wir wie Spürhunde Wind bekommen und einer Fährte folgen; können im Dunkeln tasten; können dankbar kosten vom Festmahl, das uns bereitet ist.
Das Herz ist wahrhaft Kreuzweg all unserer Sinne.
Am geläufigsten sind uns die Redewendungen, in denen dem Herzen ein inneres Schauen zugeschrieben wird.
Wir sprechen z. B. von den Augen des Glaubens, die doch nur Augen des Herzens sein können.
Sie schauen durch alle Äußerlichkeiten hindurch auf das Wesentliche.
Sie sehen, wie im Unscheinbarsten das Leuchten göttlicher Herrlichkeit aufstrahlt.
Sie erkennen im tiefsten Grund aller Dinge eine Treue, der wir vertrauen dürfen.
Wir sprechen auch von den Augen der Hoffnung, die noch größere Sehkraft besitzen. Sie sehen selbst in der Finsternis der Gottesferne Gottes Gegenwart.
In der Liebe geht das Herz aber noch über den Glauben und die Hoffnung hinaus. Die Augen der Liebe sehen, was es noch gar nicht gibt, weil das Schauen des Herzens ein schöpferisches Schauen ist. Wir meinen, die Liebe sei blind. Aber sie drückt nur ein Auge zu, dem Kind zuliebe, wie eine Mutter. Mütter übersehen gern vieles, um des Einen willen, das noch seine Möglichkeit ist.
Und wer so angeschaut wird, der wächst in diese Möglichkeit hinein. Das Herz hat die Augen einer Mutter.
Gerade deshalb aber hat das Herz auch jungfräuliche Augen.
Es ist noch offen für unbegrenzte Möglichkeiten.
Nur die Augen der Jungfrau können das Einhorn sehen, «das Tier, das es nicht gibt», wie die Gobelinstickerinnen in Rilkes Sonett.
O dieses Tier, das es nicht giebt.
Sie wusstens nicht und habens jeden Falls
‒ sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals,
bis in des stillen Blickes Licht ‒ geliebt.
Zwar w a r es nicht, Doch weil sie’s liebten, ward
ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.
Und in dem Raume, klar und ausgespart,
erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum
zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,
nur immer mit der Möglichkeit, es sei.
Und die gab solche Stärke an das Tier,
dass es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.
Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei ‒
und war im Silber-Spiegel und in ihr.
Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, IV
So schöpferisches Schauen ist Vollendung, nicht Anfängerübung. Wir dürfen nicht erwarten, das Einhorn zu sehen, wenn wir uns nicht einmal einen Laufkäfer gründlich anschauen, der uns über den Weg läuft. Das Schillern seines Panzers hatte ich schon lange bewundert. Aber erst eine Bemerkung von C. S. Lewis hat mir die Augen geöffnet für das irgendwie Altmodisch-Komische dieses langbeinigen Geschöpfes, das alle beweglichen Bestandteile außen hat, wie eine Eisenbahnlokomotive aus dem vorigen Jahrhundert.
Aber, um so etwas zu bemerken, müssen wir uns Zeit lassen.
Es genügt nicht, dem kaum Beachteten schnell eine Bezeichnung zu geben, es sozusagen mit einer Inventarnummer abzufertigen.
Wir müssen anschauen, was uns unterkommt.
Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen.[5]
Mögest du die kleinen Wegweiser des Tages
nicht übersehen:
den Tau auf den Grasspitzen,
den Sonnenschein auf deiner Tür,
die Regentropfen im Blumenbeet,
das behagliche Buckeln der Katze,
das Wiederkäuen der Kuh,
das Lachen aus Kinderkehlen,
die schwielige Hand des Nachbarn,
der dir einen Gruß über die Hecke schickt.
Möge dein Tag durch viele kleine Dinge
groß werden.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-6]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(18:34) «Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.
Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: ‹Überrasche mich!›, dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.
(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne soviel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.
(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.
(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.
(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.
Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(15:33) Rilke im ‹Schmargendorfer Tagebuch› (1898) über die Sinnlichkeit und unsere fünf Sinne – Unsere fünf Sinne und Arjuna (Bhagavad Gita) – ‹Ich lerne sehen› … (‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge›) / (20:08) ‹Der Panther› (Rilke, Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 127) – ‹Archaïscher Torso Apollos› (Rilke, Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 38-40) / (28:29) ‹In deinem Lichte sehen wir das Licht› (Psalm 36,10) – ‹Selig, die reinen Herzens sind› (Mt 5,8) – ‹Hast du deine Schwester gesehen, hast du deinen Bruder gesehen: du hast deinen Gott gesehen› – Schauen und lächeln:
Rilke aus Gesprächen und hinter ihnen: (Sinnlichkeit. Zufall. Vergessen.) (‹Schmargendorfer Tagebuch›):
«Dass die Sinnlichkeit nicht eine heimliche Flamme, die immer an der gleichen Stelle ausbricht, sei ‒ das sei unser Stolz und unsere Stärke. Wir wollen, sie soll eine fröhliche Fackel werden, die wir lachend hinter alle Transparente unseres Wesens halten.»
Rilke zu Beginn seines Romans ‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge›:
«Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.»
«Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.»
2.2. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011):
Sehen lernen:
(00:00) Mit dem Auge des Glaubens schauen heißt, sich auf das Leben verlassen (04:12) Hinweis auf Teilhard de Chardin / (43:48) ‹Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt› (Goethe) / (48:22) Hellsichtig sein, feinfühlig, sensibel: Sehen lernen Schritt für Schritt / (56:47) Lernen, erleben, erfühlen, mit den Augen des Glaubens zu schauen, sich zu sammeln, langsamer zu werden / (01:02:35) Mit den Augen des Herzens sehen, was die Augen nicht sehen können: ‹Hast du deine Schwester gesehen, hast du deinen Bruder gesehen, dann hast du deinen Gott gesehen› ‒ Einander wie mit den Augen einer Mutter anschauen: ‹Das kannst du doch› schafft Raum, in den wir hineinwachsen können ‒ Sich an Träume erinnern
(01:08:27) Musik (Hannelore und Bruder Thomas) ‒ Einsichten, Fragen der Anwesenden:
(01:11:10) Augen und Ohren ‒ sehen und hören / (01:14:07) Das Kind werden, das wir sind / (01:15:11) Der Discipulus, der Schüler in der Pupille des Lehrers ‒ benediktinische Disziplin / (01:16:49) Sich in die Augen schauen ‒ ‹Was bedeutet zähmen›? Von Antoine de Saint-Exupéry lernen / (01:20:07) Virtuelle Kontakte / (01:24:43) Ich und Selbst ‒ Schauen und Einsicht: die göttliche Wirklichkeit in uns / (01:27:17) ‹Wenn Gottes Auge alles sieht› / (01:28:52) ‹Augen, meine lieben Fensterlein› (Gottfried Keller)
(43:48) Johann Wolfgang Goethe: ‹Lynkeus der Türmer› (‹Faust: Der Tragödie zweiter Teil›):
«Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
Ich seh in der Näh
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir’s gefallen,
Gefall ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!»
(01:28:52) Gottfried Keller: ‹Abendlied›:
«Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.
Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.
Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!»
2.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(24:35) Durch die Sinne zum Übersinnlichen: ‹Öffne deine Augen, neige dein Ohr› ‒ Gott spricht in jedem Augenblick
2.4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Schauen, Ansehen, Einsehen]
________________________
[1] Psalm 36,10
[2] Erwachende Worte (2023): ‹28 Augen›, 73
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Die Dankbarkeit der fünf Sinne› (2021), 53, 59f.
[4] Orientierung finden (2021), 103f.
[5] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch, hrsg. von Margrit und Rüdiger Dahlke (1996), 269-271; Quelle: Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Der Dreischritt des horchenden Herzens› (2021), 36-39
[6] Geleitwort zum Buch von Angela Römer-Gerner: Möge deine Seele voll sein von Leben (2013), 6
Teilhard de Chardin: ‹Das göttliche Milieu›
[Le milieu divin]: ein Entwurf des innern Lebens›[1]
«Wir müssen jedoch sehen ‒ die Dinge sehen, wie sie sind, wirklich und eindringlich. … Machen wir, es lohnt die Mühe, die heilsame Übung, die darin besteht, im Ausgang von den personalisiertesten Bereichen unseres Bewusstseins die Verlängerung unseres Seins durch die Welt hindurch zu verfolgen. Wir werden aufs höchste erstaunt sein, wenn wir die Ausdehnung und Innigkeit unserer Beziehungen zum Universum feststellen.
Die Wurzeln unseres Seins? Sie tauchen doch zunächst in die unauslotbarste Vergangenheit ein. Wie groß ist das Geheimnis der ersten Zellen, die der Hauch unserer Seele eines Tages überbeseelt hat! Welch unentzifferbare Synthese aufeinanderfolgender Einflüsse, in die wir für immer einverleibt sind! Durch die Materie findet in jedem von uns zu einem Teil die ganze Geschichte der Welt ihren Widerhall. So autonom auch unsere Seele sein mag, sie ist Erbin einer vor ihr durch die Gesamtheit aller irdischen Energien wunderbar ausgearbeiteten Existenz: sie begegnet und verbindet sich dem Leben auf einer bestimmten Stufe. ‒ Kaum aber ist sie an diesem besonderen Punkt in das Universum hineingenommen, fühlt sie sich ihrerseits von dem Strom der zu ordnenden und zu assimilierenden kosmischen Einflüssen belagert und durchdrungen. Blicken wir um uns: die Wellen kommen von überall her und aus der Tiefe des Horizonts. Durch alle Öffnungen überflutet uns das Sinnenhafte mit seinen Reichtümern: Speise für den Leib und Nahrung für die Augen, Harmonie der Töne und Fülle des Herzens, unbekannte Phänomene und neue Wahrheiten, all diese Schätze, alle diese Reize, all diese Anrufe durchdringen, von allen Himmelsrichtungen aufsteigend, in jedem Augenblick unser Bewusstsein. Was wirken sie in uns? Was werden sie dort tun, selbst wenn wir, schlechten Arbeitern gleich, sie passiv oder gleichgültig aufnehmen? Sie werden sich in das innigste Leben unserer Seele mischen, um sie zu entwickeln oder zu vergiften. Beobachten wir uns eine Minute lang, und wir werden davon bis zur Begeisterung oder bis zu Beklemmung überzeugt sein.» (40f.)
«Uns ist kaum bekannt, in welchem Maße oder in welcher Gestalt unsere natürlichen Fähigkeiten in den endgültigen Akt der Schau Gottes eingehen werden. Doch kann es kaum einen Zweifel darüber geben, dass wir uns hier unten mit der Hilfe Gottes die Augen und das Herz geben, aus denen eine letzte Transfiguration die Organe eines Anbetungsvermögens und einer Fähigkeit zur Seligkeit machen wird, die jedem von uns eigentümlich sind.» (42)
[1] Olten, Walter-Verlag 91982, 40f., 42:
Zeit der großen Glocken
Film und Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - pixabay
(Film 25:01) T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.
(27:14) Die Zeit um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.
(46:10) Das Tönen der Glocke
misst die Zeit, die nicht die unsere ist, sondern eine, die geläutet wird
von der gemessenen Flut, eine Zeit,
älter als die der Uhren, älter
als die Zeit, wie sorgende Frauen sie zählen,
die wachliegen nachts und die Zukunft berechnen
zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn die Vergangenheit Trug ist,
und die Zukunft nicht künftig vor der Morgenwache,
wenn die Zeit einhält und endlos sich dehnt;
Und die Flut, die heute wie von jeher anschwillt,
läutet
die Glocke.[1]
Losgelöstheit macht uns bedürfnisloser. Je weniger wir haben, umso leichter ist es das, was wir haben, zu würdigen.
Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt.
Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen.
Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse …
Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten.
Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße.
Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit.
Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt.
Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, das die Grundlage dieses Trainings bildet, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist», wie T. S. Eliot es ausdrückt.[2]
In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist» zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒ «jetzt und in der Stunde unseres Todes».
«Und die Todesstunde ist jeder Augenblick», in dem wir wirklich hinhorchen, ist «Augenblick in und außer der Zeit».[3]
Die Askese des Raumes des fördert die Loslösung in Bezug auf den Ort, wo immer wir auch seien. Ihr Ziel ist,
da wirklich gegenwärtig zu sein,
wo wir gerade sind.
Dies ist der erste Schritt ‒ und wie oft gelingt er uns nicht!
Wir sind uns selbst voraus oder bleiben hinter uns zurück. Vielleicht aber schauen wir weder voraus in eine Zukunft, die noch nicht da ist, noch halten wir an einer Vergangenheit fest, die schon vorbei ist ‒ und sind doch nicht in der Gegenwart.
Wir sind hier und doch nicht hier, weil wir nicht wach sind.
Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.
Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?
Jetzt, hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.
Ob die Mönche auf dem Feld arbeiten oder auf Reisen sind, wo immer sie auch sein mögen, wenn es Zeit zum Gebet ist, dort sollen sie ehrfürchtig niederknien, gebietet die Regel. Und so führt die Askese des Raumes zur Askese der Zeit.
Zum Hier, zum heiligen Ort, gehört das Jetzt, der heilige Augenblick; «kairos» (griechisch: Zeit), die rechte Zeit, das Heute, von dem die Liturgie immer wieder singt:
«Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!»
ein gewichtiges Psalmwort,[4] mit dem wir Mönche jeden Tag beginnen.
Dieses Heute ist immer.
lm klösterlichen Lebensraum ist Zeit etwas völlig anderes als das, was Uhren messen können.
Die Zeit gehört nicht uns.
Wenn T. S. Eliot von der «Zeit, die nicht unsere ist» spricht, dann weist dies auf Losgelöstheit von der Zeit hin.
Wir behaupten, Zeit zu haben, Zeit zu gewinnen, Zeit zu sparen; in Wirklichkeit gehört uns die Zeit nicht.
Sie wird nicht von der Uhr abgelesen, sondern daran, wann es Zeit ist.
Deshalb sind Glocken in einem Kloster von so großer Bedeutung. Und dies nicht nur, weil die meisten Mönche ohne Glocke nicht aufwachen (wenn auch niemand behaupten wird, das sei unwichtig).
In Wirklichkeit geht es darum, dass in einem Kloster Dinge nicht getan werden, wenn einem gerade danach zumute ist, sondern wenn es dafür Zeit ist.
Nach der Regel des Heiligen Benedikt wird von einem Mönch erwartet, dass er die Feder aus der Hand legt im Augenblick, wo die Glocke läutet, und nicht einmal mehr einen Querstrich aufs «t» oder ein Pünktchen aufs «i» setzt.
Wenn es Zeit für etwas ist, dann verlangt das etwas von uns, ob es uns passt oder nicht.
Auch wenn wir nur fünf Minuten zu spät kommen, geht die Sonne kein zweites Mal für uns auf oder unter. Auch die Mittagszeit können wir nicht verschieben, indem wir die Uhr zurückdrehen. Sonnenaufgang, Mittag, Abend, das sind entscheidende Zeiten, um die sich der Tag im Kloster dreht; kosmische Augenblicke, auf die die Glocke hinweist, nicht willkürliche Uhrzeiten auf einem Fahrplan.
Die Glocken im Kloster sollen uns daran erinnern, dass es Zeit ist, wenn wir sie läuten hören ‒ «nicht unsere Zeit».
In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt.
Wir sind jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das Zeit überwindet.
Das Jetzt ist nicht in der Zeit. Jetzt geht über Zeit hinaus.
Nur wir Menschen wissen, was «jetzt» bedeutet, weil wir «existieren», ‒ weil wir aus der Zeit «herausragen». Das ist ja die Bedeutung von Existenz. Und all diese klösterlichen Glocken wollen uns einfach erinnern:
Jetzt! ‒ und sonst nichts.
Freilich können wir nicht behaupten, dass es uns schon gelungen sei. Um nochmals Eliot zu zitieren:
Das Ziel hienieden
Den meisten von uns unerreichbar,
Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Weil wir es stets aufs Neue versuchten.[5]
Für uns gilt nur der Versuch
Der Rest ist nicht unsere Sache.[6]
Die Losgelöstheit, von der hier die Rede ist, muss klar von Gleichgültigkeit unterschieden werden. Während Gleichgültigkeit Liebe einer Situation entzieht, ist die Liebe der Losgelöstheit «ein Erweitern über das Begehren hinaus».[7]
Das Begehren ist in der Zeit verstrickt; es sehnt sich nach der Vergangenheit und sorgt sich um die Zukunft. Liebe, die über das Begehren hinauswächst, ist «Befreiung vom Künftigen wie vom Vergangenen».
Was übrig bliebt, ist das Jetzt, in dem «Vergangenes und Zukunft vereint sind», der ruhende Punkt.[8]
Wir können die befreiende Ausdehnung der Liebe in unserem eigenen Alltag erleben. Tatsächlich können wir unser Tun und Lassen bei fortschreitender Erweiterung des Horizonts als immer unwichtiger und zugleich immer bedeutsamer empfinden.
Und genau das geschieht bei fortschreitender monastischer Losgelöstheit.
Das Hier und Jetzt gewinnt genau in dem Maße an Bedeutung, wie es an Wichtigkeit verliert.
Im Ruhepunkt spielt das Hier und Jetzt keine Rolle mehr, und gleichzeitig gewinnt es letzte Bedeutung.
Daraus ergibt sich, dass wir ein dem Training in innerer Freiheit entsprechendes Raum-Zeit-Gefühl entwickeln müssen. Ohne das geht es nicht.
Die unterschiedlichen Formen, durch welche Mönche verschiedener Traditionen die Askese, zum Beispiel des Raumes, kultivieren, mögen von außen betrachtet als gegensätzlich erscheinen. Haben wir erst einmal den Schlüssel gefunden, ist leicht zu erkennen, dass alle dasselbe Ziel haben.
So unterschiedliche Formen wie die Heimatlosigkeit des Pilgermönchs und die Stabilität des Klosters sind nur zwei verschiedene Wege zum selben Ziel.
Ein Wandermönch auf den Straßen Indiens, ein Stylit, der sein Leben auf einer Säule sitzend verbringt; die seefahrenden irischen Mönche des Mittelalters oder die eingemauerten Eremiten im alten Russland und Tibet; und all die Mönche, deren Lebensformen irgendwo zwischen solchen Extremen liegen ‒ sie alle haben nur das eine Ziel: dort gegenwärtig zu sein, wo sie sind, wirklich, ganz, gegenwärtig.
… Um dahin zu gelangen,
Wo du schon bist, und fortzukommen von dort,
wo du nicht bist,
Musst du einen Weg gehen, der keine Ekstase kennt.[9]
«Ekstase» bedeutet wörtlich «außer sich sein», fehl am Platze sein, sogar verrückt sein ‒ also das genaue Gegenteil jener vollkommenen Gesammeltheit, jener Gegenwart im Hier und Jetzt, mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend.
Dass die Ekstase ausgerechnet im Augenblick höchster Sammlung und Gegenwärtigkeit eintritt, ist lediglich das sprachliche Spiegelbild des hier besprochenen Paradoxes.
Das klösterliche Training ist ohne Eile und Hektik, aufs Praktische und Alltägliche ausgerichtet: fegen, kochen, waschen, bei Tisch auftragen oder am Altar dienen, Bücher lesen, Karteikarten einordnen, den Garten umgraben, an der Schreibmaschine sitzen, Heu machen, Rohre reparieren; aber all das mit jener liebevollen Losgelöstheit, die jeden Ort zum Mittelpunkt des Universums wandelt.
Zu diesem monastischen Bewusstsein des Raums gehört ein entsprechendes monastisches Bewusstsein der Zeit.
Die Jahreszeiten und die Gezeiten der Sterne,
Die Zeit des Melkens und die Zeit des Erntens.[10]
Die Zeit des «unaufhörlichen Angelusläutens der Glockenboje» an der Küste:
Die Glocke zur See misst
Zeit, die nicht unsere Zeit ist, geläutet von dem gemessenen
Schwall der Dünung: eine Zeit, weit älter
Als die Zeit, wie Uhren sie deuten, weit älter
Als die Zeit, wie wir sie zählen…
Und dieser «gemessene Schwall der Dünung» wird zum Sinnbild jener Erweiterung der Liebe über das Begehren hinaus, innerlich frei, aber nicht gleichgültig, sondern hellwach und verantwortlich ‒ denn die Zeit, welche von der läutenden Glocke gemessen wird, ist «nicht unsere Zeit».
Wir werden gerufen. Wir müssen antworten.
Und die Dünung, heut wie von jeher,
läutet
Die Glockenboje.
Die Angelusglocke und der Gong, die Holzklöppel und die Trommel ‒ sie alle geben Zeit an, «nicht unsere Zeit».
Das ist der entscheidende Punkt: dass es nicht unserer Zeit ist.
Die Mönche stehen auf und gehen zu Bett, arbeiten und feiern ‒ wenn es Zeit dazu ist.
Sie «halten» sich nur an die Zeit, ohne sie zu «bestimmen».
Beim ersten Glockenschlag hat der Mönch in seiner Tätigkeit innezuhalten, was immer es sei, und sich dem zuzuwenden, wofür es Zeit ist.
Das Entscheidende ist das Loslassen. Es ist Befreiung.
Durch das Loslassen wird die Zeit, welche «nicht unsere Zeit» ist, alle Zeit, unser eigen, weil wir uns ihr hingeben. Wenn wir im Rhythmus des Lebens mitschwingen, sind wir im Einklang mit der Welt, und sie gehört ganz uns.
Die innere Freiheit von Raum und Zeit, durch die alles unser eigen wird, weil wir im Hier und fetzt völlig gegenwärtig sind, enthält das ganze monastische Leben wie eine Frucht den Samen.
Ein Zustand vollendeter Einfalt
(Der nicht weniger kostet als alles)[11]
Jeder andere Verzicht ist in der liebevollen Losgelöstheit des Mönchs vom Hier und Jetzt eingeschlossen.
Sie weist auf jene radikale Losgelöstheit von uns selbst hin, in der wir unser wahres Selbst finden.
Um das zu besitzen, was du nicht besitzt,
Musst du den Weg der Entäußerung gehen.
Um das zu werden, was du nicht bist,
Musst du den Weg gehen, auf dem du nicht bist.[12]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3, 6, 12]
_______________________
[1] Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription
[2] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 46f.]:
«And under the oppression of the silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future,
Trying to unweave, unwind, unravel
And piece together the past and the future,
Between midnight and dawn, when the past is all deception
The future futureless, before the morning watch
When time stops and time is never ending;
And the ground swell, that is and was from the beginning,
Clangs
The bell.»
«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Mißt Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als die Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen,
Abzuwickeln und zu entflechten suchen
Vergangenheit, Zukunft zusammenzuflicken,
Zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn Vergangenheit Täuschung ist,
Zukunft ohne Gestalt, vor der Morgenwache
Wenn die Zeit stockt und Zeit niemals endet;
Und die Dünung, die ist und vor dem Anfang war,
Die Glocke
Hallt.»
«Die Salvages sind eine Felsengruppe vor Cape Ann (Massachusetts), die nur bei Ebbe zu sehen ist und in deren Nähe Eliot in seiner Jugend ‹riskante Segeltörns› unternahm. Die Erfahrung der rauen See, der Urgewalt des Meeres, ein im Zusammenhang mit Eliots Dichtung treffendes Vokabular, schlägt sich in The Dry Salvages entsprechend nieder. Da wird die auf dem Wasser schaukelnde Boje zur Schicksalsglocke, eine sorgenvolle akustische Begleitung für die implizite Frage: Kehren die Seeleute wieder nach Hause zurück?» [Mario Osterland zu T. S. Eliot]
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Mit dem Herzen horchen› (2021), 18f.
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe Stillehalten:
«the moment in and out of time»
[4] Psalm 95,7f.; Regel des hl. Benedikt (RB Prolog 10)
[5] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe Stillehalten:
«For most of us, this is the aim
Never here to be realised;
Who are only undefeated
Because we have gone on trying»
[6] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Die Umwelt als Guru› (2021), 26, 28-30
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V:
«For us, there is only the trying. The rest is not our business.»
[7] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, III:
«For liberation ‒ not less of love but expanding
Of love beyond desire, and so liberation
From the future as well as the past.»
[8] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II; gesprochen von Reinhard Glemnitz (26:00) im Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription (26:00) und Anm. 3, ebenso Stillehalten
[9] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III:
«Shall I say it again? In order to arrive there,
To arrive where you are, to get from
where you are not,
You must go by a way wherein there is no ecstasy.»
[10] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, I:
«The time of the seasons and the constellations
The time of milking and the time of harvest»
[11] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, siehe Stillehalten:
«A condition of complete simplicity
(Costing not less than erytheing)»
[12] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Spiegel des Herzens› (2021), 123-126
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III:
«In order to possess what you do not possess
You must go by the way of dispossession.
In order to arrive at what your are not
You must go through the way in which you are not.»
Pilgerfahrt
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
In seinen «Four quartets» spricht T.S. Eliot von dem Paradox,
«still sein und dennoch vorangehen» ‒
dem Paradox der Hoffnung.[1]
Als Pilger haben wir ein Ziel. Aber der Sinn unserer Pilgerfahrt hängt nicht davon ab, dass wir dieses Ziel erreichen.
Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.
In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern.
Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.
Das «in Hoffnung ruhen» (Psalm 16,9) ist ganz gewiss nicht jenen vorbehalten, die am Ende des Weges sind. Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt das Ziel, denn das Ende geht dem Anfang voraus.
Ruhen wir in der Hoffnung, dann bewegen wir uns laut T. S. Eliot in dynamischer Stille:
... wie eine chinesische Vase
Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist.
Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt,
Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein,
Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht,
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher
Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende.
Dass alles immer jetzt ist. ...[2]
Die Spannung der Hoffnung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht ist die Grundlage für ein Verständnis von Pilgerschaft.
Wann immer wir auf etwas stoßen, das Sinn hat, dann ist dieser Sinn schon jetzt und doch noch nicht gegeben. Er ist da, aber er führt immer noch weiter.
Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nachhause nehmen und im Einsiedlerglas aufbewahren kann. Sinn ist immer etwas Frisches. Er leuchtet uns plötzlich ein, so wie die Strahlen der Nachmittagssonne plötzlich auf unsere Waldlichtung fallen. So oft wir hinschauen, können wir in diesem Licht immer neue Wunder entdecken.
Was Glaube ist, kann man am besten dadurch deutlich machen, dass man gläubig lebt. Ebenso ist es mit der Hoffnung. Nichts wird uns mehr helfen, Hoffnung zu verstehen, als ein Pilgerleben, als «still sein und dennoch voran(zu)gehen», Tag für Tag.
Die Furcht vor den Gefahren, die uns auf dem Weg begegnen könnten, ist groß und berechtigt; das trifft in noch größerem Maße auf die Furcht vor dem Wagnis der Bindung zu.
Es bedarf großen Mutes, diese doppelte Furcht durch den Glauben zu überwinden.
Wir schaffen es, indem wir den Wagemut des Nomaden mit dem des Siedlers verbinden, und das gibt uns den Mut des Pilgers.
Der zwanghafte Siedler in uns wagt es, sich zu binden, fürchtet sich aber davor, unterwegs zu sein.
Der unstete Nomade in uns wagt den Weg, fürchtet sich aber vor der Bindung.
Nur der Pilger in uns kann diesen Zwiespalt überwinden.
Der Pilger weiß, dass sich jeder Schritt auf dem Weg als das Ziel herausstellen kann, andererseits kann sich das vermeintliche Ziel als doch nur ein Schritt auf dem Weg erweisen.
Dies hält den Pilger offen für Überraschungen. Hoffnung kennzeichnet den Pilger.[3]
Die Pilgerfahrt ist nicht eine Reise.
Der Unterschied ist vielen nicht klar: Die Pilgerfahrt hat unendlich viele Gipfelpunkte, die Reise hat ein Ziel.
Die Pilgerfahrt hat immer dort den Gipfelpunkt, wo ich bin. Jeder Schritt ist sozusagen das Ziel.
Wenn man eine Reise nach Rom oder Jerusalem macht und nicht in Rom ankommt, dann hat man das Ziel der Reise verfehlt, und dann war es eine verfehlte Reise. Aber wenn man eine Pilgerfahrt nach Jerusalem macht, dann kommt man unter Umständen gar nicht hin oder kommt schon mit dem ersten Schritt an sozusagen.
Leo Tolstoi erzählt die Geschichte von zwei alten russischen Bauern, die sich auf eine Pilgerfahrt nach Jerusalem machen. Wochenlang wandern Sie von Dorf zu Dorf, immer in Richtung auf das Schwarze Meer, wo Sie hoffen, ein Schiff in das Heilige Land zu finden. Aber bevor Sie den Hafen erreichen, werden Sie voneinander getrennt.
Während der eine an einem Häuschen anhält, um seinen Wasserschlauch zu füllen, geht der andere noch ein Stück weiter, lässt sich dann im Schatten nieder und ist bald eingeschlafen. Als er aufwacht, fragt er sich: «Ist mein Freund noch hinter mir? Nein, er muss mich überholt haben, als ich hier schlief.»
In der Hoffnung, seinen Freund einzuholen, geht er weiter. «Spätestens beim Warten auf das Schiff werden wir uns wiederfinden», denkt er.
Aber im Hafen findet sich keine Spur des Freundes. Tagelang wartet er, dann segelt er allein ins Heilige Land.
Erst in Jerusalem holt unser Pilger doch noch den anderen ein. Er sieht ihn ganz vorne beim Altar, aber bevor er sich einen Weg durch die Menge der Pilger bahnen kann, verliert er seinen Freund wieder aus den Augen. Er fragt nach ihm, doch niemand weiß, wo er wohnt.
Ein weiteres Mal sieht er ihn in der Menge, und noch ein drittes Mal, näher den heiligen Stätten, als er selbst herankommt. Aber niemals holt er ihn ein, und als die Zeit kommt, Jerusalem zu verlassen, da muss er sich allein auf die Heimreise machen.
Viele Monate später kehrt er heim ins Dorf. Und da ist auch sein verlorengegangener Reisebegleiter. Er war ja gar nicht in Jerusalem gewesen. In jenem Häuschen, bei dem er angehalten hatte, um etwas Wasser zu bekommen, fand er eine ganze Familie, die im Sterben lag. Sie war arm und verschuldet, krank, fast verhungert und sogar zu schwach, um sich selbst Wasser zu holen. Mitleid überwältigte ihn. Er machte sich auf und brachte ihnen Wasser, kaufte Lebensmittel und pflegte Sie gesund. Jeden Tag dachte er: «Morgen werde ich meine Pilgerfahrt fortsetzen.»
Als er ihnen aber geholfen hatte, ihre Schulden zu bezahlen, da blieb ihm gerade genug Geld, um nachhause zurückzukehren.
Der andere Alte, der ihn in Jerusalem gesehen hatte, fragte sich nun, wer von ihnen das wahre Ziel der Pilgerfahrt erreicht habe.[4]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f.]
[Ergänzend:
1. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011):
Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(05:46) Pilgerfahrt im Unterschied zur Reise: ‹Die beiden Alten› (Leo N. Tolstoi) ‒ (11:16) ‹Das Leben ist ja Pilgerschaft, wenn man es richtig versteht, und es kommt nur darauf an, im gegebenen Augenblick das zu tun, was das Leben uns aufgibt›
2. Common Sense: Was dem Common Sense im Weg steht (2014), 94f.:
«In jedem von uns steckt einer, der sesshaft werden möchte, und einer, der suchend unterwegs bleiben will.
Hinter beiden Antrieben steckt ein Stück Angst. Der Sesshafte hat Angst vor Veränderung; der Sucher und Entdecker hat Angst vor Langeweile.
Als Abenteurer können wir derart vom Suchen besessen sein, dass wir auf keinen Fall etwas finden wollen, denn damit hätte ja unser Suchen ein Ende.
Als Sesshafte dagegen können wir so sehr auf das Finden aus sein, dass wir das Suchen vorschnell abbrechen.
In Wirklichkeit sind wir dazu bestimmt, Pilger zu sein. lm Pilgern sind der Sesshafte und der Sucher vereint.
Pilger brauchen zweierlei Art von Mut: den Mut des Abenteurers, über das Vertraute hinauszugehen, und den Mut des Sesshaften, sich in der Gegenwart daheim zu fühlen.
Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt schon ein Ziel und jedes Ziel kann sich wiederum als Schritt auf einem Weg erweisen, der immer wieder weiter führt.
Als Pilger müssen wir überall und zugleich nirgends daheim sein; genau aus diesem Grund dürfen wir uns an nichts endgültig klammern.
Dieses Anklammern ist unser eigentliches Hindernis auf der Pilgerfahrt durchs Leben. Wir klammern uns immer dann spontan an etwas, wenn wir Angst haben.
Das ist ein naturgegebener und gesunder Reflex. Wenn Sie erschreckt werden, versuchen bereits neugeborene Kinder, sich mit Armen und Beinen an die Mutter zu klammern.
Dieser Instinkt resultiert womöglich aus einer Zeit, in der es überlebenswichtig war, sich an die Mutter zu klammern, die von Ast zu Ast sprang. Diesen Instinkt behalten wir zeitlebens bei.
Sobald Gefahr droht, greifen wir nach etwas und klammern uns daran, nicht nur physisch, sondern auch mental.
Alles Neue wirkt zunächst immer gefährlich.
Wir brauchen eine gewisse Zeit, um unsere rein instinktive Reaktion überwinden zu lernen.
Wollen wir reifer und weiter werden und neues Gelände betreten, dann müssen wir zwangsläufig lernen, Altes und Vertrautes loszulassen.»
3. Audio und Texte zum Pilger-Ritual
3.1. Audio Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift:
Die Mystische Erfahrung ist religionsschöpferisch (04 Mitschrift):
(08:56) «Und Sie selbst auch wieder in ihrer eigenen Privatreligion, wenn Sie wollen, feiern Sie Ihre mystischen Erlebnisse. Nehmen wir an, Sie haben so ein mystisches Erlebnis auf einem bestimmten Berg erfahren, ein Gipfelerlebnis:
Es ist sehr leicht möglich, dass Sie immer wieder einmal ‒ sagen wir zu einem besonders festlichen Anlass ‒ zu diesem Berg zurückwandern. Sie wollen das wiedererleben.
Sie können es vielleicht nicht einmal mehr wiedererleben, aber Sie machen eine Pilgerfahrt oder Sie erinnern sich an diesen Tag: Sie haben schon einen rituellen Kalender begonnen: Es ist nur der Beginn, aber der Beginn ist da.»
3.2. Schönheit aus: Auf dem Weg der Stille (2016), 137f.:
«Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.
Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.
Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!
Je stärker Sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern.
Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte.
Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.»
3.3. Religionen ‒ drei Ausdrucksformen, in Ergänzend: 3.5., aus Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 180:
«Überprüfen Sie dies anhand Ihrer eigenen Erfahrung.
Manche Rituale da draußen, in den traditionellen historischen Religionen, mögen bizarr anmuten.
Doch vielleicht zelebrieren Sie alle Jahre wieder eine tiefe spirituelle Erfahrung. Nun, dann haben Sie einen rituellen Kalender, so wie die meisten Religionen.
Vielleicht kehren Sie ständig an den Ort zurück, an dem diese Erfahrung Sie überwältigt hat.
Nun, dies ist dann das Ritual des Pilgerns.
Angenommen, Sie haben dieses Erlebnis an einem Strand gehabt, dann ist jeder Strand auf dieser Welt nun ein heiliger Ort für Sie, weil er Sie immer an diese Erfahrung denken lässt.
Auch ein Baum kann auf diese Weise für Sie ein heiliger Baum werden. Das Ritual ‒ das lebendige Ritual ‒ ist die Zelebrierung des mystischen Erlebnisses. Es ist ein Gedenken an dieses Erlebnis.»]
__________________________
[1] T. S. Eliot: Four quartets: East Coker, V; siehe auch in Stillehalten
[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten
[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114-116, 118, 112f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 114-116, 118, 112f.]
[4] Audio in Ergänzend: 1 und Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 113f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 113f.]: ‹Die beiden Alten› (Novelle von Leo Tolstoi)
Sakramentales Leben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.
Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.
Eine hervorragende Metapher für die sinnliche Erfahrung dessen, was in seiner Sinnfülle unsere Sinne unendlich übersteigt, ist der brennende Dornbusch.[1]
Das wüstentrockene Dorngestrüpp steht in Flammen, trägt die Flammen und erträgt sie; es hat inmitten der Flammen Bestand.
«Wie kommt es, dass dieser Busch brennt und doch nicht verbrennt?»
Mit diesem «großen Gesicht» beginnt die Offenbarung eines unerschöpflichen Geheimnisses: Gottes Gegenwart in der Welt ‒ «non commixtionem passus, neque divisionem», wie die Antiphon der Weihnachtszeit[2] staunend singt:
«Unvermischt und doch untrennbar»,
wird das Göttliche uns zugänglich im Sinnlichen.[3]
Zwei Haltungen neigen dazu, uns für diese Begegnung blind zu machen: Weltlichkeit und Weltentrücktheit. Weltlichkeit sieht bloß den Strauch; Weltentrücktheit sieht bloß das Feuer.
Aber zu sehen, mit den Augen des Herzens, eines inmitten des andern, das ist das Geheimnis von Sakramentalität.
Das Geheimnis ist das Geheimnis von Sakramentalität, das Mysterium, dass das göttliche Leben sich durch alle Dinge vermittelt, genauso wie Sinn durch Worte vermittelt wird.
Die zwei gehören zusammen, Sinn und Wort, Gott und die Welt. Die zwei gehören zusammen, ohne Wenn und Aber, sind untrennbar: Sinn und Wort, Gott und die Welt.
Sakramentalität ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.
Die vielen Gemeinschaften, Kirchen, Kommunen weisen lediglich auf diese eine große Familie Gottes hin, mit mehr oder weniger erfolgreichen Modellen und bruchstückhaften Erkenntnissen davon. Ihre Feiern des Lebens sind auch auf eine Art Sakramente, weil das Leben selbst sakramental ist.
Richtig verstanden sind die Sakramente der christlichen Kirchen nicht in sich abgeschlossene Schachteln göttliche Gnaden vermittelnd.
Sie sind Brennpunkte dieses göttlichen Feuers, das alles Leben sakramental macht.
Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:
«Zieh’ deine Schuhe aus!»[4]
Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.
Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.
Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.
Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.
Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[5]
Es ist nicht so, als ob wir von weit her zum Ort der göttlichen Gegenwart hinpilgern müssten.
Von alters her geheiligte Orte wollen Pilger nur daran erinnern, dass auch jeder andere Ort heilig ist.
Schon mit dem ersten Schritt einer Pilgerfahrt betreten wir heiligen Boden.
Darum ruft die Stimme aus dem brennenden Busch Moses zu:
«Tritt nicht herzu!»
Komm nicht näher!
Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.
«Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.»
Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort.
Werde dir dessen bewusst!
«Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!»
Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.
Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen.
Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.
Auch «an den Flüssen Babylons», oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.
Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.[6]
Die Askese des Raumes fördert die Loslösung in Bezug auf den Ort, wo immer wir auch seien. Ihr Ziel ist,
da wirklich gegenwärtig zu sein,
wo wir gerade sind.
Dies ist der erste Schritt ‒ und wie oft gelingt er uns nicht!
Wir sind uns selbst voraus oder bleiben hinter uns zurück. Vielleicht aber schauen wir weder voraus in eine Zukunft, die noch nicht da ist, noch halten wir an einer Vergangenheit fest, die schon vorbei ist ‒ und sind doch nicht in der Gegenwart.
Wir sind hier und doch nicht hier, weil wir nicht wach sind.
Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.
«Die Schuhe ausziehen» ‒ das ist die Askese des Raumes.
«Die Schuhe auszuziehen» bedeutet, wirklich dazustehen, in voller Lebendigkeit.
Die Schuhe oder Sandalen, die wir ausziehen, sind aus der Haut toter Tiere gefertigt.
Solange wir sie tragen, ist etwas Totes zwischen den lebendigen Sohlen unserer Füße und dem Boden, auf dem wir stehen.
Dieses Tote abzustreifen bedeutet, Gewohnheit abzustreifen, jenes Gewohntsein, das Gleichgültigkeit und Langeweile mit sich bringt.
Es bedeutet, in ursprünglicher Frische für den Ort wach zu werden, an dem wir stehen.
Zuerst ist dies ein ganz besonderer Ort, der heilige Bezirk, den wir barfuß betreten.
Aber dann kommt der nächste entscheidende Schritt: Wir erkennen, dass wir auf heiligem Boden stehen, wo immer wir die Schuhe ausziehen.
«Rundum in jeder Richtung, soweit Raum reicht, reicht das Heiligtum.»[7]
Pater Damasus[8] wurde nie müde, diese Bibelstelle seinen Mönchen zu zitieren. Wir müssen nur einfach unsere Schuhe ausziehen, dann werden wir dies verstehen.
Ganz deutlich wird dies, wenn der Heilige Benedikt sagt, dass jeder Topf und jede Pfanne im Kloster wie ein heiliges Altargefäß behandelt werden sollte.[9]
Das heißt soviel wie:
«Zieht eure Schuhe aus und erkennt, dass ihr auf heiligem Boden steht; allerorten ist Gottes Tempel.»
Jeder Ort ist heiliger Boden, denn jeder Ort kann Stätte der Begegnung werden, der Begegnung mit göttlicher Gegenwart.
Sobald wir die Schuhe des Daran-Gewöhnt-Seins ausziehen und zum Leben erwachen, erkennen wir:
Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?
Jetzt, hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 5f., 10]
[Ergänzend:
Audio Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›]
___________________________
[1] Exodus 3,1-5 (Lutherbibel 2017):
«Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!»
[2] «Mirabile mysterium declaratur hodie:
innovantur nature,
Deus homo factus est;
id quod fuit permansit,
et quod non erat assumpsit:
non commixtionem passus, neque divisionem.»
«Ein wunderbares Geheimnis wird heute verkündet:
Die Natur erneuert sich,
Gott wurde Mensch.
Das, was er war, blieb er,
und das, was er nicht war, nahm er auf.
Er erlitt keine Vermischung und keine Teilung.»
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 69f.
[4] Exodus 3,5
[5] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119
[6] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 70f.
[7] Ezechiel 43,12
[8] Pater Damasus Winzen, der Gründer des Klosters Mount Savour
[9] Siehe auch Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2018):
«Darum scheint mir manchmal, dass «dankbar leben» sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird - und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).»
[10] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 26f.
Tasten, berühren, behüten
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Arijana Somolanji Kurbanović
«Zauberkraft begegnet uns auf Schritt und Tritt, daran zweifle ich keinen Augenblick. Wie oft habe ich sie doch erlebt. Zuerst mein ganz automatisches Dahintrotten auf dem heißen Gehsteig, dann ein kühler Zugwind aus einer Seitenpassage ‒ und plötzlich hat das Straßenbild Farben, Klänge, Bewegung.
Oder bei Tisch: Mein unaufmerksames Hinunterlöffeln wird durch das Klirren eines Wasserglases in wache Freude an der warmen Suppe verwandelt. Sogar ein untätiges Daliegen im Bett kann durch ich weiß nicht, was, auf einmal zum wohligen Wahrnehmen von Decke und Polster werden, zu einem letzten Aufleuchten aller Sinne vor dem Einschlafen.
Ich weiß wirklich nicht, was diese geheimnisvolle Kraft ist, die da so unvermittelt alles verzaubert ‒ ja, die eigentlich m i c h bezaubert, indem sie mich belebt.
Jedenfalls nehme ich sie dankbar an; sie muss ja von Dir kommen.
Und Dankbarkeit legt mir auch das Zauberwort in den Mund, das Zauberwort, das mich und die Welt belebt: ‹Danke!› ‒ Amen.»[1]
In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug’ in Auge mit einem Tier können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen.
Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen übermittelt werden kann.
Die Welt, in der wir leben, ist so entfremdend, dass wir buchstäblich nicht mehr in Berührung miteinander sind.
Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet.
Das schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein Gefühl, dass wir Schwestern und Brüder sind in dieser Welt, in unserem gemeinsamen Zuhause.[2]
«Mein Fuß spricht mit den Steinen, die er betritt»,
sagt Rilkes Blinde,[3] und das sollten auch unsere Füße tun. Sobald wir die Gewöhnung abgelegt haben, mehr noch als die Schuhe, dann ist schon die Möglichkeit gegeben für diese Zwiesprache.
Rasen spricht anders mit unseren Füßen als sonnenwarme Felsplatten am Fluss; ein Holzboden wieder anders. Kork, Kiesel, Kokosläufer, feuchter Sand am Meer, oder das Herbstlaub, durch das wir als Kinder so gerne wirbelnd wateten; diese und so viele andere Sprachen sind unseren Fußsohlen bereits geläufig.
Leinen, Leder, Luffa, wie verschieden sie unsere Schultern berühren. Strohhut und Wollmütze, Tropenhelm und Schleier. Kühles, Bauschiges, das den Wind einfängt, oder enganliegendes Warmes und Weiches um Hüften und Beine.
Wie so verschiedentlich uns all das anspricht, wenn wir nur darauf achten. Wie unsere Haut an jeder Stelle des Körpers anders darauf antwortet. Welche Freude argloser Dankbarkeit man daran erleben kann.
Und dann erst die Hände. Für mich ist nicht nur das Streicheln der Katze («Gypsie» heißt sie, «Zigeunerin»), für mich ist auch das Abstauben der paar Möbel in der Einsiedelei ein liebkosendes Berühren; oder das Stutzen der Sträucher im Garten; oder das Aufkehren.
«So geht man nicht mit dem Staub um», erklärte Soen Nakagawa Roshi jungen Mönchen, die das Saubermachen praktisch, schnell und gründlich erledigt haben wollten. «S o geht das nicht. Wenn ihr den Besen in der Hand habt, soll die Hand zum Staub sagen: ‹Verzeih, aber du bist zur Zeit am falschen Platz. Erlaube, dass wir dir weiterhelfen, wo du hingehörst›»
Hände haben höfliche und unhöfliche Redeweisen. Sie lassen sich erziehen.
Hände reden, Sie können aber auch horchen.
Das hat mich Sen Soshitsu gelehrt, der Groß-Teemeister Japans, dessen Urahne Sen Rikyu, im 16. Jahrhundert der Teezeremonie ihre klassische Form gab.
In einer vornehmen Privatwohnung in New York wurde das Ehepaar Sen an jenem Abend mit einem Empfang geehrt. Man wollte den Gästen aus dem Osten das Beste westlicher Kultur darbieten. Ein berühmter Cembalist sollte auf einem Instrument spielen, das eigens für diese Gelegenheit ausgeliehen worden war.
Da stand es in seiner schlichten Schönheit, glänzend im Licht der vielen Kerzen, aber versperrt. Der Schlüssel zum Deckel der Tastatur war einfach unauffindbar.
Verwirrung, Geflüster, peinliche Stille.
Mit heiterer Gelassenheit geht Sen Soshitsu auf das Cembalo zu, lässt seine Hand bewundernd über das seidige Holz gleiten.
Völlig gesammelt scheint er dankbar zu sagen:
«Ist das nicht schon mehr als genug?»
Dann lächelt er, und alle atmen auf.
Alle nur mögliche Musik war aus dem Instrument durch seine horchende Hand in dieses Lächeln gestiegen und darin Wirklichkeit geworden.
Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden und so mit allen Sinnen. Aber niemand kann berühren, ohne berührt zu werden. Daher kommt die Ehrfurcht, die echter, wacher, dankbarer Berührung eignet.
Rilke sieht diese Ehrfurcht in der Art, wie die Figuren im Bildwerk griechischer Grabsäulen einander berühren:
«Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs,
d i e s e s ist unser, uns s o zu berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.»[4]
Wer ehrfürchtig an-greift, wird zugleich ergriffen vom göttlichen Gegenüber, mit jener bräutlichen Ergriffenheit, die weise macht.
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.
Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin.
Ihre Beschaffenheit, für Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist.
Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?
Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht.
Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft.
Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.
Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.[5]
Sakramentales Leben ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.
Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:
«Zieh’ deine Schuhe aus!»[6]
Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.
Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.
Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.
Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.
Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[7]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden. Amen»[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 5, 7f.]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(01:01:13) ‹Dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind› (Rilke, Schmargendorfer Tagebuch) – ‹Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht menschlicher Geste?› (Rilke, Die zweite Elegie) – Das empfängliche Tasten ist das Behüten ‒ letztlich, das Geheimnis hegen: ‹Meine Hand ist dir viel zu breit› (Rilke, Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 76f.) – ‹Ich habe dich bei deiner Hand gefasst und habe dich behütet.› (Jes 42,6)
Rilke in einem Brief: Arco, am 10. März 1899 (Schmargendorfer Tagebuch):
«… denn in unserem Schauen liegt unser wahrstes Erwerben. Wollte Gott, dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind: so bereit im Erfassen, so hell im Halten, so sorglos im Loslassen aller Dinge; dann könnten wir wahrhaft reich werden. Reich aber werden wir nicht dadurch, dass etwas in unseren Händen wohnt und welkt, sondern es soll alles durch ihren Griff hindurchströmen wie durch das festliche Tor des Einzugs und der Heimkehr. Nicht wie ein Sarg sollen uns die Hände sein: ein Bett nur, darin die Dinge dämmernden Schlafes pflegen und Träume tun, aus deren Dunkel heraus ihre liebsten Verborgenheiten reden. Jenseits der Hände aber sollen die Dinge weiterwandern, stämmig und stark, und wir sollen von ihnen nichts behalten als das mutige Morgenlied, das hinter ihren verhallenden Schritten schwebt und schimmert.»
Denn Besitz ist Armut und Angst, Besessenhaben allein ist unbesorgtes Besitzen.
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›:
«‹Tritt nicht herzu!› Komm nicht näher. Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.
‹Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.›
Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort. Werde dir dessen bewusst!
‹Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!›
Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.
Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen. Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.
Auch ‹an den Flüssen Babylons›, oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.
Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.»[9]
2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 2:
(13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen
2.4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Tasten, greifen, begreifen, Begriffe im Unterschied zu Ergriffenheit, Rührung ‒ gerührt sein, berühren ‒ berührt sein]
__________________
[1] Erwachende Worte (2023): ‹55 Zauberkraft›, 127
[2] Musik der Stille (2023), 8 und 61
[3] R. M. Rilke: ‹Die Blinde› (Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)
[4] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Zweite Elegie
[5] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 71-73, 69, 16; siehe auch Horchen und Gehorchen
[6] Moses und der brennende Dornbusch in Exodus 3,1-6
[7] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119
[8] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 71
[9] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 70f.
Riechen, Düfte, Erinnerung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - pixabay – Mimosa pudica
Gerüche der Kindheit fallen mir viele ein, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Da ist zum Beispiel der Lavendelgeruch in der Wäschelade meiner Mutter. Sie hat immer Lavendel zur Wäsche gelegt, und beim Öffnen der Lade hatte man sofort diesen Lavendelduft in der Nase.
Oder der Geruch von Lindenblüten. Wir hatten zwei große Linden vor dem Haus, vor unserem Fenster. Das ist ein unvergesslicher Duft, der Duft von Lindenblüten.
Ein Geruch, der gar nicht so typisch ist, aber der mir auch sofort einfällt: der Geruch von zertretenem Unkraut, hinter dem Haus, hinter dem Stall. Ich bin zum Teil auf dem Land aufgewachsen, unser Nachbar hatte einen Bauernhof, und wenn wir da hinter dem Haus herumgerannt sind, bei unseren Schleichwegen, da kam immer wider der Geruch von zertretenem Unkraut. Die Brennnesseln riechen ja stark, und auch alle anderen Pflanzen haben ihren eigenen Geruch.
Der Kuhmist im Stall, der Heuboden, der Geruch der frischen, warmen Milch! Und dann erst die Jahreszeiten!
«Es riecht nach Schnee!»
Dieser Schneegeruch. Und der frische Luft-Geruch, dieser frische kalte Luft-Geruch in den Windjacken, wenn man sie in der Stube aufhängt im Winter!
Der Geruch der Bratäpfel auf dem Herd, der Geruch der Maroni!
Ein wichtiger Geruch für mich, das ist der Geruch von Mimosen. Früher hat man zu den Rosen immer Mimosen getan.
Bei allen Tanten- und Verwandten-Besuchen haben wir Blumen mitgebracht, und da waren auch diese kleinen gelben Mimosen dabei. Das ist für mich so ein Besuchs-Geruch von Mimosen.
Zu Ostern haben wir uns aus kleinen Blechdosen so Weihrauch-Schwinger gebastelt, mit glühenden Baumschwämmen als Holzkohle, darauf kam der Weihrauch, so sind wir umhergezogen, das war unser Ostergeruch.
Ich weiß bis heute, wie verschieden verschiedene Menschen riechen können. Ich hatte da ein interessantes Erlebnis mit so einem Geruch. Men Beichtvater in Heiligenkreuz, Pater Walter, der hatte einen eigenen Geruch, da war Weihrauch dabei, und auch der Geruch von altem Stoff. Die Gewänder hängen ja in so einem feuchten Raum, das riecht ein wenig stockig. Jedenfalls hatte mein Beichtvater einen eigenen, für ihn typischen Geruch, der mir sehr vertraut war.
Ich war dann schon jahrelang weg, weit weg, ich lebte schon in Amerika, da ist es mir ‒ zwei-, dreimal ‒ passiert, und zwar immer in Krisensituationen, dass ich ihn plötzlich gerochen habe.
Noch bevor ich überhaupt an ihn gedacht habe, war sein Geruch schon da. Dieser Pater Walter war so ein Seelenführer, ein Seelenhelfer für mich. Und komisch, immer in Krisensituationen war plötzlich sein Geruch da, als ob er gegenwärtig gewesen wäre im Zimmer.
So ein Geruch kann sehr tröstlich sein. Seine Anwesenheit zu spüren ‒ allein über den Geruch ‒, das hat mir schon geholfen.[1]
Die linden Lüfte sind erwacht,
sie säuseln und wehen Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch werden mag,
das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden!
Ludwig Uhland[2]
Gott ist zu einfach, um mehr als ein einziges Wort zu sprechen. Es ist wie bei Liebenden. Alles, was sie einander letztlich zu sagen haben, ist:
«Ich liebe dich.»
Das aber will wiederholt werden.
Gottes Botschaft ist immer die gleiche. Aber die Sprachen, in denen das ewige Wort ausgedrückt wird, sind unendlich vielfältig.
Vielleicht hörst du die Botschaft in einem Apfelgarten, der in voller Blüte steht. Doch die gleiche Botschaft spricht sich auch in einem Waldbrand aus.
Der Unterschied kann erschreckend sein, aber das gleiche Wort immer wieder in neuen Sprachen zu hören, macht aus dem Leben ein herrliches Spiel, ein göttliches Wortspiel.
Das auf der Wiese spielende Pferd spricht Gottes Wort aus, die auf meinem Schoß schlafende Katze tut dasselbe, nur anders.
Alles und jedes ist einzigartig und unübertragbar.
Gedichte können nicht übersetzt werden; im besten Fall kann man sich ihnen in einer anderen Sprache annähern.
In einem Gedicht zählt die Sprache so sehr wie die Botschaft.
Gott ist Dichter. Wenn wir wissen wollen, was Gott in einer Tomate sagt, dann müssen wir uns eine Tomate anschauen, sie fühlen, riechen, in sie hineinbeißen, den Saft und die Samen über uns spritzen lassen, wenn sie platzt.
Wir müssen sie auskosten und dieses Tomatengedicht in unser Herz aufnehmen.
Was aber Gott zu sagen hat, kann in Tomatensprache nicht erschöpfend zum Ausdruck gebracht werden.
Also gibt uns Gott auch Zitronen und spricht auf zitronesisch.
«Vom Wort Gottes leben» bedeutet, ein Leben lang Gottes Sprachen eine nach der anderen zu erlernen.[3]
ROSE, du thronende, denen im Altertume
warst du ein Kelch mit einfachem Rand.
Uns aber bist du die volle zahllose Blume,
der unerschöpfliche Gegenstand.
In deinem Reichtum scheinst du wie Kleidung um Kleidung
um einen Leib aus nichts als Glanz;
aber dein einzelnes Blatt ist zugleich die Vermeidung
und die Verleugnung jedes Gewands.
Seit Jahrhunderten ruft uns dein Duft
seine süßesten Namen herüber;
plötzlich liegt er wie Ruhm in der Luft.
Dennoch, wir wissen ihn nicht zu nennen, raten ...
Und Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.
Rainer Maria Rilke[4]
Es heißt immer, dass in der Erinnerung besonders Düfte sehr heftig Erinnerungen auslösen: Wer kennt nicht viele, viele Kindheitserinnerungen, die mit Düften zu tun haben. Die Lade [Schublade] der Großmutter und die vielen Speisen zu besonderen Festzeiten. Das heißt doch, dass die Erinnerung zusammenhängt mit dem Geruchssinn. Das ist weitgehend bekannt. Aber hier geht’s noch um etwas Anderes:
Seit Jahrhunderten ruft uns dein Duft
seine süßesten Namen herüber ‒
das ist auch interessant ‒
plötzlich liegt er wie Ruhm in der Luft.
Dennoch, wir wissen ihn nicht zu nennen, wir raten …
Das ist der Augenblick, wo es wirklich wortlos ist.
Es ist nur die Begegnung mit dem Geheimnis durch das verkörperte Geheimnis in der Rose oder in irgendeinem anderen Gegenstand:
wir wissen ihn nicht zu nennen, wir raten …
Und dann kommt der nächste Schritt:
Und Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.
Erinnerung ist dann eine rufbare Stunde, eine Erinnerung ist dann etwas, was wir benennen können und wir geben dem Duft dann einen Namen, aber eigentlich wissen wir nicht zu nennen, wir raten.
Und das ist oft sehr gut, diesen Augenblick einzuschieben: wenn man irgendetwas riecht: nicht es gleich benennen!
[Bruder David berichtet von einem Experiment in einer Gruppe von jungen Leuten, die über die Sinne und Sinneserfahrungen sprachen und über diesen Punkt]:
In mehreren, vielleicht so ein halbes Duzend oder mehr, kleinen Schüsseln ‒ das hat alles gleich ausgeschaut, war so eine Sauce oder so was, ‒ die haben aber ganz verschiedene Geschmäcker gehabt. Und dann konnte man mit einem Löffel von einer zur anderen Schüssel gehen und kosten. Solange man dem nicht einen Namen gegeben hat, war es ein großes Erlebnis.
Und dann sagt man «pille!»[5] und aus ist es, abgestempelt.
Aber solange man nicht benennt, hat es einen ungeheuren Effekt. Und so ist es auch nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Geruch. Und das sollte man immer wieder mal ausprobieren: nicht benennen: — erleben! — und dann ist es gut:
Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.»[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Ein riesiges Feld meiner Sinneserfahrungen liegt fast völlig brach: die Welt der Gerüche. Die meisten lege ich fast unbeachtet in einer der beiden Karteimappen ab ‒ riecht gut; riecht schlecht.
Was ich schlecht nenne, war für mich als Kind spannend.
Meine kindliche Freude am Riechen möchte ich wiederfinden, um dem Fest, das Du unseren Sinnen bereitest, gerecht zu werden. Erst dann kann ich hoffen, auch im übertragenen Sinn ‹eine gute Nase zu haben› ‒ feines Gespür, Vorahnung, Urteilsvermögen.
Heute will ich wenigstens drei Gerüche bewusst feiern. Amen.»[7]
Woher kommt es eigentlich, dass unser Geruchsinn uns leicht zum Lachen reizt? Vielleicht hat es damit zu tun, dass im Bereich des Riechens Kindheitserinnerungen überall die Etikette der Erwachsenen durchbrechen. Gerüche zu erwähnen, gehört ja nicht zum guten Ton. Ich denke, dieses Lachen ist ein befreiendes Lachen. Das Kind in uns wird einen Augenblick lang frei und lacht; lacht uns vielleicht sogar aus.
Wir verdienen ja schon deshalb, ausgelacht zu werden, weil unsere Nasen so abgestumpft sind, unsere Sprache so verarmt. Umgeben von Salbei und Kamille und Kinderwindeln und Salzwind vom Meer; vom Fischmarkt am Mittag, von Nelken und neuem Sattelleder; vom Geruch alter Bücher und frischgebackenen Brotes; von Blumenläden und Auspuffgasen; von Wachs und Honig in der Imkerhütte, Leintüchern, die an der Sonne trocknen, Heringen im Fass, Heuschobern und Holzrauch in der Schneeluft; vertraut mit Kuhstall und zahnärztlichem Wartezimmer, mit Schweiß- und Sonnenölgeruch im Schwimmbad und mit dem Geruch der Kulissen, wenn der Vorhang aufgeht im Theater; umgeben von so unerschöpflichem Reichtum der Gerüche, haben die meisten von uns nur zwei Antworten gelernt: «Ah, das riecht gut!» oder «Pfui, das stinkt!»
Wir können uns gegen Sehen, Schmecken und Hören wehren, indem wir Augen und Mund schließen und uns die Ohren zuhalten. Aber wie lange können wir uns die Nase zuhalten? Sehr bald müssen wir ja doch nach Luft schnappen. Das wird zum Bild dafür, dass niemand sich der allesdurchdringenden göttlichen Gegenwart für immer verschließen kann.
So haben Mystiker es immer wieder verstanden, wenn die Braut im Hohelied dem Bräutigam zuruft:
Es riechen deine Salben köstlich;
dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe,
darum lieben dich die Jungfrauen.[8]
Und der Bräutigam preist die Braut mit ähnlichen Worten:
Wie schön ist deine Liebe,
meine Schwester, liebe Braut!
Deine Liebe ist lieblicher denn Wein,
und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Würze.
Deine Lippen, meine Braut, sind wie triefender Honigseim;
Honig und Milch ist unter deiner Zunge,
und deiner Kleider Geruch ist wie der Geruch des Libanon.[9]
Begegnung mit Schönheit verwandelt. Und auch hier ist es bräutliche Begegnung.
Am berühmtesten ist wohl der mystische Vergleich der Braut mit einem Garten. Wenn auch die mittelalterliche Malerei nicht müde wurde, verschlossenen Garten und versiegelten Born bildlich darzustellen, in der Dichtung des Hoheliedes liegt die Betonung auf den Düften.
Meine Schwester, liebe Braut,
du bist ein verschlossener Garten,
eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.
Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln
mit edlen Früchten,
Zyperblumen mit Narden,
Narde und Safran, Kalmus und Zimt,
mit allerlei Bäumen des Weihrauchs,
Myrrhen und Aloe
mit allen besten Würzen.
Ein Gartenbrunnen bist du,
ein Born lebendiger Wasser,
die vom Libanon fließen.
Stehe auf, Nordwind, und komm Südwind
und wehe durch meinen Garten,
dass seine Würzen triefen! [10]
Der Vergleich mit durchdringendem Duft wird im Neuen Testament bewusst wieder aufgenommen, wenn es in der Johannespassion heißt:
«Das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe»,
mit der Maria von Bethanien den Leib Jesu im Voraus für sein Begräbnis vorbereitet (Joh. 12,3).
Eine Vielzahl dichterischer und mystischer Themen klingen hier an, besonders aber das Motiv der göttlichen Weisheit,[11] die von sich sagt:
Wohlgeruch wie von Zimt und Akazien
hauche ich aus,
den Duft von feinster Myrrhe,
von Balsam, Stakte und Galban,
wie Weihrauch im Heiligtume.[12]
Für Paulus, wie für Johannes, ist Jesus Christus Gottes Weisheit in Menschengestalt und hat «sich selbst dargegeben für uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch.»[13]
«Wir selber aber», sagt Paulus, «sind Gott ein guter Geruch Christi». Denn Gott «offenbart den Geruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten. Darum sind wir denen, die Christi Frohbotschaft nicht ausstehen können, ein tödlicher Gestank; denen aber, die sich daran freuen, ein lebenspendender Wohlgeruch.»[14]
Wer sich so sinnlich ausdrückt, hat offenbar nicht in Entfremdung von seinen Sinnen so tiefen Sinn gefunden.
Auch hier geht der Weg von argloser Sinnenfreudigkeit, für die jeder Geruch Geschenk ist, über die ehrfürchtige Begegnung mit dem Geber, den die Gabe versinnbildet, zur bräutlichen Vereinigung, wenn der Salbtiegel in Scherben liegt und der Duft das ganze Haus erfüllt, die ganze Welt, «wo immer die Frohbotschaft gepredigt wird».
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen. Das Hohelied ist zugleich erotische Dichtung und mystisches Bekenntnis, Zeugnis vergeistigter Sinnlichkeit und sinnlicher Geistigkeit. Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.[15]
«Duft ‒ unfassbarste aller Formen von Gegenwart, einer Gegenwart, die uns doch unausweichlich angeht.
Im Rauch herbstlicher Feuer weht er von Feldern herüber und stimmt mich schwermütig.
Unter der Jasminlaube berauscht er mich.
An blühenden Ligusterhecken und unter dem Lindenbaum am Juniabend weckt er Heimweh in mir.
Bitter steigt er von den Chrysanthemen auf und mir wird bang.
Mit Kinderfreude aber erfüllt er mich noch heute, wenn Leintücher an der Sonne bleichen oder beim Bleistiftspitzen.
Und immer noch lässt mich der Duft des Lavendelkissens sorglos einschlafen.
So flüchtig ist auch Deine Gegenwart in all ihren Formen, Du großes Geheimnis, und unnachgiebiger, als duftschwere Lüfte es sind in ihrem Anspruch an mich. Mach mein Herz bereit. Amen.»[16]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 6f., 15f.]
[Ergänzend:
1. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993); siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 5 ‹Gott durch die Sinne finden›, 82-90:
«Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?»
«Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(43:44) ‹Der Duft› (Rilke, aus dem Nachlass) – ‹Rose, du thronende› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, VI) / (51:09) Erinnerung und Ritual – ‹Köstlich ist der Duft deiner Salben. Dein Name: hingegossenes Salböl› (Hohelied 1,3):
Wer bist du, Unbegreiflicher: du Geist,
wie weißt du mich von wo und wann zu finden,
der du das Innere (wie ein Erblinden)
so innig machst, dass es sich schließt und kreist.
Der Liebende, der eine an sich reißt,
hat sie nicht nah; nur du allein bist Nähe.
Wen hast du nicht durchtränkt als ob du jähe
die Farbe seiner Augen seist.
Ach, wer Musik in einem Spiegel sähe,
der sähe dich und wüßte, wie du heißst.
Rilke, ‹Der Duft›
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25:57) Riechen ‒ Duft im Hohelied. ‒ ‹Wir sind ein Wohlgeruch› (2 Kor 2,15)
2.3. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Riechen, Ahnen, Mörikes Frühlingsgedicht: ‹Er ist‘s›:
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
‒ Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab’ ich vernommen!]
________________________
[1] Ein Geruch kann sehr tröstlich sein, Beitrag von Bruder David im Buch Salbei und Brot: Gerüche aus der Kindheit (1992), 86-88
[2] Ludwig Uhland: ‹Frühlingsglaube› in Osterbotschaft 2021
[3] Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
[4] R. M. Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, VI
[5] engl. für ‹bitter›
[6] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 45-48
[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 88
[8] Hohelied 1,3 (Lutherbibel 1912); Zürcher Bibel: ‹Ausgegossenes Salböl ist dein Name›
[9] Hohelied 4,10f. (Lutherbibel 1912);
[10] Hohelied 4,12-16 (Lutherbibel 1912)
[11] Siehe auch Weihnachtsgrüße 2017
[12] Jesus Sirach 24,15
[13] Eph 5,2
[14] 2 Kor 2,14-16
[15] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 64f., 67-70
[16] Erwachende Worte (2023), ‹32 Duft›, 81
Erlösung ‒ Sünde und Heil
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen.
Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen:
«Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin»?
Oder: «Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Person, die ich liebe, und doch bin ich mir selbst entfremdet»?
Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins.
Dann haben wir die Entfremdung überwunden.
Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte.
Der zeitgenössische Begriff für Heil ist Zugehörigkeit.
Der Weg von der Entfremdung zur Zugehörigkeit ist der Erlösungsweg von der Sünde zum Heil.
Zugehörigkeit ist andererseits genau das, wonach sich unser ganzes Wesen sehnt.
Ein älteres Wort nannte dies «Erlösung».
«Erlösung» stand einmal für jene Verwirklichung allumfassender Ganzheit, die das Wort Zugehörigkeit für uns hier bedeutet.
Im Innersten unseres Herzens wissen wir, dass Ganzheit grundsätzlicher, ursprünglicher ist als Entfremdung, und so verlieren wir niemals ganz ein eingeborenes Vertrauen darauf, dass wir am Ende ganz und beieinander ‒ eins sein werden.
Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.
Er findet Gott
«die Stelle welche heilt»,[1]
während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.
Entfremdung und Zugehörigkeit sind die zwei Pole unserer allergrundsätzlichsten Wahl, Synonyme für Sünde und Erlösung.
Das Wort «Sünde» wird heute so leicht missverstanden, dass es schon fast unbrauchbar wird.
Die Wirklichkeit jedoch, die einst Sünde genannt wurde, gibt es noch immer, und so musste unsere Zeit ihren eigenen Terminus dafür finden.
Was in anderen Zeiten Sünde genannt wurde, nennen wir Entfremdung. Die Lebendige Sprache hat ein passendes Wort gefunden.
Entfremdung suggeriert eine Entwurzelung vom eigenen wahren Selbst, von anderen, von Gott (oder was sonst von fundamentaler Bedeutung ist), und all das mit einem einzigen Wort.
Auch das Wort «Sünde» suggeriert Entwurzelung und Absonderung.
Es hat den gleichen Wortstamm wie das mittelhochdeutsche «sunder» und das gotische «sundro», die beide «abseits, gesondert, für sich» bedeuten; ein Wortstamm, der heute noch im Wort «Sund», die Meerenge, gefunden wird, die einmal als «das, was Land und Inseln trennt» aufgefasst wurde.
Eine Handlung ist in dem Maße sündig, in dem sie Absonderung, Entfremdung verursacht.
Was aber nicht Entfremdung verursacht, ist keine Sünde.
Daraus die Konsequenzen zu ziehen, könnte sich für viele als befreiend, für andere als beschuldigend erweisen.
Es könnte eine signifikante Gewichtsverlagerung in der Ethik von privater Perfektion zu sozialer Verantwortung bedeuten.
Es könnte uns sehen helfen, dass heute «an unserer Erlösung arbeiten» bedeutet, Entfremdung in all ihren Formen zu überwinden.[2]
«Vergib uns unsere Schuld, bete ich und bemerke, dass ich oft ‹Schuld› sage, aber eigentlich ‹Sünde› meine ‒ also einen Verstoß gegen dein Gebot, gegen deinen ‹Willen›.
Dass ich tief im Herzen weiß, was du eigentlich ‹willst›, das beweist mir mein Schamgefühl beim Anblick der Ungerechtigkeit dieser Welt, wo Kinder hungern und Millionen ein menschenwürdiges Leben verwehrt wird. Doch du willst ‹Leben in Fülle›.
Meine Scham lässt mich fühlen, dass mein Versagen die zarte Vernetzung zerreißt, durch die alles mit allem verbunden ist ‒ verbunden auch mit dir.
Das Wort ‹Sünde› kommt ursprünglich von ‹absondern›.
Sünde meint einen Riss im Gewebe des Ganzen. Sie trennt, was zusammengehört, und das ist buchstäblich herzzerreißend.
Denn das Herz ist ‒ wie Rilke das so wunderbar ausdrückt ‒
‹das ins Ganze Geborne›.[3]
Wenn wir aus unserm Herzen leben, dann gehören wir dem Ganzen, dann werden wir ganz, dann werden wir auch das, was uns am Ganzen so schwierig erscheint, in uns aufnehmen, dann werden wir mit dem Ganzen auskommen.
Das Herz ist jener Bereich, wo wir am tiefsten und innigsten mit allem und allen und mit dem Göttlichen verbunden sind.
Darum findet sich das Herz nicht ab mit der Trennung und es mahnt uns, die Trennung zu überwinden.
Aber auch dort, wo unser Herz uns anklagt, dürfen wir dir vertrauen, denn du bist ‹größer als unser Herz und kennst uns durch und durch› (1 Joh 3,20).
Auf dein grenzenloses Verzeihen lass mich vertrauen und es freigebig weiterschenken. Amen.»[4]
Oft wird gesunder Menschenverstand gebraucht, um herkömmliche Annahmen zu bezeichnen, das genaue Gegenteil von voller Lebendigkeit.
Aber der gesunde Menschenverstand, von dem wir jetzt sprechen, ist so dynamisch, so lebendig, so weit, dass es allem, was wir tun und sind, eine neue Farbe, eine neue Note gibt.
Es ist ein sinnliches Wissen und es entspringt dem, was wir mit der ganzen Schöpfung gemein haben.
Unseren Erfahrungen wohnt die Erkenntnis inne, dass wir nicht getrennte Leiber sind, sondern dass in diesem Universum alles zusammenhängt, alles ist Teil von allem.
Aus diesem Bewusstsein entspringt das einzige Wissen, das Sinn macht.
Dieses Wissen geht so tief, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen hat.
Es ist dem ganzen Universum gemeinsam. Wir müssen uns nur anschließen.
Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun.
Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden.
So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.
Er ist eine vibrierende Lebendigkeit zur Welt, in der Welt und für die Welt.
Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit.
Gesunder Menschenverstand ‒ gerade, weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben ‒, zieht keine Grenzen.
Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschließt.
Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört.
Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten:
Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschließen.
Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein.
Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden.
Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden-Familie sind.
Diese globale, alles einschließende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem «Reich Gottes» meinte.
Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt.
Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff Autorität.[5]
Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.
Laotse bezeichnete sie als Dao[6] und Heraklit nannte sie Logos.
In dem Satz «Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort» (Markus 4,33) verwendet Markus für «Wort» diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.
Wäre der Begriff «Heiliger Geist» nicht die altehrwürdige Bezeichnung einer für uns ganz wesentlichen Erfahrungswirklichkeit, wir würden ihr heute sicher einen anderen, für uns aussagekräftigeren Namen geben.[7]
«Geist» intendiert schnell die Bedeutung Gespenst und das Wort «heilig» hat heute zu viele Anklänge an «scheinheilig»; es lässt kaum noch an «Heil-» und «Ganzsein» denken, es weckt auch nicht mehr das Empfinden des Überwältigenden und Atemberaubenden einer numinosen Wirklichkeit.
Wollten wir heute einen neuen Begriff für jene unendlich schöpferische Lebenskraft und Harmonie finden, die alles mit allem verknüpft und die Quelle des Lebens schlechthin ist, so würde sich die Bezeichnung Common Sense dafür sehr gut eignen.
Auf jeden Fall wäre es eine inspirierende Übung, überall dort, wo man den Begriff «Heiliger Geist» liest oder hört, stattdessen einmal Common Sense einzusetzen. Dann wäre die Tragweite des Gemeinten wieder deutlicher spürbar.
Jesus hielt sich an seine jüdische Überlieferung und sprach von seiner Vision einer neuen, harmonischen Weltordnung als dem «Reich Gottes».
«Reiche» kommen heutzutage fast nur noch in Märchen vor.
Die Vorstellung von Gott als einem im Himmel thronenden «König aller Königreiche» spricht uns nicht mehr an.
Für unser Weltverständnis ist die Autoritätspyramide mit einem König oder Gott an der Spitze ein nicht mehr nachvollziehbares Modell; dem neu aufdämmernden Weltverständnis entspricht eher der Begriff, den der amerikanische Dichter Cary Snyder prägte: Earth Household ‒ «Erd-Haushalt».[8]
In diesem Erd- oder Welt-Haushalt ist Autorität nicht etwas, was von außen und oben einwirkt, sondern sich von innen her meldet:
Der Common Sense gewährleistet, dass alle mit allen harmonisch zusammenarbeiten. Das «Reich Gottes», in das Jesus uns ruft, ist der «Gottes-Haushalt».
Tatsächlich spricht er ja von Gott nicht als unserem König, sondern von Gott als unserem Vater; und der mütterliche Geist (im Hebräischen ist «Geist» weiblichen Geschlechts) ist der alles durchwaltende, kosmische Familiensinn, der Common Sense.
lm Gottes-Haushalt muss die Liebe zur Macht der Macht der Liebe weichen.
«Je kleiner die Eidechse, desto größer ihr Ehrgeiz, ein Krokodil zu werden», sagt ein äthiopisches Sprichwort.
Ob das für Eidechsen stimmt, weiß ich nicht sicher, aber auf uns Menschen trifft das Streben nach mehr jedenfalls zu.
Je mehr Macht einer hat, desto höher steht er in der Autoritätspyramide der ehrgeizigen Welt.
Aber im Himmelreich, im Gottes-Haushalt, gelten die Autoritätsstrukturen eines Haushalts.
Hier bekommt Autorität, wer dient:
«Der Größte unter euch soll der Geringste sein und der Höchste der Diener aller» (Lukas 22,26).
Wer im Gottes-Haushalt Autorität besitzt, muss seine Macht dazu nutzen, alle ihm Untergebenen zu fördern, damit sie eigenständig werden.[9]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 4f., 9]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Ökologie:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott / (07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes / (39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)
1.2. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(37:38) Was ist unsere Aufgabe in einer Welt, in der sich die Machtpyramide durchsetzt? Da gibt es nur Widerstand in einer Welt, in dem die Mächtigen ein Klima der Angst schaffen: ‹Fürchtet euch nicht›: Jesus lebt diese völlige Furchtlosigkeit, weil er in Gott eingebettet ist. Und wir sind furchtlos in dem Maß, in dem wir in Gott eingebettet sind. Sünde meint Absonderung, was uns trennt von Gott, von unserer eigenen Tiefe und den Andern, und äußert sich am meisten in Furcht
1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Fragerunde nach dem Vortrag:
Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 3: «Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht» (Angelus Silesius):
(11:51) In der Schule der Wüstenväter und Wüstenmütter: Drei Hauptsünden: 1. Ungeduld, Zorn ‒ 2. Lust im Sinn von ‹sich anklammern› ‒ 3. Faulheit, Acedia, Traurigkeit
1.4. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag; siehe auch die Mitschrift des Vortrags:
(12:17) ‹Das Herz, das ins Ganze geborne› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
Diskussion:
(00:00) Das Herz ausschütten – heil, heilen, heilig ist nicht dasselbe wie Gesundheit, sondern ein Ganzmachen
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(00:28) ‹Immer wieder von uns aufgerissen, ist der Gott die Stelle, welche heilt› (Rilke, Die Sonette an Orpheus, 2. Teil, XVI)
1.5. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
Wir sind erlöst! – der andere Blick auf Gewohntes
1.6. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
4.1 Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche (siehe auch Text Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche):
(50:31) Ursprüngliches Heilsein und Erbsünde
4.2 Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Heilsein, Dukkha, Sündenfall, der Klammergriff der Angst
1.7. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(14:56) Die Entscheidung für das Leben oder für Tod im Mythos vom Sündenfall. Der Baum des Lebens im Paradies und das Kreuz an dem sich die Geister scheiden: ‹Wenn wir uns fürs Leben entscheiden, werden wir von der Welt, die tot ist, aber sehr mächtig, getötet werden früher oder später›
(18:35) ‹Da ging ein Riss durch deine reifen Kreise› (Rilke, Ich lese es heraus aus deinem Wort, Das Stunden-Buch)
(20:12) Der neue Adam hat das Gottgleichsein nicht wie der alte an sich gerissen: Bruder David liest und deutet Phil 2,6-11
2. Das Vaterunser (2022): ‹Schuld als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 80f.:
Brigitte Kwizda-Gredler: «In unseren Gesprächen haben wir immer wieder das Bild des Tanzens zur großen kosmischen Musik verwendet. Da wird dann die Verfehlung zum Nicht-auf-die-Musik-Hören und deshalb zum Schritt, der nicht dem Takt folgt.»
Bruder David: «Diese drei Bilder von Sünde als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen weisen auch recht deutlich darauf hin, wie wir die Verfehlung gutmachen können: durch das sorgfältige Wiederverweben von Beziehungen; durch Wiederherstellung eines ausgewogenen Austausches; durch achtsames Hinhorchen auf die Musik des Lebens.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Und wo passt da die christliche Lehre von der ‹Erbsünde› herein?
Bruder David: «Das Wort ‹Erbsünde› ist entschieden obsolet, schon deshalb, weil es einfach irreführend ist. Die schmerzliche Erfahrung aber, die zur Vorstellung der Erbsünde geführt hat, ist keineswegs auf das Christentum beschränkt. Buddhisten verwenden dafür das Wort ‹dukkha›, hinter dem ursprünglich das Bild von einem Rad steht, das nicht richtig auf der Achse sitzt.
Für Buddhisten bedeutet es, dass das menschliche Dasein seit undenklichen Zeiten gründlich aus der Bahn geworfen ist. Und in diese Situation werden wir hineingeboren. Wir ererben sie, sozusagen. Heute würden wir eher sagen: Wir nehmen am systemischen Übel der Welt teil, ob wir es verschulden oder nicht! Als Einzelne sind wir dem System nicht gewachsen. Darum ist die Antwort der christlichen Tradition: Du musst aussteigen aus dem tödlichen System und einsteigen in das lebensspendende Reich Gottes.»]
_____________________
[1] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI; siehe den Text in Stille leben: Anmerkung 1
[2] Der Text ist eine Komposition von Passagen in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 33f. mit 184f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 31f. und 185f.]
[3] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II; siehe die Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.
[4] Das Vaterunser (2022): ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern›, 75f.
[5] Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 4
[6] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:
«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»
[7] Auf dem Weg der Stille (2016), 72f.; siehe auch Hausverstand, Ergänzend: 2.:
«Der Begriff ‹spirit› (‹Geist›) ist schon derart missbraucht worden, dass ich überglücklich wäre, wenn man ihn vollständig fallen lassen und stattdessen immer von ‹common sense› sprechen würde. In unserer heutigen Umgangssprache bezeichnet dieser Ausdruck das Gemeinte viel besser. Er ergibt Sinn; er ist über die Sinne mit dem Körper verbunden; er ist gemeinschaftlich (common), grenzenlos gemeinschaftlich.»
[8] ERDHAUSHALT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134f.:
«Erdhaushalt ist ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (*1930) geprägt hat. Dieses Wort veranschaulicht, dass unsre Umwelt zugleich Mitwelt ist, der wir uns verwandt fühlen dürfen und von der wir ernährt werden. Statt Umwelt Erdhaushalt zu denken und zu sagen, verändert ganz von selbst unsre Haltung, was zugleich zeigt, welche Wirkkraft Worte besitzen.»
[9] Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 55, 59-61
Kreuz und Erlösung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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Wenn wir uns eingehender damit befassen wollen, was Erlösung im christlichen Sinn bedeutet, müssen wir bei der Aussage beginnen, dass Jesus die Menschen rettete, lange bevor das Kreuz in Sicht war.
Er rettete die Menschen, indem er sie dazu brachte, auf eigenen Füßen zu stehen.
In diesem Sinn verstanden seine Zeitgenossen ihn als Retter.
Er gab ihnen ihre Selbstachtung und ihre tiefste Beziehung zurück ‒ die Beziehung zu Gott, zum Allerhöchsten ‒, indem er sie daran erinnerte, dass sie nie verloren gegangen war.
Jesus sagte nicht: «Hier hast du etwas, ich gebe es dir» oder: «Ich vergebe dir deine Sünden.»
Jesus sagte: «Deine Sünden sind vergeben», mit der implizit darin enthaltenen Frage: «Weißt du das denn nicht?»
Es waren seine Gegner, die sagten: «Wer ist dieser Kerl, der den Leuten die Sünden vergibt? Nur Gott kann Sünden vergeben.»
Natürlich sahen die politischen und autoritären religiösen Obrigkeiten seiner Zeit nicht gerne, dass er Menschen auf diese Weise rettete, genauso wenig, wie ihre heutigen Entsprechungen in Mittelamerika keinen gerne sehen, der den Menschen dort hilft, auf eigenen Füßen zu stehen.
Auch wenn man die Evangelien als spätere Berichte über Geschehnisse, die sich eine geraume Zeit davor zugetragen hatten, betrachten muss, so geht doch ziemlich deutlich daraus hervor, dass seine rettende Aktivität zum Kreuz führte und dass Jesus das Kreuz willentlich als ein freies, bereitwilliges Opfer für seine Sache, für das, wofür er einstand, und auch als Geste des Gottvertrauens auf sich nahm.
Nachdem er von der etablierten Gesellschaft aus dem Weg geräumt worden war, erkannten seine Nachfolger ‒ auch wenn sie zuerst tief bestürzt waren und in alle Winde zerstreut wurden ‒, dass ein solches Leben nicht mehr auszulöschen war.
Und das nennen wir die Auferstehung.
Sie wird uns in mythischen Bildern überliefert, und wir können den Geschehnissen nicht nachgehen, um festzustellen, was historisch wirklich geschah; um das geht es uns auch nicht.
Wichtig ist offensichtlich, dass er starb und dennoch lebt.
Wir können das nicht dadurch belegen, dass wir zweitausend Jahre zurückgehen, sondern es ist vielmehr etwas, das heute in zahllosen Lebensgeschichten geschieht und erfahrbar ist:
Er hat uns befreit.
Christus lebt in denen, die seinem Weg folgen, und sie leben in ihm.
Das ist die höchste Art der Rettung. Sie leben durch sein Leben und werden ihrerseits Retter für andere.
Heutzutage ist mir noch keiner begegnet, dem es Schwierigkeiten gemacht hätte, das zu verstehen, aber viele haben enorme Probleme mit der Auffassung, dass «er für unsere Sünden gestorben ist», wie man im Kindergottesdienst lehrt.
Jesus lebte und starb, um der Entfremdung von unserem wahren Selbst ein Ende zu setzen, der Entfremdung von anderen und von der allerhöchsten Wahrheit. Er hat für dieses Ziel gelebt und musste sterben, weil er entsprechend lebte. In diesem Sinn ist er «für unsere Sünden» gestorben».
Unglücklicherweise ist das über die Jahrhunderte hinweg in einer beinahe juristischen Sprache übermittelt worden; als wäre es eine Art Transaktion oder ein Handel mit Gott:
Es gab einen Graben zwischen uns und Gott, und jemand musste dafür aufkommen.
Diese ganzen Geschichten können wir vergessen.
Das juristische Bild scheint anderen Generationen geholfen zu haben. Schön und gut. Alles, was hilft, ist in Ordnung. Aber wenn es zum Hindernis wird wie heute, sollten wir es vergessen. Wir brauchen diese Sprache nicht zu sprechen. Wir können die Dinge ruhig so beschreiben, wie ich es eben getan habe.
[Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast, Teil 1: ‹Der Erlöser und der Weise›, 75-77; siehe auch ST 37-39 unter dem Titel ‹Erlösung›]
[Ergänzung:
Audios
1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»:
(00:00) Warum musste Jesus Christus am Kreuz sterben? Und: Wie hat das uns erlöst? Die Antwort von Anselm von Canterbury (1033-1109)[1] / (04:20) ‹Weil Gott der Vater es so wollte› ‒ diese Antwort ist ungenügend, weil die Frage zunächst eine geschichtliche Frage ist, die man geschichtlich beantworten muss. / (05:43) Die Antwort von Bruder David: Das Leben Jesu steht für die entscheidende Wende in der Religionsgeschichte: Jesus verlegt die göttliche Autorität in die Herzen seiner Zuhörer[2] / (09:38) Die Pointe der Gleichnisse Jesu: ‹Ihr wisst es doch: Warum handelt ihr nicht danach›? / (11:19) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Schriftgelehrten› ‒ ‹Deine Sünden sind dir vergeben›: Jesus ermächtigt die Menschen ‒ Konflikt mit den autoritären Autoritäten / (13:14) Zuviel Verantwortung: Die Massen lassen ihn fallen / (15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung / (17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen
2. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
3. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
‹Wir sind erlöst!› – der andere Blick auf Gewohnte: ‹Das Kreuz auf sich nehmen›, ‹Bekehrung›, ‹Busse›
4. Audio Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Transkription Teil II, 13f.:
(19:44) Erlösung in biblischer Schau:
«Das ist das Urwesen des Christlichen, dass Gott uns nicht so von außen erlöst, sonst müsste man ja diese ganze christliche Geschichte gar nicht haben, sondern, dass die Erlösung von innen kommt, durch einen, der uns gleich ist in allem. Das ist ausdrücklich gesagt von Christus:
Jesus Christus ist uns in allem gleich außer in dieser Entfremdung, in der Sünde ‒ richtig verstanden ‒ in der Vereinzelung, in der Verelendung, in der inneren Abspaltung von unserem göttlichen Kern, von unserem innersten göttlichen Wesen.»]
______________________
[1] Bruder David erklärt die Satisfaktionslehre, die Anselm von Canterbury in seinem Buch «Cur Deus homo» vertritt: «Wie Anselm von Canterbury für seine Zeit gesprochen hat, müssen wir heute das für unsere Zeit sagen können.»
[2] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»
Erlösende Kraft
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Noch bevor die Christen als solche bezeichnet wurden, waren sie als die «Weggemeinschaft» oder «die Leute, die auf dem Weg sind» bekannt.
Damit war der Weg der Erlösung gemeint.
Sie nannten ja auch Jesus nicht nur den «Erlöser», sondern auch den «Weg» ‒ den Weg in die Freiheit, könnten wir sagen. Das Ziel dabei ist die Freiheit.
Dieses Wort drückt besser aus, was mit Erlösung eigentlich gemeint ist, nämlich Befreiung.
Schon sich auf den Weg machen, wirkt bereits befreiend.
Stetig voranzuschreiten führt uns aber zu immer größerer Freiheit.
Verbundenheit befreit.
Und gläubiges Vertrauen verbindet uns mit dem Großen Geheimnis.
Hoffnungsvolle Bereitschaft, Schritt für Schritt authentischer zu werden, verbindet uns mit unserem wahren Selbst.
Und unser liebendes Ja zur Zugehörigkeit verbindet uns mit allen Lebewesen.
Diese drei Bande der Verbundenheit aber zerreißt die Sünde.
Erlösung aber erleben wir ‒ als Gabe und Aufgabe zugleich ‒ in drei Formen der Verbundenheit.
Der Glaube befreit unser Herz durch Vertrauen auf die absolute Vertrauenswürdigkeit Gottes.
Die Hoffnung erlöst uns durch die Offenheit für Überraschung auf jedem Schritt des Weges.
Und die Liebe heilt uns durch die Herzenswärme, mit der wir das Ja Gottes empfangen und tatkräftig weiterschenken.
Letztlich geht es um das «Wirklichwerden», dieses Wort fasst eigentlich das Wesen von Erlösung am besten zusammen.[1]
Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.
Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.
Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.
Deshalb sagte Rilke: «Jeder Engel ist schrecklich.»
Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel?
Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.
«Denn das Schöne», sagt Rilke, «ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.»[2]
Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben.
Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.
T. S. Eliot bemerkt: «Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.»[3]
Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben?
Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch «Der Plüschhase»:[4]
Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:
«Tut Wirklichwerden weh?»
Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh?
Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:
«Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.»[5]
Unsere Erlösung beginnt mit der Besinnung und Rückbindung auf das Große Geheimnis, das uns alle verbindet. Aus dieser Verbundenheit heraus erwächst die Kraft des Guten zur Heilung unserer Umwelt sowie auch unserer Mitwelt.
Im privaten Leben heißt das:
Ich muss Verschuldung durch Vergebung gleichsam «auffüllen»,
Unversöhnlichkeit durch Verzeihung
Missmut durch Freudigkeit.
Auch Diskriminierung ist letztlich auf einen Mangel zurückzuführen, den Mangel an Einfühlungsvermögen.
Hier braucht es Aufklärung und Herzensbildung, aber die können wir wohl nur einer neuen Generation durch entsprechende Schulbildung vermitteln.
Erlösung vom Bösen fordert jedenfalls unseren ganzen Einsatz nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern ganz besonders auf der gesellschaftlichen.
Wenn wir mit der gleichen Herzenswärme die uns am nächsten ebenso wie die uns am fernsten Stehenden umarmen, dann schenkt uns das eine ungeahnte innere Weite und Freiheit.
In diesem Sinne können wir alle Vermittler der heilenden Kraft des Großen Geheimnisses sein, einer Kraft, die durch den ganzen Kosmos fließt. Und in diesem Sinne sind wir alle Priesterinnen und Priester.
Je mehr ich diese heilende, erlösende Kraft durch mich selbst hindurchfließen lasse, umso mehr macht mich das auch selbst mehr und mehr heil.
Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn wir diese erlösende Kraft fließen lassen und weitergeben, werden wir also ganz durchlässig für das Große Geheimnis.»
Bruder David: «Dazu fällt mir ein berührendes Beispiel ein. Zur Zeit, als die Schifffahrt noch die einzige Reisemöglichkeit zwischen Amerika und Europa war, stand meine Mutter im Hafen von New York an Deck der «Bremen». Unten am Pier bemerkte sie den tränenreichen Abschied einer großen italienischen Familie, die eine schwerbehinderte junge Frau im Rollstuhl einer Gruppe von Mitreisenden anvertraute. Im Laufe der Überfahrt nahm sich meine Mutter der jungen Frau an, die ihre winzige und überhitzte Kabine am untersten Deck nur mit großer Mühe verlassen konnte. Dabei erfuhr sie, dass sich die Familie nur ein einziges Ticket leisten konnte, und darum musste die Tochter alleine nach Lourdes reisen. In Frankreich angekommen, schiffte sich die Pilgergruppe, der Teresa anvertraut war, mit ihr in Le Havre aus. Meine Mutter blieb noch bis Hamburg an Bord, konnte aber lange nicht vergessen, mit welcher felsenfesten Hoffnung die Kranke um Heilung am Gnadenort gebetet hatte. Nach vielen Monaten kam ein Brief von Teresa: Sie hatte Lourdes nie erreicht. Kein Wort darüber, unter welchen Umständen sie alleine in einem Pariser Hotelzimmer zurückgelassen wurde. Doch schon das armselige Briefpapier schien zu strahlen: Aus dem Brief sprach nichts als überströmende Dankbarkeit für all die Hilfe und Segnungen, die Teresa von unzähligen hilfsbereiten Menschen erfahren hatte. Nichts als Freude, nun wieder mit ihrer Familie in den USA vereint zu sein. Der Brief sprach überhaupt nicht von Vergebung oder Heilung, aber er gab Zeugnis von Erlösung durch Liebe. Und bei Erlösung kommt es letztlich nur auf die Liebe an.[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.
Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:
Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.
Ich bleibe dem Leben etwas schuldig: mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.
Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.
Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒ an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.
Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5-7]
[Ergänzend:
2. Audios
2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(00:49) Verlässlichkeit und Lebensvertrauen in Extremsituationen
2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen / (20:22) Das Glaubensleben ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung / (23:22) Um den Glauben beten heißt, um Lebensvertrauen zu beten: Erlebnisberichte / (27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)
2.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(11:25) ‹Blumenmuskel, der der Anemone Wiesenmorgen› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V) ‒ ‹Meine Seele ist ein Weib vor dir› (Rilke, Das Stunden-Buch) ‒ ‹Was lehrt, was nährt das Leben? Lebendigkeit, Was lehrt, was nährt das Lebendigsein? Das Leben: Dieser Kreis der Liebe: Liebe ist das Ja zum Leben, das Ja zur Zugehörigkeit, das Ja zur Gemeinsamkeit ‒ Die Bekehrung ist der Übergang von der Gewalttätigsein zum Mitspielen, zum Mit-dem-Strich-des Lebens gehen, zur Offenheit, zur Empfänglichkeit›
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
(17:20) ‹O erst dann, wenn der Flug› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXIII): Das ‹reine Wohin› ist, was wir hier Leben genannt haben oder Hl. Geist. Wenn wir mit dem ‹reinen Wohin› gehen, dann gehen wir mit dem Strich, mit dem Fluss, mit dem Strom des Lebens. Und die Bekehrung ist der Übergang von dem gegen den Strich gehen, vom ‹unreinen Wohin› zu dem ‹reinen Wohin›
3. Weitere Texte
3.1. Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 4 «Mit Körper, Denken und Geist lebendig sein», 68f.; siehe auch in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht, Ergänzend: 3.3.:
«Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an die Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.
T. S. Eliot sagte: ‹Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit aushalten.›[8] Aber in verschiedenen Graden können wir die Wirklichkeit aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Wirklichkeit auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen, mit der ganzen Wirklichkeit, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen.»
3.2. Musik der Stille (2023): ‹Vesper: Das Lichteranzünden›, 122f.:
«Der Höhepunkt der Vesper[9] ist das Singen des Magnifikat, jenes Liedes im Lukas-Evangelium, das Maria zur Begrüßung ihrer Base Elisabeth singt:
‹Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.›
Dieses Lied, das Gott für unsere Rettung und letztendliche Versöhnung preist, wird jeden Tag das ganze Jahr hindurch zur Vesper gesungen. Der Abendgottesdienst sieht in der mütterlichen Gestalt Mariens die Mütterlichkeit Gottes, der uns bedingungslos liebt wie eine Mutter. Das Magnifikat zur Vesper entspricht der Hymne des Zacharias, die sich im selben Kapitel bei Lukas findet und in den Laudes gesungen wird. Dort verkündet Zacharias:
‹Gepriesen sei der Herr ... Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.›
Diese beiden großen Hymnen sind die Pfeiler des Morgens und des Abends, die den Tag stützen, und in beiden feiern wir unsere Erlösung.
Die Wurzel der Erlösung ist die Heilung des Grabens, der sich durch die Welt zieht, jener Spaltung, die wir als Entfremdung uns selbst und anderen gegenüber erleben und die uns von unserem Wesenskern fernhält; wir empfinden die Gesänge intuitiv als Gegenmittel.
Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln.
Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns.
Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.»]
_____________________
[1] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizia-Gredler mit Bruder David, 105f.
[2] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Erste Elegie
[3] «Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.
Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.»
(T. S. Eliot, Four Quartets, Burnt Norton, I)
[4] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Tedybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[5] Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 26f.; ebenso in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4.
[6] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 107-109
[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 23
[8] Bernardin Schellenberger übersetzt «reality» mit «Realität». Aber es geht um die numinose Wirklichkeit im Unterschied zu Realität im gängigen Sprachgebrauch des Wortes.
[9] Unter der ‹Vesper› (vom Lateinischen ‹vespera›: Abend) wird das kirchliche Abendlob verstanden. Die Vesper ist jenes Gebet, das nach Abschluss der Arbeit des Tages verrichtet wird.
Fließweg und Entscheidung
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
Beginnen wir mit einer Art von Erfahrung, die mehr Beachtung verdient, als man ihr gewöhnlich schenkt.
Es handelt sich dabei um oft dramatische Ereignisse, bei denen wir gar nicht Zeit haben, Entscheidungen zu treffen, und doch spontan genau das tun, was die Situation verlangt ‒ manchmal mit ganz außergewöhnlicher Kraft und Geschwindigkeit:
Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem heranrasenden Schnellzug von den Schienen.
Später weisen beide jede Anerkennung zurück:
«Es war schon geschehen,
bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken»,
sagen sie.
«Sie hatten nicht Zeit» nachzudenken.
Das ist der erste springende Punkt.
Wir dürfen den Satz auch umkehren und sagen:
«Die Zeit hatte sie nicht»
in ihrem Netz, denn sie waren ganz im Jetzt. Darum war die Entscheidung einfach da.
Und das ist der zweite springende Punkt: Wenn wir im Jetzt sind, ist die Entscheidung schon Tatsache ‒ auch in dem Sinn, dass die Scheidung von Ich und Selbst, die mich zum Ego macht, aufgehoben ist.
Sobald ich im Jetzt bin, kann die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließen.
Das ist wahre Freiheit.
Sobald ich im Jetzt bin, steht die angemessene Vorgehensweise klar vor mir und ich bin dafür bereit.
Was im entscheidenden Augenblick der Feuerwehrmann und die Mutter auf so außergewöhnliche Weise erlebten, das können wir alle, wenn auch weniger auffällig, im Alltag erleben, wann immer wir wirklich im Jetzt sind:
Ich und Selbst handeln dann als eine Einheit ‒ die Entscheidung entspringt wie von selbst den Gegebenheiten.
«Wie ist das gemeint?», wird sicherlich jemand fragen.
«Muss ich überhaupt noch entscheiden, wenn die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließt?»
Die Lebenskraft bewerkstelligt täglich tausende lebenswichtige Aufgaben für dich, die weit über deinen Verstand hinausreichen.
Sie reguliert deine Körpertemperatur, deinen Blutdruck, deinen Stoffwechsel und trifft unzählige andre dir unbewusste Entscheidungen.
Dich bei bewussten Entscheidungen in diese Wirkkraft einzublenden, kann Mühe kosten.
Wenn es sich um gewichtige Entscheidungen handelt, kann es sogar schwierige Erwägungen erfordern und langwierige Besprechungen mit andren, die von deiner Entscheidung betroffen werden.
Aber die eigentliche Entscheidung ist schon getroffen. Sie lautet:
«Ich will mich auf die Weisheit des Lebens verlassen.»
Daher geht es nun nur noch um ein fragendes Hinhorchen:
«Was will das Leben jetzt von mir?» ‒
Es geht um ein vertrauensvolles Sich-Verlassen auf die Weisheit des Lebens.
Und es geht darum, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren.
Wenn du deine Aufgabe so verstehst, kannst du die «Qual der Wahl» dem Leben überlassen und die Last der Entscheidung fällt von deinen Schultern.
«Sich auf die Weisheit des Lebens verlassen»
und «ins Jetzt zurückkehren» ist ein und dasselbe.
Denn was du verlässt, wenn du «dich verlässt», ist das Ego.
Es gibt freie und unfreie Handlungen.
Ich-Selbst bin immer frei; mein Ego nie.
Das Ego will mit Gewalt starr und eigensinnig seine Pläne durchsetzen, wird dabei aber von der Strömung des Lebens überrollt.
Das «lch-Selbst» schwimmt in dieser Strömung, sie vertrauensvoll, zielbewusst, geschickt und vor allem gewaltfrei nutzend.
Die einzig wahre Freiheit ist Gewaltfreiheit ‒ das lch-Selbst tut der Wirklichkeit keine Gewalt an.
Die einzig freie Entscheidung ist die Heimkehr des Ich zum Selbst ‒ seine Befreiung aus der Scheidung zwischen den beiden, die es zum Ego machte.
Furcht will sich an die Vergangenheit klammern, Wunschträume schweben in der Zukunft herum, aber nur im Jetzt können wir uns nüchtern den Forderungen des Lebens stellen.
Das Ego ist niemals im Jetzt; es ist immer in Vergangenheit oder Zukunft verfangen.
Aber indem ich mich im Jetzt sammle, komme ich heim zu mir selbst ‒ zum lch-Selbst.
Das Selbst ist eins und macht uns alle eins.
Als «lch-Selbst» handle ich aus dem Bewusstsein dieses Eins-Seins mit allen.
Aber dieses «radikale Ja zur Zugehörigkeit» ist unsre Definition für Liebe.
Kein Wunder also, dass das Wort «frei» ‒ wie auch «Freund» ‒ von einer indogermanischen Wurzel stammt, die «lieben» bedeutet.
Und kein Wunder, dass der heilige Augustinus sagen kann:
«Liebe und tue, was du willst.»
Freiheit ist nicht die Fähigkeit des Egos, das zu tun, was ihm in den Sinn kommt ‒ willkürlich.
Echte Freiheit stellt sich ‒ bereitwillig ‒ auf das innerste Leitprinzip des Lebens ein.
Sie sagt in Liebe «ja» zur Gemeinschaft aller mit allen und kann daher tun, was sie will.
Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das Tao.
«Watercourse Way» nennt Alan Watts das Tao auf Englisch.
Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden, obwohl es nur Fachwörterbücher zu kennen scheinen.
Um mit dem Tao zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum «Anfängergeist» des Kindes zurückfinden.
Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt.
«Du hast noch kein lch, das sich von dem,
was geschieht, unterscheidet»,
wie Alan Watts es ausdrückt.
«Deshalb geschieht dir auch nichts. Es geschieht einfach.»
Du nimmst teil, sagt er, an
«den wundervollen Tanzfiguren... fließenden Wassers.»
Später gewinnen wir ein reflektiertes Bewusstsein von Ich und Selbst, aber gleichzeitig verlieren wir dieses Im-Fluss-Sein.
Dieser Verlust lässt sich jedoch vermeiden.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im «Fließweg».
Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.
Wie beim Baby «geschieht einfach» das Lebensbejahende, aber wie bei der oben erwähnten Mutter und dem Feuerwehrmann geschieht es mit unsrer Zustimmung.
Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.
Wie können wir aber sicher sein, dass wir im Einklang mit dem Universum entschieden haben?
Leider lautet die ernüchternde Antwort: 100% sicher zu sein, können wir niemals erwarten.
Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, wie vieles in jede Entscheidung hineinspielt und wie geschickt wir uns selber, beeinflusst von schlechten Gewohnheiten, etwas vormachen können, dann werden unsre Erwartungen bescheidener ausfallen.
Wir werden uns ehrlich bemühen, unser Bestes zu tun, und alles Übrige vertrauensvoll dem Leben überlassen. Erst dann sind wir wahrhaft frei.
Diesen Befreiungsprozess immer besser verstehen und ihm immer getreuer folgen zu lernen, ist eine lebenslange Aufgabe.[1]
«Und was du über die Zeit gesagt hast, das gibt den meisten Menschen einen verhältnismäßig leichten Einstieg zu dem, denn wir sind uns dessen bewusst, dass wir sehr selten wirklich im gegenwärtigen Augenblick sind.
Wir hängen an der Vergangenheit und wir strecken uns auch aus auf die Zukunft und es bleibt sehr wenig von unserem Bewusstsein übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.
Wenn wir lernen können, einfach hier zu sein, nicht viel zu denken, — unser Denken führt uns nicht dorthin, unser Denken lenkt uns ständig ab vom Bewusst-sein.
Wir sprechen vom Bewusstsein und denken ans Denken, wir sollten die Betonung auf das Sein legen, das bewusste Sein, wo das Denken keine große Rolle mehr spielt.
Wir können das Denken verwenden wie ein Werkzeug, aber jetzt ‒ wie die meisten von uns das erleben ‒ werden wir das Werkzeug des Denkens.
Alle großen Erfindungen werden gemacht, ohne dass der Erfinder denkt.
Er denkt sehr viel vorher und nachher, aber die wirkliche Erfindung bricht durch in einem Augenblick, in dem man nicht denkt.
Alle großen künstlerischen Schöpfungen kommen von irgendwo, aber jedenfalls nicht aus dem Denken.
Und so auch für uns.
Wenn wir lernen können, das Denken als Werkzeug zu gebrauchen, und nicht immer vom Denken versklavt zu sein, dann können wir auch im gegenwärtigen Augenblick bewusst sein.»[2]
(Eröffnungsvortrag 24:59:) Und die Lebensreise ist das Leid. ‒
Das überrascht uns ‒ vielleicht ‒, besonders, wenn wir noch jung sind. Es ist aber auch in der Philosophie, die in unserer Sprache enthalten ist, völlig klar angelegt.
Denn «Leiden» heißt ursprünglich: «gehen», «fahren», «reisen».
Leiden hat ursprünglich überhaupt nichts zu tun mit erleiden.
Und wenn das Leben der Leib[3] ist, dann gehen die, die wirklich im Leib leben weiter und erfahren in ihrer Lebendigkeit das Leben.
Die aber nicht im Leib leben, die bleiben nur am Leben picken und sind die noch nicht Gestorbenen: Die pickenbleiben.[4]
Und das bringt uns zu der weiteren Frage: Was ist denn dann eigentlich das Leidige am Leid?
Und da zeigt sich, dass «Leid» im Sinn von «das Leidige» überhaupt nicht verwandt ist mit dem Wort «Leiden». Das sind zwei völlig verschiedene Wortwurzeln.
Das «Leiden», das ursprünglich «leben», «fahren», «reisen» bedeutet ‒ «gehen» auch ‒, kommt von einer Wurzel her, und das «Leid» ist ein anderes Wort, das ursprünglich das «Widerwärtige» bedeutet.
Und erst langsam, langsam vermischen sich die beiden, denn heute, wenn jemand sagt das «Leiden» und das «Leid», so ist das fast nur ein stilistischer Unterschied. Man kann das vollkommen mischen.
Wir haben die beiden eben irrtümlich so vermischt. Und erst, wenn wir die wieder auseinandernehmen, und sehen, dass «leiden» gar nicht unbedingt etwas Leidiges sein muss, weil es ursprünglich nicht das «Leidige» bedeutet, dann beginnen wir darüber nachzudenken, was denn eigentlich das Leiden leidig macht.
Das Wort «leidig» bedeutet ursprünglich «hässlich», «ungut», «unangenehm», hauptsächlich aber «widerwärtig».
Und «leider» ‒ wenn wir sagen «leider» ‒, das ist eine Steigerungsstufe: «Leid und noch Leider». Das gehört alles zusammen.
Und das «Widerwärtige» ‒ «wider» heißt «gegen» und «wärtig» ist so wie wir sagen «ostwärts» und «westwärts»: das ist die Richtung ‒ das «Widerwärtige», also das «Leid», ist das, was gegen den Strich geht.
«Leidig» ist alles, was gegen den Strich geht, was uns widerwärtig ist.
«Leiden» ‒ gehen, fahren, reisen, erfahren, erleiden ‒, ist das mit dem Strich gehen.
Das ist unsere große Herausforderung:
Wir können im Leben entweder mit der Maserung hobeln oder gegen die Maserung hobeln.
Wir können mit dem Strich gehen oder gegen den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:
Wir können mit dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.
Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die mit dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben gegen den Strom schwimmen müssen.
Und darum schwimmen so wenige mit dem Strom des Lebens.
Zu dem Wort «Leid», «leidig» ‒, wenn wir sagen: «Das tut mir leid» oder «ich hab‘s leidig» ‒, gehört die «Widerwärtigkeit». ‒
Zu dem Wort «leiden»: leben, erfahren, fahren, gehört das Veranlassungswort «leiten», das auch zu «Lotse» gehört:
Eigentlich heißt das «gehen machen» ‒ «Leiten» ist «gehen-machen», veranlasst uns zu gehen.
Und da, wenn wir sehen, dass etwas uns leiten kann im Leiden ‒ durch das Leben gehen und das Leben erleiden ‒, dann müssen wir uns fragen:
Was ist denn dann die leitende Kraft?
Und da ist die Antwort:
Die leitende Kraft ist das Leben selbst.
Wenn wir wirklich uns dem Leben hingeben, dem Lebensstrom, der in der Quelle des Herzens aufspringt, dann werden wir durch das Leben geleitet.
Das Leben selbst leitet uns, wenn wir uns nicht diesem Lebensstrom verschließen, abkapseln, stehenbleiben, steckenbleiben und unser Herz verschließen.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f. und 5]
[Ergänzend:
1. Krise
2. Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019) und Mitschrift 10f.:
(47:43) «Eine Frage, die man sich stellen könnte ‒ so wie:
Habe ich das Leben oder hat das Leben mich? ‒
Führe ich mein Leben oder führt mich etwas im Leben?
Und natürlich die ganze Idee von Augenblick für Augenblick hinhorchen, stillwerden ‒ hinhorchen und dann antworten.
Und das heißt, dass das Leben mich führt.
Und Lebensvertrauen ist das Vertrauen darauf, dass das Leben mich führt.
Je älter ich werde, umso klarer ist es mir, dass alles Pläne machen, ungeheuer gefährlich ist.
Augenblick für Augenblick gibt uns das Leben ja schon alles, was wir brauchen für den nächsten Augenblick, und wenn wir da unsere eigenen Ideen haben, kommen die so leicht in den Weg.
Alan Watts ‒ vielleicht kennt Ihr seine Bücher ‒, er hat auch sehr viel getan, den Buddhismus im Westen verständlich zu machen, und er hat seine Autobiographie genannt: In my own way:
Das kann einerseits heißen: Ich bin meinen eigenen Weg gegangen, aber es kann auch heißen: Ich bin mir ständig in den Weg gekommen. ‒ Absichtlich hat er so formuliert.
Also sich vom Leben führen lassen: Wie kann man das?
Das ist so ein leuchtendes Beispiel: Menschen, die sich vom Leben führen lassen: Das führt dann viele andere einfach durch die Leuchtkraft schon.»
3. Audios
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:
(01:32:46) Das Leben durch uns fließen lassen, dann ereignet sich Lebensbejahendes ‒ Sehr häufig kommt das zustande, was wir wollen, wenn wir nicht mehr drücken ‒ Situationen, in denen wir nicht Zeit gehabt haben, uns etwas zu überlegen und ganz genau das Richtige getan haben
(01:36:02) Was will jetzt das Leben? ‒ Gerade die Bemühungen können in den Weg kommen: Vielleicht hat das Leben etwas anderes vor ‒ Tun, was wir freudig tun, wozu wir begabt sind ‒ Was bietet mir das Leben für eine Gelegenheit an? ‒ Bruder David bringt ein witziges Beispiel und lobt den Willen und die Hingabe von Menschen, die im Leben immer wieder anstoßen
Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
‹Jeden Tag stehen wir vor der Entscheidung›]
________________________
[1] Orientierung finden: ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 86-89
[2] Transkription des Gesprächs von Willigis Jäger mit Bruder David im Film 1 der DVD ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Aurum Verlag in
J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH und Benediktushof 2006
[3] Siehe im Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(19:04) leben, kleben und Leben, Leib
[4] Sitzen bleiben, zurück bleiben, hängen bleiben, kleben bleiben (Bruder David sagt: «bickenbleiben»)
[5] Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(24:59) Was die Sprache uns lehrt anhand der beiden Wortwurzeln ‹Leid› im Sinn von ‹gehen›, ‹fahren›, ‹reisen› und ‹Leid› im Sinn von ‹das Leidige›, ‹Widerwärtige›
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 23f.
Kreuz und Auferstehung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Jesus verkündet die unter uns wirksame erlösende Kraft Gottes, und er appelliert an den gesunden Menschenverstand, an den Gemeinsinn.
Es ist unser Gemeinsinn, er ist uns allen gemein.
Und er hat etwas zu tun mit der Sinneserfahrung.
Es gibt zwei sehr wichtige Aspekte der christlichen Mystik: die Betonung der Gemeinschaft und die Betonung der Sinneserfahrung. Beide sind in dem Begriff Gemeinsinn enthalten.
Auf diesen Gemeinsinn beruft sich Jesus stets.
Diese Tatsache ist wichtig, wenn wir Jesus und den mystischen Durchbruch, der sich bei ihm und durch ihn einstellte, verstehen wollen.[1]
Fragen Sie sich selbst: Auf welche Autorität berief sich Jesus?
Die Antwort lautet: Auf den Gemeinsinn.
Wenn Sie in die Kirche gehen und Predigten hören, gewinnen Sie unter Umständen den Eindruck, Jesus habe sich auf die Autorität Gottes berufen, so wie seit alters die Propheten.
Doch bei genauerer Betrachtung stellen wir fest, dass Jesus nie die typische prophetische Formel benutzte: «Also sprach der Herr …»
Er berief sich nicht einfach auf die Autorität Gottes und am allerwenigsten auf seine eigene. (Leute, die das tun, können kaum jemanden für sich gewinnen. Schon aus diesem Grund können wir überzeugt sein, dass er es nie tat.)
Er berief sich auf die göttliche Autorität in den Herzen seiner Zuhörer, auf den Gemeinsinn.
Aus diesem Grund geriet Jesus auch in Schwierigkeiten, kam es zu der historischen Krise in seinem Leben.
Jemand, der sich auf den Gemeinsinn beruft, gerät zwangsläufig in Konflikt mit den Autoritäten.
Sowohl für die religiösen als auch für die politischen Autoritäten ist niemand verdächtiger als jemand, der gelernt hat, auf seinen eigenen Füßen zu stehen, und der dies anderen vermittelt.
So jemand war Jesus, und solche Menschen sind auch die Mystiker. Die Mystiker geraten ständig in Schwierigkeiten mit religiösen Autoritäten, häufig auch mit politischen Autoritäten.
Durch seine Lehre und sein Leben trieb Jesus einen Keil zwischen den Gemeinsinn und die öffentliche Meinung. Er berief sich auf den Gemeinsinn und machte dadurch den Anspruch der öffentlichen Meinung völlig zunichte.
Aus diesem Grund berichtet Markus auch, dass die einfachen Leute sagten:
«Donnerwetter, dieser Mann spricht mit Autorität, nicht so wie unsere Autoritäten.»
Sie können sich vorstellen, was die Autoritäten davon hielten und wie sie reagierten, nämlich: Dieser Mann muss sterben.
So teilen es uns auch die Evangelien mit.
Wir sagten ‒ Sie erinnern sich -, dass Religion mit der Mystik beginnt und sich schließlich zu Lehre, Moral und Ritual verfestigt.[2]
Aus diesem Grund wird Jesus auch in den Evangelien etwas schematisch gegen drei Gruppen von Autoritäten abgesetzt: gegen die Schriftgelehrten (stellvertretend für die Lehre), die Rechtsgelehrten (stellvertretend für das Gesetz), und die Pharisäer (stellvertretend für das Ritual).
Die Evangelien selbst und auch das übrige Neue Testament beweisen ‒ sonst würden wir es ja gar nicht wissen ‒, dass es hervorragende heilige Schriftgelehrte, Rechtsgelehrte und Pharisäer gab.
Doch sie werden jeweils als Typus dargestellt, und als solche gibt es sie auch heute noch. In jeder Kirche kann man den Schriftgelehrten, den Rechtsgelehrten und den Pharisäern begegnen.
Wir finden sie aber auch in unserem eigenen Inneren. Sie stehen für den toten Buchstaben im Gegensatz zur persönlichen Erfahrung, für den Legalismus im Gegensatz zu einem Handeln, das aus einem lebendigen Zugehörigkeitsgefühl entspringt, und für den Ritualismus im Gegensatz zu einer Feier des Lebens als Ganzes.
Jesus bekam aber nicht nur Schwierigkeiten mit den religiösen, sondern auch mit den politischen Autoritäten.
Am Ende machten sie gemeinsame Sache und löschten ihn aus.
An diesem Punkt trat das Kreuz in das Leben Jesu.
Wir können das Kreuz ‒ wie in der christlichen Tradition geschehen ‒ auf vielfache Weise interpretieren, doch wir gehen am Wesentlichen vorbei, wenn wir nicht beachten, welche historische Rolle es spielte.
Jesus musste sterben, weil er die Grenzen des Bewusstseins durchbrach, weil er die Grenzen dessen durchbrach, was es bedeutet, religiös zu sein.
Wir sollten uns selbst lieber fragen, ob wir den Mut besitzen, uns für den Gemeinsinn gegen die öffentliche Meinung einzusetzen.
Wir gehen ein großes Risiko ein, wenn wir uns von den Gleichnissen mitreißen lassen.[3]
Wenn ich einmal «Ja» zum Gemeinsinn gesagt habe, warum lebe ich dann nicht danach?
Warum lebe ich nicht mit der Lebendigkeit meiner größten Augenblicke?
Warum mache ich all diese Konzessionen an die öffentliche Meinung?
Warum lasse ich mich nicht von der Autorität Gottes in mir leiten?
Warum beuge ich mich anderen Autoritäten?
Und es gibt viele verborgene Autoritäten.
Denken Sie an den Druck, der von Ihren Altersgenossen ausgeht. Da finden wir alle möglichen Autoritäten, denen wir uns beugen.
Und warum? Wenn man es nicht tut, endet man unweigerlich da, wo Jesus endete, an seinem eigenen Kreuz.[4]
Dies ist das erschütternde Ende des Lebens Jesu.
Dieser Mensch übt immer noch in einigen der frühesten Schriften eine gewaltige Wirkung auf uns aus, als jemand, von dem andere sagen würden:
«Ja, genau so würden wir gerne sein, wenn wir wirklich wir selbst wären.»
Er lebte aus diesen mystischen Augenblicken heraus, und wir tun es nicht.
Wir haben sie immer wieder einmal, und dann verraten wir sie wieder.
Er lebte aus dieser Realität.
Deshalb wurde er ausgelöscht, musste er sterben.
Historisch ist dies das Ende der Geschichte.
Doch dann kommt ein Ereignis, das sich nicht innerhalb und nicht außerhalb der Geschichte befindet, sondern den Rand der Geschichte markiert, das Ereignis, das Auferstehung genannt wird.
Man kann die Geschichte Jesu nicht angemessen erzählen, ohne über die Auferstehung zu sprechen.
Sie ist nicht lediglich ein Anhang zum Leben Jesu. Ohne sie gäbe nichts, was seitdem geschehen ist, ja nicht einmal das Bild, das wir von Jesus haben, einen Sinn.
Aber was ist diese Auferstehung?
Wie können wir rekonstruieren, was wirklich geschehen ist?
Halten wir uns an den frühesten Bericht. Nach diesem starb Jesus am Kreuz. Sie nahmen ihn vom Kreuz ab, begruben ihn hastig, weil es der Vorabend des großen Festes war, und bald nach dem Fest fanden Frauen das Grab leer.
Der Umstand, dass es ausgerechnet Frauen waren, brachte die Kirche der Anfangszeit sehr in Verlegenheit, denn Frauen hatten kein Recht, Zeugnis abzulegen. Frauen hatten vor Gericht keine Stimme. So etwas wie eine Zeugin gab es nicht. Und doch waren Frauen die ersten Zeugen der Auferstehung, und ihr Zeugnis wurde akzeptiert.
Dies markiert einen Wandel im ganzen Status der Frauen. Sie mussten (und müssen immer noch) einen langen Weg gehen, aber seit Anbeginn heißt es in der Überlieferung, dass Frauen als erste das Grab leer vorfanden. Und sie glaubten, dass Jesus, den sie als Sterbenden und als Leichnam gesehen hatten, lebendig war. Dies ging über jeden Bericht, wonach das Grab leer war, weit hinaus. Damals waren sogar diejenigen, die sagten, der Leichnam Jesu sei gestohlen worden, bereit zuzugeben, dass das Grab leer war.
Manche Leute schauen heute auf dieses Grab, sehen, dass es leer ist, und sagen: «Der Leichnam muss gestohlen worden sein, kein Zweifel.»
Andere sehen dasselbe leere Grab und glauben dennoch, dass Jesus auferstanden ist. Sie sagen:
«Jetzt verstehen wir! Warum sollten wir auch den Lebenden unter den Toten suchen?! Dieser Mann verkörperte das Leben selbst.
Er zeigte uns, was es bedeutet, lebendig zu sein.
Es ist jedem Vernünftigdenkenden klar, dass er sich nicht unter den Toten befindet.»
Und dann kommt die Frage: Wenn er nicht hier ist, wo ist er dann?
«Er ist verborgen in Gott»
lautet eine frühe Antwort (Kolosser 3,3).
Gott ist ebenfalls verborgen. Und dennoch erfahren wir die Macht Gottes. Jesus ist mit Gott, er ist verborgen in ihm, und er verleiht uns auch weiterhin Gottes Kraft.
So gelangten die erschütterten Nachfolger Jesu zu der Erkenntnis, dass das Leben, das er führte, stärker war als der Tod.
Noch heute, zweitausend Jahre später, spürt die Welt die Auswirkungen der Druckwelle, die ihr Glaube an seine Auferstehung ausgelöst hat.
Was Jesus als das Kommen des Reichs Gottes ankündigte, verkündigt die Kirche durch die Jahrhunderte als die Auferstehung Jesu Christi.
Beide Verkündigungen haben denselben Inhalt: Gottes manifest gewordene erlösende Kraft.
Hier haben wir den mystischen Kern der christlichen Religion, den vulkanischen Ausbruch eines neuen Beginns.
Und nun fängt der ganze Prozess unweigerlich wieder von vorn an.[5]
Die Begegnung mit Jesus wird interpretiert und die Erfahrung verfestigt sich zur Lehre. Die Implikationen der alles umfassenden Liebe Jesu werden formalisiert und verfestigen sich zu moralischen Regeln.
Sie erinnern sich, wie sie das Leben zelebrierten, als er mit ihnen aß und mit ihnen trank, und sie machen das Brechen des Brots zum Ritual.
Und so haben Sie immer wieder die christusähnlichen Figuren in der Kirche, die in dieselben Schwierigkeiten geraten, die Jesus mit seinen religiösen Autoritäten bekam.
Und doch wird uns die «frohe Botschaft» durch die Kirche, in ihr und trotz ihr vermittelt.
In der Kirche finden Sie alle die Heiligen, die durch die Jahrhunderte bis heute ein Christus ähnliches Leben geführt haben.
In derselben Kirche finden Sie aber auch die Pharisäer, die Rechtsgelehrten und die Schriftgelehrten.
Als wir fragten: «Was soll jemand, der seinen mystischen Weg akzeptiert, mit der Religion anfangen?», lautete meine Antwort:
«Sie tragen die Verantwortung dafür, die Religion religiös zu machen, weil sie, sich selbst überlassen, zu etwas Irreligiösem verkommt.»
Nun fragen wir: «Was soll ein Christ tun, der die volle Bedeutung Christi erkennt?»
Die Antwort ist. «Nun, er soll den Rest seines Lebens damit verbringen, die Kirche christlich zu machen.»
Sie wird die Kirche der Heiligen und der Sünder genannt.
Sie ist aber auch die Kirche der Mystiker und zugleich die Kirche, die es den Mystikern schwer macht.
An diesem Punkt befinden wir uns jetzt, wenn wir realistisch sein wollen.
Doch im Herzen dieser Kirche ist das mystische Element, das sie am Leben hält, das Erbe Jesu.
Zu diesem mystischen Keim immer wieder vorandringen ‒ das ist die letzte Grenzerfahrung der christlichen Mystik.[6]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 6]
[Ergänzend:
1. Seele
2.. Audios
2.1. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
‹Der verleugne sich selbst› ‒ das Kreuz
2.2. Vertrauen in das Leben (2014)
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde›: Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke)[7] – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)
2.3. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag: [8]
(06:20) Die Begegnung von Jesus mit seiner Mutter auf dem Kreuzweg ‒ Abschied von dem unverstandenen Kind
(07:20) Die Kreuzigung ‒ Abschied vom vertrauten Gottesbild: Jesus stirbt mit den Worten: ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?› ‒ ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist›
(09:21) Der Schmerz der Kreuzabnahme, der Schmerz der Pietà: Maria hat das Kind auf dem Schoss ‒ der Abschied vom Kind im Tod ‒ ‹Jetzt wird mein Elend voll, und namenlos› (Rilke, Pietà, Das Marien-Leben)
(11:10) Die Grablegung Jesu ‒ ein Abschied voll Hoffnung ‒ ‹Stillung Mariae mit dem Auferstandenen› (Rilke, Das Marien-Leben)
2.4. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen: Bruder David erklärt die literarische Form von Gleichnissen. Ohne ihre Kenntnis verfehlen wir den springenden Punkt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37).[9] Jesus lehrt in Witzen: Er stellt eine Frage, wir sagen: «Das wissen wir ja alle!» «Warum handelt ihr nicht danach?» der Witz ist auf unsere Kosten / (22:13) Er weist hin, wie die Gleichnisse Jesu eine religionsgeschichtliche Wende bedeuten: Jesus spricht nicht wie ein Prophet mit der Autorität Gottes, er nimmt auch nicht charismatisch seine eigene Autorität in Anspruch, sondern verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer: «Ihr wisst das doch!» / (23:41) Und damit kommen wir zur Christus Erfahrung, die mystische Erfahrung Jesu, die wir selber machen können
2.5. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort / (17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen
2.6. Audio-Seminar Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag; siehe auch die Mitschrift des Vortrags
(22:47) Verleiblichen des Geistigen und Vergeistigen des Leiblichen: Durch die Sinne Sinn finden – Wir sind die Bienen des Unsichtbaren (Rilke)[10] – Das Fronleichnamsfest ist das Fest der Verleiblichung des Göttlichen und der Vergöttlichung des Leiblichen
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(37:00) Weltgeschichtliche Wende: Jesus verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer und unsere Aufgabe in der Kirche / (42:48) ‹Bisher hat die Kirche den Glauben getragen, jetzt müssen die Gläubigen die Kirche tragen› (Karl Rahner) / (51:35) Jesus: voll Mensch und daher voll göttlich, und das Ziel des christlichen Lebens: voll menschlich zu werden und daher völlig vergöttlicht / (54:07) Kreuzesnachfolge: Im Lebensstrom schwimmen gegen den Strom der Gesellschaft ‒ Unser Ego besitzen und es aufgeben / (56:22) Einer Gesellschaft, die aus der Angst und Unterdrückung lebt, stellt Jesus das Reich Gottes entgegen, er ist nicht nur Mystiker, er ist auch Sozialreformer / (58:37) Bekehrung, Umkehr im Alltag ‒ die Kreuzigung nicht suchen, aber sie nicht scheuen
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut
2.7. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(29:12) Autoritätskrise und wie ‒ am Beispiel der Gleichnisse Jesu ersichtlich ‒ Jesus die Autorität Gottes in die Herzen seiner Zuhörer verlegt / (33:14) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten›: Wie Jesus die Menschen ermächtigt und der unvermeidliche Konflikt mit autoritären Autoritäten bis zur Kreuzigung / (35:49) Die Angst vor authentischer Autorität: Selbst seine Jünger verlassen ihn / (36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
2.8 Vater Unser (1992)
Teil 1 in Themen aufgeteilt:
Jesus als Mystiker verstehen
Jesus ‒ Mystiker und Sozialreformer[11]
Teil 3 in Themen aufgeteilt:
Auferstehung, Vergebung, ‹Honig aus des Löwen Munde›[12]
2.9. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Geistliches Leben, das Maß nimmt an der Gestalt Jesu:
(19:29) ‹Auferstanden von den Toten›: Ein geschichtliches Ereignis über das man nur in mythischer Sprache reden kann ‒ Fragen und Diskussion
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›
2.10. Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Transkription Teil II, 2f.:
(04:47) Kreuz und Auferstehung ist nur vom Leben Jesu her zu verstehen:
«Alles steht und fällt im Christentum mit der Auferstehung. Das sagte schon Paulus: ‹Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann sind wir die elendesten aller Menschen› (1 Kor 15,19).
Was ich eigentlich zu Kreuz und Auferstehung zu sagen habe, und zwar nur deshalb, weil es nicht genügend betont wird, ist, dass wir das Leiden und Sterben und die Auferstehung Jesu ‒ das gehört alles zusammen ‒ nicht, wie das so oft getan wird, abgetrennt von seinem Leben betrachten dürfen.»
3. Weitere Texte
3.1. Wendezeit im Christentum, Teil I (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 95-97:
Fritjof Capra: «Aber wie steht es um die Auferstehung? Vorhin sagten Sie so ganz beiläufig ‹nach seinem Tod und seiner Auferstehung›.
Im Katholizismus, wie ich ihn in der Schule gelernt habe, galt die Auferstehung als Beweis dafür, dass Jesus Gott ist. Er stand von den Toten auf.»
Thomas Matus: «Das ist keine Theologie, sondern Apologetik. Und kein verantwortungsbewusster Theologe wird das heute noch einmal ausgraben. Das gehört zum alten Paradigma. Das neue würde es ungefähr so ausdrücken: Die Erfahrung Jesu mit der Auferstehung vom Tode ist ein unkommunizierbares, ganz persönliches Erlebnis.
Was die Apostel erfuhren, war folgendes: Jesus war ihnen auf eine Weise gegenwärtig, die sie erkennen ließ, dass sie ebenfalls auferstanden waren und mit ihm und in ihm von den Toten auferstehen würden.
Anders ausgedrückt: Seine Auferstehung ist allgemein gültig und die Ursache unserer eigenen Auferstehung.
Das großartige Argument des hl. Paulus lautet daher: ‹Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden.»
Fritjof Capra: «Das ist doch praktisch dasselbe wie Gott sein.»
Thomas Matus: «Es ist eine Parallele dazu. Wichtig ist hierbei, dass die frühesten Ausdrucksformen christlichen Glaubens sich auf das Geschehen konzentrierten, das auf den Tod Jesu am Kreuz folgte.
Das ist der Schlüssel zum Verständnis seines Todes als Manifestation der erlösenden Kraft Gottes.
Die Tatsache, dass ein großartiger Lehrmeister, ein wunderbarer, liebenswerter Mensch aufgrund zweifelhafter Anschuldigungen zum Tode verurteilt wird, kann einem intelligenten Menschen wohl kaum als Manifestation der erlösenden Kraft Gottes gelten.
Es ist eine Manifestation menschlicher Gewalttätigkeit, von Brutalität, von Unwissenheit.
Und dennoch wird sie zur Manifestation der erlösenden Kraft durch eine nicht vermittelbare, grundlegend undefinierbare und auf jeden Fall mystische Erfahrung: die Apostel erleben Jesus als den Auferstandenen.»
David Steindl-Rast: «Wie wäre es, wenn ich es folgendermaßen formuliere:
Es macht von vornherein keinen Sinn, über Tod und Auferstehung Jesu zu sprechen ‒ wie es leider oft getan wird ‒, ohne über sein Leben zu sprechen.»
Thomas Matus: «Die Kreuzigung beendet ein wunderbares Leben, aber sie teilt uns dieses nicht mit.
Das Erlebnis, den auferstandenen Jesus sehen und berühren zu können, überzeugte die Apostel, dass dieses außergewöhnliche Leben nicht nur in ihrer Erinnerung weiterbestehen konnte, sondern auch zu einem Teil ihrer selbst wurde, dass sie es selbst leben konnten.
Mit anderen Worten ‒ das Königreich wird durch die Auferstehung zu Jesus.»
David Steindl-Rast: «Daher ist das Leben Jesu so wichtig. Sein irdisches Wirken, das aus seinem mystischen Einssein mit Gott erwächst, ist der Grund für die besondere Stellung, die Jesus in der Welt einnimmt.
Ein Blick auf Jesus zeigt uns, wie man lebt, wenn man auf diese Weise mystisch eins ist mit Gott, wenn man ja sagt zum grenzenlosen Zugehören.
Er hat es uns vorgelebt. Lebt man derart in dieser von uns geschaffenen Welt, dann wird man vernichtet oder auf die eine oder andere Weise gekreuzigt. Genauso wie es ihm widerfahren ist.
Und dann stellt sich die Frage: Ist das das Ende? Die Lehre von der Auferstehung gibt uns die Bestätigung, dass dies nicht das Ende ist.
Diese Art der Lebendigkeit kann nicht ausgelöscht werden.
Er starb, starb wirklich. Und siehe da ‒ er lebt.
Wo lebt er?
Verfallen wir nicht in den Fehler zu sagen, er ist hier oder dort. Nein.
Eine selten zitierte urchristliche Antwort lautet:
Paulus sagt es nicht mit diesen Worten, sondern spricht:
«Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen m i t C h r i s t u s in Gott» (Kol. 3,3).
Das impliziert jedoch, dass Christi Leben in Gott verborgen ist.
Gottes Gegenwart in dieser Welt ist verborgen.
Dennoch ist sie jedem, der das Leben eines Mystikers führt, absolut greifbar ‒ Gott ist allgegenwärtig.
Er starb und ist dennoch am Leben, doch ist sein Leben verborgen in Gott. Er ist in uns allen lebendig.
Es hat keinen Sinn, mit dem Finger zu deuten und zu sagen ‹Dort ist er› oder ‹Wutsch! Er ist aus dem Grab gestiegen›.
Auferstehung heißt nicht Wiederbelebung.
Es ist kein Überleben, nichts, zu dem man sagen kann: ‹Da ist er!›
Es ist eine verborgene Wirklichkeit, aber es ist eine Wirklichkeit, und wir können in ihr leben. Und das ist alles, was wir über die Auferstehung wissen müssen.»
3.2. Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 53-61:
«Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.
Laotse bezeichnete sie als Dao[13] und Heraklit nannte sie Logos.
In dem Satz ‹Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort› (Markus 4,33) verwendet Markus für ‹Wort› diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.
Auf diesen Punkt möchte ich nachdrücklich hinweisen: Jesus beruft sich nicht auf die Autorität Gottes in der Heiligen Schrift, wie das die Priester und Schriftgelehrten mit der Aussage taten: ‹So steht es geschrieben ...›
Er beruft sich auch nicht auf die göttliche Autorität, die aus seinen eigenen Worten spricht, wie es die Propheten taten, die ihre Aussagen mit der Formel begannen: ‹So spricht Cott, der Herr ...›
Wenn Jesus seine Gesprächspartner mit dem Argument ‹Ihr wisst alle, dass ...› infrage stellt, appelliert er an die göttliche Autorität in den Herzen seiner Zuhörer.
Die Priester, Schriftgelehrten und Propheten reden von der hohen Warte göttlicher Autorität herab zum Volk; Jesus stellt sich auf die Ebene seiner Zuhörer und ermächtigt sie, sich auf ihre eigenen Füße zu stellen, indem er die göttliche Autorität ihres ihnen angeborenen Common Sense ernst nimmt, zu der sie sozusagen von innen her Zugang haben. Das ist ein entscheidender Wendepunkt; die Konsequenzen daraus sind Schwindel erregend.» (55f.)
«Auf einen autoritären Geist wirkt nichts bedrohlicher als die Berufung auf die Autorität des Common Sense. Religiös und politisch autoritäre Instanzen sind mit aller Gewalt darauf aus, jeden auszumerzen, der unter dem gemeinen Volk den Common Sense zu mobilisieren versucht. Aus diesem Grund musste Jesus sterben.» (56)
«Es ist unvermeidlich, dass unfähige Menschen sich der Autorität bemächtigen. Sie üben Macht aus, ohne über die nötige Weisheit und das erforderliche Mitgefühl zu verfügen. Solche autoritären Machthaber sind Todfeinde authentischer Autorität, die im Common Sense wurzelt.» (59)
«Unsere Furcht hindert uns daran, dem Common Sense zu folgen. Mit besonderer Klarheit empfanden das die daoistischen Weisen. In dem Maß, in dem sie sich in Einklang mit dem Rhythmus der Natur brachten, steigerte sich ihr Spott darüber, dass die Gesellschaft sich nicht an Dao hielt, an den Common Sense. Jesus stellt dieser Welt, die sich damit dem Tod statt dem Leben verschreibt, eine Welt gegenüber, die von Gottes lebendigem Atem belebt ist und dank dem Heiligen Geist ein «Leben in Fülle» führt.» (58f.)]
__________________________________
[1] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»
[2] Ausführlich in Religionen ‒ drei Ausdruckformen, Ergänzend: 3.5
[3] Bruder David erklärt in Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 186-189, den dreiteiligen Aufbau der Gleichnisse Jesu und ihre Pointe:
«Aha, das weiß jeder, in Ordnung. Aber warum handelt ihr nicht danach?»
«Zufällig passt das Kreuz sehr gut zur christlichen Tradition, doch das Kreuz des Propheten erscheint in jeder Tradition.»
[5] Siehe Anm. 2
[6] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 189-194
[7] Das Wort von Rilke verdeutlicht, was Bruder David ‹Anreicherung› nennt im Unterschied zu ‹Entwicklung›; siehe dazu Sterben und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107
[8] Der Vortrag folgt den sieben Schmerzen Mariens:
1. Darstellung Jesu im Tempel mit Weissagung Simeons
2. Flucht nach Ägypten vor dem Kindermörder Herodes
3. Verlust des zwölfjährigen Jesus im Tempel
4. Jesus begegnet seiner Mutter auf dem Kreuzweg (unbiblische Szene)
5. Kreuzigung und Sterben Christi
6. Kreuzabnahme und Übergabe des Leichnams an Maria (Beweinung Christi)
7. Grablegung Christi
[9] Bruder David geht im Beitrag Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 188f., ausführlich ein auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37), ebenso in seinem Buch Common Sense (2014), 47-51, siehe auch in Nächstenliebe
[10] Siehe auch Audio in Ergänzend: 2.2. und Anm. 7
[11] Weiterführend in Hausverstand
[12] Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 38:
«Wenn wir uns aber öffnen, wenn wir wirklich lernen, vom Worte Gottes zu leben als Speise, dann wird diese wunderschöne Stelle der berühmten Bachkantate auf unseren Tod zutreffen:
‹Komm, o süße Todesstunde, da mein Geist Honig speist aus des Löwen Munde.›
Die biblischen Bilder, die dahinter stehen, sind ziemlich unbekannt und dunkel: Samson, der im Kadaver eines Löwen eine Honigwabe findet. Aber in der christlichen Tradition wird das Bild durchsichtig: In dem Augenblick, in dem der Löwe, der Tod, uns verschlingt, speist uns Honig aus des Löwen Munde. Wir leben davon, wir leben vom Sterben, weil wir gelernt haben, von jedem Worte Gottes zu leben. Nur wenn wir auch vom Tod leben lernen, jetzt, nicht nur in der Stunde unseres Todes, können wir wahrlich leben.»
[13] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:
«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»
Schmecken, Ahnen, Weisheit
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Wenn etwas gut Gewürztes mir schmeckt, frage ich mich selten, warum. Und doch liegt in jedem einzelnen Gewürz nicht nur ein Geheimnis der Kochkunst, sondern die ganze Freude schenkende und heilende Kraft von Mutter Erde. Jedes legt uns einen Einfall von Dir in den Mund, auf den ihre Namen nur von Ferne hinweisen können. Deine Idee in Dillkraut, Ingwer oder Pfeffer zu erschmecken, heißt, immer neue Sprachen zu entdecken, in denen du zu mir sprichst. Heute will ich Dich in wenigstens einem Gewürz zu mir reden hören. Amen»[1]
Wie Ergriffenheit ursprünglich auf den Tastsinn zurückweist, so Weisheit auf den Geschmackssinn.
Hier ist das allerdings nicht so offensichtlich. Im Lateinischen ist es deutlicher. Da ist «sapientia», die Weisheit, jene Tugend, die wir durch «sapere» erwarben, durch ein verfeinertes, überhöhtes Schmecken.
Sehen können wir in große Entfernung, in unvorstellbar große Entfernung, wenn wir nachts unter dem Sternenhimmel stehen. Auch hören können wir noch weit. Riechen schon kaum mehr. Betasten setzt nächste Nähe voraus, bleibt aber doch immer oberflächlich, äußerlich.
Von allen unseren Sinnen ist der Geschmackssinn der innerlichste. So erschmeckt Weisheit den innersten Sinn einer Sache.
Wie aber sollen wir je dieses Ziel erlangen, wenn wir nicht damit beginnen, unseren Geschmack auf der sinnlichen Ebene zu entwickeln?
«Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist!» ruft der Psalmist uns zu (Ps.34,9).
Werden wir aber Übersinnliches zu schätzen wissen, wenn wir für Sinnliches undankbar sind?
«Mund auf! Augen zu!» spielten wir gern als Kinder. Solange wir dem Geschmeckten noch keinen Namen geben, wird es zum unmittelbaren Erlebnis:
«Wo sonst Worte waren, fließen Funde.»
Rilke fordert uns heraus in seinem Sonett: «Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.»[2]
Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns «langsam namenlos im Munde».
Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere … Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund … Ich ahne …
Lest es einem Kind vom Angesicht,
wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.
Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,
klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒:
O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒, riesig!
«Lest es einem Kind vom Angesicht.»
Dem Kind in uns selbst. Was wir an jedem unserer Sinne verfolgen konnten, wird am Geschmackssinn vielleicht besonders deutlich: die Entfaltung der Dankbarkeit von kindlich arglosem Erkennen der Gabe, über ehrfürchtiges Anerkennen des Gebers, zum Bekennen der Gnade in Weisheit.
Die göttliche Weisheit hat ein Festmahl bereitet
Das ganze Erdenrund, auf seinen sieben Säulen ruhend, wird zur Festhalle. Alles, was unsere Sinne erfreuen kann, ist uns aufgetischt.
Alle Welt ist willkommen.
Die Weisheit baute ihr Haus
und hieb sieben Säulen,
schlachtete ihr Vieh,
und trug ihren Wein auf,
und bereitete ihren Tisch,
und sandte ihre Dirnen aus, zu rufen
oben auf den Höhen der Stadt;
‹Wer unverständig ist, der mache sich hierher!›
und zum Narren sprach sie:
‹Kommet, zehret von meinem Brot,
und trinkt den Wein, den ich schenke.›[3]
«Frucht ist mir schon seit langem ein wichtiges Wort. In seiner einen Silbe ballt es die Kraft, die schon in Frühling und Sommer anklingt, mit gesteigerter Wucht zusammen. Frucht weist auf Fülle und Erfüllung hin ‒ als Gabe und als Aufgabe. Als Gabe schenkst du mir diese Verkörperung vollkommener Reife, sooft ich eine plumpe Frucht in Händen halten und ihren süßen Saft verkosten darf. Aber auch als Hinweis auf meine eigene Aufgabe werden mir Früchte zum Bild eigenen Reifens und Fruchtbringens.
Lass mich jede Frucht bewusst und dankbar wie aus Deinen Händen empfangen, als reines Geschenk dieses Jahres. Und schenk mir Zeit und Gelassenheit, Frucht zu bringen für andere und in Herzensfrieden auszureifen, Dir entgegen. Amen.»[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3f.]
[Ergänzend:
1. Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 104-106, 117:
«Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet. Dazu lädt Rilke in einem seiner ‹Sonette an Orpheus› unsren Geschmacksinn ein.
Mit der Herausforderung ‹Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt›, will er uns bewusstmachen, wie leichtfertig und anmaßend wir oft annehmen, etwas zu kennen, nur weil wir es benennen können.
Wenn wir uns stattdessen darauf einlassen, es wie Kinder einfach zu erschmecken, dann fragt uns der Dichter:
‹Wird euch langsam namenlos im Munde?›
Und wir werden zugeben müssen:
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde.›
‹Doppeldeutig› sind diese Funde und darum ‹hiesig›, denn wir leben ja hier im Doppelbereich ‒ im Doppelbereich auch von ‹Tod und Leben›.[5]
Dieser Apfel, diese Birne, sie sind lebendig und sie sterben im gleichen Augenblick, in dem wir von ihnen leben.
Schon mit dieser Erfahrung, wenn wir sie auch nur ‹ahnen›, stehen wir mitten im großen Geheimnis.
Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere ... Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund ... Ich ahne ...
Lest es einem Kind vom Angesicht,
wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.
Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,
klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒ :
O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒ riesig!
Das beseligte Stammeln der letzten Zeilen zeugt von Ergriffenheit.
Wer mit solcher Intensität ‹offen und Empfänger› wird ‒ der Ausdruck entstammt einem andren der ‹Sonette an Orpheus›[6] ‒, mit welchem der Sinne auch immer, den ergreift das Geheimnis, das der Dichter hier im Erschmecken der Früchte erahnt.
Es spricht ihn an, es ‹spricht (ihm) ... in den Mund›, wie er es so gewagt ausdrückt, aber nicht mit Worten:
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›:
Jetzt erwachen unsre Sinne und bemerken mit Staunen und Freude die unzähligen Gelegenheiten, aus Freudenquellen zu trinken: Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, betasten ‒ Gelegenheiten, uns zu freuen, auf die wir bisher kaum geachtet haben. Unsre Sinne erwachen. Wir entdecken zunehmend mehr von der Fülle unsrer Lebendigkeit.»
2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 48-50 und 40, 81
3. Audios
Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›[7]
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal
(59:56) ‹Kostet und seht, wie gut der Herr ist› (Ps 34,9) ‒ Das Wort ‹Sapientia› ‒ Weisheit ‒ kommt von ‹sapere›: schmecken, Geschmack für das Geheimnisvolle. Und das beginnt mit dem Schmecken lernen: sich Zeit lassen zum Essen
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Spiritualität und Ökologie:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott
Ökologische Grundprinzipien:
(07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes
(39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)
Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(40:29) «Das tägliche Brot ist nicht nur, was wir essen ‒ das tägliche Brot ist alles, was uns täglich zukommt. Das Gott will uns nähren mit allem, was uns täglich begegnet: Jeder Augenblick, jeder Mensch, jeder Gegenstand, alles, was uns begegnet ist Wort Gottes, auf das wir horchen können. Da kommt das Gehorchen herein, dieses tiefe Hinhorchen, aus dem die Antwort entspringt. Und das nährt uns: Wir können ‹vom Worte Gottes leben›. Und zu dieser Bitte ‹gib uns heute unser tägliches Brot› gehört die Geistgabe der Weisheit, ‹sapientia› vom lat. ‹sapere›, schmecken, und ist eigentlich der richtige Geschmack, das ‹Geschmeck› für das Wort Gottes, für die Gabe Gottes.»
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(05:29) Voller Apfel, Birne und Banane‘ (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIII): Br. David liest und deutet das Sonett Zeile für Zeile
Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt
Schmecken, Auskosten ‒ ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette)]
__________________
[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 100
[2] R. M. Rilke: ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (Die Sonette, 1. Teil, XIII)
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Durch die Sinne Sinn finden› (2021), 73-76; der Bibeltext nach der Lutherbibel 1912 ist aus Spr 9,1-5
[4] Erwachende Worte (2023): ‹14 Frucht›, 45
[5] DOPPELBEREICH, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 132f.:
«Ursprünglich bedeutet der Doppelbereich bei Rilke, der diesen Begriff prägte, die ‹Nicht-Zweiheit› (A-Dwaita) der Bereiche von Lebenden und Verstorbenen. In den ‹Sonetten an Orpheus› entwickelt der Dichter dieses Thema, zum Beispiel unter dem Bild der ‹Spieglung im Teich›. Das schöne deutsche Wort ‹Doppelbereich› lässt sich aber auf viele andre Gebiete anwenden. Was durch die Beziehung von ‹A-Dwaita› entsteht, ist immer ein Doppelbereich»
Bruder David geht auf die ‹Spieglung im Teich› ein in Orientierung finden (2021): ‹Innen / Aussen ‒ Zwei Aspekte der Wirklichkeit›, 76 und in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 99-101
[6] «Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,
in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs
kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von w i e viel Welten!
Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber w a n n, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?»
R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V
Siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 81 und TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 86
[7] Orientierung finden (2021), 42:
«Nur durch Ergriffenheit verstehen wir Musik, und auch das Geheimnis verstehen wir nur in Augenblicken von Ergriffenheit. Beides wird uns geschenkt: Wir müssen uns nur willig ergreifen lassen.
‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›,
sagt der große mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Weisheit ist das Ziel unsrer Bemühungen um Orientierung. Dabei wird es also letztlich um unsre Beziehung zum Geheimnis gehen.»
Fließweg
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
«Bewegung in zahllosen Formen, das ist doch eigentlich, was wir das Leben nennen. Vom Kreisen der Galaxien, Sonnen und Planeten zum Kreisen der Falken, ihrem Hinabsausen und dem Zappeln der Maus; vom plötzlichen Aufblühen der Feuerwerksraketen zum sachten Entfalten der Wiesenblumen; vom Flug des Pfeiles zum Fallen plumper Pflaumen. Bewegung von Fliehen und Erhaschen, von Mühe und Entspannung, Einschlafen und Erwachen.
Aber auch die Bewegung aufsteigender Dankbarkeit, sprießenden Verliebtseins, stiller Verinnerlichung. Verinnerlichung hinein in eine Stille, die nicht Stillstand bedeutet, sondern bis zum scheinbaren Stillstand geballte Bewegung ‒ wie der Flügelschlag des Kolibris.
Aus dieser Mitte lass jede meiner Bewegungen kommen; dann wird jede letztlich ein Empfangen und Weiterschenken werden, ein Geben und Nehmen zwischen dir und mir. Amen.»[1]
Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, «gute Arbeit» ist wie ein kosmisches Ballspiel, «wie ein heiliger Tanz».
Der taoistische Philosoph Huang Tsu (369-286 v. Chr.) verwendet diese Bilder vom heiligen Tanz und von guter Arbeit in seinem Gedicht «Einen Ochsen zerteilen».
Fleischer und ihre Arbeit waren zu Prinz Wen Huis Zeiten in der chinesischen Gesellschaft verachtet. Trotzdem aber schaut der Prinz seinem Koch eines Tages beim Zerteilen eines Ochsen zu und ruft zuletzt begeistert aus:
«Das ist es! Mein Koch hat mir gezeigt, wie ich mein Leben leben sollte!»
Weit mehr als zwei Jahrtausende später können auch wir das ausrufen, denn Huang Tsus Beschreibung zeigt beispielhaft, was immer gültig bleibt:
Rechtes Tun folgt dem Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt».
«Ja, es gibt schon manchmal zähe Gelenke», aber der Koch lehrt uns, wie wir damit umgehen sollen.
«Ich spüre sie kommen, ich werde langsamer» ‒ also geht er zurück zu Stop ‒ «ich schaue genau» ‒ er geht zurück zu Look. Und dann: Ich «halte mich zurück», bewege kaum die Klinge» ‒ sein Go fließt jetzt «mühelos» mit der Energie des Lebens selbst:
«Das Gespür tut die Arbeit ohne Planung; frei folgt es seinem Instinkt.»
Aber geben wir Huang Tsu das Wort:
Der Koch des Prinzen Wen Hui
zerteilte einen Ochsen.
Arm gestreckt,
Schulter gebeugt;
er setzt den Fuß fest auf,
er stemmt sein Knie an,
schon liegt das Tier
in Stücken da.
Das blanke Beil
flüstert wie ein Windhauch.
Rhythmisch! Gemessen!
Wie ein heiliger Tanz ist's,
wie ein Kinderreigen,
wie uralte Harmonien.
«Das nenne ich gute Arbeit!»
ruft der Prinz, «perfekte Methode».
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
Ich folge dem Tao;
jenseits jeder Methode!
Als ich anfing,
Ochsen zu zerteilen,
sah ich das ganze,
schwere Tier vor mir:
eine einzige Masse.
Nach drei Jahren
sah ich statt dieser Masse
die feinen Trennungslinien.
Jetzt aber sehe ich nichts
mit meinen Augen. Mein Inneres
erfasst einfach das Ganze.
Meine Sinne sind müßig. Das Gespür
tut die Arbeit ohne Planung; frei
folgt es seinem Instinkt.
So findet mein Beil mühelos
den verborgenen Spalt, den geheimen Weg,
wie die Natur ihn bahnt.
Ich haue durch kein Gelenk, hacke auf keinen Knochen.
Ein guter Koch braucht jedes Jahr
ein neues Beil. Er hackt.
Ein schlechter Koch braucht jeden Monat
ein neues Beil. Er haut drauflos.
Dieses Beil benutze ich
schon neunzehn Jahre,
tausend Ochsen
hat es zerlegt.
Es ist so scharf
wie am ersten Tag.
Die Gelenke haben Zwischenräume;
die Klinge ist dünn und scharf:
Sie findet diese Zwischenräume.
Mehr Raum braucht es nicht!
Dann geht's widerstandslos.
Deshalb bleibt die Klinge neunzehn Jahre lang
wie frisch geschliffen.
Ja, es gibt schon manchmal
zähe Gelenke. Ich spüre sie kommen,
ich werde langsamer, ich schaue genau,
halte mich zurück, bewege kaum die Klinge,
und plumps! Das Fleischstück fällt herunter
wie ein Klumpen Lehm.
Dann lasse ich die Klinge ruhen,
ich halte inne
und lasse die Freude an der Arbeit
mich ganz durchdringen.
Ich mache die Klinge sauber und verstaue sie.»
«Das ist es!», rief Prinz Wen Hui,
«mein Koch hat mir gezeigt
wie ich mein Leben
leben sollte.»[2]
Auf einer tagelangen Busreise war es mir einmal geschenkt, neben einem Metzger zu sitzen, der mir von seiner Arbeit erzählte. Er hatte sicherlich noch nie vom Taoismus gehört, geschweige denn von Huang Tsus Gedicht, aber ich traute meinen Ohren kaum, so ähnlich war die stolze Beschreibung seiner Fähigkeiten der von Prinz Wen Huis Koch, seines taoistischen Kollegen von vor so langer Zeit. Jetzt überrascht mich das nicht mehr.
Mir ist klargeworden, dass unser Stop ‒ Look ‒ Go keine Methode ist, die jemand erfunden hat, sondern die Gestalt, die allen klassischen spirituellen Methoden zugrunde liegt ‒ der zeitlose Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt», damit wir in Harmonie mit dem Universum leben lernen.
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
«Ich folge dem Tao
jenseits jeder Methode!»
Am Anfang können wir freilich das «Stop ‒ Look ‒ Go» auch als Methode anwenden.
Das Ziel ist aber, dass es uns durch Übung zur zweiten Natur wird.
Dann folgt unser Gespür ohne Planung frei seinem Instinkt und findet den Fließweg «jenseits jeder Methode».
Dazu bedarf es freilich der Übung ‒ wie bei jeder andren spirituellen Praxis.
Alle spirituellen Wege haben dasselbe Ziel: im Jetzt leben. Dieses Ziel will auch «Stop ‒ Look ‒ Go» erreichen.
Ein sehr einfacher Weg, aber einfach ist nicht gleichbedeutend mit leicht, besonders am Anfang nicht.
Dennoch bietet seine Einfachheit einen großen Vorteil im Vergleich mit andren spirituellen Praktiken:
Wir können «Stop ‒ Look Go» an jedem Ort und zu jeder Zeit üben:
am Arbeitsplatz genausogut wie an einem Ort der Stille; in der U-Bahn genauso gut wie bei einer Wanderung in den Bergen.
Und wann immer wir diesen einfachen Dreischritt üben, bringt er uns ins Jetzt. Und warum ist das so wichtig?
Weil im Jetzt das Ego nicht überleben kann. Das Ego ist immer in die Vergangenheit verwickelt, fühlt sich als Opfer, müht sich ab mit vergangener Schuld oder sehnt sich nach der «guten alten Zeit».
Oder es ist in der Zukunft verfangen und wartet ungeduldig auf sie oder hat Angst vor ihr.
Um ins Jetzt zu finden, muss ich mein über Vergangenheit und Zukunft zerstreutes Ego in meine «Mitte des Immer»[3] sammeln.
Weil das «Stop ‒ Look ‒ Go» mich ins Jetzt bringt, bringt es mich zu mir selbst.
Ich komme aus der Ego-Illusion in die Wirklichkeit des Ich-Selbst zurück.
Dadurch wird jetzt Orientierung möglich: Orientierung in Bezug auf die Wirklichkeit und dadurch auch auf die letzte Wirklichkeit, das große Geheimnis.
So oft wir innehalten, sei's auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis als Schweigen.
So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unsres Herzens für das Geheimnis als Wort.
Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.
Im Tanzen kommt unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» ins Fließen ‒ er zeigt sich als Fließweg.[4]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Erst, wenn ich auf den großen Tanz der Dinge achte, wird mir bewusst, wie steif ich innerlich bin. Selbst leblose Dinge rollen, fließen, gleiten; auch wo sie knirschen, holpern, sich spießen, sind sie gemeinsam dem Gesetz der Gegenseitigkeit gehorsam. Tiere erst recht. Noch bei ihrem letzten Sprung tanzt die Maus mit der Katze.
Nur wir ‒ teilnahmslos gegeneinander. Um so mehr bewundere ich Menschen, deren jede kleinste Geste Begegnungsbereitschaft ausdrückt, Hinhorchen, Hilfsbereitschaft, Aufforderung zum Tanz. Das muss von innen kommen. Mach mein Herz tanzbereit. Amen.»[5]
In höchster sprachlicher Verdichtung hat Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) in seinem Gedicht «Der römische Brunnen» das Ruhen im Fließen in ein Bild gefasst.
Wenn wir – ohne es intellektuell zu analysieren ‒ diesem Sinnbild gestatten, uns zu ergreifen, dann kann uns bewusstwerden, dass der Fließweg durch die drei Schalen zugleich der Weg der Sinnfindung ist, denn «jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht.»
Sinn aber ist das, worin das Herz Ruhe findet.
Auf steigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Im Strömen das Ruhen finden, das heißt auch Sinn finden.[6]
«Weg und Ziel zeigst du mir nicht nur an, DU großes Geheimnis im Herzen des Lebens, du b i s t mir beides.
Als Weg erfahre ich dich am richtungweisenden Fließweg des Lebens, dem ich mich anvertrauen darf wie ein Schwimmer dem Strom.
Als Ziel erkennt dich die Strömung in meinem Inneren mit ihrem geheimnisvollen Sog, der mir zuraunt:
‹Heim zum Vater!›
Lass mich nicht erschlaffen beim Schwimmen, nicht schlapp dahintreiben wie Schwemmholz, sondern wendig werden wie ein Fisch.
Mach mich achtsam für den leisesten Hinweis, den mir das Leben ‒ den du mir gibst. Und lass mich täglich fröhlicher werden, weil ich ja auf dem Heimweg bin zu dir. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4-7]
[Ergänzend:
1. FLIESSWEG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 136:
«Fließweg ist ein schönes, aber nur selten, meist in technischer Fachliteratur gebrauchtes deutsches Wort. Es bietet sich an, um im übertragenen Sinn die Grundhaltung des Taoismus zu kennzeichnen: die Bereitschaft, sich bewusst und bereitwillig dem Fluss des Lebens zu überlassen. Die Silbe «Weg» hat dann in diesem zusammengesetzten Wort eine Doppelbedeutung. Einerseits weist sie auf die Wegrichtung fließenden Wassers hin, den Fluss des Lebens, andererseits auf den Lebensweg des Weisen, der sich wie ein Schwimmer, keineswegs wie Treibholz, dem richtungweisend fließenden Strom des Lebens anvertraut.»
2. Audio zu: ‹Die Mitte des Immer›
Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(39:16) ‹Von der Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (R. M. Rilke, Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)
3. Audios zu: ‹Der römische Brunnen›
Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(55:30) ‹Der römische Brunnen› (C. F. Meyer) und ‹Römische Fontäne› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Spiritualität und Ökumene:
(01:12:38) ‹Der römische Brunnen› (C.F. Meyer)
Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag
4. Audio zu ‹Heim zum Vater›
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Spiritualität und Ökumene:
(31:54) «In ihm und durch ihn und mit ihm ‒ Jesus Christus ‒ gehen wir wieder zurück zum Vater: Wir als Christen drücken das so aus und erleben das so, aber alle Menschen erleben das so, können es verstehen, wenn man es ihnen nahebringt. … Einer der ganz frühen Kirchenväter sagt: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater.› Das ist etwas, das jeder Mensch erlebt, einfach als Mensch. Diese Quelle haben wir in unserem Herzen und hören diese Stimme, die sagt: ‹Heim zum Vater.›»]
______________________
[1] Erwachende Worte (2023): ‹44 Bewegung›, 105
[2] Thomas Merton (Hrsg.): ‹Sinfonie für einen Seevogel und andere Texte des Tschuang-tse›; mit einem Vorwort von Bernardin Schellenberger. Neuausgabe, Düsseldorf, Patmos Verlag, 1984, 23-25; siehe auch die Übersetzung des Altmeisters der klassischen chinesischen Texte Richard Wilhelm: Dschuang Dsi: ‹Das wahre Buch vom südlichen Blütenland›; aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm (= Diederichs Gelbe Reihe; 14: China), Kreuzlingen / München, Hugendubel 112000: Buch III. Pflege des Lebensprinzips, 2. Der Koch, 54f.
«1960 stieß der amerikanische Mönch und Schriftsteller Thomas Merton auf die Schriften des großen Chinesen Tschuang-tse († um 300 v. Chr.), der gegen Ende der Blütezeit der chinesischen Philosophie lebte und als der spirituellste unter den chinesischen Philosophen gilt. Nach jahrelanger, intensiver Beschäftigung mit seinen Schriften legte Merton diese Sammlung charakteristischer Texte vor, wobei er auf höchst persönliche Weise Übersetzung und Interpretation miteinander verband. So gelingt in diesem Büchlein ein Brückenschlag: Tschuang-tse mit den Augen eines modernen Amerikaners gesehen, aber auch den Augen eines modernen Mystikers betrachtet, der bei dem alten chinesischen Philosophen Elemente entdeckte, die allen meditierenden Geistern aller Zeiten gemeinsam sind.» (aus dem Klappentext des Buches von Thomas Merton)
[3] R. M. Rilke: ‹Elegie an Marina Zwetajewa-Efron› (Aus dem Nachlass, Widmungen)
[4] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 108-113
[5] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 33
[6] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 114
[7] Erwachende Worte (2023): ‹11 Weg›, 39
Stop ‒ Look ‒ Go
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Arijana Somolanji Kurbanović
Kinder in den USA lernen mit «Stop ‒ Look ‒ Go» gefahrfrei die Straße zu überqueren.
Diese drei Wörter sind auch die einfachste Formel, dankbares Leben immer wieder einzuüben. [Siehe die kurze Einführung zum Thema in Dein Herz ist gefragt (2022)]
Schauen wir sie uns hier einzeln an.
Stop ‒ alles Weitere hängt von diesem ersten Schritt ab. Innehalten und Stillwerden sind unbedingt notwendig, bevor wir hinhorchen können auf das Leben, um voll und dankbar unsre Antwort zu geben.
Was dieses Innehalten bewirken will, ist innere Ruhe.
Schweigen hilft uns dabei.
Aber viele Menschen sind heute Lärm und Getue so gewohnt, dass sie sich bei Schweigen und Stille zunächst unbehaglich fühlen. Das ist Gewohnheitssache. Wir können Schweigen und Stillwerden üben ‒ jeden Tag ein bisschen länger. Mit etwas Übung werden wir uns bald darin zuhause fühlen. Dann wird die stille Mitte in uns zu einer Quelle tiefer Freude werden.
Schweigen macht «das Ohr des Herzens», wie der heilige Benedikt es nennt, hellhörig für alles, was das Leben uns zuspricht. Dann erst können wir entsprechend antworten.
Daraus ergeben sich die beiden nächsten Schritte: hellhöriges Innewerden ist das «Look» und unsre Antwort ist das «Go».
In einem Gedicht von nicht mehr als zehn Zeilen führt uns Rilke durch diese drei Schritte ‒ vom Innehalten in der Stille («Stop») über das Innewerden («Look») zum freudigen Tun («Go»).
Der Dichter betet um eine von äußeren und inneren Störungen freie Stille, damit er in ihr einen so hohen Grad von Sammlung erlangen kann, dass seine Empfänglichkeit «bis an den Rand» des großen Geheimnisses reicht.
Dann hofft er, das Geschaute sogar «besitzen» zu können ‒ freilich «nur ein Lächeln lang», denn er muss wohl selber lächeln über die Idee, das Geheimnis zu besitzen. Im Gegenteil, das Geheimnis ergreift Besitz von uns im Augenblick, in dem wir «nur einmal so ganz stille» werden.
Diese Stille ‒ «Stop» in seiner tiefsten Bedeutung ‒ ist ja selbst ein Aspekt des großen Geheimnisses in seiner schweigenden Tiefe.
Aus ihr muss unser Innewerden kommen, damit es zum freudigen Tun führen kann, zur Bereitschaft, alles, was unser Herz vom Geschauten halten kann, «an alles Leben zu verschenken wie einen Dank».
Zunächst aber geht es um den ersten Schritt, ums Innehalten, ums «Stop», ums Stillwerden:
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒ :
Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.[1]
Look ‒ in unsrer inneren Stille verankert, können wir jetzt, als zweiten Schritt, mit allen Sinnen wach werden für alles, was es gibt.
Das «Stop» ‒ der Bruchteil eines Augenblickes, in dem wir innehalten ‒ genügte, um unser Schauen «reifen» zu lassen, und jetzt kann wahr werden, was unser Dichter in eines seiner schönsten Bilder fasst:
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.[2]
Alles, dessen wir innewerden, kommt wie eine Braut auf uns zu. Und wie begegnen wir diesem bräutlichen Entgegenkommen des Lebens?
Meist wird uns gar nicht bewusst, wie unsanft, ungeduldig, ja geradezu unverschämt und gewalttätig wir alles, was uns unter die Augen kommt, an uns reißen, einfach durch die Härte, mit der wir es anblicken.
Wir können jedoch lernen, mit sanften Blicken alles, was wir sehen, zu umarmen, wie ein Bräutigam die Braut umarmt ‒ und sich von ihr umarmen lässt.
Dann werden wir die Gelegenheit, nach der wir mit unsrem «Look» Ausschau halten, nicht in erster Linie als Möglichkeit verstehen, alles, was das Leben uns in diesem Augenblick schenkt, auszunutzen.
Es würde uns vielmehr darum gehen, es auszukosten.
Hier stoßen wir wieder auf eine oft übersehene Unterscheidung, die im abendländischen Denken unter dem lateinischen Begriffspaar «uti» (nutzen) und «frui» (auskosten) schon lange eine wichtige Rolle spielt.
Wenn wir lernen, diese beiden Lebenshaltungen ‒ denn das sind sie letztlich ‒ zu unterscheiden und zugleich zu verbinden, dann kann unser «Look», unser Innewerden, sich zu einem wahren Fest entfalten: zur Feier des Lebens.
Nicht nur unsre Augen können diese Haltung erlernen. Das «Look» hier nur aufs Schauen zu beschränken, wäre ein Missverständnis. Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet.
Go ‒ auch zum Verständnis dieses dritten Schrittes kann ein Gedicht Rilkes uns helfen. Der Dichter stellt am Bild des Ballspielens dar, worum es beim echten Tun, das Innehalten und Innewerden voraussetzt, letztlich geht. Mit sich allein Ballspielen ist nicht echtes «gültiges» Tun in diesem Sinn, sondern nur Übung in «Geschicklichkeit»; und was es zustande bringt, ist «lässlich» ‒ das heißt, es zählt nicht.
Echt wird das Tun erst,
wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf.
Diese «Mit-Spielerin» steht hier für das große Geheimnis.
Das erkennen wir daran, dass sie «ewig» genannt wird und weil die Beziehung, die durch ihr Zuwerfen entsteht, «aus Gottes großem Brücken-Bau» stammt.
Dass diese «Mit-Spielerin» weiblich ist, erinnert daran, dass alles, dessen wir mit offenem Herzen innewerden, uns «wie eine Braut» entgegenkommt.
Wenn wir alles uns vom Schicksal Zugeworfene umarmen ‒ wie Braut oder Ball ‒ dann ist unser «Fangen-Können» nicht mehr Übung, sondern Vermögen im Sinne von Können.
So spielt das Geheimnis im All mit dem Geheimnis in dir ‒ letztlich das eine Geheimnis mit sich selbst.
«Lila» nennt der Hinduismus dieses Spiel.[3]
Um völlig in dieses Spiel einzutreten, musst du aber «zurückzuwerfen Kraft und Mut» besitzen ‒ und noch mehr: Du sollst dabei deine mutige Entscheidung und deinen Kraftaufwand völlig vergessen «und schon geworfen» haben ‒ wie von selbst.
Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem herannahenden Schnellzug von den Schienen. Später weisen beide jede Anerkennung zurück: «Es war schon geschehen, bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken», sagen sie.
Das Beispiel, auf das der Dichter hinweist, sind «die Wandervogelschwärme», die instinktiv tun, was bei uns Menschen willige Bereitschaft verlangt. Durch diese können aber auch wir «gültig» mitspielen und unser alltägliches Tun wird dann ‒ ganz unauffällig ‒ zu einem kosmischen Ereignis: Der Ball wird nun zum «Meteor und rast in seine Räume ...»
Nicht mehr nur unsre Räume sind es, in denen sich nun unser Tun abspielt; unser Alltag nimmt teil am großen Geheimnis, das im Kosmos spielt.
Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichheit und lässlicher Gewinn ‒ ;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, ‒
nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest ... (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältere einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere ‒) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit.
Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst
dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt
das Meteor und rast in seine Räume ...[4]
Das gelingt uns aber nicht ein für alle Mal. Wir müssen uns wieder und wieder darum bemühen, bevor es uns zur zweiten Natur wird.
Der Dichter weiß, was es uns so schwermacht, an diesem Ballspiel teilzunehmen. In der 4. Duineser Elegie finden wir die Ursache ‒ und auch hier im Bild der Zugvögel:
Wir sind nicht einig.
Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-
vögel verständigt. Überholt und spät,
so drängen wir uns plötzlich Winden auf
und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.
«Wir sind nicht einig» mit uns selbst, weil wir im Ego stecken, also auch «nicht einig» untereinander und wegen unsrer Eigenwilligkeit auch «nicht einig» mit dem Fließweg des Lebens.
Weil wir nicht stillwerden und hinhorchen, versäumen wir den rechten Augenblick.
Dann «drängen wir uns plötzlich» dem Geschehen auf, anstatt mit ihm zu fließen.
Und doch ist das Einzige, worauf es ankommt, Harmonie mit dem Leben.
Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
Und dabei geht es um die grundlegenden Haltungen zum Leben ‒ und zum großen Geheimnis. Unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» lässt uns diese Haltungen klarer erkennen.
1. Durch «Stop» üben wir das für alle andren Haltungen grundlegende Lebensvertrauen.
Unsre hektischen Aktivitäten sind oft vergebliche Versuche, diese Haltung stillen Vertrauens durch Kontrolle zu ersetzen. In der Sprache spiritueller Traditionen heißt radikales Lebensvertrauen: Glauben.
2. Durch »Look» üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.
Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.
Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.
3. Durch «Go» antworten wir dann auf diese Anforderungen. Dadurch treten wir bereitwillig in Beziehung zu dem ganzen unendlich weit verzweigten Netzwerk des Lebens.
Durch diese Bereitwilligkeit sagen wir ein radikales Ja zur Zugehörigkeit ‒ nicht mit unsren Lippen, sondern durch unser Tun.
Dies aber kennen wir schon als die Definition für Liebe.
So wie sich die Haltung des Glaubens vom Für-wahr-Halten unterscheidet und die Hoffnung von den Hoffnungen, so unterscheidet sich die Liebe von unsren Vorlieben, unsrem Verlangen.
Durch «Stop ‒ Look ‒ Go» können wir die Haltungen von Glauben, Hoffnung und Liebe ‒ also unsre Beziehung zum Geheimnis als Mitte unsrer grundlegenden Orientierung im Leben ‒ immer wieder erneuern und so Sinn finden.
Sogar jedes Kind kann unsrem einfachen Dreischritt «Stop ‒ Look ‒ Go» folgen und so bleibende Lebensfreude finden durch dankbares Leben. Denn «Stop ‒ Look ‒ Go» ist der Dreischritt der Dankbarkeit.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 4]
[Ergänzend:
1. Musik der Stille (2023) 72-74
«In der Prim[6] verpflichten wir uns, heute alles so zu tun, als würden wir Kindern beibringen, die Straße zu überqueren: anhalten, hinschauen und dann gehen.
Um den Tag richtig gut zu beginnen, ist der erste Schritt: anhalten. Es ist so leicht, sich unverzüglich mitten in irgendetwas hineinzustürzen, das man sich vorgenommen hat, ohne bewusst damit zu beginnen. Jeder bewusste Anfang beginnt mit einem Innehalten, auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde ist. Tun wir das nicht, werden wir einfach mitgerissen, wie dies nur allzu oft vorkommt.
Dieser bewusste Beginn findet seinen Ausdruck in den Gesängen, wo alles davon abhängt, im richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Um im richtigen Moment einzusetzen, müssen wir zuerst innehalten.
Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.
Der zweite Schritt ist Hinschauen. Wenn wir nicht hinschauen, dann nützt uns auch das Anhalten nichts. Der Chor muss auf den Kantor schauen und auf sein Zeichen zum Einsatz achten. Bei jeder Tätigkeit ist es wichtig, zunächst auf alles zu achten, was diese Handlung betrifft: Wurde uns diese Aufgabe vielleicht schon früher einmal gestellt? Wie haben wir sie damals gelöst? Was ist uns dabei gelungen? Was haben wir versäumt? So vermeiden wir, den gleichen Fehler allzu oft zu wiederholen.
Es heißt, ein Narr begehe immer wieder denselben Fehler, ein Weiser hingegen jedes Mal einen neuen. Wir können nicht vermeiden, Fehler zu machen, aber wir können diejenigen vermeiden, die wir schon einmal begangen haben. Dummerweise neigen wir dazu, geflissentlich zu übersehen, was wir nicht sehen wollen. Ehrliches Hinschauen kann aber gelernt werden.
Zum Dritten müssen wir gehen. Es hilft uns nicht, anzuhalten, wenn wir nicht hinschauen, und es nützt nichts, anzuhalten und hinzuschauen, wenn wir nicht auch gehen. Schlussendlich müssen wir handeln. Die drei gehören zusammen, und der Trommelschlag des Engels signalisiert: ‹Halt an, schau hin, geh voran!› Lass uns aufbrechen.»
2. Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 82-89
3. Film und Audios zu Stop ‒ Look ‒ Go
Film Was am Ende wirklich zählt (2022), siehe auch Transkription, 3f.:
(09:20) «Was würdest Du denn sagen, Bruder David: Was ist ein ganz wichtiges Werkzeug, um das in sich zu erschaffen, wenn’s nicht schon da ist oder wenn wir’s einfach nicht sehen können. Ich denke, so viele wünschen sich ja diesen Zustand des Vertrauens und der Liebe und der Dankbarkeit und sich Wohlfühlen. Sie erahnen, wie schön das wäre, wenn es in ihnen wach wäre und finden trotzdem nicht dahin. Gibt’s ein Werkzeug?»
David Steindl-Rast: «Und da kommt wieder die Dankbarkeit herein. Und die Übung der Dankbarkeit ist ein ganz einfacher Dreischritt:
Stop ‒ Look ‒ Go.
Also ein Innehalten, Innewerden und dann Tun.
Und das heißt immer wieder im Laufe des Tages ‒ und das kann man üben ‒, immer wieder innezuhalten, einen kleinen Augenblick der Stille dieses automatische Dahinleben unterbrechen und einen Augenblick lang still zu werden. Und in dieser Stille: die schafft jetzt Raum zu sehen. Und zwar hinzuschauen: Was gibt mir jetzt das Leben in diesem Augenblick für eine Gelegenheit? Und das ist das ‹Look›.
Jetzt kommt das ‹Go›: Das ‹Go› heißt: Mach jetzt etwas aus dieser Gelegenheit.»
Lebendige Spiritualität (2015)
Die Themen des Gesprächs:
‹Stop ‒ Look ‒ Go› leben
Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(29:24) Die Methode: Stop ‒ Look ‒ Go, Innehalten ‒ Innewerden ‒ Tun: Unsere täglichen buddhistischen Augenblicke, unsere ‹amunah›-Spiritualität und unser Yoga
4. Audios zu Gedichten
Fragen, die uns bewegen (2005)
Vortrag:
(37:46) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)
Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag:
Was fördert gesundes spirituelles Wachstum (siehe auch Mitschrift):
(05:14) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Fragerunde:
‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (R. M. Rilke)
Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast:
Teil 1:
(11:04) Stufen im Gedicht von R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst›
Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996):
(01:47) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus unsern Herrn:
(20:21) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)
5. Weitere Texte und Interviews
Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David:
«Haben Sie vielleicht einen Tipp wie wir uns in Achtsamkeit üben können?»
«Als beliebtester Tipp hat sich eine Merkhilfe eingebürgert. Sie besteht aus drei englischen Wörtern, die man Kindern einprägt, wenn sie lernen, an einer Kreuzung ohne Verkehrsampel gefahrlos die Straße zu überqueren: ‹Stop / Look / Go!› — innehalten / rechts und links schauen / und dann rasch machen, bevor die Verkehrslage sich ändert.
Aufs Üben von Dankbarkeit übertragen, bedeutet das: innehalten, denn sonst läufst du an der Gelegenheit vorbei, die dieser Augenblick dir schenkt; / Ausschau halten nach der Gelegenheit, die du ergreifen willst; / und sie dann auch wirklich beim Schopf packen, denn im nächsten Augenblick kann sich die Lage schon ändern.
Meist ist, was uns geboten wird, die Gelegenheit uns einfach zu freuen, an dem was dieser Augenblick bringt. Das klingt zu gut, um wahr zu sein, bis wir das Stop ‒ Look ‒ Go selber ausprobieren.
Wir halten ja so selten inne, sondern laufen wie Schlafwandler an der Gelegenheit uns zu freuen vorbei und wachen erst auf, wenn etwas Unangenehmes uns wachrüttelt. So oft wir aber dieses Stop ‒ Look ‒ Go üben, lassen wir dieses Roboterdasein einen Schritt zurück und kommen näher heran an das wache, erfüllte Leben dankbarer Menschen. So werden Selbstfindung und Selbstverwirklichung gerade denen geschenkt, die diese Werte nicht als ausdrückliches Ziel anstreben.»
Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Ester Platzer mit Bruder David:
«Wie kann man lernen, jeden Augenblick zu genießen?»
«Ich habe da eine kleine Methode entwickelt, die lautet: ‹Stop. Look. Go.› Mit ‹Stop› meine ich: Kurz innehalten, still werden, ins Jetzt kommen, um einen Augenblick zu erkennen. ‹Look› heißt: schauen, welche Gelegenheit das Leben gerade offenbart. ‹Go› bedeutet: etwas aus der Situation machen, handeln, sich erfreuen oder etwas lernen.»
Die drei Schritte der Dankbarkeit (2020) von in KARUNA-Straßenzeitung (Text 2001 erschienen)
Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln-Technik (2018):
«INNEHALTEN – präsent, wach, bewusst, empfänglich werden
SCHAUEN – bemerken, beobachten, betrachten, eine direkte Erfahrung machen
HANDELN – anerkennen, etwas in die Hand nehmen, etwas mit den Möglichkeiten und dem Bewusstsein tun, die durch Dankbarkeit entstehen»]
________________
[1] R. M. Rilke: ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (Das Stunden-Buch) ‒ Siehe auch Stille leben
[2] «Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann ‒
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...»
Mit diesem Gedicht eröffnet Rilke Das Stunden-Buch.
[3] LILA, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147f.:
«Lila ist ein Sanskrit-Wort, das ‹Spiel› bedeutet, und steht im Hinduismus für die Vorstellung, dass das gesamte Weltgeschehen letztlich Spiel des Großen Geheimnisses ist: göttliches Kinderspiel, der große Reigentanz des Universums.
Auch für Nicht-Hindus kann dieses Bild große Bedeutung haben: Sinn unsres Lebens ist es, mit dem kosmischen Tanz im Schritt zu sein.»
[4] R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (Aus dem Nachlass)
[5] Orientierung finden (2021), 102-104, 106f., 86, 107f.
[6] Musik der Stille (2023), 66:
«Die Prim ist die Stunde der Arbeitsverteilung. … Der Ort der Prim ist der Kapitelsaal, wo die Mönche zusammenkommen, um die praktischen Fragen der Gemeinschaft zu besprechen. Die Arbeit wird gemeinsam verteilt.»
Sinnenfreudiges Morgenlob
Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
Die klösterliche Stunde der Laudes[1] führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.
In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte.
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht.
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
weist er uns an,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.
Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken ...
Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Und zum Abschied sagt er uns:
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.
Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen: an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung. Oft gehen wir wie im Schlaf durchs Leben, bis etwas kommt, an dem wir keine Freude haben: Erst dann werden wir wachgerüttelt.
Wenn wir lernen, die zahllosen Gelegenheiten wahrzunehmen, die uns Grund geben zur Freude am Geschenk des Lebendigseins, dann sind wir vorbereitet, wenn die Zeit kommt, die etwas Schwieriges von uns verlangt. Dann werden wir auch in dieser Herausforderung eine Gelegenheit erkennen und ihr dankbar gerecht werden.
Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzig passende Antwort.
Freude ist jene Art von Glück,
das nicht davon abhängt,
was uns zustößt.
Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt.
Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist?
Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein?
Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade Jetzt geschenkt ist.
Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.
Selbstverständlich ist es oft schwierig, diese Haltung einzunehmen, wenn wir uns plötzlich in einer unangenehmen oder gar tragischen Situation befinden. Wenn wir aber mit einfachen Dingen beginnen, dann wird uns die Haltung der Dankbarkeit nach und nach zur zweiten Natur.
Haben wir nicht Augen, die wir im Morgenlicht öffnen können? Haben wir nicht Ohren, um auf Geräusche zu hören, und Füße; um zu gehen, und Lungen, um zu atmen? Was für Geschenke! Sollten wir nicht dankbar sein und uns an ihnen erfreuen?
Ich verbinde die Laudes immer mit den hohen Fenstern des Oratoriums. Wenn die Gesänge der Laudes an einem Wintermorgen erklingen, sind die Fenster noch immer völlig dunkel. Kaum aber dämmert das erste Licht, beginnen die Farben in den Scheiben zu leuchten und langsam treten Formen und Figuren hervor und werden erkennbar. Diese Klosterfenster in der Dämmerstunde sind für mich ein kraftvolles Bild für das, was geschieht, wenn wir unsere Augen in Dankbarkeit für alles öffnen, was uns begegnet: Wir sehen göttliches Licht durch alles, was ist, hindurchleuchten.
Was für ein Geschenk, jeden Morgen irgendeinem Teil der Natur zu begegnen. Vielleicht haben wir gar nie richtig darauf geachtet auf den Morgenhimmel, auf wiegende Bäume im Wind, auf singende Vögel, oder auf Blumen, die soeben erblühen.
Die Natur ist einfach da; sie hat keinen unmittelbaren Nutzen; sie ist ein reines Geschenk der Schönheit und des Lebens.
Gerard Manley Hopkins sagt:
Tief drinnen in den Dingen lebt die kostbarste Frische.[2]
Und diese ursprüngliche Frische wird jeden Morgen erneuert.
Solange wir unsere Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie die Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.
In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hereinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig. Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran.
Wenn das Licht des frühen Morgens auf das Geschenk des Daseins aufmerksam macht, so durchdringt dieses Mysterium jede Antwort, die wir geben können. Und diese Transzendenz, diese Überfülle ist ein wesentlicher Bestandteil der göttlichen, freizügig geschenkten Gabe, die eine tägliche Einladung zu einer neuen Antwort aus ganzem Herzen ist und zum spontanen Lobpreis ‒ dem Choral ‒ inspiriert.
Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.
Die Freude äußert sich im Lobpreis Gottes und durchzieht sogar die klagenden Melodien der Gesänge.
Freude ist etwas, das wir pflegen können: wenn wir erst einmal diese dankbare Freude in den Gesängen hören und ihre Schönheit unser Herz ergreift, dann können wir auf leichte und natürliche Weise anfangen, Dankbarkeit zu üben.
Die schlanken melodischen Linien des Gregorianischen Chorals in ihrer Einfachheit und überirdischen Schönheit wecken unsere volle Aufmerksamkeit.
Sie entspringen einer tiefen Stille, und haben die Kraft, uns selbst still werden zu lassen, wenn wir sie nicht nur mit den Ohren aufnehmen, sondern mit dem Herzen.
Diese Musik stumpft niemals unser Gehör ab, sondern verfeinert es.
Ihre «asketische» Schönheit und ihre lautere Sinnlichkeit vermitteln den Hörenden mühelos Sammlung und jene besondere Lebenshaltung, die daraus entspringt.[3]
Wach auf!
heißt es in einer ganz frühen christlichen Hymne:
Wach auf, der du schläfst,
steh auf von den Toten,
so wird dich Christus erleuchten.[4]
Das bedeutet zwar mehr, als dass unsere Sinne wach werden müssen, setzt es aber zumindest unbedingt voraus.
Wie soll unser Herz hellhörig sein, solange unsere Sinne abgestumpft bleiben?
Ist nicht schon das Wiederlebendigwerden unserer halbtoten Sinnlichkeit ein Aufstehen von den Toten?
Auf also endlich!
ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:
«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:
Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.
Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:
Heute, wenn ihr seine Stimme hört,
verhärtet nicht eure Herzen!
Das Wort vom «Licht, das uns göttlich macht» ist eines der kühnsten im Schrifttum der christlichen Überlieferung.
Nur solche Kühnheit aber wird der Frohbotschaft gerecht.
Christus ist das Licht der Welt. In ihm, durch ihn und auf ihn hin ist alles erschaffen ‒ vom «es werde Licht», bis zum «es war sehr gut».
In seinem Lichte sehen wir das Licht und in diesem Licht finden wir ihn als Urgrund alles Geschaffenen.
Indem wir ihn da finden, finden wir zugleich den Sinn alles Geschaffenen und uns selbst.
Sinn aller Schöpfung ist es ja, Gottes Liebe zu offenbaren.
Christus ist Offenbarung von Gottes Liebe; und das müssen auch wir selber werden.
Er ist Ebenbild des unsichtbaren Gottes.
Da wir als Gottes Ebenbild geschaffen sind, finden wir unser wahres Selbst, wenn wir im Herzen aller Dinge ihn finden.
Dem kühnen Wort des Heiligen Benedikt entspricht das berühmte Wort Meister Eckeharts:
Das Auge, mit dem ich Gott anschaue,
ist das Auge, mit dem mich Gott anschaut.[5]
Das findet seine Vollendung in der visio beatifica des Himmels.
Es beginnt aber mit unserer dankbaren Sinnlichkeit hier auf Erden.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 6]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(55:55) Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (Das Stunden-Buch)
1.2. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn
(20:46) ‹Wach auf, du Schläfer› (Eph 5,14)
(46:03) ‹Öffnen wir also unsere Augen für das Licht, das uns göttlich macht› (RB prol 9)
2. Weitere Texte
2.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268f.: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35f.:
«In unserem Herzen ist Gott uns näher, als wir uns selber sind. Der Heilige Augustinus versichert uns dies aus seiner mystischen Erfahrung, und wir ahnen es aus unserer eigenen. Zugleich weiß Augustinus aber auch (und wir wissen es), dass unser Herz ruhelos sei, bis es heimfinde zu seinem Ausgangspunkt, heim zur göttlichen Mitte.
Vom Ursprung unserer Ruhelosigkeit sagt Rilke:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand …
Was aber ist diese Sehnsucht? Ist sie nicht letztlich Heimweh? Heimweh nach jenem Urquell von Sinn, den wir Gott nennen. Und der quillt in unserem innersten Herzen auf. Die Sinne senden uns hinaus. Und nur so können wir dahin kommen, wo wir immer schon sind. Unsere Ausfahrt zum äußersten Rand unserer Sehnsucht ist Heimkehr zur Herzmitte. Sinn finden wir, wenn wir mit dem Herzen horchen lernen.»
2.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):
«Wenn der heilige Benedikt seinen Mönchen als Ziel setzt, ‹dass in allem Gott verherrlicht werde›, dann geht es ihm um mehr als darum, Gott Ehre zu erweisen. Er zitiert ja hier den ersten Petrusbrief (4,11) – ‹dass in allen Dingen Gott geehrt werde› – ersetzt aber ‹geehrt werde› (honorificetur) durch ‹verherrlicht werde› (glorificetur). Es geht ihm also nicht so sehr um die Ehrerbietung, die wir Gott erweisen, sondern umgekehrt: um die Herrlichkeit, die Gott vor uns erstrahlen lässt. So gut und wichtig unser menschliches ‹Alles-meinem-Gott-zu-Ehren› auch ist, im Vergleich zum Donnerschlag der göttlichen Glorie ist es kaum eine Knallerbse. Wir Menschen können Gott ehren, aber nur Gott selbst kann Herrlichkeit wie Wetterleuchten aufblitzen lassen. Und das ereignet sich in Augenblicken dankbaren Gehorsams, wenn wir, ‹attonitis auribus› (RB Prol 9) – mit dem Donnerkrachen der Gottesstimme in unseren Ohren – auf diesen Ruf hören und darauf antworten. Der Gehorsam und die Dankbarkeit öffnen unsere Augen für das ‹lumen deificum› (RB Prol 9), jenes Taborlicht (Mt 17; Mk 9; Lk 9), das die ganze Schöpfung verklärt, indem es sie durchscheinend macht für Gottes Herrlichkeit.»
2.3. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 26f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 23f.]:
«Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche.
‹Natur ist niemals verbraucht›, sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe. ‹Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.›[7]
Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals. Bei Regenbogen ist das offensichtlich. Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, ‹ein Schleier aus dem Atem eines Windes›, wie Robert Frost das nennt, ‹ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht.›
Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden. Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein.
Vielleicht sah ich ‹an diesem Morgen des Morgens Liebling›, Gerard Manley Hopkins ‹vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben›[8], oder einfach die zwei Zentimeter Zahnpasta auf meiner Zahnbürste.
Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, dass es überhaupt etwas gibt ‒ dass wir hier sind.
Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen lässt, öffnet ‹die Augen unserer Augen›.
Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Zentimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.»
2.4. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 32-35]
__________________
[1] Die Laudes (Plural von lat. laus‚ Lob, Lobgesang) sind das Morgengebet der Mönche bei Tagesanbruch
[2] «God’s Grandeur
The world is charged with the grandeur of God.
It will flame out, like shining from shook foil;
It gathers to a greatness, like the ooze of oil
Crushed. Why do men then now not reck his rod?
Generations have trod, have trod, have trod;
And all is seared with trade; bleared, smeared with toil;
And wears man's smudge and shares man's smell: the soil
Is bare now, nor can foot feel, being shod.
And for all this, nature is never spent;
There lives the dearest freshness deep down things;
And though the last lights off the black West went
Oh, morning, at the brown brink eastward, springs ‒
Because the Holy Ghost over the bent
World broods with warm breast and with ah! bright wings.»
«Gottes Größe
Die Welt ist erfüllt von Gottes Größe.
Ihr Feuer bricht auf wie aus Spiegelscherben.
Sie strömt ins Große wie gepresstes Öl aus den Kerben.
Warum kniet vor ihr nicht des Menschen Blöße?
Menschenalter immerfort in neuen Gleisen reisen und kreisen.
Und alles verdorrt vom Getriebe, verrucht, verflucht von Qualen.
Alles starrt von Menschenschmutz, riecht nach Menschenschweiß: ohne Schalen
liegt die Erde nackt, kein Fuß kann fühlen mit Sohlen aus Eisen.
Und doch ist von alldem Natur nicht ganz zuschanden.
Es ist noch aus Lebenstiefen köstlichste Frische zu trinken.
Auch wenn die letzten Schimmer im schwarzen Westen verschwanden,
o Morgen, über dem braunen Saum gen Osten, dein Winken ‒
denn der Heilige Geist brütet über den Banden
der Welt mit warmem Flaum und ah! seine Flügel blinken.»
Gerard Manley Hopkins: ‹Poems and Prose› (Penguin Classics, 1985); übersetzt von Detlev Wilhelm Klee
[3] Auszüge aus Musik der Stille (2023), 48-56, 58: Laudes: Tagesanbruch
[4] Eph 5,14
[5] «Soll mein Auge die Farbe sehen, so muss es ledig sein aller Farbe. Sehe ich blaue oder weiße Farbe, so ist das Sehen meines Auges, das die Farbe sieht ‒ ist eben das, was da sieht, dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.» (Meister Eckhart: Predigt ‹Qui audit me›)
[6] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 279f.: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 51f.
[7] Siehe Anm. 2
[8] «The windhover
I caught this morning morning's minion, king-
dom of daylight's dauphin, dapple-dawn-drawn Falcon, in his riding
Of the rolling level underneath him steady air, and striding
High there, how he rung upon the rein of a wimpling wing
In his ecstasy! then off, off forth on swing,
As a skate's heel sweeps smooth on a bow-bend: the hurl and gliding
Rebuffed the big wind. My heart in hiding
Stirred for a bird, – the achieve of, the mastery of the thing!
Brute beauty and valour and act, oh, air, pride, plume, here
Buckle AND the fire that breaks from thee then, a billion
Times told lovelier, more dangerous, O my chevalier!
No wonder of it: shéer plód makes plough down sillion
Shine, and blue-bleak embers, ah my dear,
Fall, gall themselves, and gash gold-vermilion.»
«Der Windgleiter
Ich fing heut Morgen des Morgens Liebling, den Königssohn
im Reich des Tageslichts, den Falken im getupften Dämmerkleid, er ritt
übers Hügelland, unter ihm die stille Luft, und schritt
hoch daher, wie flog über Flatterflügels Zügel der schrille Ton
in seinem Rausch! Dann weg, weit weg im Schwunge schon,
wie ein Schlittschuh sanft die Schleife saust: Sturz und Gleiten
stieß vor sich her der große Wind. Meines Herzens stumme Saiten,
ein Vogel schlug sie wach ‒ ihn zu erlangen, Ihn zu fangen war mein Lohn!
Wüste Schönheit und Mut und Tat, o Luft Stolz, Gefieder,
hier knicke ein! Und die Feier, die da aus dir brechen ohne Zahl,
ihren Zauber, ihre Fährnis, o mein Troubadour, fassten besser deine Lieder!
Wen nimmt es wunder: Schiere Schufterei pflügt tausendmal
die Lichter unter, und blau-graue Aschenglut fällt hernieder,
mein Teurer, sie sauert ein, und Goldrubine sickern aus dem Wundenmal.»
Gerard Manley Hopkins: ‹Poems and Prose› (Penguin Classics, 1985); übersetzt von Detlev Wilhelm Klee
Horchen und Gehorchen
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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«Hören, DU großes Geheimnis, ist Dein Geschenk. Dich hören zu können, ist deine große Gabe an mich; auf dich zu horchen ist meine große Aufgabe vor dir. Öffne DU die Ohren meines Herzens. Mach mich ganz Ohr.
In den Singenden singst DU; in den Weinenden weinst DU; in den Schweigenden schweigst DU ‒ mit beredtem Schweigen. Lass mich so still werden, dass auch deine Stille deutlich zu mir redet. In deinem Schweigen darf ich schweigend ruhen.
Lass mich so hellhörig werden, dass am Wendepunkt, an dem deine Gegenwart mir entgegenwartet, mein Horchen zum Gehorchen wird und mein Hören zum dir Angehören. Amen.»[1]
Das Schlüsselwort für meinen Zugang zum geistlichen Leben heißt Horchen.
Damit ist eine besondere Art des Horchens gemeint, ein Hinhorchen des Herzens.
So zu horchen, ist das Rückgrat der mönchischen Tradition, in der ich stehe.
Das allererste Wort der Regel des heiligen Benedikt lautet: «Horch!» ‒ «Ausculta!»[2] ‒, und aus dieser ersten Geste des Horchens aus ganzem Herzen erwächst die gesamte Disziplin der Benediktiner, wie eine Sonnenblume aus ihrem Samen wächst.[3]
Die Spiritualität der Benediktiner geht ihrerseits auf die umfassendere und ältere Disziplin der Bibel zurück.
Aber hier ist der Begriff des Horchens von grundlegender Bedeutung. Aus biblischer Sicht kommen alle Dinge durch Gottes schöpferisches Wort in die Welt; die gesamte Geschichte ist ein Dialog mit Gott, der zum Herzen der Menschen spricht.
Die Bibel verkündet mit großer Klarheit, dass Gott eins ist und transzendent.
Bewundernswert ist die Einsicht des religiösen Geistes, der in der biblischen Literatur seinen Ausdruck gefunden hat, dass Gott zu uns spricht.
Der transzendente Gott spricht in Natur und Geschichte. Das menschliche Herz ist dazu aufgerufen, zu horchen und zu antworten.
Horchen und Antworten ‒ das ist die Form, welche die Bibel unserem grundlegenden religiösen Streben als menschliche Wesen vorzeichnet: dem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, dem Streben nach Sinn.
Unser Glücklichsein gründet sich nicht auf Glücksgefühle, sondern auf inneren Frieden, den Frieden des Herzens.
Selbst inmitten einer sogenannten Pechsträhne, inmitten von Leid und Schmerz können wir unseren inneren Frieden finden, wenn wir aus all dem Sinn heraushören.
Die biblische Überlieferung zeigt uns den Weg, indem sie verkündet, dass Gott selbst in der schlimmsten Notlage und durch sie zu uns spricht.
Indem ich mich der Botschaft des Augenblicks ganz öffne, kann ich zur Quelle der Sinnhaftigkeit vorstoßen und den Sinn des Lebens erkennen.
So zu horchen heißt, mit dem Herzen horchen, mit dem ganzen Wesen.
Herz bedeutet das Zentrum unseres Wesens, in dem wir wahrhaftig eins sind. Eins mit uns selbst, nicht aufgespalten in Verstand, Wille, Gefühle, Körper und Geist, eins mit allen anderen Geschöpfen.
Denn das Herz ist der Bereich, in dem wir nicht nur mit unserem innersten Selbst in Berührung sind, sondern gleichzeitig mit dem ganzen Dasein innigst vereint sind.
Hier sind wir auch vereint mit Gott, der Quelle des Lebens, welche im Herzen entspringt. Um mit dem Herzen zu horchen, müssen wir immer wieder zu unserem Herzen zurückkehren, indem wir uns die Dinge zu Herzen nehmen.
Wenn wir mit dem Herzen horchen, werden wir Sinn finden, denn so wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Geräusche, ist das Herz das Organ für Sinn.
Die Disziplin des täglichen Horchens und Antwortens auf den Sinn wird Gehorsam genannt
Dieser Begriff von Gehorsam ist viel umfassender als die beschränkte Vorstellung von Gehorsam als Tun-was-einem-gesagt-wird.
Gehorsam, im umfassendsten Sinn, heißt, sein Herz auf den einfachen Ruf einstimmen, der in der Vielfalt und Vielschichtigkeit einer gegebenen Situation enthalten ist.
Die einzige Alternative dazu ist Absurdität, Ab-surdus bedeutet wörtlich «absolut taub».
Wenn ich eine Situation absurd nenne, gebe ich zu, dass ich taub für ihren Sinn bin. Ich gestehe indirekt ein, dass ich ob-audiens werden muss ‒ aufmerksam horchend, gehorsam.
Ich muss mein Ohr, mich selbst, so völlig dem Wort, das mich erreicht, hingeben, dass es mir zum Auftrag wird.
Vom Wort gesandt, werde ich meiner Sendung gehorchen und so, durch liebevolles und wahrhaftiges Handeln, nicht durch eine Analyse der Wahrheit, fange ich an zu verstehen.
Was aus all dem für mein Handeln folgt, liegt auf der Hand.
Umso wichtiger ist es, im Auge zu behalten, dass es uns hier nicht vornehmlich um ethische, sondern um religiöse Erwägungen geht, nicht um Zweckbestimmung ‒ selbst dann nicht, wenn es sich um die edelsten Zwecke handelt ‒, sondern um jene religiöse Dimension, aus der jeder Zweck seinen Sinn ableiten muss.
Die Bibel nennt das Horchen und Antworten des Gehorsams «vom Wort Gottes leben», und das bedeutet viel mehr, als nur Gottes Willen tun.
Es bedeutet, sich vom Wort Gottes zu nähren wie von Speis und Trank ‒ vom Wort Gottes in jedem Menschen, jedem Ding, jedem Ereignis, dem wir begegnen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin. Ihre Beschaffenheit, ihr Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist. Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?
Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht. Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft. Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.
Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.
Aber auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. Im Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen.
Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebenspendendes Wort?
Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.
Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt.
Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit.
Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.
Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube.
Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebers nicht offenbar ist, heißt, den Weg zum Herzensfrieden finden.
Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.
Übung im Horchen mit dem Herzen lehrt uns in einem lebenslangen Prozess, unterschiedslos nach jedem Wort zu leben, das aus dem Munde Gottes kommt.[4]
Wir lernen es, indem wir in allen Dingen unsere Dankbarkeit bezeugen.
Die klösterliche Umgebung soll genau dies erleichtern. Die Methode ist Losgelöstheit.[5]
Ich kenne zwei alte Schwestern, die ihre eigene Methode haben: Jedes Mal, wenn die Pendeluhr schlägt, sagt eine von den beiden:
«Denk an Gottes Gegenwart!»,
und die andere antwortet:
«Und sei allzeit dankbar!»[6]
Das mag manchen ein bisschen verschroben anmuten. Man braucht es aber nur selbst zu versuchen, um zu entdecken, was sich da ereignet:
Kronos verwandelt sich in Kairos,
Uhrzeit in einmalige Gelegenheit,
ein unpersönlicher Zeitpunkt
in tief persönliche Begegnung
mit dem Geber aller Gaben.
Wenn wir nur einmal anfangen, wach zu sein für die Gelegenheit, die ein gegebener Augenblick uns bietet, dann ist es nur ein kleiner Schritt von sinnenfroher Aufgewecktheit zur wachen Antwort ernster Verantwortlichkeit.
Meistens, ja fast immer, ist die Gelegenheit, die uns geboten wird, Gelegenheit zu sinnlicher Freude.
In dem Maß, in dem wir lernen, diese Gelegenheiten dankbar freudig zu ergreifen, werden wir auch ganz da sein, wenn ein gegebener Augenblick Schwieriges von uns verlangt ‒ etwa für unsere Überzeugung einzutreten.
So gesehen, zeigen sich traditionelle Elemente christlicher Askese von einer neuen Seite. Wenn der Heilige Bernhard zum Beispiel von der Nützlichkeit des Fastens spricht, erwähnt er an erster Stelle, dass Hunger uns lehrt, den Geschmack der Speisen erst so recht zu würdigen.
Auch die «lectio divina» der Benediktinermönche gehört hierher. Es handelt sich dabei ja keineswegs nur um «geistliche Lesung» im engen Sinn, sondern um ein waches «Lesen» der Botschaft, die jeder Augenblick bringt. Nur so ist die zentrale Stellung von «lectio» in der benediktinischen Askese zu verstehen.
Einmal liest der Mönch mit gesammelter Aufmerksamkeit die Worte der Heiligen Schrift, ein andermal mit derselben Konzentration die Zeichen der Maserung im Holz, mit dem er arbeitet, oder die Zeichen der Zeit in der er lebt.
Ein und dieselbe innere Haltung kennzeichnen das «Lesen» in all diesen Bereichen. Wer die Zeichen der Zeit nicht lesen kann oder die Schrift der Eisblumen an den Fensterscheiben, der liest vielleicht die Buchstaben in der Bibel, bleibt aber doch geistlicher Analphabet.
Um Botschaft und Antwort dreht sich alles in der christlichen Askese, um Gelegenheit und Bereitschaft, um Horchen und Gehorchen.[7]
«Gehorchen will ich letztlich nur DIR, DU ‹sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen›.[8]
Wie Jakob eine ganze Nacht lang rang mit deiner dunklen Gegenwart, so rang und ringt die Menschheit in der Nacht der Zeit mit dir schon von Anbeginn.[9]
Mein Ringen ist mein Nicht-horchen-Wollen, obwohl ich dich hören kann tief im Herzen.
Siege DU über mich ‒ in mir.
Nicht nur horchen will ich dann, sondern so hingegeben horchen, dass mein Horchen zum Gehorchen wird ‒ und zum Überschreiten: zum Überschreiten meiner eigenen begrenzten Einsichten und Absichten; zum Überschreiten aller Hindernisse durch gehorsames Tun; zum Überschreiten auch ‒ im Vertrauen auf dich ‒ von allem, was ich mir selber je zugetraut hätte.
Als ‹sanftestes Gesetz› lass mich dich erkennen.
In wahrhaft wachen Augenblicken ist mir ja klar, dass DU die Freiheit bist, nach der ich mich sehne. Amen.»[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5, 7, 10]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(06.45) «Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
(10:01) Dieses Horchen mit dem Herzen ist keineswegs etwas Abstraktes, sondern ist ganz konkret mit dem Horchen mit den Ohren verbunden. Es beginnt mit einem intensiven Horchen lernen. Wie können wir uns denn einbilden, mit dem Herzen horchen zu können, wenn wir nicht einmal mit den Ohren eingeblendet sind auf die vielen wundervollen Geräusche, die uns ständig umgeben.
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(32:33) Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten (Rilke, Die erste Elegie) – Die Gestalt des Orpheus – Da schufst du ihnen Tempel im Gehör (Die Sonette 1. Teil, I) – Jeden Morgen weckt er mein Ohr (Jes 50,4)
(41:22) Eine Linie zum völlig offenen Horchen über das Hören ‒ Horchen ‒ Hinhorchen ‒ Gehorchen. Unterschied von Gehorchen und Dressur. Das erste Wort der Benediktinerregel: Horche! Ausculta! – Ohr und inneres Gleichgewicht in den Forschungen von Alfred A. Tomatis
2.2. Horchen ‒ die Kunst des Betens (2002): Interview von Johannes Kaup mit Bruder David:
(06:37) Wir horchen auf das Wort, das uns jeder Augenblick zuspricht. Dieses ES, das alles gibt, darauf horchen wir hin. Jede Gelegenheit, jeder Augenblick, jedes Ding, jede Begegnung, jede Situation ist Wort und hat Sinn, will uns etwas sagen. Und wenn wir uns darauf einlassen und darauf hinhorchen, dann hören wir auch etwas, und was wir hören, ist, dass wir zu einer Entscheidung aufgerufen werden. Jeder Augenblick ist in gewissem Sinn Entscheidung.
(10:42) Im Kloster gehört zur ‹lectio divina›, zur heiligen Lesung, nicht nur die Schriftlesung. Eine meiner liebsten Formen der heiligen Lesung ist Biologiebücher zu lesen: die Evolution der Pflanzen, der Tiere; die Komplexität dieser Vorgänge, die Schönheit der Blüten usw.. Das ist für mich sehr erhebend und kann ebenso spirituelle Lesung sein.
2.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25.11) Öffne die Ohren ‒ ‹neige Dein Ohr› ‒ Gott spricht in jedem Augenblick
2.4. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(00:00) Mit dem Herzen horchen fällt uns nicht leicht ‒ Erlauben wir uns eine halbe Minute der Stille (02:04) Wie können wir von Herz zu Herz sprechen? Die Dichtung gibt uns eine helfende Hand
2.5. Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
Gesammelt horchen
Gelassen horchen
Gläubig horchen
Verantwortlich horchen
Dankbar horchen
3. Weitere Texte
3.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 265: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 18f.:
«Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist›, wie T. S. Eliot es ausdrückt.[11]
In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist› zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒
‹jetzt und in der Stunde unseres Todes.›
‹Und die Todesstunde ist jeder Augenblick›, sagt T. S. Eliot, denn der Augenblick, in dem wir wirklich hinhorchen, ist ‹Augenblick in und außer der Zeit.›[12]
Eine Methode, mit deren Hilfe man Augenblick für Augenblick in dieses Mysterium eindringen kann, ist die Disziplin des Jesus-Gebetes, Training im Herzensgebet, wie es auch heißt.»
3.2. Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 23f. [derselbe Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille : Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein» (2016), 103]:
«Um im Rhythmus zu bleiben, muss man hinhorchen. Um den Weg zu sehen, muss man hinschauen. Das Kloster ist deshalb ein Ort, an dem man lernt, Augen und Ohren offen zu halten. ‹Höre!› ist das erste Wort der Klosterregel des Heiligen Benedikt. Ein weiteres Schlüsselwort lautet: ‹Betrachte!› (lateinisch: considera, von sidus = das Sternbild/Gestirn, also wörtlich: seinen Kurs nach den Sternen bestimmen).
Der Heilige Benedikt, Vater des abendländischen Mönchtums, will, dass die Mönche ‹apertis oculis› und ‹attonitis auribus› leben, d. h. mit so offenen Augen und so horchenden Ohren, dass die Stille göttlicher Gegenwart sie wie Donner trifft.
Deshalb ist ein Benediktinerkloster ‹schola Dominici servitii›, eine Schule, in der man lernt, sich auf die höchste Ordnung einzustimmen.»
3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:
Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)
3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben›. Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben.» (38)]
_________________
[1] Leseprobe aus dem Buch Erwachende Worte (2023), 19
[2] Für Bruder David ist der Ausdruck «Ausculta» ‒ von «auscultare: horchen, lauschen, gehorchen» ‒ geläufig, obwohl in den lateinischen Ausgaben der RB «Obsculta» ‒ «Höre» steht.
[3] Bruder David übersetzt RB Prol 8f. in Sinne und Sinnlichkeit (1996), 280, dem Auszug aus Die Achtsamkeit des Herzens: Der Dreischritt des horchenden Herzens (2021), 51:
«Auf also endlich!» ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:
«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:
‹Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.›
Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:
‹Heute, wenn ihr seine Stimme hört,
verhärtet nicht eure Herzen!›»
Siehe auch Sinnenfreudiges Morgenlob: Haupttext und Ergänzend: 2.2
[4] Siehe das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Gebet ‒ drei Innenwelten
[5] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 261-264: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 13-17
[6] In Musik der Stille (2023), 89:
«Ich habe zwei Schwestern gekannt, deren Standuhr jede Viertelstunde schlug. Jedes Mal, wenn die Uhr schlug, sagte die eine: ‹Denk an Gottes Gegenwart› und die andere antwortete: ‹und sei allzeit dankbar›.
Es ist so einfach, sich ein paar Mal am Tag oder jeweils zur vollen Stunde daran zu erinnern, dass wir in Gottes Gegenwart stehen. Der heilige Benedikt betonte, dass eben dies das Wesen des Gebets ausmacht. Drum freue ich mich immer, wenn ich in Europa die Kirchenglocken höre. Sie tauchen die ganze Landschaft in klösterliche Schwingungen.»
[7] Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 84-86
[8] R. M. Rilke: ‹Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz› (Das Stunden-Buch: ‹Vom mönchischen Leben›)
[9] Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 94f.
[10] Erwachende Worte (2023), 27
[11] Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(25:01) «T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.»
[12] Siehe Auszüge aus T. S. Eliot: Four Quartets in Stillehalten
Sinne und Sinn
Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Robert Graf
(Film 00:24) Lebendig sein: darauf kommt’s schließlich im Letzten an. Das geistliche Leben heißt ja, ein überaus lebendiges Leben führen. Dass wir noch nicht gestorben sind, bedeutet nicht, dass wir wirklich lebendig sind. Wir leben oft so halbtot dahin. Der Geist ist der Lebensatem Gottes in unserer christlichen Tradition, in der ganzen biblischen Tradition. Daher bedeutet ein geistliches Leben führen, völlig lebendig zu sein. Mit allen Sinnen. Und darauf kommt es schließlich im Letzten an: Lebendigkeit.
(04:00) Wenn wir vom Sinn finden sprechen, dann kommen natürlich die Sinne in das Spiel. Denn es ist ja kein Zufall, dass Sinn und Sinne dem Wort nach zusammenhängen. Rilke hat das so wunderbar in seinem Gedicht zusammengefasst in einem der Sonette an Orpheus:
Sei in dieser Nacht aus Übermass
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne.
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Sei Sinn! Denn Sinn finden, heißt ja eigentlich Sinn werden. Das heißt so zu leben, dass wir in jedem Augenblick uns dem stellen ‒ mit allen unsern Sinnen ‒, was uns entgegenkommt.
(06.45) Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
Ursprünglich in unserer natürlichen Frömmigkeit denken wir noch nicht notwendigerweise an einen persönlichen Gott. Sondern wir erleben in unsern besten, lebendigsten Augenblicken eine tiefe Geborgenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Daheimsein in der Welt. Wir sind hier nicht verweist, wir wurden erwartet, wir sind eingebettet, die Welt ist für uns vorbereitet, wir sind hier zu Hause.
Und von diesem Zugehörigkeitsgefühl ist kein sehr weiter Weg zu der Gegenseitigkeit der Zugehörigkeit. Und da kommt dann die persönliche Bezogenheit zum Göttlichen herein, und das ist der Gesichtspunkt des Religiösen, der in der biblischen Tradition besonders unterstrichen wird, auf den die biblischen Autoren besonders ansprechen.
Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: «Gott sprach und es ward Licht.» Und «Gott sprach», und da war ein Firmament», und «Gott sprach», und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.
Aber wie spricht Gott? Durch alles, was es gibt. Jeder Gegenstand, jede Person, jede Situation ist letztlich WORT. Das Wort sagt mir etwas und fordert mich auf zu antworten. Jeder Augenblick mit allem, was er enthält, spricht das große Ja auf neue und einzigartige Weise aus. Indem ich darauf anspreche, Augenblick für Augenblick, Wort für Wort, werde ich das WORT, das Gott in mir und zu mir und durch mich spricht.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Du hast mich mit Augen beschenkt und du beschenkst meine Augen mit Farben ‒
von den Farben, die im Morgengrauen stillschweigend zu sich finden,
bis zu den lauten Farben am Mittag
und den jubelnden beim Sonnenuntergang.
Jede Farbe hat ihren eigenen Ton.
Mit jeder Farbe sprichst du mir ein Wort zu,
das sich nicht in Worte fassen lässt.
Mach mich heute hellhörig für Farben,
besonders für leise Farbtöne, die ich nicht nennen kann,
die mich Ehrfurcht lehren vor allem, was unnennbar ist wie du.
Amen»
Deshalb ist Achtsamkeit eine so überaus wichtige Aufgabe. Wie kann ich auf diesen jetzigen Augenblick ganz ansprechen, wenn ich nicht wach bin für seine Botschaft? Und wie kann ich wach sein, wenn nicht alle meine Sinne hell wach sind?
Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Alles soll heute Begegnung werden mit dir
durch Wort und Bild ‒ durch alles, was meine Sinne anspricht,
durch alles, was dabei in meinem Herzen aufleuchtet.
‹Quellgrund›? ‹Meer›? Bilder und Worte, von mir gefunden.
Aber was dahintersteht, ihre Bedeutung, ist nicht Erfindung, sondern Fund. Nur im Erfinden kann ich dich finden.
‹Wir dürfen jenen erhorchen›, sagt der Dichter von dir, ‹der uns am Ende erhört›.
Lass mich heute dich erhorchen in allem, was ich mit Ohr und Herz höre!
Und erhöre du dieses Gebet.
Amen»
Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!
Und welche Vielfalt von Tönen: Der Frühlingsregen, der Herbstwind, die Vögel im ganzen Jahr – Trauertaube, Blauhäher und Zaunkönig; der scharfe Ruf des Falken zur Mittagszeit und die Rufe der Eule zur Nacht –, das Geräusch der Ginsterruten auf dem Kies, das Spiel des Windes und die knarrende Gartentür.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Öffne du mir heute die Ohren meines Herzens, damit ich nicht nur Geräusche höre und Töne, sondern ‒ darüber hinaus ‒ dich? Ja, dich!
Dich in Vogelstimmen mitzuhören ‒
im Singen der Amseln,
im Zwitschern der Spatzen,
im nächtlichen Schrei der Zugvögel ‒
das ist leicht.
Mach mich aber bereit, auch in Stimmen,
die mir nicht so angenehm sind, dich mitzuhören ‒
in Sirenen und Kreissägen,
in den Abendnachrichten,
vor allem aber in allem Unausgesprochenen,
das um liebendes Hinhorchen fleht.
Darum bitte ich dich heute, du, mein ‹Darüber-Hinaus›!
Amen.»
Wer könnte den Geschmack einer Erdbeere oder Feige in Worte übersetzen?
Und welch endlose Auswahl von Dingen, die man berühren kann, vom taunassen Gras unter meinen nackten Füßen bis zu den sonnen-durchwärmten Felsen, an die ich mich lehnen kann, wenn die Abende kühl werden.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden.
Amen.»
Meine Augen gehen vor und zurück zwischen Fernem und Nahem: der goldgrüne, metallisch glänzende Käfer zwischen den Blütenblättern einer Rose, die unermessliche Weite des Pazifischen Ozeans zwischen der Küste tief unten und dem weiten Horizont, wo Meer und Himmel sich im Dunst begegnen.
Ja, ich gebe es zu: Einen solchen Platz zu haben, ist ein unschätzbares Geschenk. Es lässt das Herz aufgehen, die Sinne erwachen, einen nach dem anderen von neuer Vitalität lebendig werden. Wie auch immer die Umstände beschaffen sein mögen: Wir brauchen Zeit und Ort, um uns dieser Art von Erlebnis zu widmen. Es ist eine Notwendigkeit im Leben eines jeden, kein Luxus.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Erst, wenn ich mich so recht in Vögel einfühle, wird mir bewusst, dass ja auch wir ohne Hände auskommen müssten, wenn uns keine geschenkt wären.
Wo immer man im Freien isst, nie fehlen Spatzen unter den Tischen.
Um wieviel geschickter diese Spatzen Krümchen aufzupicken verstehen, als Kinder beim Wettspiel mit gefesselten Händen in den Apfel zu beißen, der im Wasser schwimmt!
Sie schauen mich an wie beim Fahrradfahren-Lernen: «Schau! Freihändig kann ich's!»
Was ich alles mit Händen tun kann, will ich heute beachten.
Amen.»
Was in solchen Momenten zum Leben erwacht, ist mehr als Augen und Ohren: unsere Herzen lauschen und öffnen sich.
Bevor ich nicht meine Sinne eingestimmt habe, bleibt mein Herz düster, schläfrig, halbtot. In dem Maße, in dem mein Herz erwacht, vernehme ich die Aufforderung, mich meiner Verantwortung zu stellen. Wir übersehen leicht die enge Verbindung zwischen Antwortbereitschaft und Verantwortlichkeit, zwischen Sinnlichkeit und gesellschaftlicher Herausforderung.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Mit verschlafenen Augen sehe ich die Welt weit anders als später am Tag. Auch darin liegt ein Geschenk:
Beim Aufwachen greifen meine Augen noch nicht nach dem, was ich sehe, sondern empfangen es einfach, ohne scharf zu unterscheiden,
ohne zu benennen, ohne zu wählen.
Wie viel reicher ist da die Ernte meines Blickfeldes als die karge Auswahl,
die ich dann später treffe.
Hilf mir heute, mich bewusst einzulassen auf diese bereitwillige Empfänglichkeit des Schauens, und so erst wahrhaft wach
durch diesen Tag zu gehen.
Amen.»
Wenn wir lernen, wirklich mit unseren Augen zu sehen, beginnen wir auch mit dem Herzen zu schauen. Wir fangen an, uns dem zu stellen, das wir lieber übersehen, um zu bemerken, was auf dieser unserer Welt geschieht.
Wenn wir lernen, mit unseren Ohren zu lauschen, beginnt unser Herz den Schrei der Unterdrückten zu vernehmen. Mit dem eigenen Körper in Kontakt zu sein heißt, mit der Welt in Verbindung zu sein – und dazu gehören auch die Dritte Welt und alle anderen Bereiche, derer sich unsere stumpfen Herzen bequemer Weise nicht bewusst sind.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Jeden Morgen erwache ich zum Geschenk eines neuen Tages, aber auch zu allem E1end der Welt.
Unheil, das wir Menschen anrichten, ist entsetzlich genug.
Aber Erdbeben, Epidemien, Tsunamikatastrophen, wo kommen die her?
Ich will keine rosa Brille, will dich nicht nach meinen Wunschträumen erfinden.
Ich möchte dich kennenlernen, wie du bist.
Lebensfülle und Vernichtung ‒ beides stammt von dir, du Unergründlicher. Mich schaudert.
Ich kann verzweifeln oder vertrauen. Ich wähle vertrauen.
Alles Böse ist das Noch-nicht-Gute.
Mit diesem Vertrauen will ich heute Schreckensnachrichten hören.
Amen.»
Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht man seine Achtsamkeit verliert. Die Übersättigung unserer Sinne neigt dazu, die Wachheit zu dämpfen. Eine Flut von Sinneseindrücken lenkt das Herz leicht von der gesammelten Aufmerksamkeit ab.
Aber der Einsiedler in jedem von uns läuft nicht vor der Welt davon; er sucht das Zentrum der Stille im Innern, wo der Pulsschlag der Welt zu hören ist.
Wir alle – jeder in anderem Maße – brauchen Einsamkeit, weil die Pflege unserer Achtsamkeit notwendig ist.
Wie sollen wir dies praktisch durchführen? Gibt es eine Methode zur Pflege der Achtsamkeit?
Es gibt viele Methoden. Der Weg, den ich gewählt habe, ist Dankbarkeit; man kann sie üben, pflegen, lernen. Je mehr wir in der Dankbarkeit wachsen, desto mehr wachsen wir in der Achtsamkeit. Bevor ich des Morgens meine Augen öffne, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe zu sehen, während Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind – die meisten aufgrund von Umständen, die man bessern könnte, wenn die Menschheitsfamilie zur Vernunft käme und ihren Reichtum sinnvoll, das heißt gleichmäßig, verteilte.
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!»
Wenn ich bewusst und hellwach schauen lerne, wächst meine Lebensfreude, meine Dankbarkeit fürs Sehen-Können, aber auch Bestürzung darüber, dass mehr als 40 Millionen meiner Mitmenschen blind sind ‒ Hauptursache: Mangelernährung und Hunger bei Kindern. Dabei würden die weltweiten Aufrüstungskosten von nur drei Tagen genügen, Hunger aus der Welt zu schaffen.
Heute will ich wenigstens einem Menschen diese erschütternden Statistiken bewusst machen und fragen: ‹Was können wir tun?›
Solche Fragen können weite Kreise ziehen und Menschen aufwecken. Statt zu verzweifeln, lass mich also wach hinterfragen.
Amen»
Wenn ich meine Augen mit diesem Gedanken öffne, bin ich höchstwahrscheinlich dankbarer für die Gabe des Sehens und wacher für die Bedürfnisse jener, die dieser Gabe ermangeln. Bevor ich am Abend das Licht ausschalte, notiere ich mir etwas, für das ich noch niemals dankbar gewesen bin. Das übe ich nun seit Jahren, und der Vorrat scheint unerschöpflich zu sein.
Dankbarkeit bringt Freude in mein Leben. Wie könnte ich Freude finden in Dingen, die ich für selbstverständlich halte? Also höre ich auf, etwas für «selbstverständlich» zu halten, und schon ist kein Ende mehr der Überraschungen, die mir begegnen.
Eine dankbare Haltung ist schöpferisch, denn letzten Endes ist Gelegenheit das Geschenk, das verborgen ist in dem Geschenk eines jeden Augenblicks – die Gelegenheit, mit Vergnügen zu sehen, zu hören, zu riechen, zu berühren und zu schmecken.
Es gibt kein engeres Band als jenes der Dankbarkeit, die Verbindung zwischen dem Gebenden und dem Dankenden. Alles ist Geschenk. Dankbares Leben ist ein Fest des universellen Gebens und Nehmens im Leben, ein grenzenloses Ja zur Zugehörigkeit.
Kann unsere Welt ohne Dankbarkeit überleben? Wie die Antwort auch lauten mag - ein bedingungsloses Ja zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller Wesen bringt mehr Freude in diese Welt.
Aus diesem Grunde ist Ja mein Lieblings-Synonym für Gott. [[1]]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.
(13:55) Für jemanden, der wirklich mit dem Herzen fühlen lernt, der wirklich mit dem Herzen der Wirklichkeit begegnet, besteht kein Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen.
Der Rausch aus dem Räucherstäbchen ist nicht heiliger als der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt. Auch der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt, ist eine Geste des Gebetes.
(14:30) Zu der großen Aufgabe des geistlichen Lebens, durch die Sinne Sinn zu finden, gehört natürlich auch das Riechen und der Geruchsinn. Aber das ist für die meisten von uns ‒ oder zumindest bei sehr vielen Menschen ‒ eine traurige Angelegenheit. Für die gibt es nur zweierlei Gerüche: gut und schlecht. Und das ist eine große Verschwendung unseres Geruchsinns: All diese wunderbaren Gerüche, die es in der Welt gibt. Wenn wir uns einmal darauf eingestellt haben, gar keine Gerüche als schlecht abzuschreiben, sondern uns einmal ihnen auszusetzen, dann finden wir, dass Dinge einen ganz eigenen Geruch haben, denen wir vorher gar keinen Geruch zugeschrieben haben. Holz hat einen ganz eigenen Geruch und verschiedene Holzarten ganz verschiedene Gerüche. Bücher: ein neues Buch, ein altes Buch. Für viele Menschen ist nur das Aufschlagen eines Buches schon mit einem gewissen Geruch verbunden und sogar gewisse Bücher mit der Erinnerung an gewisse Gerüche.
Überhaupt ist ja der Geruchsinn am engsten mit unserer Erinnerung verbunden. Wenn wir nur an die vielen Kindheitserinnerungen denken, die mit Gerüchen verbunden sind: eine Wäschelade, in der Lavendel ist, oder ein Fischmarkt oder das Meer oder Weihrauch: für wie viele Menschen Weihrauch ganz mit dem religiösen Kindheitserleben verbunden ist. Darum soll es uns auch gar nicht wundern, wenn in der Bibel und in vielen andern Traditionen der Geruchsinn eine ganz wichtige Rolle spielt.
(18:34) Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.
Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: «Überrasche mich!», dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.
(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne so viel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.
(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.
(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.
(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.
Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
(36:46) Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ spientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.
Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.
Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.
(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.
Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.
(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss.
Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten.
Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein.
Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.[2]
Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: ‹Gott›, wenn wir es so nennen wollen.
(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen.
In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür.
Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen.
Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.
(47:50) Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.[[3]]
Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken.
Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.
Die Sinnoffenheit von der wir hier sprechen: mit dem Herzen fühlen, das ist nicht nur eine sinnliche Angelegenheit.
Das hat sehr viel zu tun mit sozialen Problemen.
Mit der Ganzheit der Welt.
Wir öffnen uns der Welt als Ganzes. Das heißt: Wenn wir wirklich schauen lernen mit dem Herzen, dann schauen wir auf die Welt wie sie ist und schauen nicht weg, wenn es uns nicht gefällt.
Wir müssen Dinge ins Auge fassen, die wir eigentlich nicht gerne sehen.
Wir werden vielleicht das Weinen der Welt hören.
Das Weinen der Unterdrückten.
Wir werden vielleicht riechen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark.
Wir werden, wenn wir uns zu Tisch setzen, das Salz der Tränen kosten, das mit aus der Dritten Welt importiert wird mit unsern Lebensmitteln.
Wir werden ‒ wenn wir wirklich ehrfürchtig fühlen lernen, das heißt, uns auch wirklich berühren lassen von dem, was wir berühren ‒, dann werden wir zutiefst berührt werden von dem Elend der Welt auch.
Nicht nur von allem Schönen. Von allem Schönen und von allem Schweren und allem Schrecklichen das es in unserer Welt gibt.
Und das fällt uns sehr schwer. Es ist aber eine große Aufgabe für uns alle.
2. Audios
2.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag und Fragerunde: Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 4: Antworten aus «einem Stück» ‒ Mystik in Tabuzonen von Theologie, Gesellschaft und Kirche
2.2. Im Paradoxen Sinn erfahren (1989)
Vortrag und Dialog:
Teil 3:
(15:31) ‹Es ging um Opfer bringen, Leibfeindlichkeit und Abwehr von zu viel Freude› / (16:59) Manichäische Unterströmung unter dem Einfluss von Augustinus
3. Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021)
Der Dreischritt des horchenden Herzens, 32-52
Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 53-79
Sinnlichkeit und christliche Askese, 80-99]
_____________________________
[[1]] Dieser Text ist eine Zusammenstellung aus der Transkription des Films Wir sind daheim in dieser Welt (1975), dem Text von Bruder David Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993) und Gebeten aus seinem Buch DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 10, 19, 18, 71, 54, 17, 12, 11
[[2]]: Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 56f.
«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»
[[3]] Stillehalten und Transkription Anm. 3; siehe auch: Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 112 und 127f.:
… den Punkt erreichen, «den T. S. Eliot den ‹ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt› nennt, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel, ‹wo Vergangenes und Zukunft vereint sind›.
‹Weder Fortgehen noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht ‒
und es gibt nichts als den Tanz.›»
«Diese Erfahrung des Einklangs mit sich selbst und mit allem, ein Einklang, im Herzen der Welt gefunden, im ruhenden Punkt, diese Erfahrung ist immer Geschenk. Aber es ist eine Sache, spontan im ‹Augenblick des Glücks, … dem Blitz der Erleuchtung› davon überrascht zu werden, und eine ganz andere, sein ganzes Leben auf diesem Ruhepunkt aufzubauen und es auf ihn auszurichten. Dazu brauchen wir die Unterstützung anderer, die dasselbe Ziel verfolgen.»
Sinne und Kind werden
Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.[1]
Kreuzweg unserer Sinne ist das Herz.
Herz bedeutet den Schnittpunkt unserer geistigen und unserer leiblichen Wirklichkeit.
Herz bedeutet jenen Mittelpunkt unserer individuellen Innerlichkeit, wo wir zugleich eins sind mit allen anderen Menschen, Tieren, Pflanzen ‒ mit dem ganzen Kosmos.
Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen. Wenn wir Sinn finden wollen im Leben, so müssen wir mit den Sinnen beginnen.
Um mit dem Herzen horchen zu lernen, müssen wir zuerst lernen, mit den Ohren wirklich zu lauschen. Und so mit allen Sinnen.
Wie aber sollen wir dies angehen? Aus meiner eigenen Erfahrung glaube ich, drei Schritte unterscheiden zu können, die vielleicht Allgemeingültigkeit besitzen.
Den ersten Schritt nenne ich «Kindliche Sinnlichkeit», eine Haltung, die wir als Kinder besitzen, die wir aber im späteren Leben erst wieder erwerben müssen. Wesentlich daran ist das ungetrübte Vertrauen, mit dem wir uns dem Sinnlichen hingeben.
Diese Hingabe führt uns, wenn sie echt ist, zu einer Begegnung: Überrascht begegnen wir ‒ ich kann es nicht besser ausdrücken ‒ einem Gegenüber, das sich uns gibt, in dem Maß, in dem wir uns selber geben.
Diesen Schritt möchte ich mit Rilkes oben angeführten Ausdruck «Die seltsame Begegnung» nennen.
Im dritten Schritt wird uns zur Erfahrung, dass das ganz andere, das unseren Sinnen da begegnet, zugleich unser eigenstes Selbst ist. Wir sind selber der Sinn dessen, was wir sinnlich erfahren. Wenn uns das klar wird, erst dann finden wir durch unsere Sinne Sinn.
Sinn wird, wenn wir selber Sinn werden. Beides klingt an, wenn wir diesen dritten Schritt «Sinnwerdung» nennen.
Scheint das allzu philosophisch? Wir dürfen uns nicht abschrecken lassen. In Wirklichkeit ist es ganz einfach. In unserer Kindheit waren uns diese drei Schritte durchaus vertraut, wenn wir auch nicht darüber nachdachten. Wenn der Dichter sagt:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraut am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
so ist das unserem Herzen verständlich, wenn unser Verstand auch nachhinkt.
Sobald wir aber nur einmal damit anfangen, führt schon ein Schritt zum nächsten. Wir dürfen uns da auf unser eigenes Erleben verlassen. Darauf kommt es ja schließlich an.
Die meisten von uns sind mehr Augen- als Ohrenmenschen. Wir stoßen also wohl auf den geringsten Widerstand, wenn wir die Beispiele für unsere drei Schritte zunächst aus dem Bereich des Schauens wählen.
Gewöhnung und Übersättigung machen es andererseits gerade unseren Augen schwer, kindliche Frische zu bewahren.
Vielleicht bemerken das schon die Kinder. Sie unterhalten sich manchmal damit, Daumen und Zeigefinger zum Rahmen eines Guckloches zu machen, durch das die Welt auf einmal ganz anders aussieht. In den entlegensten Teilen der Welt erfinden Kinder dieses Spiel offenbar immer wieder von neuem. Dahinter steckt die Tatsache, dass ein ungewohnter Ausschnitt des allzu oft Gesehenen uns überraschend neu erscheinen kann.
Es gibt da in Spielwarenhandlungen neuartige Kaleidoskope, die nicht in einer Mattscheibe mit bunten Glasstückchen enden, wie die altmodischen, sondern in einer Linse. Man kann sie also wie ein Fernrohr ringsum auf Gegenstände richten, die dann die Prismen im Rohr zu sechs- oder achteckigen Sternen umgestalten. Plötzlich ist uns die alltägliche Umwelt verzaubert. Wir sehen sie wie zum ersten Mal.
Noch einfacher lässt sich das erreichen, indem wir in ein Blatt Papier ein winziges Guckloch stechen. Da brauche ich nur auf meine eigene Hand zu schauen. Weil ich nun nicht mehr die ganze Hand in den Blick bekomme, ja nicht einmal einen ganzen Finger, lässt sich, was ich sehe, nicht mehr einfach mit «Hand» oder «Finger» abtun. Was ist das denn eigentlich, dieses knollig gerunzelte Braune mit ein paar borstigen Haaren? In dem Bruchteil eines Augenblickes, bevor mir «Fingergelenk» in den Sinn kommt, habe ich endlich einmal wirklich hingeschaut.
Das lässt sich lernen. Und das Lernen wird uns Spaß machen, sobald das Kind in uns nur einmal wach wird.
Nichts ist wichtiger als das. Nur wenn wir das Kind in uns wiederentdecken und befreien, dürfen wir hoffen, Sinnenfreudigkeit wiederzufinden.
Das aber ist der erste Schritt auf dem Weg, im Leben Sinn zu finden.
Wieviel uns doch verlorengeht, nur weil wir so abgestumpft durchs Leben gehen.
Wieviel uns doch verlorengeht an Freuden, an Überraschungen, die uns überall umgeben und nur darauf warten, entdeckt zu werden.
Aber es muss nicht so sein. Wir können unser fortschreitendes Stumpfwerden aufhalten wie einen Krankheitsprozess.
Wir können den Ablauf umkehren, können lernen, jeden Tag noch nie Gewürdigtes neu zu erleben.
Am Morgen, noch bevor wir die Augen öffnen, können wir schon damit anfangen. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, was für ein Geschenk unsere Augen doch sind.
Der Blinde in einem Gedicht Rilkes kennt das Geschenk, weil es ihm fehlt. «Euch», sagt er zu uns, «kommt jeden Morgen das neue Licht warm in die Wohnung.»[2]
Würden wir nicht unsere Augen ganz anders öffnen, wenn wir es dankbar täten?
Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Lebensfreude. Wir halten diesen Schlüssel in unseren eigenen Händen.
Wir sagen «blau». Aber was heißt schon «blau»? Wir schauen ja kaum hin. Wir kleben dem Ding nur schnell eine Freimarke auf. Fertig. Wir drücken ihm einen Stempel auf: «Blau. ‒ Erledigt. Nächste Nummer!»
Was unser Verstand mit kalter Ungenauigkeit blau nennt, das kennt unser Herz als die Farbe von Taubenflügeln und von Wiesenenzian, von Stahl und Lavendel, von kleinen Schmetterlingen, die am Feldweg um eine Pfütze tanzen, und vom Sommerhimmel, der sich im Braun der Pfütze dennoch blau spiegelt.
Das Kind in uns weiß noch, wieviel tausenderlei Blau es gibt.
Das Kind in uns ist Dichter.
Unser Herz bleibt zeitlebens dichterisch, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Und Dichter wissen, wie vielschichtig, wie nahezu unerschöpflich das ist, was wir so einfachhin «blau» nennen. Wie Rilke etwa tiefer und tiefer taucht, wo an der Oberfläche nichts zu sehen ist, als eine «Blaue Hortensie».
So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;
Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.
Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.[3]
Können Kinder wirklich all das sehen? Nein. Aber Kinder können so schauen.
Und unser Leben ist nicht lang genug, um auszuschöpfen, was wir sehen können, wenn wir wie Kinder schauen; so offen, so hingegeben, so tapfer vertrauend.
Ja, es gehört Tapferkeit dazu, sich etwa dem Blau einer Hortensie auszusetzen und «eines kleinen Lebens Kürze» zu erleiden.
Als Kinder hatten wir noch den Mut dazu, aber seitdem sind wir feige geworden.
Goethe wundert sich in einem seiner Aussprüche, warum denn aus so vielversprechenden Kindern immer wieder nichts würde als langweilige Erwachsene. Die Antwort ist einfach: aus Feigheit.
Darum ist Dichtung so wichtig.
Dass Dichter Gedichte machen, ist halb so wichtig, als dass sie uns dadurch Mut machen, Mut, unsere Sinne zu öffnen.
Unsere Kindheit ist viel zu kurz, um die Versprechen zu erfüllen, die sie enthält. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus.
Kindwerden liegt immer in der Zukunft, wie das Himmelreich, «das Land der tausend Sinne», wie Walter Flex es nennt.[4]
Kindwerden kostet uns den Panzer aus eisernen Ringen, mit dem wir unser Herz unverwundbar machen, aber auch gefühllos.
Wir können Kinder werden, wenn wir uns getrauen, unser Herz dem Leben auszusetzen, ungesichert, unverwundbar, aber wahrhaftig lebendig.
Dichter wagen es. Sie haben ihr Leben ‒ und wieder hat Rilke das rechte Wort gefunden ‒
ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.[5]
Kindwerden will geübt sein. Wir müssen nur irgendwo anfangen, und heute noch.
Vielleicht sollten wir unsere geistige Ernährung aufbessern, etwa mit einem Gedicht pro Tag.
Oder wir könnten es uns leisten, täglich fünf Minuten lang etwas anzuschauen, ganz gleich was, nur einfach um der Freude des Anschauens willen.
Ein Museum erlaubt uns das, wenn wir nicht im Studieren steckenbleiben. Freilich, wir dürfen und sollen Museen auch zum Studieren benützen. Noch wichtiger ist aber, dass wir lernen, darüber hinauszugehen; dass wir die reine Freude des Anschauens lernen. Und dazu bedarf es gar keines Museums. Wir Kinder kannten ein Weidengestrüpp am Preinerbach, das wir «Bachmuseum» nannten. Nach jedem Wolkenbruch schwemmte dort das Wasser neue Sehenswürdigkeiten an. Da war ein rostiger Vogelkäfig, halb im Sand vergraben. Ein lederner Stiefel mit Löchern in der Sohle lag halb im Wasser. Noch grüne Äpfel schwammen wieder und wieder im Kreis in einer seichten Bucht. Und Fetzen von einem gestreiften Hemd hingen im von der Strömung kahlgespülten Wurzelwerk.
Stundenlang konnten wir da auf dem Schulweg am Bachrand stehen und schauen.
Wenn ich heutzutage wenigstens vor einem Werk Picassos oder El Grecos so stehen könnte und so schauen. Wenn es uns aber einmal geschenkt wird ‒ so sehr wir uns nämlich bemühen müssen, es bleibt letztlich doch Geschenk ‒, wenn wir einmal ganz Auge sind, dann ereignet sich etwas Seltsames.
Wieder ist es Rilke, der uns dies in Erinnerung ruft. Wir haben es ja alle erlebt. Aber es ist uns irgendwie unheimlich, und da ziehen wir uns furchtsam ins Vergessen zurück.
In seinem Sonett «Archaischer Torso Apollos», feiert der Dichter jene seltsame Begegnung.
Zwölf Zeilen genügen ihm, um uns völlig in den Bann dieses griechischen Bildwerks zu ziehen. Wir stehen wie geblendet vor diesem Torso aus flimmerndem Marmor. Wir sind ganz Auge. Und das ist der Punkt, an dem sich das Seltsame ereignet. Völlig ins Anschauen versunken, sind wir plötzlich die Angeschauten, Mitten in der vorletzten Zeile dreht sich unvermittelt alles um:
denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.
Die wir uns für Kenner hielten, sind erkannt. Wir, die als Richter kamen, stehen vor Gericht. Dann fällt der Richtspruch.
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter den Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.[6]
Der letzte Satz, ganz am Ende der letzten Zeile, spricht das Urteil über uns aus. Dass dieser Richtspruch uns zu dem verurteilt, was wir uns im Geheimen ersehnen, wird noch zu zeigen sein.
Hier wollen wir zunächst die seltsame Begegnung ins Auge fassen, aus der das Urteil mit innerer Notwendigkeit fließt.
Wenn unser befeuertes Schauen jenen Grad erreicht, den wir den Schmelzpunkt nennen könnten, dann sind wir endlich völlig gesammelt. Was sich sonst an Vergangenes klammert oder nach Zukünftigem ausstreckt, ist jetzt in Sammlung gegenwärtig.
Und da ereignet es sich dann, dass uns etwas Geheimnisvolles «entgegenwartet».[7]
Ob wir es das Schöne nennen, das Wahre, das Gute, oder einfach die treue Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge ‒ was uns da begegnet, erwartet etwas von uns, erwartet alles von uns:
Du musst dein Leben ändern.
Unser gesammeltes Herz erlebt, dass Gegenwart etwas von uns erwartet.
Wir mögen von der Forderung betroffen sein. Was aber von uns gefordert wird, ist etwas, wonach unser Herz sich im Grunde sehnt.
Das Kind in uns sehnt sich danach. Immer wieder erfinden Kinder ein Spiel, in dem das Ausdruck findet. Das Kind schließt die Augen und springt von einer Bank oder vom Treppenabsatz dem Vater in die Arme. «Papa, fang mich auf!»
Was die Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge von uns verlangt, ist, dass wir uns darauf verlassen. Treue fordert Vertrauen.[8]
Darin liegt immer ein Wagnis.
Wie aber sollen wir ohne Wagnis verwandelt werden?
Und auf Verwandlung läuft alles hinaus.
Verwandlung ist das Wesen
des dritten Schrittes im Dreischritt des horchenden Herzens.
Kindliche Sinnlichkeit, unser erster Schritt, führt zu einem Höhepunkt im zweiten, in der seltsamen Begegnung.
Aber diese Begegnung verwandelt uns.
In seinem Gedicht «Spaziergang» spricht Rilke mit seltener Klarheit von der Verwandlung, die sich in unserem dritten Schritt vollzieht.
Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an ‒
und wandelt uns, auch wenn wir's nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …
Wir aber spüren nur den Gegenwind.[9]
Schau wird hier zur Wandlung.
Schönheit ergreift und macht die Ergriffenen selber schön.
Das Erlebnis von Erhabenem ist erhebend.
Mehr noch: der Anblick dieses blühenden Mandelbäumchens (im Garten oder auf van Goghs Leinwand) lässt mich ganz klar fühlen, dass ich dadurch jetzt mehr ich selbst bin, als ich vorher war.
Die Begegnung mit dem Unfasslichen am Rande unserer Sehnsucht verwandelt uns aber nicht in Fremdes, sondern
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind.
Von hier aus rückblickend, können wir den Dreischritt des schauenden, horchenden Herzens überall dort entdecken, wo es darum geht, im Leben Sinn zu finden.
Wir Menschen sind ja so angelegt, dass Zweck allein uns nicht genügt. Kein Zweck kann uns befriedigen, wenn wir ihn nicht sinnvoll finden. Und wenn wir im Leben keinen Sinn mehr finden, dann ist es um uns geschehen. Was für Tiere der Selbsterhaltungstrieb ist, das ist für uns Menschen die Sehnsucht nach Sinn. Darum können wir ja unseren Selbsterhaltungstrieb, den wir mit den Tieren gemeinsam haben, opfern, so stark er auch immer sei. Wir können unser Leben hingeben, wenn uns das sinnvoll erscheint.
Wir können freiwillig sterben. Jeder weiß das.
Was nur wenige wissen, ist dies: Wir können auch freiwillig leben.
Die innere Gebärde ist die gleiche. Unser Leben (täglich) hingeben, das heißt Sinn finden. Das aber heißt, wahrhaft leben.
Wem fällt da nicht Goethes «Selige Sehnsucht» ein, und besonders die letzte Strophe?
Und solange du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.[10]
Rilke sagt es mit einer einzigen Zeile. Und die stammt aus dem Sonett, dem wir die Überschrift für diese Erwägungen entnommen haben:
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Ist das der Sinn unseres Lebens? Seit Urzeiten fragt das Kind in unserem Herzen nach dem Sinn des Lebens. Seit Urzeiten gibt unser Herz die Antwort, gibt sie in der Form des Heldenmythos.
Es ist daher gar nicht schwer, im typischen Heldenmythos den Dreischritt des horchenden Herzens wiederzufinden.
Kindliche Sinnlichkeit hat doch etwas von der Tapferkeit an sich, mit der ein jugendlicher Held in die Welt hinauszieht, bereit für Abenteuer.
In der seltsamen Begegnung
fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
es ergreift uns Ergriffene.
Auch der Held muss sich am Höhepunkt des Mythos dem Unfassbaren stellen, dem Geheimnis von Liebe und Tod. Liebe und Tod verlangen letztlich vom Helden, was die seltsame Begegnung von uns verlangt: Bereitschaft, unser Leben hinzugeben.
Das ist es ja, was wir innerlich tun, wenn wir uns vertrauend verlassen auf die Treue und Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge ‒ wenn wir uns (uns selbst) verlassen.[11]
Aber diese innere Gebärde verwandelt. Den Helden, wie uns, verwandelt sie.
Der Held wird durch die Begegnung mit dem Unfasslichen zum Lebensbringer, das heißt, zum Sinnträger.
An uns wird das Wort wahr:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Dass wir selber Sinn werden, wenn wir Sinn finden, das ist vielleicht am schwersten zu verstehen. Das christliche Verständnis unserer drei Schritte kann uns da vielleicht weiterhelfen.
In christlicher Schau entspricht die kindliche Sinnlichkeit dem Glauben. Mit gläubig tapferem Vertrauen geht sie auf Gottes Welt zu, verlässt sich auf die göttliche Güte.
Grundzug der seltsamen Begegnung ist dann die Hoffnung. Wie kindliche Sinnlichkeit zur seltsamen Begegnung führt, so der Glaube zur Hoffnung. Hoffnung ist ja völlige Offenheit für Überraschung, und die ist nur im Vertrauen des Glaubens möglich.
Hoffnung kann sich ergreifen lassen vom Ergreifenden; sie kann sich verlassen, weil sie um die Verlässlichkeit weiß, die jedem Ding und jedem Augenblick zuinnerst eignet. Sie kann sich fallenlassen, weil sie weiß, dass einer
dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.[12]
So aufgefangen zu werden im Fallen und dazu «ja» zu sagen, das ist der Liebe eigen.
Es ist zugleich die innerliche Gebärde der Sinnfindung, der Sinnwerdung.
Nur durch Liebe finden wir Sinn. Indem wir in Liebe aufgehen, werden wir Sinn.[13]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 13]
[Ergänzend:
1. Film (1975) und Transkription:
(20:33) «In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2016)
Wort
(20:08) ‹Archaïscher Torso Apollos›
2.2. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Audio ‹Sehen lernen›:
(01:02:35) Mit den Augen des Herzens sehen, was die Augen nicht sehen können: ‹Hast du deine Schwester, deinen Bruder gesehen, dann hast du deinen Gott gesehen› ‒ Einander wie mit den Augen einer Mutter anschauen: ‹Das kannst du doch› schafft Raum, in den wir hineinwachsen können ‒ Sich an Träume erinnern
(01:11:10) Augen und Ohren ‒ sehen und hören
(01:14:07) Das Kind werden, das wir sind
2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
Audio: Das Kind in uns und das mönchische Leben
2.4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen ‒ Die Themen des Gesprächs:
Audio ‹Und wandelt uns ...› (R. M. Rilke, ‹Spaziergang›)
2.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(16:08) Franziskus und Eigenschaften des Kindes: Wenn ein Kind vor Freude strahlt, ist das schon Dankgebet. Milch! Die Szene im Film von François Truffaut ‹L’enfant sauvage› (1970): Unsere Kindheit ist zu kurz für uns, um die Kinder zu werden, auf die hin wir angelegt sind
(22:03) Sich an einen Geschmack erinnern, der die ganze Kindheit zurückbringt, Schmecken und Kosten wirklich erleben
3. Weiter Texte
3.1. Musik der Stille (2023), 55f.:
«Die kleine Tochter eines Freundes sagte eines Morgens zu ihrem Vater: ‹Papi, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?› Kinder wissen intuitiv, wie erstaunlich und erfreulich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Und das Kind in uns stirbt nie. Wir können es einsperren, wir können es vergessen oder stark vernachlässigen, aber solange wir leben, bleibt es am Leben. Es ist eine unserer großen Aufgaben, dieses Kind wieder zu befreien und es zu ermutigen, solche tiefsinnigen Fragen zu stellen. Dann schauen wir alles durch staunende Augen an und nehmen alles mit einem offenen Herzen auf.
Dieses Erwecken des Kindes in uns ist nicht einfältige Sentimentalität; es macht den Kern der mönchischen Bemühungen und jeder Spiritualität aus.
Das eigentliche Ziel ist das, was der Philosoph Paul Ricœur die ‹zweite Naivität› nennt: die Verbindung der hellen Begeisterung kindlicher Unschuld mit jener Weisheit, die sich aufgrund von Erfahrung einstellt.
Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.»
3.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 128
Gedicht ‹Blaue Hortensie›
TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I,, 45-50:
Gedicht ‹Archaïscher Torso Apollos›
3.3. Der Mönch in uns (1978) [der Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger findet sich auch in Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63]
«Im Kind gibt es eine riesige Neugierde herauszufinden, wie die Dinge funktionieren, und einen starken Ansatz zur Zweckgerichtetheit; und dies ist der einzige Antrieb, den wir in der Regel fördern. Aber es gibt auch ein großes Verlangen nach Kontemplation, das wir in der Regel nicht fördern. Wenn wir heutzutage ein Kind auf der Straße sehen, so wird es meistens an einem langen Arm entlanggezogen, und wer immer es zieht, sagt: ‹Komm, wir müssen weiter! Wir haben keine Zeit! Wir müssen nach Hause (oder sonst wohin). Steh da nicht einfach herum! Tu was!› So sieht der Kern der Sache aus. Aber es gab andere Kulturen, zum Beispiel viele amerikanische Indianerstämme, die ein gänzlich anderes Erziehungsideal hatten:
‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und schauen können, wenn es nichts zu schauen gibt.› Und: ‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und zuhören können, wenn es nichts zu hören gibt.›
Das ist zwar eine Einstellung, die völlig anders ist als unsere, doch wird sie dem Wesen der Kinder viel gerechter. Genau das möchten sie nämlich tun: einfach nur herumstehen und schauen und völlig in dem aufgehen, was sie sehen oder hören oder lutschen oder lecken oder womit sie gerade spielen. Und natürlich zerstören wir diese Fähigkeit zum Offensein für Sinn bereits sehr früh; indem wir sie zu Sachen zwingen und die Dinge in die Hand nehmen, steuern wir sie ausschließlich in die Zweckbezogenheit hinein.»
3.4. Kind und Kunst (1948):
«Je mehr wir uns in diesen anspruchsvollen Vortrag von Franz Kuno vertiefen, umso mehr verstehen wir, wie sehr er von einem archimedischen Punkt aus spricht, der weit entfernt ist vom damaligen wie auch heutigen Zeitgeist. Es geht um das Einüben einer kindlichen Haltung: Bereitschaft lernen, staunen, unvoreingenommen Kunst zu betrachten»]
________________________
[1] R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIX, siehe Transkription
[2] ‹Das Lied des Blinden› (R. M. Rilke: ‹Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)
[3] ‹Blaue Hortensie› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
[4] Walter Flex (1887-1917): ‹Das Weihnachtsmärchen des fünfzigsten Regiments› (1918):
«‹Was ist das, das Reich der tausend Sinne?› fragte das Weib, und der graue Führer antwortete: ‹Es ist das, was ihr auf Erden den Himmel nennt. Ihr auf Erden dürft nur mit fünf armen Sinnen den Reichtum der Welt fühlen, sehen, hören, riechen und schmecken. Danach aber kommt ihr in das Reich der tausend Sinne und werdet mit Kräften begabt, die sich mit Menschenworten nicht nennen lassen. Darüber sind noch tausend Reiche, in denen die Seelen wohnen werden auf ihrer Wanderung zu Gott wie in Gasthäusern am Wege.»
[5] «Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewusstseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung. ‒ Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens ...»
R. M. Rilke, Aus dem Nachlass
[6] ‹Archaïscher Torso Apollos› (R. M. Rilke, Der Neuen Gedichte anderer Teil)
[7] Das Wort stammt auch von Rilke: «Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten.»
(R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)
[8] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]
[9] ‹Spaziergang› (R. M. Rilke, Aus dem Nachlass)
[10] ‹Selige Sehnsucht› (J. W. Goethe, West-östlicher Divan)
[12] ‹Herbst› (R. M. Rilke, ‹Das Buch der Bilder›); Bruder David spricht das Gedicht im Audio Wähle das Leben (1992)
Vortrag:
(03:59) Sich in Gottes Hände fallen lassen / (05:21) Die Blätter fallen‘ (Rilke)
[13] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268, 271-279: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35, 38-51
Friede
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Was ist denn eigentlich «Friede»? Ist es nicht, wie die abendländische Philosophie des Mittelalters diesen Begriff verstand «tranquillitas ordinis», Stille, die aus Ordnung entspringt?
Freilich dürfen wir da nicht an Friedhofsstille denken und nicht an ein schulmeisterliches «Ordnung muss sein!»
FRIEDE ähnelt mehr der dynamischen Stille einer ruhig brennenden Kerzenflamme und wurzelt in jener allumfassenden Ordnung, deren Ordnungsprinzip die Liebe ist:
Liebe als gelebtes «Ja» zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller mit allen. Friede, so verstanden, bezeichnet weit mehr als eine geschichtliche Periode ohne Krieg. Wahrer FRIEDE bedeutet die harmonische Entfaltung der ganzen Fülle des Daseins. So wie in der Musik das Können eines Komponisten dissonante und konsonante Akkorde zu einer höheren Harmonie verbindet, so überbrückt und versöhnt der göttliche FRIEDE alle Widersprüche. Selbst Zwist und Eintracht dienen gemeinsam einem höheren Ganzen. Aus dieser Sicht können wir Gott den FRIEDEN nennen.
Und wir können diesen Frieden nicht nur in geruhsamen Zeiten erleben, sondern gerade auch dann, wenn im persönlichen wie im öffentlichen Leben «Blitz aus Blitz sich reißt», wie Joseph von Eichendorff singt:
«Schlag mit den flamm'gen Flügeln!
Wenn Blitz aus Blitz sich reißt:
steht wie in Rossesbügeln
so ritterlich mein Geist.
Waldesrauschen, Wetterblicken
macht recht die Seele los,
da grüßt sie mit Entzücken,
was wahrhaft, ernst und groß.
Es schiffen die Gedanken
fern wie auf weitem Meer,
wie auch die Wogen schwanken:
die Segel schwellen mehr.
Herr Gott, es wacht Dein Wille,
ob Tag und Lust verwehn,
mein Herz wird mir so stille
und wird nicht untergehn.»
Wenn ich fühle, «mein Herz wird mir so stille», dann habe ich meinen persönlichen Bootssteg gefunden fürs Hineinsegeln in den FRIEDEN Gottes. Mögen auch die Wogen dann schwanken, die Segel schwellen: Wo kann ich in meinem Alltag solche Bootsstege finden? Sie sind leicht zu übersehen und doch ist es so wertvoll, wenn wir sie entdecken.[1]
«So wünsche ich Euch also tiefe innere Stille.
Stille, tief genug, um zu hören, wie Erdreich sich zurechtlegt für die lange Winterruhe; dann wird auch Euer Seelengrund fest und ruhig werden.
Stille, tief genug, um zu hören, wie Wasser rieselt und in den Boden sickert; dann wird auch Euer Sinn sanft werden, gefügig und geheilt.
Stille, tief genug, um zu hören, wie von Sternen am Winterhimmel Silberfunken stieben und tief im Erdinneren Feuer tost; dann wird auch Euer Innerstes erglühen.
Stille, tief genug, um das Fallen einer einzigen Schneeflocke durch die stille Winterluft zu hören; dann wird die Stille in Euch sich verwandeln in eine große Erwartung.
‹Frieden!› verkündigte der Engel, aber Frieden nicht nur als Gabe, sondern als Aufgabe.
Nur wenn Stille uns beständig macht wie Erde,
wendig wie Wasser
und glühend wie Feuer
werden wir uns der Aufgabe stellen können, Frieden zu schaffen, und die Luft um uns wird rauschen von Flügeln helfender Engel.
Deshalb wünsche ich Euch jene tiefe innere Stille, die allein es uns erlaubt, ohne Ironie ‹Frieden auf Erden› zu erhoffen und uns ohne Verzweiflung dafür einzusetzen.»[2]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]
[Ergänzend:
1. Stillehalten, Stille zulassen, Tanz, der Sinn des Ganzen [Ergänzend: 3.2], und Ordnung, mit Auszügen aus Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Die Umwelt als Guru», 30f. und Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein», 103-105, 109:
«Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als ‹tranquillitas ordinis›, die Stille der Ordnung.»
2. Audios
2.1. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen (Königsfeld im Schwarzwald)
Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben und Diskussion
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2:
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort
2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›
3. Weitere Texte
3.1. «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Film Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]
3.2, Kann man die Bergpredigt in Realpolitik umsetzen?: Bruder David im Gespräch mit Maio Quintana im Buch Ambivalenzen: Im Spannungsfeld zwischen Kirche und Gesellschaft (2021):
«Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes heißen» (84f.)
«Freut euch, ihr Friedensstifter, denn ihr werdet Gottes Kinder heißen» (85f.)
3.3.. Bruder Davids Vorwort im Buch Brot und Gesetze brechen (2021):
«Die Sterne der Pflugscharbewegung, die in diesem Buch aufleuchten, können uns auf dem Weg zum Überleben der Menschheit zu Leitsternen werden, denn dazu brauchen wir heute dreierlei, und das verkörpern diese oft ganz einfachen Menschen vorbildlich: Einsicht, Betroffenheit und tatkräftigen Einsatz.»
3.4.. Der menschliche Geist ist eins (2021): Meditation von Bruder David 1975 im Dag Hammarskjöld-Auditorium der UN in Anwesenheit von führenden Persönlichkeiten der Weltreligionen; der Text ist dem Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Meditation «Der menschliche Geist ist eins», 147-152, entnommen:
«‹Einer ist der Menschen Geist›, aber der Menschengeist ist mehr als nur menschlich, denn das Herz des Menschen ist unauslotbar. In diese Tiefe lasst uns still unsere Wurzeln senken. Darin liegt unsere einzige Quelle des Friedens.
Nach einem kurzen Augenblick werde ich Sie einladen, wieder die Augen zu öffnen, und zugleich auch, sich in diesem Geist der Ihnen am nächsten stehenden Person zuzuwenden und ihr den Friedensgruß zu entrichten. Lasst unsere Feier in dieser Geste gipfeln und zum Abschluss kommen. Wir ermächtigen einander mit dem Friedensgruß in der Welt als Botschafter des Friedens zu wirken.
Der Friede sei mit Ihnen allen!»
3.5. Innerer und äusserer Frieden: Vortrag mit anschließendem Gespräch in Königsfeld (1992):
«Das wäre der erste Schritt: Was ist eigentlich Frieden im Verständnis unserer westlichen Tradition?
Der zweite Punkt wäre: Was steht dem Frieden entgegen? Was steht ihm gerade heute entgegen in der spezifischen Situation, in der wir uns heute befinden, in der Welt und in unserer Kultur, in unserer Welterfahrung, in unserem Welterleben?
Dann kommen wir zum dritten Punkt, und das ist eigentlich unsere Hauptfrage: Lässt sich der Frieden doch verwirklichen? Und wenn ja, dann wie?
Und wie gesagt, die Fragezeichen bleiben bestehen, aber durch Nachdenken können wir denen wahrscheinlich schon näherkommen.»]
___________________
[1] 99 Namen Gottes (2019), 5 as-Salām, der FRIEDE, die Quelle des Friedens, 16f
[2] Weihnachtsgrüße 2004; der Text ist auch abgedruckt in Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Ein Wunsch», 160
Geheimnis
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Was meinen wir eigentlich, wenn wir Gott sagen?
Ich vermeide so weit wie möglich dieses Wort, denn es wurde auf vielerlei Weise missbraucht und führt daher allzu leicht zu Missverständnissen. Was aber kann es ‒ richtig verstanden ‒ für Menschen heute noch bedeuten?
Eigentlich das, was von Anfang an damit gemeint war. Das kennt jeder Mensch aus eigener Erfahrung:
Das Wort «Gott» weist auf das Geheimnis hin, mit dem unser menschliches Bewusstsein unumgänglich konfrontiert ist.
Was «Geheimnis» bedeutet, das lässt sich recht klar umschreiben:
Es ist jene Wirklichkeit, die wir nicht begreifen, nicht in den Griff bekommen, die wir aber verstehen können, indem wir uns von ihr ergreifen lassen.
Der Unterschied zwischen begreifen und verstehen kann uns vielleicht am Beispiel von Musik bewusst werden. Es ist zugleich der Unterschied zwischen wissen und erleben.
Was wir über ein Musikstück wissen ‒ etwa wer es wann und unter welchen Umständen komponiert hat und wie es musiktheoretisch aufgebaut ist -, das kann uns in mancher Hinsicht nützlich sein, das Eigentliche der Musik aber bekommt solches Wissen nie in den Griff. Wir können ein Stück nur verstehen, wenn wir es hören und davon ergriffen werden.[1]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
DU rührst mich an durch alles, was mich berührt, am tiefsten aber berührt mich Musik. Sie lässt mich auch am deutlichsten erfahren, was es heißt, dich zu verstehen, DU unbegreifliches Geheimnis.
Begriffliches Begreifen ist etwas ganz anderes als dieses Ergriffenwerden durch Musik, das mich sie verstehen lässt, mich ganz drinstehen lässt durch meine Ergriffenheit.
Ich will heute wenigstens kurz irgendwann Musik anhören.
Letztlich ist aber alles, was es gibt, geheimnisvoll wie Musik.
Gib mir Mut, meine Rüstung abzulegen und mich ergreifen zu lassen.
Amen.»[2]
Was uns so in Bezug auf Musik bewusst werden kann, das gilt auch für das Leben als Ganzes:
Es bleibt unbegreiflich, aber in Augenblicken der Ergriffenheit - zum Beispiel bei Gipfelerlebnissen ‒ können wir den Sinn ahnend verstehen, weil wir mittendrin stehen und nicht als Beobachter davon abgesetzt. In dieser Hinsicht ist das Leben zugleich Bild für das große Geheimnis und mehr als Bild ‒ es ist unsere Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Geheimnis schlechthin, also mit Gott.
Weil ich wissen wollte, wie weit verbreitet ein solches Verständnis ist, machte ich ein Experiment: Ich gab bei Google die Worte ein: «Leben heißt …»
Dadurch ließ ich sozusagen einfach irgendjemanden zu Wort kommen. Was ich fand, waren Eintragungen wie «Leben heißt Veränderung», «Leben heißt kämpfen, leiden, lieben, loslassen, nicht zu warten, sterben lernen.»
Sind nicht all diese Erfahrungen Begegnungen mit einem letzten Geheimnis?
Wer das Wort Gott richtig verwendet, meint damit eben dieses überragende Geheimnis.
In diesem Sinn ist unser menschliches Leben unvermeidlich Gottesbegegnung, ganz gleich, ob wir das Wort «Gott» verwenden oder nicht.
An Gott glauben heißt ja nicht, für wahr halten, dass es Gott gibt. Welcher Mensch könnte denn das Geheimnis (und damit Gott) überhaupt leugnen?
Beim Glauben geht es nicht um die Frage, ob es Gott (= das Geheimnis) gibt.
Es geht vielmehr darum, ob Lebensvertrauen unsere Lebensangst überwindet.
Glaube ist ein Sich-Verlassen auf das Geheimnis ‒ auf Gott, auf das Leben.
Dieses Urvertrauen können wir aus Furcht verweigern, oder wir können es mutig verwirklichen durch ein immer neu gelebtes Ja zum Leben.[3]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Mit dir bin ich untrennbar verbunden und durch dich mit allem, was es gibt.
Doch ich erlebe Versuchung ‒ Bedrohung dieses Eingebettet-Seins:
Ich vergesse es manchmal. Aus Vergessen wird Entfremdung und die nimmt mir mein Lebensvertrauen.
Dann klammere ich mich aus Furcht an Vergangenes oder Zukünftiges.
Aber Lebensfülle ist nur in der Gegenwart.
Lass mich heute mangelnde Achtsamkeit schnell als Faulheit erkennen, rüttle mich wach und führe mich ins Jetzt zurück, wo DU mir entgegenwartest, um ‒ mitten im Alltag ‒ Leben in Fülle zu feiern.
Amen.»[4]
Das Ja zum Leben ist zugleich ein Ja zum DU ‒ zu jedem DU, das uns im Alltag begegnet, und darüber hinaus zum Geheimnis als dem großen letzten DU.
Ein Gottesverständnis, das nicht von Spekulation ausgeht, sondern von tiefster menschlicher Erfahrung, überwindet den Dualismus ‒ wir hüben, Gott drüben ‒, fällt aber deshalb nicht notwendigerweise in das Missverständnis des Monismus, der für liebende Beziehung zu Gott keinen Raum lässt, weil alles eins ist.[5]
Richtig verstanden ist menschliche Gotteserfahrung weder monistisch noch dualistisch, sondern trinitarisch.[6]
Gipfelerlebnisse, in denen uns bewusst wird, dass wir mit allem eins sind, können zugleich Höhepunkte unserer tiefsten DU-Bezogenheit sein.
So erleben wir das große Paradoxon: Das Eine hat in sich Platz für Beziehung.
Schon mein Ich-Sagen setzt ja ein DU voraus, das mir ebenso unergründlich ist wie mein Ich. Beide sind im Geheimnis verwurzelt.
Diese innerste Bezogenheit auf das Geheimnis als DU gehört zu unseren menschlichen Grunderfahrungen. Sie ist nicht an irgendeine Periode der Geschichte gebunden.
Bei Bruder Klaus drückt diese Erfahrung sich so aus, dass er Gott als DU anruft.[7]
Das ist auch für uns heutige Menschen erlebnismäßig nachvollziehbar.
Unsere DU-Beziehung zum göttlichen Geheimnis hat zeitlose Gültigkeit.[8]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Unergründlich bist DU mir. Darf ich dich trotzdem so vertraulich DU nennen?
Aber auch engste Freunde bleiben mir ja geheimnisvoll und letztlich unergründlich.
Und doch: Freunde stehen mir gegenüber; in dich aber bin ich ganz eingetaucht ‒ nicht nur wie der Fisch im Wasser, sondern wie der Tropfen im Meer.
Macht dies eine DU-Beziehung nicht unmöglich?
Logik bricht da zusammen Mein Ich-Sagen setzt dich voraus als mein Ur-DU.
Heute will ich also manchmal innehalten und einfach ‹DU!› sagen ins unbegreifliche Geheimnis als mein Gebet.
Amen.»[9]
Nun ist aber neben «Gott» und «DU» «bitten» ein drittes Schlüsselwort im ersten Satz des Gebetes von Bruder Klaus.
Da stellt sich die Frage: Können auch wir noch mit der gleichen, nicht hinterfragten Ursprünglichkeit Gott um etwas bitten?
Ich glaube, das können wir, solange wir dabei nicht in den Irrtum verfallen, dass Gottes Geben von unserem Bitten abhängig ist.
Echtes Bitten drückt eigentlich unser vertrauensvoll vorweggenommenes Danken aus.
Das zeigt sich schon, wenn wir einen Mitmenschen um etwas bitten. Wir sagen damit eigentlich: Ich vertraue darauf, dass du meine Bitte gewähren wirst, aber ich nehme das nicht als gegeben hin, sondern ich weiß es zu schätzen.
Mit der gleichen Haltung können wir das große DU um etwas bitten.
Alles, was «ES gibt», schenkt uns ja das große Geheimnis.
Denn worauf verweist das Wörtchen «ES», wenn nicht auf den geheimnisvollen Urgrund, der uns alles schenkt, was «ES gibt»?
Im Hinblick auf unsere persönliche Beziehung zum Geheimnis sehen wir es als DU an; im Hinblick auf alles, was es gibt, sprechen wir vom Geheimnis als Quellgrund und Mutterschoß von allem, was uns zufließt, zuwächst und geschenkt wird.
Ein und dasselbe Geheimnis (auch Gott genannt) begegnet uns als DU und als ES.
So leuchtet es ein, dass wir dem DU danken für alles, was ES gibt, und es, den Dank vorwegnehmend, um alles bi