Pilgerfahrt
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
In seinen «Four quartets» spricht T.S. Eliot von dem Paradox,
«still sein und dennoch vorangehen» ‒
dem Paradox der Hoffnung.[1]
Als Pilger haben wir ein Ziel. Aber der Sinn unserer Pilgerfahrt hängt nicht davon ab, dass wir dieses Ziel erreichen.
Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.
In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern.
Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.
Das «in Hoffnung ruhen» (Psalm 16,9) ist ganz gewiss nicht jenen vorbehalten, die am Ende des Weges sind. Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt das Ziel, denn das Ende geht dem Anfang voraus.
Ruhen wir in der Hoffnung, dann bewegen wir uns laut T. S. Eliot in dynamischer Stille:
... wie eine chinesische Vase
Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist.
Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt,
Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein,
Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht,
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher
Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende.
Dass alles immer jetzt ist. ...[2]
Die Spannung der Hoffnung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht ist die Grundlage für ein Verständnis von Pilgerschaft.
Wann immer wir auf etwas stoßen, das Sinn hat, dann ist dieser Sinn schon jetzt und doch noch nicht gegeben. Er ist da, aber er führt immer noch weiter.
Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nachhause nehmen und im Einsiedlerglas aufbewahren kann. Sinn ist immer etwas Frisches. Er leuchtet uns plötzlich ein, so wie die Strahlen der Nachmittagssonne plötzlich auf unsere Waldlichtung fallen. So oft wir hinschauen, können wir in diesem Licht immer neue Wunder entdecken.
Was Glaube ist, kann man am besten dadurch deutlich machen, dass man gläubig lebt. Ebenso ist es mit der Hoffnung. Nichts wird uns mehr helfen, Hoffnung zu verstehen, als ein Pilgerleben, als «still sein und dennoch voran(zu)gehen», Tag für Tag.
Die Furcht vor den Gefahren, die uns auf dem Weg begegnen könnten, ist groß und berechtigt; das trifft in noch größerem Maße auf die Furcht vor dem Wagnis der Bindung zu.
Es bedarf großen Mutes, diese doppelte Furcht durch den Glauben zu überwinden.
Wir schaffen es, indem wir den Wagemut des Nomaden mit dem des Siedlers verbinden, und das gibt uns den Mut des Pilgers.
Der zwanghafte Siedler in uns wagt es, sich zu binden, fürchtet sich aber davor, unterwegs zu sein.
Der unstete Nomade in uns wagt den Weg, fürchtet sich aber vor der Bindung.
Nur der Pilger in uns kann diesen Zwiespalt überwinden.
Der Pilger weiß, dass sich jeder Schritt auf dem Weg als das Ziel herausstellen kann, andererseits kann sich das vermeintliche Ziel als doch nur ein Schritt auf dem Weg erweisen.
Dies hält den Pilger offen für Überraschungen. Hoffnung kennzeichnet den Pilger.[3]
Die Pilgerfahrt ist nicht eine Reise.
Der Unterschied ist vielen nicht klar: Die Pilgerfahrt hat unendlich viele Gipfelpunkte, die Reise hat ein Ziel.
Die Pilgerfahrt hat immer dort den Gipfelpunkt, wo ich bin. Jeder Schritt ist sozusagen das Ziel.
Wenn man eine Reise nach Rom oder Jerusalem macht und nicht in Rom ankommt, dann hat man das Ziel der Reise verfehlt, und dann war es eine verfehlte Reise. Aber wenn man eine Pilgerfahrt nach Jerusalem macht, dann kommt man unter Umständen gar nicht hin oder kommt schon mit dem ersten Schritt an sozusagen.
Leo Tolstoi erzählt die Geschichte von zwei alten russischen Bauern, die sich auf eine Pilgerfahrt nach Jerusalem machen. Wochenlang wandern Sie von Dorf zu Dorf, immer in Richtung auf das Schwarze Meer, wo Sie hoffen, ein Schiff in das Heilige Land zu finden. Aber bevor Sie den Hafen erreichen, werden Sie voneinander getrennt.
Während der eine an einem Häuschen anhält, um seinen Wasserschlauch zu füllen, geht der andere noch ein Stück weiter, lässt sich dann im Schatten nieder und ist bald eingeschlafen. Als er aufwacht, fragt er sich: «Ist mein Freund noch hinter mir? Nein, er muss mich überholt haben, als ich hier schlief.»
In der Hoffnung, seinen Freund einzuholen, geht er weiter. «Spätestens beim Warten auf das Schiff werden wir uns wiederfinden», denkt er.
Aber im Hafen findet sich keine Spur des Freundes. Tagelang wartet er, dann segelt er allein ins Heilige Land.
Erst in Jerusalem holt unser Pilger doch noch den anderen ein. Er sieht ihn ganz vorne beim Altar, aber bevor er sich einen Weg durch die Menge der Pilger bahnen kann, verliert er seinen Freund wieder aus den Augen. Er fragt nach ihm, doch niemand weiß, wo er wohnt.
Ein weiteres Mal sieht er ihn in der Menge, und noch ein drittes Mal, näher den heiligen Stätten, als er selbst herankommt. Aber niemals holt er ihn ein, und als die Zeit kommt, Jerusalem zu verlassen, da muss er sich allein auf die Heimreise machen.
Viele Monate später kehrt er heim ins Dorf. Und da ist auch sein verlorengegangener Reisebegleiter. Er war ja gar nicht in Jerusalem gewesen. In jenem Häuschen, bei dem er angehalten hatte, um etwas Wasser zu bekommen, fand er eine ganze Familie, die im Sterben lag. Sie war arm und verschuldet, krank, fast verhungert und sogar zu schwach, um sich selbst Wasser zu holen. Mitleid überwältigte ihn. Er machte sich auf und brachte ihnen Wasser, kaufte Lebensmittel und pflegte Sie gesund. Jeden Tag dachte er: «Morgen werde ich meine Pilgerfahrt fortsetzen.»
Als er ihnen aber geholfen hatte, ihre Schulden zu bezahlen, da blieb ihm gerade genug Geld, um nachhause zurückzukehren.
Der andere Alte, der ihn in Jerusalem gesehen hatte, fragte sich nun, wer von ihnen das wahre Ziel der Pilgerfahrt erreicht habe.[4]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f.]
[Ergänzend:
1. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011):
Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(05:46) Pilgerfahrt im Unterschied zur Reise: ‹Die beiden Alten› (Leo N. Tolstoi) ‒ (11:16) ‹Das Leben ist ja Pilgerschaft, wenn man es richtig versteht, und es kommt nur darauf an, im gegebenen Augenblick das zu tun, was das Leben uns aufgibt›
2. Common Sense: Was dem Common Sense im Weg steht (2014), 94f.:
«In jedem von uns steckt einer, der sesshaft werden möchte, und einer, der suchend unterwegs bleiben will.
Hinter beiden Antrieben steckt ein Stück Angst. Der Sesshafte hat Angst vor Veränderung; der Sucher und Entdecker hat Angst vor Langeweile.
Als Abenteurer können wir derart vom Suchen besessen sein, dass wir auf keinen Fall etwas finden wollen, denn damit hätte ja unser Suchen ein Ende.
Als Sesshafte dagegen können wir so sehr auf das Finden aus sein, dass wir das Suchen vorschnell abbrechen.
In Wirklichkeit sind wir dazu bestimmt, Pilger zu sein. lm Pilgern sind der Sesshafte und der Sucher vereint.
Pilger brauchen zweierlei Art von Mut: den Mut des Abenteurers, über das Vertraute hinauszugehen, und den Mut des Sesshaften, sich in der Gegenwart daheim zu fühlen.
Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt schon ein Ziel und jedes Ziel kann sich wiederum als Schritt auf einem Weg erweisen, der immer wieder weiter führt.
Als Pilger müssen wir überall und zugleich nirgends daheim sein; genau aus diesem Grund dürfen wir uns an nichts endgültig klammern.
Dieses Anklammern ist unser eigentliches Hindernis auf der Pilgerfahrt durchs Leben. Wir klammern uns immer dann spontan an etwas, wenn wir Angst haben.
Das ist ein naturgegebener und gesunder Reflex. Wenn Sie erschreckt werden, versuchen bereits neugeborene Kinder, sich mit Armen und Beinen an die Mutter zu klammern.
Dieser Instinkt resultiert womöglich aus einer Zeit, in der es überlebenswichtig war, sich an die Mutter zu klammern, die von Ast zu Ast sprang. Diesen Instinkt behalten wir zeitlebens bei.
Sobald Gefahr droht, greifen wir nach etwas und klammern uns daran, nicht nur physisch, sondern auch mental.
Alles Neue wirkt zunächst immer gefährlich.
Wir brauchen eine gewisse Zeit, um unsere rein instinktive Reaktion überwinden zu lernen.
Wollen wir reifer und weiter werden und neues Gelände betreten, dann müssen wir zwangsläufig lernen, Altes und Vertrautes loszulassen.»
3. Audio und Texte zum Pilger-Ritual
3.1. Audio Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift:
Die Mystische Erfahrung ist religionsschöpferisch (04 Mitschrift):
(08:56) «Und Sie selbst auch wieder in ihrer eigenen Privatreligion, wenn Sie wollen, feiern Sie Ihre mystischen Erlebnisse. Nehmen wir an, Sie haben so ein mystisches Erlebnis auf einem bestimmten Berg erfahren, ein Gipfelerlebnis:
Es ist sehr leicht möglich, dass Sie immer wieder einmal ‒ sagen wir zu einem besonders festlichen Anlass ‒ zu diesem Berg zurückwandern. Sie wollen das wiedererleben.
Sie können es vielleicht nicht einmal mehr wiedererleben, aber Sie machen eine Pilgerfahrt oder Sie erinnern sich an diesen Tag: Sie haben schon einen rituellen Kalender begonnen: Es ist nur der Beginn, aber der Beginn ist da.»
3.2. Schönheit aus: Auf dem Weg der Stille (2016), 137f.:
«Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.
Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.
Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!
Je stärker Sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern.
Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte.
Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.»
3.3. Religionen ‒ drei Ausdrucksformen, in Ergänzend: 3.5., aus Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 180:
«Überprüfen Sie dies anhand Ihrer eigenen Erfahrung.
Manche Rituale da draußen, in den traditionellen historischen Religionen, mögen bizarr anmuten.
Doch vielleicht zelebrieren Sie alle Jahre wieder eine tiefe spirituelle Erfahrung. Nun, dann haben Sie einen rituellen Kalender, so wie die meisten Religionen.
Vielleicht kehren Sie ständig an den Ort zurück, an dem diese Erfahrung Sie überwältigt hat.
Nun, dies ist dann das Ritual des Pilgerns.
Angenommen, Sie haben dieses Erlebnis an einem Strand gehabt, dann ist jeder Strand auf dieser Welt nun ein heiliger Ort für Sie, weil er Sie immer an diese Erfahrung denken lässt.
Auch ein Baum kann auf diese Weise für Sie ein heiliger Baum werden. Das Ritual ‒ das lebendige Ritual ‒ ist die Zelebrierung des mystischen Erlebnisses. Es ist ein Gedenken an dieses Erlebnis.»]
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[1] T. S. Eliot: Four quartets: East Coker, V; siehe auch in Stillehalten
[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten
[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114-116, 118, 112f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 114-116, 118, 112f.]
[4] Audio in Ergänzend: 1 und Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 113f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 113f.]: ‹Die beiden Alten› (Novelle von Leo Tolstoi)
Sakramentales Leben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.
Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.
Eine hervorragende Metapher für die sinnliche Erfahrung dessen, was in seiner Sinnfülle unsere Sinne unendlich übersteigt, ist der brennende Dornbusch.[1]
Das wüstentrockene Dorngestrüpp steht in Flammen, trägt die Flammen und erträgt sie; es hat inmitten der Flammen Bestand.
«Wie kommt es, dass dieser Busch brennt und doch nicht verbrennt?»
Mit diesem «großen Gesicht» beginnt die Offenbarung eines unerschöpflichen Geheimnisses: Gottes Gegenwart in der Welt ‒ «non commixtionem passus, neque divisionem», wie die Antiphon der Weihnachtszeit[2] staunend singt:
«Unvermischt und doch untrennbar»,
wird das Göttliche uns zugänglich im Sinnlichen.[3]
Zwei Haltungen neigen dazu, uns für diese Begegnung blind zu machen: Weltlichkeit und Weltentrücktheit. Weltlichkeit sieht bloß den Strauch; Weltentrücktheit sieht bloß das Feuer.
Aber zu sehen, mit den Augen des Herzens, eines inmitten des andern, das ist das Geheimnis von Sakramentalität.
Das Geheimnis ist das Geheimnis von Sakramentalität, das Mysterium, dass das göttliche Leben sich durch alle Dinge vermittelt, genauso wie Sinn durch Worte vermittelt wird.
Die zwei gehören zusammen, Sinn und Wort, Gott und die Welt. Die zwei gehören zusammen, ohne Wenn und Aber, sind untrennbar: Sinn und Wort, Gott und die Welt.
Sakramentalität ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.
Die vielen Gemeinschaften, Kirchen, Kommunen weisen lediglich auf diese eine große Familie Gottes hin, mit mehr oder weniger erfolgreichen Modellen und bruchstückhaften Erkenntnissen davon. Ihre Feiern des Lebens sind auch auf eine Art Sakramente, weil das Leben selbst sakramental ist.
Richtig verstanden sind die Sakramente der christlichen Kirchen nicht in sich abgeschlossene Schachteln göttliche Gnaden vermittelnd.
Sie sind Brennpunkte dieses göttlichen Feuers, das alles Leben sakramental macht.
Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:
«Zieh’ deine Schuhe aus!»[4]
Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.
Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.
Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.
Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.
Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[5]
Es ist nicht so, als ob wir von weit her zum Ort der göttlichen Gegenwart hinpilgern müssten.
Von alters her geheiligte Orte wollen Pilger nur daran erinnern, dass auch jeder andere Ort heilig ist.
Schon mit dem ersten Schritt einer Pilgerfahrt betreten wir heiligen Boden.
Darum ruft die Stimme aus dem brennenden Busch Moses zu:
«Tritt nicht herzu!»
Komm nicht näher!
Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.
«Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.»
Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort.
Werde dir dessen bewusst!
«Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!»
Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.
Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen.
Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.
Auch «an den Flüssen Babylons», oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.
Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.[6]
Die Askese des Raumes fördert die Loslösung in Bezug auf den Ort, wo immer wir auch seien. Ihr Ziel ist,
da wirklich gegenwärtig zu sein,
wo wir gerade sind.
Dies ist der erste Schritt ‒ und wie oft gelingt er uns nicht!
Wir sind uns selbst voraus oder bleiben hinter uns zurück. Vielleicht aber schauen wir weder voraus in eine Zukunft, die noch nicht da ist, noch halten wir an einer Vergangenheit fest, die schon vorbei ist ‒ und sind doch nicht in der Gegenwart.
Wir sind hier und doch nicht hier, weil wir nicht wach sind.
Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.
«Die Schuhe ausziehen» ‒ das ist die Askese des Raumes.
«Die Schuhe auszuziehen» bedeutet, wirklich dazustehen, in voller Lebendigkeit.
Die Schuhe oder Sandalen, die wir ausziehen, sind aus der Haut toter Tiere gefertigt.
Solange wir sie tragen, ist etwas Totes zwischen den lebendigen Sohlen unserer Füße und dem Boden, auf dem wir stehen.
Dieses Tote abzustreifen bedeutet, Gewohnheit abzustreifen, jenes Gewohntsein, das Gleichgültigkeit und Langeweile mit sich bringt.
Es bedeutet, in ursprünglicher Frische für den Ort wach zu werden, an dem wir stehen.
Zuerst ist dies ein ganz besonderer Ort, der heilige Bezirk, den wir barfuß betreten.
Aber dann kommt der nächste entscheidende Schritt: Wir erkennen, dass wir auf heiligem Boden stehen, wo immer wir die Schuhe ausziehen.
«Rundum in jeder Richtung, soweit Raum reicht, reicht das Heiligtum.»[7]
Pater Damasus[8] wurde nie müde, diese Bibelstelle seinen Mönchen zu zitieren. Wir müssen nur einfach unsere Schuhe ausziehen, dann werden wir dies verstehen.
Ganz deutlich wird dies, wenn der Heilige Benedikt sagt, dass jeder Topf und jede Pfanne im Kloster wie ein heiliges Altargefäß behandelt werden sollte.[9]
Das heißt soviel wie:
«Zieht eure Schuhe aus und erkennt, dass ihr auf heiligem Boden steht; allerorten ist Gottes Tempel.»
Jeder Ort ist heiliger Boden, denn jeder Ort kann Stätte der Begegnung werden, der Begegnung mit göttlicher Gegenwart.
Sobald wir die Schuhe des Daran-Gewöhnt-Seins ausziehen und zum Leben erwachen, erkennen wir:
Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?
Jetzt, hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 5f., 10]
[Ergänzend:
Audio Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›]
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[1] Exodus 3,1-5 (Lutherbibel 2017):
«Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!»
[2] «Mirabile mysterium declaratur hodie:
innovantur nature,
Deus homo factus est;
id quod fuit permansit,
et quod non erat assumpsit:
non commixtionem passus, neque divisionem.»
«Ein wunderbares Geheimnis wird heute verkündet:
Die Natur erneuert sich,
Gott wurde Mensch.
Das, was er war, blieb er,
und das, was er nicht war, nahm er auf.
Er erlitt keine Vermischung und keine Teilung.»
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 69f.
[4] Exodus 3,5
[5] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119
[6] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 70f.
[7] Ezechiel 43,12
[8] Pater Damasus Winzen, der Gründer des Klosters Mount Savour
[9] Siehe auch Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2018):
«Darum scheint mir manchmal, dass «dankbar leben» sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird - und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).»
[10] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 26f.
Tasten, berühren, behüten
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Arijana Somolanji Kurbanović
«Zauberkraft begegnet uns auf Schritt und Tritt, daran zweifle ich keinen Augenblick. Wie oft habe ich sie doch erlebt. Zuerst mein ganz automatisches Dahintrotten auf dem heißen Gehsteig, dann ein kühler Zugwind aus einer Seitenpassage ‒ und plötzlich hat das Straßenbild Farben, Klänge, Bewegung.
Oder bei Tisch: Mein unaufmerksames Hinunterlöffeln wird durch das Klirren eines Wasserglases in wache Freude an der warmen Suppe verwandelt. Sogar ein untätiges Daliegen im Bett kann durch ich weiß nicht, was, auf einmal zum wohligen Wahrnehmen von Decke und Polster werden, zu einem letzten Aufleuchten aller Sinne vor dem Einschlafen.
Ich weiß wirklich nicht, was diese geheimnisvolle Kraft ist, die da so unvermittelt alles verzaubert ‒ ja, die eigentlich m i c h bezaubert, indem sie mich belebt.
Jedenfalls nehme ich sie dankbar an; sie muss ja von Dir kommen.
Und Dankbarkeit legt mir auch das Zauberwort in den Mund, das Zauberwort, das mich und die Welt belebt: ‹Danke!› ‒ Amen.»[1]
In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug’ in Auge mit einem Tier können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen.
Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen übermittelt werden kann.
Die Welt, in der wir leben, ist so entfremdend, dass wir buchstäblich nicht mehr in Berührung miteinander sind.
Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet.
Das schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein Gefühl, dass wir Schwestern und Brüder sind in dieser Welt, in unserem gemeinsamen Zuhause.[2]
«Mein Fuß spricht mit den Steinen, die er betritt»,
sagt Rilkes Blinde,[3] und das sollten auch unsere Füße tun. Sobald wir die Gewöhnung abgelegt haben, mehr noch als die Schuhe, dann ist schon die Möglichkeit gegeben für diese Zwiesprache.
Rasen spricht anders mit unseren Füßen als sonnenwarme Felsplatten am Fluss; ein Holzboden wieder anders. Kork, Kiesel, Kokosläufer, feuchter Sand am Meer, oder das Herbstlaub, durch das wir als Kinder so gerne wirbelnd wateten; diese und so viele andere Sprachen sind unseren Fußsohlen bereits geläufig.
Leinen, Leder, Luffa, wie verschieden sie unsere Schultern berühren. Strohhut und Wollmütze, Tropenhelm und Schleier. Kühles, Bauschiges, das den Wind einfängt, oder enganliegendes Warmes und Weiches um Hüften und Beine.
Wie so verschiedentlich uns all das anspricht, wenn wir nur darauf achten. Wie unsere Haut an jeder Stelle des Körpers anders darauf antwortet. Welche Freude argloser Dankbarkeit man daran erleben kann.
Und dann erst die Hände. Für mich ist nicht nur das Streicheln der Katze («Gypsie» heißt sie, «Zigeunerin»), für mich ist auch das Abstauben der paar Möbel in der Einsiedelei ein liebkosendes Berühren; oder das Stutzen der Sträucher im Garten; oder das Aufkehren.
«So geht man nicht mit dem Staub um», erklärte Soen Nakagawa Roshi jungen Mönchen, die das Saubermachen praktisch, schnell und gründlich erledigt haben wollten. «S o geht das nicht. Wenn ihr den Besen in der Hand habt, soll die Hand zum Staub sagen: ‹Verzeih, aber du bist zur Zeit am falschen Platz. Erlaube, dass wir dir weiterhelfen, wo du hingehörst›»
Hände haben höfliche und unhöfliche Redeweisen. Sie lassen sich erziehen.
Hände reden, Sie können aber auch horchen.
Das hat mich Sen Soshitsu gelehrt, der Groß-Teemeister Japans, dessen Urahne Sen Rikyu, im 16. Jahrhundert der Teezeremonie ihre klassische Form gab.
In einer vornehmen Privatwohnung in New York wurde das Ehepaar Sen an jenem Abend mit einem Empfang geehrt. Man wollte den Gästen aus dem Osten das Beste westlicher Kultur darbieten. Ein berühmter Cembalist sollte auf einem Instrument spielen, das eigens für diese Gelegenheit ausgeliehen worden war.
Da stand es in seiner schlichten Schönheit, glänzend im Licht der vielen Kerzen, aber versperrt. Der Schlüssel zum Deckel der Tastatur war einfach unauffindbar.
Verwirrung, Geflüster, peinliche Stille.
Mit heiterer Gelassenheit geht Sen Soshitsu auf das Cembalo zu, lässt seine Hand bewundernd über das seidige Holz gleiten.
Völlig gesammelt scheint er dankbar zu sagen:
«Ist das nicht schon mehr als genug?»
Dann lächelt er, und alle atmen auf.
Alle nur mögliche Musik war aus dem Instrument durch seine horchende Hand in dieses Lächeln gestiegen und darin Wirklichkeit geworden.
Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden und so mit allen Sinnen. Aber niemand kann berühren, ohne berührt zu werden. Daher kommt die Ehrfurcht, die echter, wacher, dankbarer Berührung eignet.
Rilke sieht diese Ehrfurcht in der Art, wie die Figuren im Bildwerk griechischer Grabsäulen einander berühren:
«Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs,
d i e s e s ist unser, uns s o zu berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.»[4]
Wer ehrfürchtig an-greift, wird zugleich ergriffen vom göttlichen Gegenüber, mit jener bräutlichen Ergriffenheit, die weise macht.
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.
Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin.
Ihre Beschaffenheit, für Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist.
Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?
Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht.
Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft.
Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.
Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.[5]
Sakramentales Leben ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.
Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:
«Zieh’ deine Schuhe aus!»[6]
Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.
Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.
Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.
Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.
Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[7]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden. Amen»[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 5, 7f.]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(01:01:13) ‹Dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind› (Rilke, Schmargendorfer Tagebuch) – ‹Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht menschlicher Geste?› (Rilke, Die zweite Elegie) – Das empfängliche Tasten ist das Behüten ‒ letztlich, das Geheimnis hegen: ‹Meine Hand ist dir viel zu breit› (Rilke, Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 76f.) – ‹Ich habe dich bei deiner Hand gefasst und habe dich behütet.› (Jes 42,6)
Rilke in einem Brief: Arco, am 10. März 1899 (Schmargendorfer Tagebuch):
«… denn in unserem Schauen liegt unser wahrstes Erwerben. Wollte Gott, dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind: so bereit im Erfassen, so hell im Halten, so sorglos im Loslassen aller Dinge; dann könnten wir wahrhaft reich werden. Reich aber werden wir nicht dadurch, dass etwas in unseren Händen wohnt und welkt, sondern es soll alles durch ihren Griff hindurchströmen wie durch das festliche Tor des Einzugs und der Heimkehr. Nicht wie ein Sarg sollen uns die Hände sein: ein Bett nur, darin die Dinge dämmernden Schlafes pflegen und Träume tun, aus deren Dunkel heraus ihre liebsten Verborgenheiten reden. Jenseits der Hände aber sollen die Dinge weiterwandern, stämmig und stark, und wir sollen von ihnen nichts behalten als das mutige Morgenlied, das hinter ihren verhallenden Schritten schwebt und schimmert.»
Denn Besitz ist Armut und Angst, Besessenhaben allein ist unbesorgtes Besitzen.
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›:
«‹Tritt nicht herzu!› Komm nicht näher. Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.
‹Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.›
Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort. Werde dir dessen bewusst!
‹Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!›
Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.
Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen. Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.
Auch ‹an den Flüssen Babylons›, oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.
Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.»[9]
2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 2:
(13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen
2.4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Tasten, greifen, begreifen, Begriffe im Unterschied zu Ergriffenheit, Rührung ‒ gerührt sein, berühren ‒ berührt sein]
__________________
[1] Erwachende Worte (2023): ‹55 Zauberkraft›, 127
[2] Musik der Stille (2023), 8 und 61
[3] R. M. Rilke: ‹Die Blinde› (Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)
[4] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Zweite Elegie
[5] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 71-73, 69, 16; siehe auch Horchen und Gehorchen
[6] Moses und der brennende Dornbusch in Exodus 3,1-6
[7] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119
[8] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 71
[9] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 70f.
Riechen, Düfte, Erinnerung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - pixabay – Mimosa pudica
Gerüche der Kindheit fallen mir viele ein, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Da ist zum Beispiel der Lavendelgeruch in der Wäschelade meiner Mutter. Sie hat immer Lavendel zur Wäsche gelegt, und beim Öffnen der Lade hatte man sofort diesen Lavendelduft in der Nase.
Oder der Geruch von Lindenblüten. Wir hatten zwei große Linden vor dem Haus, vor unserem Fenster. Das ist ein unvergesslicher Duft, der Duft von Lindenblüten.
Ein Geruch, der gar nicht so typisch ist, aber der mir auch sofort einfällt: der Geruch von zertretenem Unkraut, hinter dem Haus, hinter dem Stall. Ich bin zum Teil auf dem Land aufgewachsen, unser Nachbar hatte einen Bauernhof, und wenn wir da hinter dem Haus herumgerannt sind, bei unseren Schleichwegen, da kam immer wider der Geruch von zertretenem Unkraut. Die Brennnesseln riechen ja stark, und auch alle anderen Pflanzen haben ihren eigenen Geruch.
Der Kuhmist im Stall, der Heuboden, der Geruch der frischen, warmen Milch! Und dann erst die Jahreszeiten!
«Es riecht nach Schnee!»
Dieser Schneegeruch. Und der frische Luft-Geruch, dieser frische kalte Luft-Geruch in den Windjacken, wenn man sie in der Stube aufhängt im Winter!
Der Geruch der Bratäpfel auf dem Herd, der Geruch der Maroni!
Ein wichtiger Geruch für mich, das ist der Geruch von Mimosen. Früher hat man zu den Rosen immer Mimosen getan.
Bei allen Tanten- und Verwandten-Besuchen haben wir Blumen mitgebracht, und da waren auch diese kleinen gelben Mimosen dabei. Das ist für mich so ein Besuchs-Geruch von Mimosen.
Zu Ostern haben wir uns aus kleinen Blechdosen so Weihrauch-Schwinger gebastelt, mit glühenden Baumschwämmen als Holzkohle, darauf kam der Weihrauch, so sind wir umhergezogen, das war unser Ostergeruch.
Ich weiß bis heute, wie verschieden verschiedene Menschen riechen können. Ich hatte da ein interessantes Erlebnis mit so einem Geruch. Men Beichtvater in Heiligenkreuz, Pater Walter, der hatte einen eigenen Geruch, da war Weihrauch dabei, und auch der Geruch von altem Stoff. Die Gewänder hängen ja in so einem feuchten Raum, das riecht ein wenig stockig. Jedenfalls hatte mein Beichtvater einen eigenen, für ihn typischen Geruch, der mir sehr vertraut war.
Ich war dann schon jahrelang weg, weit weg, ich lebte schon in Amerika, da ist es mir ‒ zwei-, dreimal ‒ passiert, und zwar immer in Krisensituationen, dass ich ihn plötzlich gerochen habe.
Noch bevor ich überhaupt an ihn gedacht habe, war sein Geruch schon da. Dieser Pater Walter war so ein Seelenführer, ein Seelenhelfer für mich. Und komisch, immer in Krisensituationen war plötzlich sein Geruch da, als ob er gegenwärtig gewesen wäre im Zimmer.
So ein Geruch kann sehr tröstlich sein. Seine Anwesenheit zu spüren ‒ allein über den Geruch ‒, das hat mir schon geholfen.[1]
Die linden Lüfte sind erwacht,
sie säuseln und wehen Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch werden mag,
das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden!
Ludwig Uhland[2]
Gott ist zu einfach, um mehr als ein einziges Wort zu sprechen. Es ist wie bei Liebenden. Alles, was sie einander letztlich zu sagen haben, ist:
«Ich liebe dich.»
Das aber will wiederholt werden.
Gottes Botschaft ist immer die gleiche. Aber die Sprachen, in denen das ewige Wort ausgedrückt wird, sind unendlich vielfältig.
Vielleicht hörst du die Botschaft in einem Apfelgarten, der in voller Blüte steht. Doch die gleiche Botschaft spricht sich auch in einem Waldbrand aus.
Der Unterschied kann erschreckend sein, aber das gleiche Wort immer wieder in neuen Sprachen zu hören, macht aus dem Leben ein herrliches Spiel, ein göttliches Wortspiel.
Das auf der Wiese spielende Pferd spricht Gottes Wort aus, die auf meinem Schoß schlafende Katze tut dasselbe, nur anders.
Alles und jedes ist einzigartig und unübertragbar.
Gedichte können nicht übersetzt werden; im besten Fall kann man sich ihnen in einer anderen Sprache annähern.
In einem Gedicht zählt die Sprache so sehr wie die Botschaft.
Gott ist Dichter. Wenn wir wissen wollen, was Gott in einer Tomate sagt, dann müssen wir uns eine Tomate anschauen, sie fühlen, riechen, in sie hineinbeißen, den Saft und die Samen über uns spritzen lassen, wenn sie platzt.
Wir müssen sie auskosten und dieses Tomatengedicht in unser Herz aufnehmen.
Was aber Gott zu sagen hat, kann in Tomatensprache nicht erschöpfend zum Ausdruck gebracht werden.
Also gibt uns Gott auch Zitronen und spricht auf zitronesisch.
«Vom Wort Gottes leben» bedeutet, ein Leben lang Gottes Sprachen eine nach der anderen zu erlernen.[3]
ROSE, du thronende, denen im Altertume
warst du ein Kelch mit einfachem Rand.
Uns aber bist du die volle zahllose Blume,
der unerschöpfliche Gegenstand.
In deinem Reichtum scheinst du wie Kleidung um Kleidung
um einen Leib aus nichts als Glanz;
aber dein einzelnes Blatt ist zugleich die Vermeidung
und die Verleugnung jedes Gewands.
Seit Jahrhunderten ruft uns dein Duft
seine süßesten Namen herüber;
plötzlich liegt er wie Ruhm in der Luft.
Dennoch, wir wissen ihn nicht zu nennen, raten ...
Und Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.
Rainer Maria Rilke[4]
Es heißt immer, dass in der Erinnerung besonders Düfte sehr heftig Erinnerungen auslösen: Wer kennt nicht viele, viele Kindheitserinnerungen, die mit Düften zu tun haben. Die Lade [Schublade] der Großmutter und die vielen Speisen zu besonderen Festzeiten. Das heißt doch, dass die Erinnerung zusammenhängt mit dem Geruchssinn. Das ist weitgehend bekannt. Aber hier geht’s noch um etwas Anderes:
Seit Jahrhunderten ruft uns dein Duft
seine süßesten Namen herüber ‒
das ist auch interessant ‒
plötzlich liegt er wie Ruhm in der Luft.
Dennoch, wir wissen ihn nicht zu nennen, wir raten …
Das ist der Augenblick, wo es wirklich wortlos ist.
Es ist nur die Begegnung mit dem Geheimnis durch das verkörperte Geheimnis in der Rose oder in irgendeinem anderen Gegenstand:
wir wissen ihn nicht zu nennen, wir raten …
Und dann kommt der nächste Schritt:
Und Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.
Erinnerung ist dann eine rufbare Stunde, eine Erinnerung ist dann etwas, was wir benennen können und wir geben dem Duft dann einen Namen, aber eigentlich wissen wir nicht zu nennen, wir raten.
Und das ist oft sehr gut, diesen Augenblick einzuschieben: wenn man irgendetwas riecht: nicht es gleich benennen!
[Bruder David berichtet von einem Experiment in einer Gruppe von jungen Leuten, die über die Sinne und Sinneserfahrungen sprachen und über diesen Punkt]:
In mehreren, vielleicht so ein halbes Duzend oder mehr, kleinen Schüsseln ‒ das hat alles gleich ausgeschaut, war so eine Sauce oder so was, ‒ die haben aber ganz verschiedene Geschmäcker gehabt. Und dann konnte man mit einem Löffel von einer zur anderen Schüssel gehen und kosten. Solange man dem nicht einen Namen gegeben hat, war es ein großes Erlebnis.
Und dann sagt man «pille!»[5] und aus ist es, abgestempelt.
Aber solange man nicht benennt, hat es einen ungeheuren Effekt. Und so ist es auch nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Geruch. Und das sollte man immer wieder mal ausprobieren: nicht benennen: — erleben! — und dann ist es gut:
Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.»[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Ein riesiges Feld meiner Sinneserfahrungen liegt fast völlig brach: die Welt der Gerüche. Die meisten lege ich fast unbeachtet in einer der beiden Karteimappen ab ‒ riecht gut; riecht schlecht.
Was ich schlecht nenne, war für mich als Kind spannend.
Meine kindliche Freude am Riechen möchte ich wiederfinden, um dem Fest, das Du unseren Sinnen bereitest, gerecht zu werden. Erst dann kann ich hoffen, auch im übertragenen Sinn ‹eine gute Nase zu haben› ‒ feines Gespür, Vorahnung, Urteilsvermögen.
Heute will ich wenigstens drei Gerüche bewusst feiern. Amen.»[7]
Woher kommt es eigentlich, dass unser Geruchsinn uns leicht zum Lachen reizt? Vielleicht hat es damit zu tun, dass im Bereich des Riechens Kindheitserinnerungen überall die Etikette der Erwachsenen durchbrechen. Gerüche zu erwähnen, gehört ja nicht zum guten Ton. Ich denke, dieses Lachen ist ein befreiendes Lachen. Das Kind in uns wird einen Augenblick lang frei und lacht; lacht uns vielleicht sogar aus.
Wir verdienen ja schon deshalb, ausgelacht zu werden, weil unsere Nasen so abgestumpft sind, unsere Sprache so verarmt. Umgeben von Salbei und Kamille und Kinderwindeln und Salzwind vom Meer; vom Fischmarkt am Mittag, von Nelken und neuem Sattelleder; vom Geruch alter Bücher und frischgebackenen Brotes; von Blumenläden und Auspuffgasen; von Wachs und Honig in der Imkerhütte, Leintüchern, die an der Sonne trocknen, Heringen im Fass, Heuschobern und Holzrauch in der Schneeluft; vertraut mit Kuhstall und zahnärztlichem Wartezimmer, mit Schweiß- und Sonnenölgeruch im Schwimmbad und mit dem Geruch der Kulissen, wenn der Vorhang aufgeht im Theater; umgeben von so unerschöpflichem Reichtum der Gerüche, haben die meisten von uns nur zwei Antworten gelernt: «Ah, das riecht gut!» oder «Pfui, das stinkt!»
Wir können uns gegen Sehen, Schmecken und Hören wehren, indem wir Augen und Mund schließen und uns die Ohren zuhalten. Aber wie lange können wir uns die Nase zuhalten? Sehr bald müssen wir ja doch nach Luft schnappen. Das wird zum Bild dafür, dass niemand sich der allesdurchdringenden göttlichen Gegenwart für immer verschließen kann.
So haben Mystiker es immer wieder verstanden, wenn die Braut im Hohelied dem Bräutigam zuruft:
Es riechen deine Salben köstlich;
dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe,
darum lieben dich die Jungfrauen.[8]
Und der Bräutigam preist die Braut mit ähnlichen Worten:
Wie schön ist deine Liebe,
meine Schwester, liebe Braut!
Deine Liebe ist lieblicher denn Wein,
und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Würze.
Deine Lippen, meine Braut, sind wie triefender Honigseim;
Honig und Milch ist unter deiner Zunge,
und deiner Kleider Geruch ist wie der Geruch des Libanon.[9]
Begegnung mit Schönheit verwandelt. Und auch hier ist es bräutliche Begegnung.
Am berühmtesten ist wohl der mystische Vergleich der Braut mit einem Garten. Wenn auch die mittelalterliche Malerei nicht müde wurde, verschlossenen Garten und versiegelten Born bildlich darzustellen, in der Dichtung des Hoheliedes liegt die Betonung auf den Düften.
Meine Schwester, liebe Braut,
du bist ein verschlossener Garten,
eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.
Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln
mit edlen Früchten,
Zyperblumen mit Narden,
Narde und Safran, Kalmus und Zimt,
mit allerlei Bäumen des Weihrauchs,
Myrrhen und Aloe
mit allen besten Würzen.
Ein Gartenbrunnen bist du,
ein Born lebendiger Wasser,
die vom Libanon fließen.
Stehe auf, Nordwind, und komm Südwind
und wehe durch meinen Garten,
dass seine Würzen triefen! [10]
Der Vergleich mit durchdringendem Duft wird im Neuen Testament bewusst wieder aufgenommen, wenn es in der Johannespassion heißt:
«Das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe»,
mit der Maria von Bethanien den Leib Jesu im Voraus für sein Begräbnis vorbereitet (Joh. 12,3).
Eine Vielzahl dichterischer und mystischer Themen klingen hier an, besonders aber das Motiv der göttlichen Weisheit,[11] die von sich sagt:
Wohlgeruch wie von Zimt und Akazien
hauche ich aus,
den Duft von feinster Myrrhe,
von Balsam, Stakte und Galban,
wie Weihrauch im Heiligtume.[12]
Für Paulus, wie für Johannes, ist Jesus Christus Gottes Weisheit in Menschengestalt und hat «sich selbst dargegeben für uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch.»[13]
«Wir selber aber», sagt Paulus, «sind Gott ein guter Geruch Christi». Denn Gott «offenbart den Geruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten. Darum sind wir denen, die Christi Frohbotschaft nicht ausstehen können, ein tödlicher Gestank; denen aber, die sich daran freuen, ein lebenspendender Wohlgeruch.»[14]
Wer sich so sinnlich ausdrückt, hat offenbar nicht in Entfremdung von seinen Sinnen so tiefen Sinn gefunden.
Auch hier geht der Weg von argloser Sinnenfreudigkeit, für die jeder Geruch Geschenk ist, über die ehrfürchtige Begegnung mit dem Geber, den die Gabe versinnbildet, zur bräutlichen Vereinigung, wenn der Salbtiegel in Scherben liegt und der Duft das ganze Haus erfüllt, die ganze Welt, «wo immer die Frohbotschaft gepredigt wird».
Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen. Das Hohelied ist zugleich erotische Dichtung und mystisches Bekenntnis, Zeugnis vergeistigter Sinnlichkeit und sinnlicher Geistigkeit. Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.[15]
«Duft ‒ unfassbarste aller Formen von Gegenwart, einer Gegenwart, die uns doch unausweichlich angeht.
Im Rauch herbstlicher Feuer weht er von Feldern herüber und stimmt mich schwermütig.
Unter der Jasminlaube berauscht er mich.
An blühenden Ligusterhecken und unter dem Lindenbaum am Juniabend weckt er Heimweh in mir.
Bitter steigt er von den Chrysanthemen auf und mir wird bang.
Mit Kinderfreude aber erfüllt er mich noch heute, wenn Leintücher an der Sonne bleichen oder beim Bleistiftspitzen.
Und immer noch lässt mich der Duft des Lavendelkissens sorglos einschlafen.
So flüchtig ist auch Deine Gegenwart in all ihren Formen, Du großes Geheimnis, und unnachgiebiger, als duftschwere Lüfte es sind in ihrem Anspruch an mich. Mach mein Herz bereit. Amen.»[16]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 6f., 15f.]
[Ergänzend:
1. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993); siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 5 ‹Gott durch die Sinne finden›, 82-90:
«Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?»
«Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(43:44) ‹Der Duft› (Rilke, aus dem Nachlass) – ‹Rose, du thronende› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, VI) / (51:09) Erinnerung und Ritual – ‹Köstlich ist der Duft deiner Salben. Dein Name: hingegossenes Salböl› (Hohelied 1,3):
Wer bist du, Unbegreiflicher: du Geist,
wie weißt du mich von wo und wann zu finden,
der du das Innere (wie ein Erblinden)
so innig machst, dass es sich schließt und kreist.
Der Liebende, der eine an sich reißt,
hat sie nicht nah; nur du allein bist Nähe.
Wen hast du nicht durchtränkt als ob du jähe
die Farbe seiner Augen seist.
Ach, wer Musik in einem Spiegel sähe,
der sähe dich und wüßte, wie du heißst.
Rilke, ‹Der Duft›
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25:57) Riechen ‒ Duft im Hohelied. ‒ ‹Wir sind ein Wohlgeruch› (2 Kor 2,15)
2.3. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Riechen, Ahnen, Mörikes Frühlingsgedicht: ‹Er ist‘s›:
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
‒ Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab’ ich vernommen!]
________________________
[1] Ein Geruch kann sehr tröstlich sein, Beitrag von Bruder David im Buch Salbei und Brot: Gerüche aus der Kindheit (1992), 86-88
[2] Ludwig Uhland: ‹Frühlingsglaube› in Osterbotschaft 2021
[3] Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
[4] R. M. Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, VI
[5] engl. für ‹bitter›
[6] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 45-48
[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 88
[8] Hohelied 1,3 (Lutherbibel 1912); Zürcher Bibel: ‹Ausgegossenes Salböl ist dein Name›
[9] Hohelied 4,10f. (Lutherbibel 1912);
[10] Hohelied 4,12-16 (Lutherbibel 1912)
[11] Siehe auch Weihnachtsgrüße 2017
[12] Jesus Sirach 24,15
[13] Eph 5,2
[14] 2 Kor 2,14-16
[15] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 64f., 67-70
[16] Erwachende Worte (2023), ‹32 Duft›, 81
Erlösung ‒ Sünde und Heil
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen.
Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen:
«Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin»?
Oder: «Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Person, die ich liebe, und doch bin ich mir selbst entfremdet»?
Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins.
Dann haben wir die Entfremdung überwunden.
Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte.
Der zeitgenössische Begriff für Heil ist Zugehörigkeit.
Der Weg von der Entfremdung zur Zugehörigkeit ist der Erlösungsweg von der Sünde zum Heil.
Zugehörigkeit ist andererseits genau das, wonach sich unser ganzes Wesen sehnt.
Ein älteres Wort nannte dies «Erlösung».
«Erlösung» stand einmal für jene Verwirklichung allumfassender Ganzheit, die das Wort Zugehörigkeit für uns hier bedeutet.
Im Innersten unseres Herzens wissen wir, dass Ganzheit grundsätzlicher, ursprünglicher ist als Entfremdung, und so verlieren wir niemals ganz ein eingeborenes Vertrauen darauf, dass wir am Ende ganz und beieinander ‒ eins sein werden.
Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.
Er findet Gott
«die Stelle welche heilt»,[1]
während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.
Entfremdung und Zugehörigkeit sind die zwei Pole unserer allergrundsätzlichsten Wahl, Synonyme für Sünde und Erlösung.
Das Wort «Sünde» wird heute so leicht missverstanden, dass es schon fast unbrauchbar wird.
Die Wirklichkeit jedoch, die einst Sünde genannt wurde, gibt es noch immer, und so musste unsere Zeit ihren eigenen Terminus dafür finden.
Was in anderen Zeiten Sünde genannt wurde, nennen wir Entfremdung. Die Lebendige Sprache hat ein passendes Wort gefunden.
Entfremdung suggeriert eine Entwurzelung vom eigenen wahren Selbst, von anderen, von Gott (oder was sonst von fundamentaler Bedeutung ist), und all das mit einem einzigen Wort.
Auch das Wort «Sünde» suggeriert Entwurzelung und Absonderung.
Es hat den gleichen Wortstamm wie das mittelhochdeutsche «sunder» und das gotische «sundro», die beide «abseits, gesondert, für sich» bedeuten; ein Wortstamm, der heute noch im Wort «Sund», die Meerenge, gefunden wird, die einmal als «das, was Land und Inseln trennt» aufgefasst wurde.
Eine Handlung ist in dem Maße sündig, in dem sie Absonderung, Entfremdung verursacht.
Was aber nicht Entfremdung verursacht, ist keine Sünde.
Daraus die Konsequenzen zu ziehen, könnte sich für viele als befreiend, für andere als beschuldigend erweisen.
Es könnte eine signifikante Gewichtsverlagerung in der Ethik von privater Perfektion zu sozialer Verantwortung bedeuten.
Es könnte uns sehen helfen, dass heute «an unserer Erlösung arbeiten» bedeutet, Entfremdung in all ihren Formen zu überwinden.[2]
«Vergib uns unsere Schuld, bete ich und bemerke, dass ich oft ‹Schuld› sage, aber eigentlich ‹Sünde› meine ‒ also einen Verstoß gegen dein Gebot, gegen deinen ‹Willen›.
Dass ich tief im Herzen weiß, was du eigentlich ‹willst›, das beweist mir mein Schamgefühl beim Anblick der Ungerechtigkeit dieser Welt, wo Kinder hungern und Millionen ein menschenwürdiges Leben verwehrt wird. Doch du willst ‹Leben in Fülle›.
Meine Scham lässt mich fühlen, dass mein Versagen die zarte Vernetzung zerreißt, durch die alles mit allem verbunden ist ‒ verbunden auch mit dir.
Das Wort ‹Sünde› kommt ursprünglich von ‹absondern›.
Sünde meint einen Riss im Gewebe des Ganzen. Sie trennt, was zusammengehört, und das ist buchstäblich herzzerreißend.
Denn das Herz ist ‒ wie Rilke das so wunderbar ausdrückt ‒
‹das ins Ganze Geborne›.[3]
Wenn wir aus unserm Herzen leben, dann gehören wir dem Ganzen, dann werden wir ganz, dann werden wir auch das, was uns am Ganzen so schwierig erscheint, in uns aufnehmen, dann werden wir mit dem Ganzen auskommen.
Das Herz ist jener Bereich, wo wir am tiefsten und innigsten mit allem und allen und mit dem Göttlichen verbunden sind.
Darum findet sich das Herz nicht ab mit der Trennung und es mahnt uns, die Trennung zu überwinden.
Aber auch dort, wo unser Herz uns anklagt, dürfen wir dir vertrauen, denn du bist ‹größer als unser Herz und kennst uns durch und durch› (1 Joh 3,20).
Auf dein grenzenloses Verzeihen lass mich vertrauen und es freigebig weiterschenken. Amen.»[4]
Oft wird gesunder Menschenverstand gebraucht, um herkömmliche Annahmen zu bezeichnen, das genaue Gegenteil von voller Lebendigkeit.
Aber der gesunde Menschenverstand, von dem wir jetzt sprechen, ist so dynamisch, so lebendig, so weit, dass es allem, was wir tun und sind, eine neue Farbe, eine neue Note gibt.
Es ist ein sinnliches Wissen und es entspringt dem, was wir mit der ganzen Schöpfung gemein haben.
Unseren Erfahrungen wohnt die Erkenntnis inne, dass wir nicht getrennte Leiber sind, sondern dass in diesem Universum alles zusammenhängt, alles ist Teil von allem.
Aus diesem Bewusstsein entspringt das einzige Wissen, das Sinn macht.
Dieses Wissen geht so tief, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen hat.
Es ist dem ganzen Universum gemeinsam. Wir müssen uns nur anschließen.
Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun.
Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden.
So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.
Er ist eine vibrierende Lebendigkeit zur Welt, in der Welt und für die Welt.
Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit.
Gesunder Menschenverstand ‒ gerade, weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben ‒, zieht keine Grenzen.
Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschließt.
Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört.
Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten:
Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschließen.
Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein.
Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden.
Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden-Familie sind.
Diese globale, alles einschließende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem «Reich Gottes» meinte.
Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt.
Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff Autorität.[5]
Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.
Laotse bezeichnete sie als Dao[6] und Heraklit nannte sie Logos.
In dem Satz «Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort» (Markus 4,33) verwendet Markus für «Wort» diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.
Wäre der Begriff «Heiliger Geist» nicht die altehrwürdige Bezeichnung einer für uns ganz wesentlichen Erfahrungswirklichkeit, wir würden ihr heute sicher einen anderen, für uns aussagekräftigeren Namen geben.[7]
«Geist» intendiert schnell die Bedeutung Gespenst und das Wort «heilig» hat heute zu viele Anklänge an «scheinheilig»; es lässt kaum noch an «Heil-» und «Ganzsein» denken, es weckt auch nicht mehr das Empfinden des Überwältigenden und Atemberaubenden einer numinosen Wirklichkeit.
Wollten wir heute einen neuen Begriff für jene unendlich schöpferische Lebenskraft und Harmonie finden, die alles mit allem verknüpft und die Quelle des Lebens schlechthin ist, so würde sich die Bezeichnung Common Sense dafür sehr gut eignen.
Auf jeden Fall wäre es eine inspirierende Übung, überall dort, wo man den Begriff «Heiliger Geist» liest oder hört, stattdessen einmal Common Sense einzusetzen. Dann wäre die Tragweite des Gemeinten wieder deutlicher spürbar.
Jesus hielt sich an seine jüdische Überlieferung und sprach von seiner Vision einer neuen, harmonischen Weltordnung als dem «Reich Gottes».
«Reiche» kommen heutzutage fast nur noch in Märchen vor.
Die Vorstellung von Gott als einem im Himmel thronenden «König aller Königreiche» spricht uns nicht mehr an.
Für unser Weltverständnis ist die Autoritätspyramide mit einem König oder Gott an der Spitze ein nicht mehr nachvollziehbares Modell; dem neu aufdämmernden Weltverständnis entspricht eher der Begriff, den der amerikanische Dichter Cary Snyder prägte: Earth Household ‒ «Erd-Haushalt».[8]
In diesem Erd- oder Welt-Haushalt ist Autorität nicht etwas, was von außen und oben einwirkt, sondern sich von innen her meldet:
Der Common Sense gewährleistet, dass alle mit allen harmonisch zusammenarbeiten. Das «Reich Gottes», in das Jesus uns ruft, ist der «Gottes-Haushalt».
Tatsächlich spricht er ja von Gott nicht als unserem König, sondern von Gott als unserem Vater; und der mütterliche Geist (im Hebräischen ist «Geist» weiblichen Geschlechts) ist der alles durchwaltende, kosmische Familiensinn, der Common Sense.
lm Gottes-Haushalt muss die Liebe zur Macht der Macht der Liebe weichen.
«Je kleiner die Eidechse, desto größer ihr Ehrgeiz, ein Krokodil zu werden», sagt ein äthiopisches Sprichwort.
Ob das für Eidechsen stimmt, weiß ich nicht sicher, aber auf uns Menschen trifft das Streben nach mehr jedenfalls zu.
Je mehr Macht einer hat, desto höher steht er in der Autoritätspyramide der ehrgeizigen Welt.
Aber im Himmelreich, im Gottes-Haushalt, gelten die Autoritätsstrukturen eines Haushalts.
Hier bekommt Autorität, wer dient:
«Der Größte unter euch soll der Geringste sein und der Höchste der Diener aller» (Lukas 22,26).
Wer im Gottes-Haushalt Autorität besitzt, muss seine Macht dazu nutzen, alle ihm Untergebenen zu fördern, damit sie eigenständig werden.[9]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 4f., 9]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Ökologie:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott / (07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes / (39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)
1.2. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(37:38) Was ist unsere Aufgabe in einer Welt, in der sich die Machtpyramide durchsetzt? Da gibt es nur Widerstand in einer Welt, in dem die Mächtigen ein Klima der Angst schaffen: ‹Fürchtet euch nicht›: Jesus lebt diese völlige Furchtlosigkeit, weil er in Gott eingebettet ist. Und wir sind furchtlos in dem Maß, in dem wir in Gott eingebettet sind. Sünde meint Absonderung, was uns trennt von Gott, von unserer eigenen Tiefe und den Andern, und äußert sich am meisten in Furcht
1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Fragerunde nach dem Vortrag:
Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 3: «Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht» (Angelus Silesius):
(11:51) In der Schule der Wüstenväter und Wüstenmütter: Drei Hauptsünden: 1. Ungeduld, Zorn ‒ 2. Lust im Sinn von ‹sich anklammern› ‒ 3. Faulheit, Acedia, Traurigkeit
1.4. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag; siehe auch die Mitschrift des Vortrags:
(12:17) ‹Das Herz, das ins Ganze geborne› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
Diskussion:
(00:00) Das Herz ausschütten – heil, heilen, heilig ist nicht dasselbe wie Gesundheit, sondern ein Ganzmachen
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(00:28) ‹Immer wieder von uns aufgerissen, ist der Gott die Stelle, welche heilt› (Rilke, Die Sonette an Orpheus, 2. Teil, XVI)
1.5. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
Wir sind erlöst! – der andere Blick auf Gewohntes
1.6. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
4.1 Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche (siehe auch Text Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche):
(50:31) Ursprüngliches Heilsein und Erbsünde
4.2 Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Heilsein, Dukkha, Sündenfall, der Klammergriff der Angst
1.7. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(14:56) Die Entscheidung für das Leben oder für Tod im Mythos vom Sündenfall. Der Baum des Lebens im Paradies und das Kreuz an dem sich die Geister scheiden: ‹Wenn wir uns fürs Leben entscheiden, werden wir von der Welt, die tot ist, aber sehr mächtig, getötet werden früher oder später›
(18:35) ‹Da ging ein Riss durch deine reifen Kreise› (Rilke, Ich lese es heraus aus deinem Wort, Das Stunden-Buch)
(20:12) Der neue Adam hat das Gottgleichsein nicht wie der alte an sich gerissen: Bruder David liest und deutet Phil 2,6-11
2. Das Vaterunser (2022): ‹Schuld als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 80f.:
Brigitte Kwizda-Gredler: «In unseren Gesprächen haben wir immer wieder das Bild des Tanzens zur großen kosmischen Musik verwendet. Da wird dann die Verfehlung zum Nicht-auf-die-Musik-Hören und deshalb zum Schritt, der nicht dem Takt folgt.»
Bruder David: «Diese drei Bilder von Sünde als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen weisen auch recht deutlich darauf hin, wie wir die Verfehlung gutmachen können: durch das sorgfältige Wiederverweben von Beziehungen; durch Wiederherstellung eines ausgewogenen Austausches; durch achtsames Hinhorchen auf die Musik des Lebens.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Und wo passt da die christliche Lehre von der ‹Erbsünde› herein?
Bruder David: «Das Wort ‹Erbsünde› ist entschieden obsolet, schon deshalb, weil es einfach irreführend ist. Die schmerzliche Erfahrung aber, die zur Vorstellung der Erbsünde geführt hat, ist keineswegs auf das Christentum beschränkt. Buddhisten verwenden dafür das Wort ‹dukkha›, hinter dem ursprünglich das Bild von einem Rad steht, das nicht richtig auf der Achse sitzt.
Für Buddhisten bedeutet es, dass das menschliche Dasein seit undenklichen Zeiten gründlich aus der Bahn geworfen ist. Und in diese Situation werden wir hineingeboren. Wir ererben sie, sozusagen. Heute würden wir eher sagen: Wir nehmen am systemischen Übel der Welt teil, ob wir es verschulden oder nicht! Als Einzelne sind wir dem System nicht gewachsen. Darum ist die Antwort der christlichen Tradition: Du musst aussteigen aus dem tödlichen System und einsteigen in das lebensspendende Reich Gottes.»]
_____________________
[1] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI; siehe den Text in Stille leben: Anmerkung 1
[2] Der Text ist eine Komposition von Passagen in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 33f. mit 184f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 31f. und 185f.]
[3] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II; siehe die Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.
[4] Das Vaterunser (2022): ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern›, 75f.
[5] Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 4
[6] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:
«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»
[7] Auf dem Weg der Stille (2016), 72f.; siehe auch Hausverstand, Ergänzend: 2.:
«Der Begriff ‹spirit› (‹Geist›) ist schon derart missbraucht worden, dass ich überglücklich wäre, wenn man ihn vollständig fallen lassen und stattdessen immer von ‹common sense› sprechen würde. In unserer heutigen Umgangssprache bezeichnet dieser Ausdruck das Gemeinte viel besser. Er ergibt Sinn; er ist über die Sinne mit dem Körper verbunden; er ist gemeinschaftlich (common), grenzenlos gemeinschaftlich.»
[8] ERDHAUSHALT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134f.:
«Erdhaushalt ist ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (*1930) geprägt hat. Dieses Wort veranschaulicht, dass unsre Umwelt zugleich Mitwelt ist, der wir uns verwandt fühlen dürfen und von der wir ernährt werden. Statt Umwelt Erdhaushalt zu denken und zu sagen, verändert ganz von selbst unsre Haltung, was zugleich zeigt, welche Wirkkraft Worte besitzen.»
[9] Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 55, 59-61
Kreuz und Erlösung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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Wenn wir uns eingehender damit befassen wollen, was Erlösung im christlichen Sinn bedeutet, müssen wir bei der Aussage beginnen, dass Jesus die Menschen rettete, lange bevor das Kreuz in Sicht war.
Er rettete die Menschen, indem er sie dazu brachte, auf eigenen Füßen zu stehen.
In diesem Sinn verstanden seine Zeitgenossen ihn als Retter.
Er gab ihnen ihre Selbstachtung und ihre tiefste Beziehung zurück ‒ die Beziehung zu Gott, zum Allerhöchsten ‒, indem er sie daran erinnerte, dass sie nie verloren gegangen war.
Jesus sagte nicht: «Hier hast du etwas, ich gebe es dir» oder: «Ich vergebe dir deine Sünden.»
Jesus sagte: «Deine Sünden sind vergeben», mit der implizit darin enthaltenen Frage: «Weißt du das denn nicht?»
Es waren seine Gegner, die sagten: «Wer ist dieser Kerl, der den Leuten die Sünden vergibt? Nur Gott kann Sünden vergeben.»
Natürlich sahen die politischen und autoritären religiösen Obrigkeiten seiner Zeit nicht gerne, dass er Menschen auf diese Weise rettete, genauso wenig, wie ihre heutigen Entsprechungen in Mittelamerika keinen gerne sehen, der den Menschen dort hilft, auf eigenen Füßen zu stehen.
Auch wenn man die Evangelien als spätere Berichte über Geschehnisse, die sich eine geraume Zeit davor zugetragen hatten, betrachten muss, so geht doch ziemlich deutlich daraus hervor, dass seine rettende Aktivität zum Kreuz führte und dass Jesus das Kreuz willentlich als ein freies, bereitwilliges Opfer für seine Sache, für das, wofür er einstand, und auch als Geste des Gottvertrauens auf sich nahm.
Nachdem er von der etablierten Gesellschaft aus dem Weg geräumt worden war, erkannten seine Nachfolger ‒ auch wenn sie zuerst tief bestürzt waren und in alle Winde zerstreut wurden ‒, dass ein solches Leben nicht mehr auszulöschen war.
Und das nennen wir die Auferstehung.
Sie wird uns in mythischen Bildern überliefert, und wir können den Geschehnissen nicht nachgehen, um festzustellen, was historisch wirklich geschah; um das geht es uns auch nicht.
Wichtig ist offensichtlich, dass er starb und dennoch lebt.
Wir können das nicht dadurch belegen, dass wir zweitausend Jahre zurückgehen, sondern es ist vielmehr etwas, das heute in zahllosen Lebensgeschichten geschieht und erfahrbar ist:
Er hat uns befreit.
Christus lebt in denen, die seinem Weg folgen, und sie leben in ihm.
Das ist die höchste Art der Rettung. Sie leben durch sein Leben und werden ihrerseits Retter für andere.
Heutzutage ist mir noch keiner begegnet, dem es Schwierigkeiten gemacht hätte, das zu verstehen, aber viele haben enorme Probleme mit der Auffassung, dass «er für unsere Sünden gestorben ist», wie man im Kindergottesdienst lehrt.
Jesus lebte und starb, um der Entfremdung von unserem wahren Selbst ein Ende zu setzen, der Entfremdung von anderen und von der allerhöchsten Wahrheit. Er hat für dieses Ziel gelebt und musste sterben, weil er entsprechend lebte. In diesem Sinn ist er «für unsere Sünden» gestorben».
Unglücklicherweise ist das über die Jahrhunderte hinweg in einer beinahe juristischen Sprache übermittelt worden; als wäre es eine Art Transaktion oder ein Handel mit Gott:
Es gab einen Graben zwischen uns und Gott, und jemand musste dafür aufkommen.
Diese ganzen Geschichten können wir vergessen.
Das juristische Bild scheint anderen Generationen geholfen zu haben. Schön und gut. Alles, was hilft, ist in Ordnung. Aber wenn es zum Hindernis wird wie heute, sollten wir es vergessen. Wir brauchen diese Sprache nicht zu sprechen. Wir können die Dinge ruhig so beschreiben, wie ich es eben getan habe.
[Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast, Teil 1: ‹Der Erlöser und der Weise›, 75-77; siehe auch ST 37-39 unter dem Titel ‹Erlösung›]
[Ergänzung:
Audios
1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»:
(00:00) Warum musste Jesus Christus am Kreuz sterben? Und: Wie hat das uns erlöst? Die Antwort von Anselm von Canterbury (1033-1109)[1] / (04:20) ‹Weil Gott der Vater es so wollte› ‒ diese Antwort ist ungenügend, weil die Frage zunächst eine geschichtliche Frage ist, die man geschichtlich beantworten muss. / (05:43) Die Antwort von Bruder David: Das Leben Jesu steht für die entscheidende Wende in der Religionsgeschichte: Jesus verlegt die göttliche Autorität in die Herzen seiner Zuhörer[2] / (09:38) Die Pointe der Gleichnisse Jesu: ‹Ihr wisst es doch: Warum handelt ihr nicht danach›? / (11:19) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Schriftgelehrten› ‒ ‹Deine Sünden sind dir vergeben›: Jesus ermächtigt die Menschen ‒ Konflikt mit den autoritären Autoritäten / (13:14) Zuviel Verantwortung: Die Massen lassen ihn fallen / (15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung / (17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen
2. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
3. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
‹Wir sind erlöst!› – der andere Blick auf Gewohnte: ‹Das Kreuz auf sich nehmen›, ‹Bekehrung›, ‹Busse›
4. Audio Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Transkription Teil II, 13f.:
(19:44) Erlösung in biblischer Schau:
«Das ist das Urwesen des Christlichen, dass Gott uns nicht so von außen erlöst, sonst müsste man ja diese ganze christliche Geschichte gar nicht haben, sondern, dass die Erlösung von innen kommt, durch einen, der uns gleich ist in allem. Das ist ausdrücklich gesagt von Christus:
Jesus Christus ist uns in allem gleich außer in dieser Entfremdung, in der Sünde ‒ richtig verstanden ‒ in der Vereinzelung, in der Verelendung, in der inneren Abspaltung von unserem göttlichen Kern, von unserem innersten göttlichen Wesen.»]
______________________
[1] Bruder David erklärt die Satisfaktionslehre, die Anselm von Canterbury in seinem Buch «Cur Deus homo» vertritt: «Wie Anselm von Canterbury für seine Zeit gesprochen hat, müssen wir heute das für unsere Zeit sagen können.»
[2] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»
Erlösende Kraft
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Noch bevor die Christen als solche bezeichnet wurden, waren sie als die «Weggemeinschaft» oder «die Leute, die auf dem Weg sind» bekannt.
Damit war der Weg der Erlösung gemeint.
Sie nannten ja auch Jesus nicht nur den «Erlöser», sondern auch den «Weg» ‒ den Weg in die Freiheit, könnten wir sagen. Das Ziel dabei ist die Freiheit.
Dieses Wort drückt besser aus, was mit Erlösung eigentlich gemeint ist, nämlich Befreiung.
Schon sich auf den Weg machen, wirkt bereits befreiend.
Stetig voranzuschreiten führt uns aber zu immer größerer Freiheit.
Verbundenheit befreit.
Und gläubiges Vertrauen verbindet uns mit dem Großen Geheimnis.
Hoffnungsvolle Bereitschaft, Schritt für Schritt authentischer zu werden, verbindet uns mit unserem wahren Selbst.
Und unser liebendes Ja zur Zugehörigkeit verbindet uns mit allen Lebewesen.
Diese drei Bande der Verbundenheit aber zerreißt die Sünde.
Erlösung aber erleben wir ‒ als Gabe und Aufgabe zugleich ‒ in drei Formen der Verbundenheit.
Der Glaube befreit unser Herz durch Vertrauen auf die absolute Vertrauenswürdigkeit Gottes.
Die Hoffnung erlöst uns durch die Offenheit für Überraschung auf jedem Schritt des Weges.
Und die Liebe heilt uns durch die Herzenswärme, mit der wir das Ja Gottes empfangen und tatkräftig weiterschenken.
Letztlich geht es um das «Wirklichwerden», dieses Wort fasst eigentlich das Wesen von Erlösung am besten zusammen.[1]
Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.
Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.
Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.
Deshalb sagte Rilke: «Jeder Engel ist schrecklich.»
Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel?
Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.
«Denn das Schöne», sagt Rilke, «ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.»[2]
Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben.
Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.
T. S. Eliot bemerkt: «Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.»[3]
Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben?
Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch «Der Plüschhase»:[4]
Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:
«Tut Wirklichwerden weh?»
Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh?
Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:
«Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.»[5]
Unsere Erlösung beginnt mit der Besinnung und Rückbindung auf das Große Geheimnis, das uns alle verbindet. Aus dieser Verbundenheit heraus erwächst die Kraft des Guten zur Heilung unserer Umwelt sowie auch unserer Mitwelt.
Im privaten Leben heißt das:
Ich muss Verschuldung durch Vergebung gleichsam «auffüllen»,
Unversöhnlichkeit durch Verzeihung
Missmut durch Freudigkeit.
Auch Diskriminierung ist letztlich auf einen Mangel zurückzuführen, den Mangel an Einfühlungsvermögen.
Hier braucht es Aufklärung und Herzensbildung, aber die können wir wohl nur einer neuen Generation durch entsprechende Schulbildung vermitteln.
Erlösung vom Bösen fordert jedenfalls unseren ganzen Einsatz nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern ganz besonders auf der gesellschaftlichen.
Wenn wir mit der gleichen Herzenswärme die uns am nächsten ebenso wie die uns am fernsten Stehenden umarmen, dann schenkt uns das eine ungeahnte innere Weite und Freiheit.
In diesem Sinne können wir alle Vermittler der heilenden Kraft des Großen Geheimnisses sein, einer Kraft, die durch den ganzen Kosmos fließt. Und in diesem Sinne sind wir alle Priesterinnen und Priester.
Je mehr ich diese heilende, erlösende Kraft durch mich selbst hindurchfließen lasse, umso mehr macht mich das auch selbst mehr und mehr heil.
Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn wir diese erlösende Kraft fließen lassen und weitergeben, werden wir also ganz durchlässig für das Große Geheimnis.»
Bruder David: «Dazu fällt mir ein berührendes Beispiel ein. Zur Zeit, als die Schifffahrt noch die einzige Reisemöglichkeit zwischen Amerika und Europa war, stand meine Mutter im Hafen von New York an Deck der «Bremen». Unten am Pier bemerkte sie den tränenreichen Abschied einer großen italienischen Familie, die eine schwerbehinderte junge Frau im Rollstuhl einer Gruppe von Mitreisenden anvertraute. Im Laufe der Überfahrt nahm sich meine Mutter der jungen Frau an, die ihre winzige und überhitzte Kabine am untersten Deck nur mit großer Mühe verlassen konnte. Dabei erfuhr sie, dass sich die Familie nur ein einziges Ticket leisten konnte, und darum musste die Tochter alleine nach Lourdes reisen. In Frankreich angekommen, schiffte sich die Pilgergruppe, der Teresa anvertraut war, mit ihr in Le Havre aus. Meine Mutter blieb noch bis Hamburg an Bord, konnte aber lange nicht vergessen, mit welcher felsenfesten Hoffnung die Kranke um Heilung am Gnadenort gebetet hatte. Nach vielen Monaten kam ein Brief von Teresa: Sie hatte Lourdes nie erreicht. Kein Wort darüber, unter welchen Umständen sie alleine in einem Pariser Hotelzimmer zurückgelassen wurde. Doch schon das armselige Briefpapier schien zu strahlen: Aus dem Brief sprach nichts als überströmende Dankbarkeit für all die Hilfe und Segnungen, die Teresa von unzähligen hilfsbereiten Menschen erfahren hatte. Nichts als Freude, nun wieder mit ihrer Familie in den USA vereint zu sein. Der Brief sprach überhaupt nicht von Vergebung oder Heilung, aber er gab Zeugnis von Erlösung durch Liebe. Und bei Erlösung kommt es letztlich nur auf die Liebe an.[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.
Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:
Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.
Ich bleibe dem Leben etwas schuldig: mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.
Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.
Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒ an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.
Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5-7]
[Ergänzend:
2. Audios
2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(00:49) Verlässlichkeit und Lebensvertrauen in Extremsituationen
2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen / (20:22) Das Glaubensleben ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung / (23:22) Um den Glauben beten heißt, um Lebensvertrauen zu beten: Erlebnisberichte / (27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)
2.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(11:25) ‹Blumenmuskel, der der Anemone Wiesenmorgen› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V) ‒ ‹Meine Seele ist ein Weib vor dir› (Rilke, Das Stunden-Buch) ‒ ‹Was lehrt, was nährt das Leben? Lebendigkeit, Was lehrt, was nährt das Lebendigsein? Das Leben: Dieser Kreis der Liebe: Liebe ist das Ja zum Leben, das Ja zur Zugehörigkeit, das Ja zur Gemeinsamkeit ‒ Die Bekehrung ist der Übergang von der Gewalttätigsein zum Mitspielen, zum Mit-dem-Strich-des Lebens gehen, zur Offenheit, zur Empfänglichkeit›
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
(17:20) ‹O erst dann, wenn der Flug› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXIII): Das ‹reine Wohin› ist, was wir hier Leben genannt haben oder Hl. Geist. Wenn wir mit dem ‹reinen Wohin› gehen, dann gehen wir mit dem Strich, mit dem Fluss, mit dem Strom des Lebens. Und die Bekehrung ist der Übergang von dem gegen den Strich gehen, vom ‹unreinen Wohin› zu dem ‹reinen Wohin›
3. Weitere Texte
3.1. Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 4 «Mit Körper, Denken und Geist lebendig sein», 68f.; siehe auch in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht, Ergänzend: 3.3.:
«Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an die Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.
T. S. Eliot sagte: ‹Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit aushalten.›[8] Aber in verschiedenen Graden können wir die Wirklichkeit aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Wirklichkeit auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen, mit der ganzen Wirklichkeit, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen.»
3.2. Musik der Stille (2023): ‹Vesper: Das Lichteranzünden›, 122f.:
«Der Höhepunkt der Vesper[9] ist das Singen des Magnifikat, jenes Liedes im Lukas-Evangelium, das Maria zur Begrüßung ihrer Base Elisabeth singt:
‹Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.›
Dieses Lied, das Gott für unsere Rettung und letztendliche Versöhnung preist, wird jeden Tag das ganze Jahr hindurch zur Vesper gesungen. Der Abendgottesdienst sieht in der mütterlichen Gestalt Mariens die Mütterlichkeit Gottes, der uns bedingungslos liebt wie eine Mutter. Das Magnifikat zur Vesper entspricht der Hymne des Zacharias, die sich im selben Kapitel bei Lukas findet und in den Laudes gesungen wird. Dort verkündet Zacharias:
‹Gepriesen sei der Herr ... Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.›
Diese beiden großen Hymnen sind die Pfeiler des Morgens und des Abends, die den Tag stützen, und in beiden feiern wir unsere Erlösung.
Die Wurzel der Erlösung ist die Heilung des Grabens, der sich durch die Welt zieht, jener Spaltung, die wir als Entfremdung uns selbst und anderen gegenüber erleben und die uns von unserem Wesenskern fernhält; wir empfinden die Gesänge intuitiv als Gegenmittel.
Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln.
Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns.
Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.»]
_____________________
[1] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizia-Gredler mit Bruder David, 105f.
[2] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Erste Elegie
[3] «Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.
Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.»
(T. S. Eliot, Four Quartets, Burnt Norton, I)
[4] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Tedybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[5] Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 26f.; ebenso in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4.
[6] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 107-109
[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 23
[8] Bernardin Schellenberger übersetzt «reality» mit «Realität». Aber es geht um die numinose Wirklichkeit im Unterschied zu Realität im gängigen Sprachgebrauch des Wortes.
[9] Unter der ‹Vesper› (vom Lateinischen ‹vespera›: Abend) wird das kirchliche Abendlob verstanden. Die Vesper ist jenes Gebet, das nach Abschluss der Arbeit des Tages verrichtet wird.
Fließweg und Entscheidung
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
Beginnen wir mit einer Art von Erfahrung, die mehr Beachtung verdient, als man ihr gewöhnlich schenkt.
Es handelt sich dabei um oft dramatische Ereignisse, bei denen wir gar nicht Zeit haben, Entscheidungen zu treffen, und doch spontan genau das tun, was die Situation verlangt ‒ manchmal mit ganz außergewöhnlicher Kraft und Geschwindigkeit:
Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem heranrasenden Schnellzug von den Schienen.
Später weisen beide jede Anerkennung zurück:
«Es war schon geschehen,
bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken»,
sagen sie.
«Sie hatten nicht Zeit» nachzudenken.
Das ist der erste springende Punkt.
Wir dürfen den Satz auch umkehren und sagen:
«Die Zeit hatte sie nicht»
in ihrem Netz, denn sie waren ganz im Jetzt. Darum war die Entscheidung einfach da.
Und das ist der zweite springende Punkt: Wenn wir im Jetzt sind, ist die Entscheidung schon Tatsache ‒ auch in dem Sinn, dass die Scheidung von Ich und Selbst, die mich zum Ego macht, aufgehoben ist.
Sobald ich im Jetzt bin, kann die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließen.
Das ist wahre Freiheit.
Sobald ich im Jetzt bin, steht die angemessene Vorgehensweise klar vor mir und ich bin dafür bereit.
Was im entscheidenden Augenblick der Feuerwehrmann und die Mutter auf so außergewöhnliche Weise erlebten, das können wir alle, wenn auch weniger auffällig, im Alltag erleben, wann immer wir wirklich im Jetzt sind:
Ich und Selbst handeln dann als eine Einheit ‒ die Entscheidung entspringt wie von selbst den Gegebenheiten.
«Wie ist das gemeint?», wird sicherlich jemand fragen.
«Muss ich überhaupt noch entscheiden, wenn die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließt?»
Die Lebenskraft bewerkstelligt täglich tausende lebenswichtige Aufgaben für dich, die weit über deinen Verstand hinausreichen.
Sie reguliert deine Körpertemperatur, deinen Blutdruck, deinen Stoffwechsel und trifft unzählige andre dir unbewusste Entscheidungen.
Dich bei bewussten Entscheidungen in diese Wirkkraft einzublenden, kann Mühe kosten.
Wenn es sich um gewichtige Entscheidungen handelt, kann es sogar schwierige Erwägungen erfordern und langwierige Besprechungen mit andren, die von deiner Entscheidung betroffen werden.
Aber die eigentliche Entscheidung ist schon getroffen. Sie lautet:
«Ich will mich auf die Weisheit des Lebens verlassen.»
Daher geht es nun nur noch um ein fragendes Hinhorchen:
«Was will das Leben jetzt von mir?» ‒
Es geht um ein vertrauensvolles Sich-Verlassen auf die Weisheit des Lebens.
Und es geht darum, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren.
Wenn du deine Aufgabe so verstehst, kannst du die «Qual der Wahl» dem Leben überlassen und die Last der Entscheidung fällt von deinen Schultern.
«Sich auf die Weisheit des Lebens verlassen»
und «ins Jetzt zurückkehren» ist ein und dasselbe.
Denn was du verlässt, wenn du «dich verlässt», ist das Ego.
Es gibt freie und unfreie Handlungen.
Ich-Selbst bin immer frei; mein Ego nie.
Das Ego will mit Gewalt starr und eigensinnig seine Pläne durchsetzen, wird dabei aber von der Strömung des Lebens überrollt.
Das «lch-Selbst» schwimmt in dieser Strömung, sie vertrauensvoll, zielbewusst, geschickt und vor allem gewaltfrei nutzend.
Die einzig wahre Freiheit ist Gewaltfreiheit ‒ das lch-Selbst tut der Wirklichkeit keine Gewalt an.
Die einzig freie Entscheidung ist die Heimkehr des Ich zum Selbst ‒ seine Befreiung aus der Scheidung zwischen den beiden, die es zum Ego machte.
Furcht will sich an die Vergangenheit klammern, Wunschträume schweben in der Zukunft herum, aber nur im Jetzt können wir uns nüchtern den Forderungen des Lebens stellen.
Das Ego ist niemals im Jetzt; es ist immer in Vergangenheit oder Zukunft verfangen.
Aber indem ich mich im Jetzt sammle, komme ich heim zu mir selbst ‒ zum lch-Selbst.
Das Selbst ist eins und macht uns alle eins.
Als «lch-Selbst» handle ich aus dem Bewusstsein dieses Eins-Seins mit allen.
Aber dieses «radikale Ja zur Zugehörigkeit» ist unsre Definition für Liebe.
Kein Wunder also, dass das Wort «frei» ‒ wie auch «Freund» ‒ von einer indogermanischen Wurzel stammt, die «lieben» bedeutet.
Und kein Wunder, dass der heilige Augustinus sagen kann:
«Liebe und tue, was du willst.»
Freiheit ist nicht die Fähigkeit des Egos, das zu tun, was ihm in den Sinn kommt ‒ willkürlich.
Echte Freiheit stellt sich ‒ bereitwillig ‒ auf das innerste Leitprinzip des Lebens ein.
Sie sagt in Liebe «ja» zur Gemeinschaft aller mit allen und kann daher tun, was sie will.
Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das Tao.
«Watercourse Way» nennt Alan Watts das Tao auf Englisch.
Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden, obwohl es nur Fachwörterbücher zu kennen scheinen.
Um mit dem Tao zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum «Anfängergeist» des Kindes zurückfinden.
Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt.
«Du hast noch kein lch, das sich von dem,
was geschieht, unterscheidet»,
wie Alan Watts es ausdrückt.
«Deshalb geschieht dir auch nichts. Es geschieht einfach.»
Du nimmst teil, sagt er, an
«den wundervollen Tanzfiguren... fließenden Wassers.»
Später gewinnen wir ein reflektiertes Bewusstsein von Ich und Selbst, aber gleichzeitig verlieren wir dieses Im-Fluss-Sein.
Dieser Verlust lässt sich jedoch vermeiden.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im «Fließweg».
Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.
Wie beim Baby «geschieht einfach» das Lebensbejahende, aber wie bei der oben erwähnten Mutter und dem Feuerwehrmann geschieht es mit unsrer Zustimmung.
Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.
Wie können wir aber sicher sein, dass wir im Einklang mit dem Universum entschieden haben?
Leider lautet die ernüchternde Antwort: 100% sicher zu sein, können wir niemals erwarten.
Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, wie vieles in jede Entscheidung hineinspielt und wie geschickt wir uns selber, beeinflusst von schlechten Gewohnheiten, etwas vormachen können, dann werden unsre Erwartungen bescheidener ausfallen.
Wir werden uns ehrlich bemühen, unser Bestes zu tun, und alles Übrige vertrauensvoll dem Leben überlassen. Erst dann sind wir wahrhaft frei.
Diesen Befreiungsprozess immer besser verstehen und ihm immer getreuer folgen zu lernen, ist eine lebenslange Aufgabe.[1]
«Und was du über die Zeit gesagt hast, das gibt den meisten Menschen einen verhältnismäßig leichten Einstieg zu dem, denn wir sind uns dessen bewusst, dass wir sehr selten wirklich im gegenwärtigen Augenblick sind.
Wir hängen an der Vergangenheit und wir strecken uns auch aus auf die Zukunft und es bleibt sehr wenig von unserem Bewusstsein übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.
Wenn wir lernen können, einfach hier zu sein, nicht viel zu denken, — unser Denken führt uns nicht dorthin, unser Denken lenkt uns ständig ab vom Bewusst-sein.
Wir sprechen vom Bewusstsein und denken ans Denken, wir sollten die Betonung auf das Sein legen, das bewusste Sein, wo das Denken keine große Rolle mehr spielt.
Wir können das Denken verwenden wie ein Werkzeug, aber jetzt ‒ wie die meisten von uns das erleben ‒ werden wir das Werkzeug des Denkens.
Alle großen Erfindungen werden gemacht, ohne dass der Erfinder denkt.
Er denkt sehr viel vorher und nachher, aber die wirkliche Erfindung bricht durch in einem Augenblick, in dem man nicht denkt.
Alle großen künstlerischen Schöpfungen kommen von irgendwo, aber jedenfalls nicht aus dem Denken.
Und so auch für uns.
Wenn wir lernen können, das Denken als Werkzeug zu gebrauchen, und nicht immer vom Denken versklavt zu sein, dann können wir auch im gegenwärtigen Augenblick bewusst sein.»[2]
(Eröffnungsvortrag 24:59:) Und die Lebensreise ist das Leid. ‒
Das überrascht uns ‒ vielleicht ‒, besonders, wenn wir noch jung sind. Es ist aber auch in der Philosophie, die in unserer Sprache enthalten ist, völlig klar angelegt.
Denn «Leiden» heißt ursprünglich: «gehen», «fahren», «reisen».
Leiden hat ursprünglich überhaupt nichts zu tun mit erleiden.
Und wenn das Leben der Leib[3] ist, dann gehen die, die wirklich im Leib leben weiter und erfahren in ihrer Lebendigkeit das Leben.
Die aber nicht im Leib leben, die bleiben nur am Leben picken und sind die noch nicht Gestorbenen: Die pickenbleiben.[4]
Und das bringt uns zu der weiteren Frage: Was ist denn dann eigentlich das Leidige am Leid?
Und da zeigt sich, dass «Leid» im Sinn von «das Leidige» überhaupt nicht verwandt ist mit dem Wort «Leiden». Das sind zwei völlig verschiedene Wortwurzeln.
Das «Leiden», das ursprünglich «leben», «fahren», «reisen» bedeutet ‒ «gehen» auch ‒, kommt von einer Wurzel her, und das «Leid» ist ein anderes Wort, das ursprünglich das «Widerwärtige» bedeutet.
Und erst langsam, langsam vermischen sich die beiden, denn heute, wenn jemand sagt das «Leiden» und das «Leid», so ist das fast nur ein stilistischer Unterschied. Man kann das vollkommen mischen.
Wir haben die beiden eben irrtümlich so vermischt. Und erst, wenn wir die wieder auseinandernehmen, und sehen, dass «leiden» gar nicht unbedingt etwas Leidiges sein muss, weil es ursprünglich nicht das «Leidige» bedeutet, dann beginnen wir darüber nachzudenken, was denn eigentlich das Leiden leidig macht.
Das Wort «leidig» bedeutet ursprünglich «hässlich», «ungut», «unangenehm», hauptsächlich aber «widerwärtig».
Und «leider» ‒ wenn wir sagen «leider» ‒, das ist eine Steigerungsstufe: «Leid und noch Leider». Das gehört alles zusammen.
Und das «Widerwärtige» ‒ «wider» heißt «gegen» und «wärtig» ist so wie wir sagen «ostwärts» und «westwärts»: das ist die Richtung ‒ das «Widerwärtige», also das «Leid», ist das, was gegen den Strich geht.
«Leidig» ist alles, was gegen den Strich geht, was uns widerwärtig ist.
«Leiden» ‒ gehen, fahren, reisen, erfahren, erleiden ‒, ist das mit dem Strich gehen.
Das ist unsere große Herausforderung:
Wir können im Leben entweder mit der Maserung hobeln oder gegen die Maserung hobeln.
Wir können mit dem Strich gehen oder gegen den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:
Wir können mit dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.
Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die mit dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben gegen den Strom schwimmen müssen.
Und darum schwimmen so wenige mit dem Strom des Lebens.
Zu dem Wort «Leid», «leidig» ‒, wenn wir sagen: «Das tut mir leid» oder «ich hab‘s leidig» ‒, gehört die «Widerwärtigkeit». ‒
Zu dem Wort «leiden»: leben, erfahren, fahren, gehört das Veranlassungswort «leiten», das auch zu «Lotse» gehört:
Eigentlich heißt das «gehen machen» ‒ «Leiten» ist «gehen-machen», veranlasst uns zu gehen.
Und da, wenn wir sehen, dass etwas uns leiten kann im Leiden ‒ durch das Leben gehen und das Leben erleiden ‒, dann müssen wir uns fragen:
Was ist denn dann die leitende Kraft?
Und da ist die Antwort:
Die leitende Kraft ist das Leben selbst.
Wenn wir wirklich uns dem Leben hingeben, dem Lebensstrom, der in der Quelle des Herzens aufspringt, dann werden wir durch das Leben geleitet.
Das Leben selbst leitet uns, wenn wir uns nicht diesem Lebensstrom verschließen, abkapseln, stehenbleiben, steckenbleiben und unser Herz verschließen.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f. und 5]
[Ergänzend:
1. Krise
2. Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019) und Mitschrift 10f.:
(47:43) «Eine Frage, die man sich stellen könnte ‒ so wie:
Habe ich das Leben oder hat das Leben mich? ‒
Führe ich mein Leben oder führt mich etwas im Leben?
Und natürlich die ganze Idee von Augenblick für Augenblick hinhorchen, stillwerden ‒ hinhorchen und dann antworten.
Und das heißt, dass das Leben mich führt.
Und Lebensvertrauen ist das Vertrauen darauf, dass das Leben mich führt.
Je älter ich werde, umso klarer ist es mir, dass alles Pläne machen, ungeheuer gefährlich ist.
Augenblick für Augenblick gibt uns das Leben ja schon alles, was wir brauchen für den nächsten Augenblick, und wenn wir da unsere eigenen Ideen haben, kommen die so leicht in den Weg.
Alan Watts ‒ vielleicht kennt Ihr seine Bücher ‒, er hat auch sehr viel getan, den Buddhismus im Westen verständlich zu machen, und er hat seine Autobiographie genannt: In my own way:
Das kann einerseits heißen: Ich bin meinen eigenen Weg gegangen, aber es kann auch heißen: Ich bin mir ständig in den Weg gekommen. ‒ Absichtlich hat er so formuliert.
Also sich vom Leben führen lassen: Wie kann man das?
Das ist so ein leuchtendes Beispiel: Menschen, die sich vom Leben führen lassen: Das führt dann viele andere einfach durch die Leuchtkraft schon.»
3. Audios
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:
(01:32:46) Das Leben durch uns fließen lassen, dann ereignet sich Lebensbejahendes ‒ Sehr häufig kommt das zustande, was wir wollen, wenn wir nicht mehr drücken ‒ Situationen, in denen wir nicht Zeit gehabt haben, uns etwas zu überlegen und ganz genau das Richtige getan haben
(01:36:02) Was will jetzt das Leben? ‒ Gerade die Bemühungen können in den Weg kommen: Vielleicht hat das Leben etwas anderes vor ‒ Tun, was wir freudig tun, wozu wir begabt sind ‒ Was bietet mir das Leben für eine Gelegenheit an? ‒ Bruder David bringt ein witziges Beispiel und lobt den Willen und die Hingabe von Menschen, die im Leben immer wieder anstoßen
Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
‹Jeden Tag stehen wir vor der Entscheidung›]
________________________
[1] Orientierung finden: ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 86-89
[2] Transkription des Gesprächs von Willigis Jäger mit Bruder David im Film 1 der DVD ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Aurum Verlag in
J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH und Benediktushof 2006
[3] Siehe im Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(19:04) leben, kleben und Leben, Leib
[4] Sitzen bleiben, zurück bleiben, hängen bleiben, kleben bleiben (Bruder David sagt: «bickenbleiben»)
[5] Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(24:59) Was die Sprache uns lehrt anhand der beiden Wortwurzeln ‹Leid› im Sinn von ‹gehen›, ‹fahren›, ‹reisen› und ‹Leid› im Sinn von ‹das Leidige›, ‹Widerwärtige›
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 23f.
Kreuz und Auferstehung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Jesus verkündet die unter uns wirksame erlösende Kraft Gottes, und er appelliert an den gesunden Menschenverstand, an den Gemeinsinn.
Es ist unser Gemeinsinn, er ist uns allen gemein.
Und er hat etwas zu tun mit der Sinneserfahrung.
Es gibt zwei sehr wichtige Aspekte der christlichen Mystik: die Betonung der Gemeinschaft und die Betonung der Sinneserfahrung. Beide sind in dem Begriff Gemeinsinn enthalten.
Auf diesen Gemeinsinn beruft sich Jesus stets.
Diese Tatsache ist wichtig, wenn wir Jesus und den mystischen Durchbruch, der sich bei ihm und durch ihn einstellte, verstehen wollen.[1]
Fragen Sie sich selbst: Auf welche Autorität berief sich Jesus?
Die Antwort lautet: Auf den Gemeinsinn.
Wenn Sie in die Kirche gehen und Predigten hören, gewinnen Sie unter Umständen den Eindruck, Jesus habe sich auf die Autorität Gottes berufen, so wie seit alters die Propheten.
Doch bei genauerer Betrachtung stellen wir fest, dass Jesus nie die typische prophetische Formel benutzte: «Also sprach der Herr …»
Er berief sich nicht einfach auf die Autorität Gottes und am allerwenigsten auf seine eigene. (Leute, die das tun, können kaum jemanden für sich gewinnen. Schon aus diesem Grund können wir überzeugt sein, dass er es nie tat.)
Er berief sich auf die göttliche Autorität in den Herzen seiner Zuhörer, auf den Gemeinsinn.
Aus diesem Grund geriet Jesus auch in Schwierigkeiten, kam es zu der historischen Krise in seinem Leben.
Jemand, der sich auf den Gemeinsinn beruft, gerät zwangsläufig in Konflikt mit den Autoritäten.
Sowohl für die religiösen als auch für die politischen Autoritäten ist niemand verdächtiger als jemand, der gelernt hat, auf seinen eigenen Füßen zu stehen, und der dies anderen vermittelt.
So jemand war Jesus, und solche Menschen sind auch die Mystiker. Die Mystiker geraten ständig in Schwierigkeiten mit religiösen Autoritäten, häufig auch mit politischen Autoritäten.
Durch seine Lehre und sein Leben trieb Jesus einen Keil zwischen den Gemeinsinn und die öffentliche Meinung. Er berief sich auf den Gemeinsinn und machte dadurch den Anspruch der öffentlichen Meinung völlig zunichte.
Aus diesem Grund berichtet Markus auch, dass die einfachen Leute sagten:
«Donnerwetter, dieser Mann spricht mit Autorität, nicht so wie unsere Autoritäten.»
Sie können sich vorstellen, was die Autoritäten davon hielten und wie sie reagierten, nämlich: Dieser Mann muss sterben.
So teilen es uns auch die Evangelien mit.
Wir sagten ‒ Sie erinnern sich -, dass Religion mit der Mystik beginnt und sich schließlich zu Lehre, Moral und Ritual verfestigt.[2]
Aus diesem Grund wird Jesus auch in den Evangelien etwas schematisch gegen drei Gruppen von Autoritäten abgesetzt: gegen die Schriftgelehrten (stellvertretend für die Lehre), die Rechtsgelehrten (stellvertretend für das Gesetz), und die Pharisäer (stellvertretend für das Ritual).
Die Evangelien selbst und auch das übrige Neue Testament beweisen ‒ sonst würden wir es ja gar nicht wissen ‒, dass es hervorragende heilige Schriftgelehrte, Rechtsgelehrte und Pharisäer gab.
Doch sie werden jeweils als Typus dargestellt, und als solche gibt es sie auch heute noch. In jeder Kirche kann man den Schriftgelehrten, den Rechtsgelehrten und den Pharisäern begegnen.
Wir finden sie aber auch in unserem eigenen Inneren. Sie stehen für den toten Buchstaben im Gegensatz zur persönlichen Erfahrung, für den Legalismus im Gegensatz zu einem Handeln, das aus einem lebendigen Zugehörigkeitsgefühl entspringt, und für den Ritualismus im Gegensatz zu einer Feier des Lebens als Ganzes.
Jesus bekam aber nicht nur Schwierigkeiten mit den religiösen, sondern auch mit den politischen Autoritäten.
Am Ende machten sie gemeinsame Sache und löschten ihn aus.
An diesem Punkt trat das Kreuz in das Leben Jesu.
Wir können das Kreuz ‒ wie in der christlichen Tradition geschehen ‒ auf vielfache Weise interpretieren, doch wir gehen am Wesentlichen vorbei, wenn wir nicht beachten, welche historische Rolle es spielte.
Jesus musste sterben, weil er die Grenzen des Bewusstseins durchbrach, weil er die Grenzen dessen durchbrach, was es bedeutet, religiös zu sein.
Wir sollten uns selbst lieber fragen, ob wir den Mut besitzen, uns für den Gemeinsinn gegen die öffentliche Meinung einzusetzen.
Wir gehen ein großes Risiko ein, wenn wir uns von den Gleichnissen mitreißen lassen.[3]
Wenn ich einmal «Ja» zum Gemeinsinn gesagt habe, warum lebe ich dann nicht danach?
Warum lebe ich nicht mit der Lebendigkeit meiner größten Augenblicke?
Warum mache ich all diese Konzessionen an die öffentliche Meinung?
Warum lasse ich mich nicht von der Autorität Gottes in mir leiten?
Warum beuge ich mich anderen Autoritäten?
Und es gibt viele verborgene Autoritäten.
Denken Sie an den Druck, der von Ihren Altersgenossen ausgeht. Da finden wir alle möglichen Autoritäten, denen wir uns beugen.
Und warum? Wenn man es nicht tut, endet man unweigerlich da, wo Jesus endete, an seinem eigenen Kreuz.[4]
Dies ist das erschütternde Ende des Lebens Jesu.
Dieser Mensch übt immer noch in einigen der frühesten Schriften eine gewaltige Wirkung auf uns aus, als jemand, von dem andere sagen würden:
«Ja, genau so würden wir gerne sein, wenn wir wirklich wir selbst wären.»
Er lebte aus diesen mystischen Augenblicken heraus, und wir tun es nicht.
Wir haben sie immer wieder einmal, und dann verraten wir sie wieder.
Er lebte aus dieser Realität.
Deshalb wurde er ausgelöscht, musste er sterben.
Historisch ist dies das Ende der Geschichte.
Doch dann kommt ein Ereignis, das sich nicht innerhalb und nicht außerhalb der Geschichte befindet, sondern den Rand der Geschichte markiert, das Ereignis, das Auferstehung genannt wird.
Man kann die Geschichte Jesu nicht angemessen erzählen, ohne über die Auferstehung zu sprechen.
Sie ist nicht lediglich ein Anhang zum Leben Jesu. Ohne sie gäbe nichts, was seitdem geschehen ist, ja nicht einmal das Bild, das wir von Jesus haben, einen Sinn.
Aber was ist diese Auferstehung?
Wie können wir rekonstruieren, was wirklich geschehen ist?
Halten wir uns an den frühesten Bericht. Nach diesem starb Jesus am Kreuz. Sie nahmen ihn vom Kreuz ab, begruben ihn hastig, weil es der Vorabend des großen Festes war, und bald nach dem Fest fanden Frauen das Grab leer.
Der Umstand, dass es ausgerechnet Frauen waren, brachte die Kirche der Anfangszeit sehr in Verlegenheit, denn Frauen hatten kein Recht, Zeugnis abzulegen. Frauen hatten vor Gericht keine Stimme. So etwas wie eine Zeugin gab es nicht. Und doch waren Frauen die ersten Zeugen der Auferstehung, und ihr Zeugnis wurde akzeptiert.
Dies markiert einen Wandel im ganzen Status der Frauen. Sie mussten (und müssen immer noch) einen langen Weg gehen, aber seit Anbeginn heißt es in der Überlieferung, dass Frauen als erste das Grab leer vorfanden. Und sie glaubten, dass Jesus, den sie als Sterbenden und als Leichnam gesehen hatten, lebendig war. Dies ging über jeden Bericht, wonach das Grab leer war, weit hinaus. Damals waren sogar diejenigen, die sagten, der Leichnam Jesu sei gestohlen worden, bereit zuzugeben, dass das Grab leer war.
Manche Leute schauen heute auf dieses Grab, sehen, dass es leer ist, und sagen: «Der Leichnam muss gestohlen worden sein, kein Zweifel.»
Andere sehen dasselbe leere Grab und glauben dennoch, dass Jesus auferstanden ist. Sie sagen:
«Jetzt verstehen wir! Warum sollten wir auch den Lebenden unter den Toten suchen?! Dieser Mann verkörperte das Leben selbst.
Er zeigte uns, was es bedeutet, lebendig zu sein.
Es ist jedem Vernünftigdenkenden klar, dass er sich nicht unter den Toten befindet.»
Und dann kommt die Frage: Wenn er nicht hier ist, wo ist er dann?
«Er ist verborgen in Gott»
lautet eine frühe Antwort (Kolosser 3,3).
Gott ist ebenfalls verborgen. Und dennoch erfahren wir die Macht Gottes. Jesus ist mit Gott, er ist verborgen in ihm, und er verleiht uns auch weiterhin Gottes Kraft.
So gelangten die erschütterten Nachfolger Jesu zu der Erkenntnis, dass das Leben, das er führte, stärker war als der Tod.
Noch heute, zweitausend Jahre später, spürt die Welt die Auswirkungen der Druckwelle, die ihr Glaube an seine Auferstehung ausgelöst hat.
Was Jesus als das Kommen des Reichs Gottes ankündigte, verkündigt die Kirche durch die Jahrhunderte als die Auferstehung Jesu Christi.
Beide Verkündigungen haben denselben Inhalt: Gottes manifest gewordene erlösende Kraft.
Hier haben wir den mystischen Kern der christlichen Religion, den vulkanischen Ausbruch eines neuen Beginns.
Und nun fängt der ganze Prozess unweigerlich wieder von vorn an.[5]
Die Begegnung mit Jesus wird interpretiert und die Erfahrung verfestigt sich zur Lehre. Die Implikationen der alles umfassenden Liebe Jesu werden formalisiert und verfestigen sich zu moralischen Regeln.
Sie erinnern sich, wie sie das Leben zelebrierten, als er mit ihnen aß und mit ihnen trank, und sie machen das Brechen des Brots zum Ritual.
Und so haben Sie immer wieder die christusähnlichen Figuren in der Kirche, die in dieselben Schwierigkeiten geraten, die Jesus mit seinen religiösen Autoritäten bekam.
Und doch wird uns die «frohe Botschaft» durch die Kirche, in ihr und trotz ihr vermittelt.
In der Kirche finden Sie alle die Heiligen, die durch die Jahrhunderte bis heute ein Christus ähnliches Leben geführt haben.
In derselben Kirche finden Sie aber auch die Pharisäer, die Rechtsgelehrten und die Schriftgelehrten.
Als wir fragten: «Was soll jemand, der seinen mystischen Weg akzeptiert, mit der Religion anfangen?», lautete meine Antwort:
«Sie tragen die Verantwortung dafür, die Religion religiös zu machen, weil sie, sich selbst überlassen, zu etwas Irreligiösem verkommt.»
Nun fragen wir: «Was soll ein Christ tun, der die volle Bedeutung Christi erkennt?»
Die Antwort ist. «Nun, er soll den Rest seines Lebens damit verbringen, die Kirche christlich zu machen.»
Sie wird die Kirche der Heiligen und der Sünder genannt.
Sie ist aber auch die Kirche der Mystiker und zugleich die Kirche, die es den Mystikern schwer macht.
An diesem Punkt befinden wir uns jetzt, wenn wir realistisch sein wollen.
Doch im Herzen dieser Kirche ist das mystische Element, das sie am Leben hält, das Erbe Jesu.
Zu diesem mystischen Keim immer wieder vorandringen ‒ das ist die letzte Grenzerfahrung der christlichen Mystik.[6]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 6]
[Ergänzend:
1. Seele
2.. Audios
2.1. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
‹Der verleugne sich selbst› ‒ das Kreuz
2.2. Vertrauen in das Leben (2014)
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde›: Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke)[7] – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)
2.3. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag: [8]
(06:20) Die Begegnung von Jesus mit seiner Mutter auf dem Kreuzweg ‒ Abschied von dem unverstandenen Kind
(07:20) Die Kreuzigung ‒ Abschied vom vertrauten Gottesbild: Jesus stirbt mit den Worten: ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?› ‒ ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist›
(09:21) Der Schmerz der Kreuzabnahme, der Schmerz der Pietà: Maria hat das Kind auf dem Schoss ‒ der Abschied vom Kind im Tod ‒ ‹Jetzt wird mein Elend voll, und namenlos› (Rilke, Pietà, Das Marien-Leben)
(11:10) Die Grablegung Jesu ‒ ein Abschied voll Hoffnung ‒ ‹Stillung Mariae mit dem Auferstandenen› (Rilke, Das Marien-Leben)
2.4. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen: Bruder David erklärt die literarische Form von Gleichnissen. Ohne ihre Kenntnis verfehlen wir den springenden Punkt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37).[9] Jesus lehrt in Witzen: Er stellt eine Frage, wir sagen: «Das wissen wir ja alle!» «Warum handelt ihr nicht danach?» der Witz ist auf unsere Kosten / (22:13) Er weist hin, wie die Gleichnisse Jesu eine religionsgeschichtliche Wende bedeuten: Jesus spricht nicht wie ein Prophet mit der Autorität Gottes, er nimmt auch nicht charismatisch seine eigene Autorität in Anspruch, sondern verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer: «Ihr wisst das doch!» / (23:41) Und damit kommen wir zur Christus Erfahrung, die mystische Erfahrung Jesu, die wir selber machen können
2.5. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort / (17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen
2.6. Audio-Seminar Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag; siehe auch die Mitschrift des Vortrags
(22:47) Verleiblichen des Geistigen und Vergeistigen des Leiblichen: Durch die Sinne Sinn finden – Wir sind die Bienen des Unsichtbaren (Rilke)[10] – Das Fronleichnamsfest ist das Fest der Verleiblichung des Göttlichen und der Vergöttlichung des Leiblichen
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(37:00) Weltgeschichtliche Wende: Jesus verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer und unsere Aufgabe in der Kirche / (42:48) ‹Bisher hat die Kirche den Glauben getragen, jetzt müssen die Gläubigen die Kirche tragen› (Karl Rahner) / (51:35) Jesus: voll Mensch und daher voll göttlich, und das Ziel des christlichen Lebens: voll menschlich zu werden und daher völlig vergöttlicht / (54:07) Kreuzesnachfolge: Im Lebensstrom schwimmen gegen den Strom der Gesellschaft ‒ Unser Ego besitzen und es aufgeben / (56:22) Einer Gesellschaft, die aus der Angst und Unterdrückung lebt, stellt Jesus das Reich Gottes entgegen, er ist nicht nur Mystiker, er ist auch Sozialreformer / (58:37) Bekehrung, Umkehr im Alltag ‒ die Kreuzigung nicht suchen, aber sie nicht scheuen
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut
2.7. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(29:12) Autoritätskrise und wie ‒ am Beispiel der Gleichnisse Jesu ersichtlich ‒ Jesus die Autorität Gottes in die Herzen seiner Zuhörer verlegt / (33:14) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten›: Wie Jesus die Menschen ermächtigt und der unvermeidliche Konflikt mit autoritären Autoritäten bis zur Kreuzigung / (35:49) Die Angst vor authentischer Autorität: Selbst seine Jünger verlassen ihn / (36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
2.8 Vater Unser (1992)
Teil 1 in Themen aufgeteilt:
Jesus als Mystiker verstehen
Jesus ‒ Mystiker und Sozialreformer[11]
Teil 3 in Themen aufgeteilt:
Auferstehung, Vergebung, ‹Honig aus des Löwen Munde›[12]
2.9. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Geistliches Leben, das Maß nimmt an der Gestalt Jesu:
(19:29) ‹Auferstanden von den Toten›: Ein geschichtliches Ereignis über das man nur in mythischer Sprache reden kann ‒ Fragen und Diskussion
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›
2.10. Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Transkription Teil II, 2f.:
(04:47) Kreuz und Auferstehung ist nur vom Leben Jesu her zu verstehen:
«Alles steht und fällt im Christentum mit der Auferstehung. Das sagte schon Paulus: ‹Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann sind wir die elendesten aller Menschen› (1 Kor 15,19).
Was ich eigentlich zu Kreuz und Auferstehung zu sagen habe, und zwar nur deshalb, weil es nicht genügend betont wird, ist, dass wir das Leiden und Sterben und die Auferstehung Jesu ‒ das gehört alles zusammen ‒ nicht, wie das so oft getan wird, abgetrennt von seinem Leben betrachten dürfen.»
3. Weitere Texte
3.1. Wendezeit im Christentum, Teil I (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 95-97:
Fritjof Capra: «Aber wie steht es um die Auferstehung? Vorhin sagten Sie so ganz beiläufig ‹nach seinem Tod und seiner Auferstehung›.
Im Katholizismus, wie ich ihn in der Schule gelernt habe, galt die Auferstehung als Beweis dafür, dass Jesus Gott ist. Er stand von den Toten auf.»
Thomas Matus: «Das ist keine Theologie, sondern Apologetik. Und kein verantwortungsbewusster Theologe wird das heute noch einmal ausgraben. Das gehört zum alten Paradigma. Das neue würde es ungefähr so ausdrücken: Die Erfahrung Jesu mit der Auferstehung vom Tode ist ein unkommunizierbares, ganz persönliches Erlebnis.
Was die Apostel erfuhren, war folgendes: Jesus war ihnen auf eine Weise gegenwärtig, die sie erkennen ließ, dass sie ebenfalls auferstanden waren und mit ihm und in ihm von den Toten auferstehen würden.
Anders ausgedrückt: Seine Auferstehung ist allgemein gültig und die Ursache unserer eigenen Auferstehung.
Das großartige Argument des hl. Paulus lautet daher: ‹Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden.»
Fritjof Capra: «Das ist doch praktisch dasselbe wie Gott sein.»
Thomas Matus: «Es ist eine Parallele dazu. Wichtig ist hierbei, dass die frühesten Ausdrucksformen christlichen Glaubens sich auf das Geschehen konzentrierten, das auf den Tod Jesu am Kreuz folgte.
Das ist der Schlüssel zum Verständnis seines Todes als Manifestation der erlösenden Kraft Gottes.
Die Tatsache, dass ein großartiger Lehrmeister, ein wunderbarer, liebenswerter Mensch aufgrund zweifelhafter Anschuldigungen zum Tode verurteilt wird, kann einem intelligenten Menschen wohl kaum als Manifestation der erlösenden Kraft Gottes gelten.
Es ist eine Manifestation menschlicher Gewalttätigkeit, von Brutalität, von Unwissenheit.
Und dennoch wird sie zur Manifestation der erlösenden Kraft durch eine nicht vermittelbare, grundlegend undefinierbare und auf jeden Fall mystische Erfahrung: die Apostel erleben Jesus als den Auferstandenen.»
David Steindl-Rast: «Wie wäre es, wenn ich es folgendermaßen formuliere:
Es macht von vornherein keinen Sinn, über Tod und Auferstehung Jesu zu sprechen ‒ wie es leider oft getan wird ‒, ohne über sein Leben zu sprechen.»
Thomas Matus: «Die Kreuzigung beendet ein wunderbares Leben, aber sie teilt uns dieses nicht mit.
Das Erlebnis, den auferstandenen Jesus sehen und berühren zu können, überzeugte die Apostel, dass dieses außergewöhnliche Leben nicht nur in ihrer Erinnerung weiterbestehen konnte, sondern auch zu einem Teil ihrer selbst wurde, dass sie es selbst leben konnten.
Mit anderen Worten ‒ das Königreich wird durch die Auferstehung zu Jesus.»
David Steindl-Rast: «Daher ist das Leben Jesu so wichtig. Sein irdisches Wirken, das aus seinem mystischen Einssein mit Gott erwächst, ist der Grund für die besondere Stellung, die Jesus in der Welt einnimmt.
Ein Blick auf Jesus zeigt uns, wie man lebt, wenn man auf diese Weise mystisch eins ist mit Gott, wenn man ja sagt zum grenzenlosen Zugehören.
Er hat es uns vorgelebt. Lebt man derart in dieser von uns geschaffenen Welt, dann wird man vernichtet oder auf die eine oder andere Weise gekreuzigt. Genauso wie es ihm widerfahren ist.
Und dann stellt sich die Frage: Ist das das Ende? Die Lehre von der Auferstehung gibt uns die Bestätigung, dass dies nicht das Ende ist.
Diese Art der Lebendigkeit kann nicht ausgelöscht werden.
Er starb, starb wirklich. Und siehe da ‒ er lebt.
Wo lebt er?
Verfallen wir nicht in den Fehler zu sagen, er ist hier oder dort. Nein.
Eine selten zitierte urchristliche Antwort lautet:
Paulus sagt es nicht mit diesen Worten, sondern spricht:
«Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen m i t C h r i s t u s in Gott» (Kol. 3,3).
Das impliziert jedoch, dass Christi Leben in Gott verborgen ist.
Gottes Gegenwart in dieser Welt ist verborgen.
Dennoch ist sie jedem, der das Leben eines Mystikers führt, absolut greifbar ‒ Gott ist allgegenwärtig.
Er starb und ist dennoch am Leben, doch ist sein Leben verborgen in Gott. Er ist in uns allen lebendig.
Es hat keinen Sinn, mit dem Finger zu deuten und zu sagen ‹Dort ist er› oder ‹Wutsch! Er ist aus dem Grab gestiegen›.
Auferstehung heißt nicht Wiederbelebung.
Es ist kein Überleben, nichts, zu dem man sagen kann: ‹Da ist er!›
Es ist eine verborgene Wirklichkeit, aber es ist eine Wirklichkeit, und wir können in ihr leben. Und das ist alles, was wir über die Auferstehung wissen müssen.»
3.2. Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 53-61:
«Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.
Laotse bezeichnete sie als Dao[13] und Heraklit nannte sie Logos.
In dem Satz ‹Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort› (Markus 4,33) verwendet Markus für ‹Wort› diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.
Auf diesen Punkt möchte ich nachdrücklich hinweisen: Jesus beruft sich nicht auf die Autorität Gottes in der Heiligen Schrift, wie das die Priester und Schriftgelehrten mit der Aussage taten: ‹So steht es geschrieben ...›
Er beruft sich auch nicht auf die göttliche Autorität, die aus seinen eigenen Worten spricht, wie es die Propheten taten, die ihre Aussagen mit der Formel begannen: ‹So spricht Cott, der Herr ...›
Wenn Jesus seine Gesprächspartner mit dem Argument ‹Ihr wisst alle, dass ...› infrage stellt, appelliert er an die göttliche Autorität in den Herzen seiner Zuhörer.
Die Priester, Schriftgelehrten und Propheten reden von der hohen Warte göttlicher Autorität herab zum Volk; Jesus stellt sich auf die Ebene seiner Zuhörer und ermächtigt sie, sich auf ihre eigenen Füße zu stellen, indem er die göttliche Autorität ihres ihnen angeborenen Common Sense ernst nimmt, zu der sie sozusagen von innen her Zugang haben. Das ist ein entscheidender Wendepunkt; die Konsequenzen daraus sind Schwindel erregend.» (55f.)
«Auf einen autoritären Geist wirkt nichts bedrohlicher als die Berufung auf die Autorität des Common Sense. Religiös und politisch autoritäre Instanzen sind mit aller Gewalt darauf aus, jeden auszumerzen, der unter dem gemeinen Volk den Common Sense zu mobilisieren versucht. Aus diesem Grund musste Jesus sterben.» (56)
«Es ist unvermeidlich, dass unfähige Menschen sich der Autorität bemächtigen. Sie üben Macht aus, ohne über die nötige Weisheit und das erforderliche Mitgefühl zu verfügen. Solche autoritären Machthaber sind Todfeinde authentischer Autorität, die im Common Sense wurzelt.» (59)
«Unsere Furcht hindert uns daran, dem Common Sense zu folgen. Mit besonderer Klarheit empfanden das die daoistischen Weisen. In dem Maß, in dem sie sich in Einklang mit dem Rhythmus der Natur brachten, steigerte sich ihr Spott darüber, dass die Gesellschaft sich nicht an Dao hielt, an den Common Sense. Jesus stellt dieser Welt, die sich damit dem Tod statt dem Leben verschreibt, eine Welt gegenüber, die von Gottes lebendigem Atem belebt ist und dank dem Heiligen Geist ein «Leben in Fülle» führt.» (58f.)]
__________________________________
[1] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»
[2] Ausführlich in Religionen ‒ drei Ausdruckformen, Ergänzend: 3.5
[3] Bruder David erklärt in Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 186-189, den dreiteiligen Aufbau der Gleichnisse Jesu und ihre Pointe:
«Aha, das weiß jeder, in Ordnung. Aber warum handelt ihr nicht danach?»
«Zufällig passt das Kreuz sehr gut zur christlichen Tradition, doch das Kreuz des Propheten erscheint in jeder Tradition.»
[5] Siehe Anm. 2
[6] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 189-194
[7] Das Wort von Rilke verdeutlicht, was Bruder David ‹Anreicherung› nennt im Unterschied zu ‹Entwicklung›; siehe dazu Sterben und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107
[8] Der Vortrag folgt den sieben Schmerzen Mariens:
1. Darstellung Jesu im Tempel mit Weissagung Simeons
2. Flucht nach Ägypten vor dem Kindermörder Herodes
3. Verlust des zwölfjährigen Jesus im Tempel
4. Jesus begegnet seiner Mutter auf dem Kreuzweg (unbiblische Szene)
5. Kreuzigung und Sterben Christi
6. Kreuzabnahme und Übergabe des Leichnams an Maria (Beweinung Christi)
7. Grablegung Christi
[9] Bruder David geht im Beitrag Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 188f., ausführlich ein auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37), ebenso in seinem Buch Common Sense (2014), 47-51, siehe auch in Nächstenliebe
[10] Siehe auch Audio in Ergänzend: 2.2. und Anm. 7
[11] Weiterführend in Hausverstand
[12] Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 38:
«Wenn wir uns aber öffnen, wenn wir wirklich lernen, vom Worte Gottes zu leben als Speise, dann wird diese wunderschöne Stelle der berühmten Bachkantate auf unseren Tod zutreffen:
‹Komm, o süße Todesstunde, da mein Geist Honig speist aus des Löwen Munde.›
Die biblischen Bilder, die dahinter stehen, sind ziemlich unbekannt und dunkel: Samson, der im Kadaver eines Löwen eine Honigwabe findet. Aber in der christlichen Tradition wird das Bild durchsichtig: In dem Augenblick, in dem der Löwe, der Tod, uns verschlingt, speist uns Honig aus des Löwen Munde. Wir leben davon, wir leben vom Sterben, weil wir gelernt haben, von jedem Worte Gottes zu leben. Nur wenn wir auch vom Tod leben lernen, jetzt, nicht nur in der Stunde unseres Todes, können wir wahrlich leben.»
[13] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:
«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»
Schmecken, Ahnen, Weisheit
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Wenn etwas gut Gewürztes mir schmeckt, frage ich mich selten, warum. Und doch liegt in jedem einzelnen Gewürz nicht nur ein Geheimnis der Kochkunst, sondern die ganze Freude schenkende und heilende Kraft von Mutter Erde. Jedes legt uns einen Einfall von Dir in den Mund, auf den ihre Namen nur von Ferne hinweisen können. Deine Idee in Dillkraut, Ingwer oder Pfeffer zu erschmecken, heißt, immer neue Sprachen zu entdecken, in denen du zu mir sprichst. Heute will ich Dich in wenigstens einem Gewürz zu mir reden hören. Amen»[1]
Wie Ergriffenheit ursprünglich auf den Tastsinn zurückweist, so Weisheit auf den Geschmackssinn.
Hier ist das allerdings nicht so offensichtlich. Im Lateinischen ist es deutlicher. Da ist «sapientia», die Weisheit, jene Tugend, die wir durch «sapere» erwarben, durch ein verfeinertes, überhöhtes Schmecken.
Sehen können wir in große Entfernung, in unvorstellbar große Entfernung, wenn wir nachts unter dem Sternenhimmel stehen. Auch hören können wir noch weit. Riechen schon kaum mehr. Betasten setzt nächste Nähe voraus, bleibt aber doch immer oberflächlich, äußerlich.
Von allen unseren Sinnen ist der Geschmackssinn der innerlichste. So erschmeckt Weisheit den innersten Sinn einer Sache.
Wie aber sollen wir je dieses Ziel erlangen, wenn wir nicht damit beginnen, unseren Geschmack auf der sinnlichen Ebene zu entwickeln?
«Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist!» ruft der Psalmist uns zu (Ps.34,9).
Werden wir aber Übersinnliches zu schätzen wissen, wenn wir für Sinnliches undankbar sind?
«Mund auf! Augen zu!» spielten wir gern als Kinder. Solange wir dem Geschmeckten noch keinen Namen geben, wird es zum unmittelbaren Erlebnis:
«Wo sonst Worte waren, fließen Funde.»
Rilke fordert uns heraus in seinem Sonett: «Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.»[2]
Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns «langsam namenlos im Munde».
Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere … Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund … Ich ahne …
Lest es einem Kind vom Angesicht,
wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.
Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,
klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒:
O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒, riesig!
«Lest es einem Kind vom Angesicht.»
Dem Kind in uns selbst. Was wir an jedem unserer Sinne verfolgen konnten, wird am Geschmackssinn vielleicht besonders deutlich: die Entfaltung der Dankbarkeit von kindlich arglosem Erkennen der Gabe, über ehrfürchtiges Anerkennen des Gebers, zum Bekennen der Gnade in Weisheit.
Die göttliche Weisheit hat ein Festmahl bereitet
Das ganze Erdenrund, auf seinen sieben Säulen ruhend, wird zur Festhalle. Alles, was unsere Sinne erfreuen kann, ist uns aufgetischt.
Alle Welt ist willkommen.
Die Weisheit baute ihr Haus
und hieb sieben Säulen,
schlachtete ihr Vieh,
und trug ihren Wein auf,
und bereitete ihren Tisch,
und sandte ihre Dirnen aus, zu rufen
oben auf den Höhen der Stadt;
‹Wer unverständig ist, der mache sich hierher!›
und zum Narren sprach sie:
‹Kommet, zehret von meinem Brot,
und trinkt den Wein, den ich schenke.›[3]
«Frucht ist mir schon seit langem ein wichtiges Wort. In seiner einen Silbe ballt es die Kraft, die schon in Frühling und Sommer anklingt, mit gesteigerter Wucht zusammen. Frucht weist auf Fülle und Erfüllung hin ‒ als Gabe und als Aufgabe. Als Gabe schenkst du mir diese Verkörperung vollkommener Reife, sooft ich eine plumpe Frucht in Händen halten und ihren süßen Saft verkosten darf. Aber auch als Hinweis auf meine eigene Aufgabe werden mir Früchte zum Bild eigenen Reifens und Fruchtbringens.
Lass mich jede Frucht bewusst und dankbar wie aus Deinen Händen empfangen, als reines Geschenk dieses Jahres. Und schenk mir Zeit und Gelassenheit, Frucht zu bringen für andere und in Herzensfrieden auszureifen, Dir entgegen. Amen.»[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3f.]
[Ergänzend:
1. Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 104-106, 117:
«Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet. Dazu lädt Rilke in einem seiner ‹Sonette an Orpheus› unsren Geschmacksinn ein.
Mit der Herausforderung ‹Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt›, will er uns bewusstmachen, wie leichtfertig und anmaßend wir oft annehmen, etwas zu kennen, nur weil wir es benennen können.
Wenn wir uns stattdessen darauf einlassen, es wie Kinder einfach zu erschmecken, dann fragt uns der Dichter:
‹Wird euch langsam namenlos im Munde?›
Und wir werden zugeben müssen:
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde.›
‹Doppeldeutig› sind diese Funde und darum ‹hiesig›, denn wir leben ja hier im Doppelbereich ‒ im Doppelbereich auch von ‹Tod und Leben›.[5]
Dieser Apfel, diese Birne, sie sind lebendig und sie sterben im gleichen Augenblick, in dem wir von ihnen leben.
Schon mit dieser Erfahrung, wenn wir sie auch nur ‹ahnen›, stehen wir mitten im großen Geheimnis.
Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere ... Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund ... Ich ahne ...
Lest es einem Kind vom Angesicht,
wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.
Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,
klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒ :
O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒ riesig!
Das beseligte Stammeln der letzten Zeilen zeugt von Ergriffenheit.
Wer mit solcher Intensität ‹offen und Empfänger› wird ‒ der Ausdruck entstammt einem andren der ‹Sonette an Orpheus›[6] ‒, mit welchem der Sinne auch immer, den ergreift das Geheimnis, das der Dichter hier im Erschmecken der Früchte erahnt.
Es spricht ihn an, es ‹spricht (ihm) ... in den Mund›, wie er es so gewagt ausdrückt, aber nicht mit Worten:
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›:
Jetzt erwachen unsre Sinne und bemerken mit Staunen und Freude die unzähligen Gelegenheiten, aus Freudenquellen zu trinken: Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, betasten ‒ Gelegenheiten, uns zu freuen, auf die wir bisher kaum geachtet haben. Unsre Sinne erwachen. Wir entdecken zunehmend mehr von der Fülle unsrer Lebendigkeit.»
2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 48-50 und 40, 81
3. Audios
Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›[7]
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal
(59:56) ‹Kostet und seht, wie gut der Herr ist› (Ps 34,9) ‒ Das Wort ‹Sapientia› ‒ Weisheit ‒ kommt von ‹sapere›: schmecken, Geschmack für das Geheimnisvolle. Und das beginnt mit dem Schmecken lernen: sich Zeit lassen zum Essen
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Spiritualität und Ökologie:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott
Ökologische Grundprinzipien:
(07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes
(39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)
Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(40:29) «Das tägliche Brot ist nicht nur, was wir essen ‒ das tägliche Brot ist alles, was uns täglich zukommt. Das Gott will uns nähren mit allem, was uns täglich begegnet: Jeder Augenblick, jeder Mensch, jeder Gegenstand, alles, was uns begegnet ist Wort Gottes, auf das wir horchen können. Da kommt das Gehorchen herein, dieses tiefe Hinhorchen, aus dem die Antwort entspringt. Und das nährt uns: Wir können ‹vom Worte Gottes leben›. Und zu dieser Bitte ‹gib uns heute unser tägliches Brot› gehört die Geistgabe der Weisheit, ‹sapientia› vom lat. ‹sapere›, schmecken, und ist eigentlich der richtige Geschmack, das ‹Geschmeck› für das Wort Gottes, für die Gabe Gottes.»
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(05:29) Voller Apfel, Birne und Banane‘ (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIII): Br. David liest und deutet das Sonett Zeile für Zeile
Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt
Schmecken, Auskosten ‒ ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette)]
__________________
[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 100
[2] R. M. Rilke: ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (Die Sonette, 1. Teil, XIII)
[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Durch die Sinne Sinn finden› (2021), 73-76; der Bibeltext nach der Lutherbibel 1912 ist aus Spr 9,1-5
[4] Erwachende Worte (2023): ‹14 Frucht›, 45
[5] DOPPELBEREICH, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 132f.:
«Ursprünglich bedeutet der Doppelbereich bei Rilke, der diesen Begriff prägte, die ‹Nicht-Zweiheit› (A-Dwaita) der Bereiche von Lebenden und Verstorbenen. In den ‹Sonetten an Orpheus› entwickelt der Dichter dieses Thema, zum Beispiel unter dem Bild der ‹Spieglung im Teich›. Das schöne deutsche Wort ‹Doppelbereich› lässt sich aber auf viele andre Gebiete anwenden. Was durch die Beziehung von ‹A-Dwaita› entsteht, ist immer ein Doppelbereich»
Bruder David geht auf die ‹Spieglung im Teich› ein in Orientierung finden (2021): ‹Innen / Aussen ‒ Zwei Aspekte der Wirklichkeit›, 76 und in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 99-101
[6] «Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,
in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs
kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von w i e viel Welten!
Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber w a n n, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?»
R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V
Siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 81 und TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 86
[7] Orientierung finden (2021), 42:
«Nur durch Ergriffenheit verstehen wir Musik, und auch das Geheimnis verstehen wir nur in Augenblicken von Ergriffenheit. Beides wird uns geschenkt: Wir müssen uns nur willig ergreifen lassen.
‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›,
sagt der große mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Weisheit ist das Ziel unsrer Bemühungen um Orientierung. Dabei wird es also letztlich um unsre Beziehung zum Geheimnis gehen.»
Fließweg
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
«Bewegung in zahllosen Formen, das ist doch eigentlich, was wir das Leben nennen. Vom Kreisen der Galaxien, Sonnen und Planeten zum Kreisen der Falken, ihrem Hinabsausen und dem Zappeln der Maus; vom plötzlichen Aufblühen der Feuerwerksraketen zum sachten Entfalten der Wiesenblumen; vom Flug des Pfeiles zum Fallen plumper Pflaumen. Bewegung von Fliehen und Erhaschen, von Mühe und Entspannung, Einschlafen und Erwachen.
Aber auch die Bewegung aufsteigender Dankbarkeit, sprießenden Verliebtseins, stiller Verinnerlichung. Verinnerlichung hinein in eine Stille, die nicht Stillstand bedeutet, sondern bis zum scheinbaren Stillstand geballte Bewegung ‒ wie der Flügelschlag des Kolibris.
Aus dieser Mitte lass jede meiner Bewegungen kommen; dann wird jede letztlich ein Empfangen und Weiterschenken werden, ein Geben und Nehmen zwischen Dir und mir. Amen.»[1]
Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, «gute Arbeit» ist wie ein kosmisches Ballspiel, «wie ein heiliger Tanz».
Der taoistische Philosoph Huang Tsu (369-286 v. Chr.) verwendet diese Bilder vom heiligen Tanz und von guter Arbeit in seinem Gedicht «Einen Ochsen zerteilen».
Fleischer und ihre Arbeit waren zu Prinz Wen Huis Zeiten in der chinesischen Gesellschaft verachtet. Trotzdem aber schaut der Prinz seinem Koch eines Tages beim Zerteilen eines Ochsen zu und ruft zuletzt begeistert aus:
«Das ist es! Mein Koch hat mir gezeigt, wie ich mein Leben leben sollte!»
Weit mehr als zwei Jahrtausende später können auch wir das ausrufen, denn Huang Tsus Beschreibung zeigt beispielhaft, was immer gültig bleibt:
Rechtes Tun folgt dem Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt».
«Ja, es gibt schon manchmal zähe Gelenke», aber der Koch lehrt uns, wie wir damit umgehen sollen.
«Ich spüre sie kommen, ich werde langsamer» ‒ also geht er zurück zu Stop ‒ «ich schaue genau» ‒ er geht zurück zu Look. Und dann: Ich «halte mich zurück», bewege kaum die Klinge» ‒ sein Go fließt jetzt «mühelos» mit der Energie des Lebens selbst:
«Das Gespür tut die Arbeit ohne Planung; frei folgt es seinem Instinkt.»
Aber geben wir Huang Tsu das Wort:
Der Koch des Prinzen Wen Hui
zerteilte einen Ochsen.
Arm gestreckt,
Schulter gebeugt;
er setzt den Fuß fest auf,
er stemmt sein Knie an,
schon liegt das Tier
in Stücken da.
Das blanke Beil
flüstert wie ein Windhauch.
Rhythmisch! Gemessen!
Wie ein heiliger Tanz ist's,
wie ein Kinderreigen,
wie uralte Harmonien.
«Das nenne ich gute Arbeit!»
ruft der Prinz, «perfekte Methode».
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
Ich folge dem Tao;
jenseits jeder Methode!
Als ich anfing,
Ochsen zu zerteilen,
sah ich das ganze,
schwere Tier vor mir:
eine einzige Masse.
Nach drei Jahren
sah ich statt dieser Masse
die feinen Trennungslinien.
Jetzt aber sehe ich nichts
mit meinen Augen. Mein Inneres
erfasst einfach das Ganze.
Meine Sinne sind müßig. Das Gespür
tut die Arbeit ohne Planung; frei
folgt es seinem Instinkt.
So findet mein Beil mühelos
den verborgenen Spalt, den geheimen Weg,
wie die Natur ihn bahnt.
Ich haue durch kein Gelenk, hacke auf keinen Knochen.
Ein guter Koch braucht jedes Jahr
ein neues Beil. Er hackt.
Ein schlechter Koch braucht jeden Monat
ein neues Beil. Er haut drauflos.
Dieses Beil benutze ich
schon neunzehn Jahre,
tausend Ochsen
hat es zerlegt.
Es ist so scharf
wie am ersten Tag.
Die Gelenke haben Zwischenräume;
die Klinge ist dünn und scharf:
Sie findet diese Zwischenräume.
Mehr Raum braucht es nicht!
Dann geht's widerstandslos.
Deshalb bleibt die Klinge neunzehn Jahre lang
wie frisch geschliffen.
Ja, es gibt schon manchmal
zähe Gelenke. Ich spüre sie kommen,
ich werde langsamer, ich schaue genau,
halte mich zurück, bewege kaum die Klinge,
und plumps! Das Fleischstück fällt herunter
wie ein Klumpen Lehm.
Dann lasse ich die Klinge ruhen,
ich halte inne
und lasse die Freude an der Arbeit
mich ganz durchdringen.
Ich mache die Klinge sauber und verstaue sie.»
«Das ist es!», rief Prinz Wen Hui,
«mein Koch hat mir gezeigt
wie ich mein Leben
leben sollte.»[2]
Auf einer tagelangen Busreise war es mir einmal geschenkt, neben einem Metzger zu sitzen, der mir von seiner Arbeit erzählte. Er hatte sicherlich noch nie vom Taoismus gehört, geschweige denn von Huang Tsus Gedicht, aber ich traute meinen Ohren kaum, so ähnlich war die stolze Beschreibung seiner Fähigkeiten der von Prinz Wen Huis Koch, seines taoistischen Kollegen von vor so langer Zeit. Jetzt überrascht mich das nicht mehr.
Mir ist klargeworden, dass unser Stop ‒ Look ‒ Go keine Methode ist, die jemand erfunden hat, sondern die Gestalt, die allen klassischen spirituellen Methoden zugrunde liegt ‒ der zeitlose Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt», damit wir in Harmonie mit dem Universum leben lernen.
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
«Ich folge dem Tao
jenseits jeder Methode!»
Am Anfang können wir freilich das «Stop ‒ Look ‒ Go» auch als Methode anwenden.
Das Ziel ist aber, dass es uns durch Übung zur zweiten Natur wird.
Dann folgt unser Gespür ohne Planung frei seinem Instinkt und findet den Fließweg «jenseits jeder Methode».
Dazu bedarf es freilich der Übung ‒ wie bei jeder andren spirituellen Praxis.
Alle spirituellen Wege haben dasselbe Ziel: im Jetzt leben. Dieses Ziel will auch «Stop ‒ Look ‒ Go» erreichen.
Ein sehr einfacher Weg, aber einfach ist nicht gleichbedeutend mit leicht, besonders am Anfang nicht.
Dennoch bietet seine Einfachheit einen großen Vorteil im Vergleich mit andren spirituellen Praktiken:
Wir können «Stop ‒ Look Go» an jedem Ort und zu jeder Zeit üben:
am Arbeitsplatz genausogut wie an einem Ort der Stille; in der U-Bahn genauso gut wie bei einer Wanderung in den Bergen.
Und wann immer wir diesen einfachen Dreischritt üben, bringt er uns ins Jetzt. Und warum ist das so wichtig?
Weil im Jetzt das Ego nicht überleben kann. Das Ego ist immer in die Vergangenheit verwickelt, fühlt sich als Opfer, müht sich ab mit vergangener Schuld oder sehnt sich nach der «guten alten Zeit».
Oder es ist in der Zukunft verfangen und wartet ungeduldig auf sie oder hat Angst vor ihr.
Um ins Jetzt zu finden, muss ich mein über Vergangenheit und Zukunft zerstreutes Ego in meine «Mitte des Immer»[3] sammeln.
Weil das «Stop ‒ Look ‒ Go» mich ins Jetzt bringt, bringt es mich zu mir selbst.
Ich komme aus der Ego-Illusion in die Wirklichkeit des Ich-Selbst zurück.
Dadurch wird jetzt Orientierung möglich: Orientierung in Bezug auf die Wirklichkeit und dadurch auch auf die letzte Wirklichkeit, das große Geheimnis.
So oft wir innehalten, sei's auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis als Schweigen.
So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unsres Herzens für das Geheimnis als Wort.
Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.
Im Tanzen kommt unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» ins Fließen ‒ er zeigt sich als Fließweg.[4]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Erst, wenn ich auf den großen Tanz der Dinge achte, wird mir bewusst, wie steif ich innerlich bin. Selbst leblose Dinge rollen, fließen, gleiten; auch wo sie knirschen, holpern, sich spießen, sind sie gemeinsam dem Gesetz der Gegenseitigkeit gehorsam. Tiere erst recht. Noch bei ihrem letzten Sprung tanzt die Maus mit der Katze.
Nur wir ‒ teilnahmslos gegeneinander. Um so mehr bewundere ich Menschen, deren jede kleinste Geste Begegnungsbereitschaft ausdrückt, Hinhorchen, Hilfsbereitschaft, Aufforderung zum Tanz. Das muss von innen kommen. Mach mein Herz tanzbereit. Amen.»[5]
In höchster sprachlicher Verdichtung hat Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) in seinem Gedicht «Der römische Brunnen» das Ruhen im Fließen in ein Bild gefasst.
Wenn wir – ohne es intellektuell zu analysieren ‒ diesem Sinnbild gestatten, uns zu ergreifen, dann kann uns bewusstwerden, dass der Fließweg durch die drei Schalen zugleich der Weg der Sinnfindung ist, denn «jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht.»
Sinn aber ist das, worin das Herz Ruhe findet.
Auf steigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Im Strömen das Ruhen finden, das heißt auch Sinn finden.[6]
«Weg und Ziel zeigst du mir nicht nur an, DU großes Geheimnis im Herzen des Lebens, du b i s t mir beides.
Als Weg erfahre ich Dich am richtungweisenden Fließweg des Lebens, dem ich mich anvertrauen darf wie ein Schwimmer dem Strom.
Als Ziel erkennt Dich die Strömung in meinem Inneren mit ihrem geheimnisvollen Sog, der mir zuraunt:
‹Heim zum Vater!›
Lass mich nicht erschlaffen beim Schwimmen, nicht schlapp dahintreiben wie Schwemmholz, sondern wendig werden wie ein Fisch.
Mach mich achtsam für den leisesten Hinweis, den mir das Leben ‒ den du mir gibst. Und lass mich täglich fröhlicher werden, weil ich ja auf dem Heimweg bin zu Dir. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4-7]
[Ergänzend:
1. FLIESSWEG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 136:
«Fließweg ist ein schönes, aber nur selten, meist in technischer Fachliteratur gebrauchtes deutsches Wort. Es bietet sich an, um im übertragenen Sinn die Grundhaltung des Taoismus zu kennzeichnen: die Bereitschaft, sich bewusst und bereitwillig dem Fluss des Lebens zu überlassen. Die Silbe «Weg» hat dann in diesem zusammengesetzten Wort eine Doppelbedeutung. Einerseits weist sie auf die Wegrichtung fließenden Wassers hin, den Fluss des Lebens, andererseits auf den Lebensweg des Weisen, der sich wie ein Schwimmer, keineswegs wie Treibholz, dem richtungweisend fließenden Strom des Lebens anvertraut.»
2. Audio zu: ‹Die Mitte des Immer›
Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(39:16) ‹Von der Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (R. M. Rilke, Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)
3. Audios zu: ‹Der römische Brunnen›
Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(55:30) ‹Der römische Brunnen› (C. F. Meyer) und ‹Römische Fontäne› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Spiritualität und Ökumene:
(01:12:38) ‹Der römische Brunnen› (C.F. Meyer)
Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag
4. Audio zu ‹Heim zum Vater›
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Spiritualität und Ökumene:
(31:54) «In ihm und durch ihn und mit ihm ‒ Jesus Christus ‒ gehen wir wieder zurück zum Vater: Wir als Christen drücken das so aus und erleben das so, aber alle Menschen erleben das so, können es verstehen, wenn man es ihnen nahebringt. … Einer der ganz frühen Kirchenväter sagt: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater.› Das ist etwas, das jeder Mensch erlebt, einfach als Mensch. Diese Quelle haben wir in unserem Herzen und hören diese Stimme, die sagt: ‹Heim zum Vater.›»]
______________________
[1] Erwachende Worte (2023): ‹44 Bewegung›, 105
[2] Thomas Merton (Hrsg.): ‹Sinfonie für einen Seevogel und andere Texte des Tschuang-tse›; mit einem Vorwort von Bernardin Schellenberger. Neuausgabe, Düsseldorf, Patmos Verlag, 1984, 23-25; siehe auch die Übersetzung des Altmeisters der klassischen chinesischen Texte Richard Wilhelm: Dschuang Dsi: ‹Das wahre Buch vom südlichen Blütenland›; aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm (= Diederichs Gelbe Reihe; 14: China), Kreuzlingen / München, Hugendubel 112000: Buch III. Pflege des Lebensprinzips, 2. Der Koch, 54f.
«1960 stieß der amerikanische Mönch und Schriftsteller Thomas Merton auf die Schriften des großen Chinesen Tschuang-tse († um 300 v. Chr.), der gegen Ende der Blütezeit der chinesischen Philosophie lebte und als der spirituellste unter den chinesischen Philosophen gilt. Nach jahrelanger, intensiver Beschäftigung mit seinen Schriften legte Merton diese Sammlung charakteristischer Texte vor, wobei er auf höchst persönliche Weise Übersetzung und Interpretation miteinander verband. So gelingt in diesem Büchlein ein Brückenschlag: Tschuang-tse mit den Augen eines modernen Amerikaners gesehen, aber auch den Augen eines modernen Mystikers betrachtet, der bei dem alten chinesischen Philosophen Elemente entdeckte, die allen meditierenden Geistern aller Zeiten gemeinsam sind.» (aus dem Klappentext des Buches von Thomas Merton)
[3] R. M. Rilke: ‹Elegie an Marina Zwetajewa-Efron› (Aus dem Nachlass, Widmungen)
[4] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 108-113
[5] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 33
[6] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 114
[7] Erwachende Worte (2023): ‹11 Weg›, 39
Stop ‒ Look ‒ Go
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Arijana Somolanji Kurbanović
Kinder in den USA lernen mit «Stop ‒ Look ‒ Go» gefahrfrei die Straße zu überqueren.
Diese drei Wörter sind auch die einfachste Formel, dankbares Leben immer wieder einzuüben. [Siehe die kurze Einführung zum Thema in Dein Herz ist gefragt (2022)]
Schauen wir sie uns hier einzeln an.
Stop ‒ alles Weitere hängt von diesem ersten Schritt ab. Innehalten und Stillwerden sind unbedingt notwendig, bevor wir hinhorchen können auf das Leben, um voll und dankbar unsre Antwort zu geben.
Was dieses Innehalten bewirken will, ist innere Ruhe.
Schweigen hilft uns dabei.
Aber viele Menschen sind heute Lärm und Getue so gewohnt, dass sie sich bei Schweigen und Stille zunächst unbehaglich fühlen. Das ist Gewohnheitssache. Wir können Schweigen und Stillwerden üben ‒ jeden Tag ein bisschen länger. Mit etwas Übung werden wir uns bald darin zuhause fühlen. Dann wird die stille Mitte in uns zu einer Quelle tiefer Freude werden.
Schweigen macht «das Ohr des Herzens», wie der heilige Benedikt es nennt, hellhörig für alles, was das Leben uns zuspricht. Dann erst können wir entsprechend antworten.
Daraus ergeben sich die beiden nächsten Schritte: hellhöriges Innewerden ist das «Look» und unsre Antwort ist das «Go».
In einem Gedicht von nicht mehr als zehn Zeilen führt uns Rilke durch diese drei Schritte ‒ vom Innehalten in der Stille («Stop») über das Innewerden («Look») zum freudigen Tun («Go»).
Der Dichter betet um eine von äußeren und inneren Störungen freie Stille, damit er in ihr einen so hohen Grad von Sammlung erlangen kann, dass seine Empfänglichkeit «bis an den Rand» des großen Geheimnisses reicht.
Dann hofft er, das Geschaute sogar «besitzen» zu können ‒ freilich «nur ein Lächeln lang», denn er muss wohl selber lächeln über die Idee, das Geheimnis zu besitzen. Im Gegenteil, das Geheimnis ergreift Besitz von uns im Augenblick, in dem wir «nur einmal so ganz stille» werden.
Diese Stille ‒ «Stop» in seiner tiefsten Bedeutung ‒ ist ja selbst ein Aspekt des großen Geheimnisses in seiner schweigenden Tiefe.
Aus ihr muss unser Innewerden kommen, damit es zum freudigen Tun führen kann, zur Bereitschaft, alles, was unser Herz vom Geschauten halten kann, «an alles Leben zu verschenken wie einen Dank».
Zunächst aber geht es um den ersten Schritt, ums Innehalten, ums «Stop», ums Stillwerden:
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒ :
Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.[1]
Look ‒ in unsrer inneren Stille verankert, können wir jetzt, als zweiten Schritt, mit allen Sinnen wach werden für alles, was es gibt.
Das «Stop» ‒ der Bruchteil eines Augenblickes, in dem wir innehalten ‒ genügte, um unser Schauen «reifen» zu lassen, und jetzt kann wahr werden, was unser Dichter in eines seiner schönsten Bilder fasst:
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.[2]
Alles, dessen wir innewerden, kommt wie eine Braut auf uns zu. Und wie begegnen wir diesem bräutlichen Entgegenkommen des Lebens?
Meist wird uns gar nicht bewusst, wie unsanft, ungeduldig, ja geradezu unverschämt und gewalttätig wir alles, was uns unter die Augen kommt, an uns reißen, einfach durch die Härte, mit der wir es anblicken.
Wir können jedoch lernen, mit sanften Blicken alles, was wir sehen, zu umarmen, wie ein Bräutigam die Braut umarmt ‒ und sich von ihr umarmen lässt.
Dann werden wir die Gelegenheit, nach der wir mit unsrem «Look» Ausschau halten, nicht in erster Linie als Möglichkeit verstehen, alles, was das Leben uns in diesem Augenblick schenkt, auszunutzen.
Es würde uns vielmehr darum gehen, es auszukosten.
Hier stoßen wir wieder auf eine oft übersehene Unterscheidung, die im abendländischen Denken unter dem lateinischen Begriffspaar «uti» (nutzen) und «frui» (auskosten) schon lange eine wichtige Rolle spielt.
Wenn wir lernen, diese beiden Lebenshaltungen ‒ denn das sind sie letztlich ‒ zu unterscheiden und zugleich zu verbinden, dann kann unser «Look», unser Innewerden, sich zu einem wahren Fest entfalten: zur Feier des Lebens.
Nicht nur unsre Augen können diese Haltung erlernen. Das «Look» hier nur aufs Schauen zu beschränken, wäre ein Missverständnis. Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet.
Go ‒ auch zum Verständnis dieses dritten Schrittes kann ein Gedicht Rilkes uns helfen. Der Dichter stellt am Bild des Ballspielens dar, worum es beim echten Tun, das Innehalten und Innewerden voraussetzt, letztlich geht. Mit sich allein Ballspielen ist nicht echtes «gültiges» Tun in diesem Sinn, sondern nur Übung in «Geschicklichkeit»; und was es zustande bringt, ist «lässlich» ‒ das heißt, es zählt nicht.
Echt wird das Tun erst,
wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf.
Diese «Mit-Spielerin» steht hier für das große Geheimnis.
Das erkennen wir daran, dass sie «ewig» genannt wird und weil die Beziehung, die durch ihr Zuwerfen entsteht, «aus Gottes großem Brücken-Bau» stammt.
Dass diese «Mit-Spielerin» weiblich ist, erinnert daran, dass alles, dessen wir mit offenem Herzen innewerden, uns «wie eine Braut» entgegenkommt.
Wenn wir alles uns vom Schicksal Zugeworfene umarmen ‒ wie Braut oder Ball ‒ dann ist unser «Fangen-Können» nicht mehr Übung, sondern Vermögen im Sinne von Können.
So spielt das Geheimnis im All mit dem Geheimnis in dir ‒ letztlich das eine Geheimnis mit sich selbst.
«Lila» nennt der Hinduismus dieses Spiel.[3]
Um völlig in dieses Spiel einzutreten, musst du aber «zurückzuwerfen Kraft und Mut» besitzen ‒ und noch mehr: Du sollst dabei deine mutige Entscheidung und deinen Kraftaufwand völlig vergessen «und schon geworfen» haben ‒ wie von selbst.
Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem herannahenden Schnellzug von den Schienen. Später weisen beide jede Anerkennung zurück: «Es war schon geschehen, bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken», sagen sie.
Das Beispiel, auf das der Dichter hinweist, sind «die Wandervogelschwärme», die instinktiv tun, was bei uns Menschen willige Bereitschaft verlangt. Durch diese können aber auch wir «gültig» mitspielen und unser alltägliches Tun wird dann ‒ ganz unauffällig ‒ zu einem kosmischen Ereignis: Der Ball wird nun zum «Meteor und rast in seine Räume ...»
Nicht mehr nur unsre Räume sind es, in denen sich nun unser Tun abspielt; unser Alltag nimmt teil am großen Geheimnis, das im Kosmos spielt.
Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichheit und lässlicher Gewinn ‒ ;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, ‒
nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest ... (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältere einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere ‒) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit.
Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst
dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt
das Meteor und rast in seine Räume ...[4]
Das gelingt uns aber nicht ein für alle Mal. Wir müssen uns wieder und wieder darum bemühen, bevor es uns zur zweiten Natur wird.
Der Dichter weiß, was es uns so schwermacht, an diesem Ballspiel teilzunehmen. In der 4. Duineser Elegie finden wir die Ursache ‒ und auch hier im Bild der Zugvögel:
Wir sind nicht einig.
Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-
vögel verständigt. Überholt und spät,
so drängen wir uns plötzlich Winden auf
und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.
«Wir sind nicht einig» mit uns selbst, weil wir im Ego stecken, also auch «nicht einig» untereinander und wegen unsrer Eigenwilligkeit auch «nicht einig» mit dem Fließweg des Lebens.
Weil wir nicht stillwerden und hinhorchen, versäumen wir den rechten Augenblick.
Dann «drängen wir uns plötzlich» dem Geschehen auf, anstatt mit ihm zu fließen.
Und doch ist das Einzige, worauf es ankommt, Harmonie mit dem Leben.
Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
Und dabei geht es um die grundlegenden Haltungen zum Leben ‒ und zum großen Geheimnis. Unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» lässt uns diese Haltungen klarer erkennen.
1. Durch «Stop» üben wir das für alle andren Haltungen grundlegende Lebensvertrauen.
Unsre hektischen Aktivitäten sind oft vergebliche Versuche, diese Haltung stillen Vertrauens durch Kontrolle zu ersetzen. In der Sprache spiritueller Traditionen heißt radikales Lebensvertrauen: Glauben.
2. Durch »Look» üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.
Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.
Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.
3. Durch «Go» antworten wir dann auf diese Anforderungen. Dadurch treten wir bereitwillig in Beziehung zu dem ganzen unendlich weit verzweigten Netzwerk des Lebens.
Durch diese Bereitwilligkeit sagen wir ein radikales Ja zur Zugehörigkeit ‒ nicht mit unsren Lippen, sondern durch unser Tun.
Dies aber kennen wir schon als die Definition für Liebe.
So wie sich die Haltung des Glaubens vom Für-wahr-Halten unterscheidet und die Hoffnung von den Hoffnungen, so unterscheidet sich die Liebe von unsren Vorlieben, unsrem Verlangen.
Durch «Stop ‒ Look ‒ Go» können wir die Haltungen von Glauben, Hoffnung und Liebe ‒ also unsre Beziehung zum Geheimnis als Mitte unsrer grundlegenden Orientierung im Leben ‒ immer wieder erneuern und so Sinn finden.
Sogar jedes Kind kann unsrem einfachen Dreischritt «Stop ‒ Look ‒ Go» folgen und so bleibende Lebensfreude finden durch dankbares Leben. Denn «Stop ‒ Look ‒ Go» ist der Dreischritt der Dankbarkeit.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 4]
[Ergänzend:
1. Musik der Stille (2015):
«In der Prim[6] verpflichten wir uns, heute alles so zu tun, als würden wir Kindern beibringen, die Straße zu überqueren: anhalten, hinschauen und dann gehen.
Um den Tag richtig gut zu beginnen, ist der erste Schritt: anhalten. Es ist so leicht, sich unverzüglich mitten in irgendetwas hineinzustürzen, das man sich vorgenommen hat, ohne bewusst damit zu beginnen. Jeder bewusste Anfang beginnt mit einem Innehalten, auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde ist. Tun wir das nicht, werden wir einfach mitgerissen, wie dies nur allzu oft vorkommt.
Dieser bewusste Beginn findet seinen Ausdruck in den Gesängen, wo alles davon abhängt, im richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Um im richtigen Moment einzusetzen, müssen wir zuerst innehalten.
Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.
Der zweite Schritt ist Hinschauen. Wenn wir nicht hinschauen, dann nützt uns auch das Anhalten nichts. Der Chor muss auf den Kantor schauen und auf sein Zeichen zum Einsatz achten. Bei jeder Tätigkeit ist es wichtig, zunächst auf alles zu achten, was diese Handlung betrifft: Wurde uns diese Aufgabe vielleicht schon früher einmal gestellt? Wie haben wir sie damals gelöst? Was ist uns dabei gelungen? Was haben wir versäumt? So vermeiden wir, den gleichen Fehler allzu oft zu wiederholen.
Es heißt, ein Narr begehe immer wieder denselben Fehler, ein Weiser hingegen jedes Mal einen neuen. Wir können nicht vermeiden, Fehler zu machen, aber wir können diejenigen vermeiden, die wir schon einmal begangen haben. Dummerweise neigen wir dazu, geflissentlich zu übersehen, was wir nicht sehen wollen. Ehrliches Hinschauen kann aber gelernt werden.
Zum Dritten müssen wir gehen. Es hilft uns nicht, anzuhalten, wenn wir nicht hinschauen, und es nützt nichts, anzuhalten und hinzuschauen, wenn wir nicht auch gehen. Schlussendlich müssen wir handeln. Die drei gehören zusammen, und der Trommelschlag des Engels signalisiert: ‹Halt an, schau hin, geh voran!› Lass uns aufbrechen.»
2. Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 82-89
3. Audios zu Stop ‒ Look ‒ Go
Lebendige Spiritualität (2015)
Die Themen des Gesprächs:
‹Stop ‒ Look ‒ Go› leben
Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(29:24) Die Methode: Stop ‒ Look ‒ Go, Innehalten ‒ Innewerden ‒ Tun: Unsere täglichen buddhistischen Augenblicke, unsere ‹amunah›-Spiritualität und unser Yoga
4. Audios zu Gedichten
Fragen, die uns bewegen (2005)
Vortrag:
(37:46) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)
Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag:
Was fördert gesundes spirituelles Wachstum (siehe auch Mitschrift):
(05:14) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Fragerunde:
‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (R. M. Rilke)
Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast:
Teil 1:
(11:04) Stufen im Gedicht von R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst›
Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996):
(01:47) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus unsern Herrn:
(20:21) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)
5. Weitere Texte und Interviews
Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David:
«Haben Sie vielleicht einen Tipp wie wir uns in Achtsamkeit üben können?»
«Als beliebtester Tipp hat sich eine Merkhilfe eingebürgert. Sie besteht aus drei englischen Wörtern, die man Kindern einprägt, wenn sie lernen, an einer Kreuzung ohne Verkehrsampel gefahrlos die Straße zu überqueren: ‹Stop / Look / Go!› — innehalten / rechts und links schauen / und dann rasch machen, bevor die Verkehrslage sich ändert.
Aufs Üben von Dankbarkeit übertragen, bedeutet das: innehalten, denn sonst läufst du an der Gelegenheit vorbei, die dieser Augenblick dir schenkt; / Ausschau halten nach der Gelegenheit, die du ergreifen willst; / und sie dann auch wirklich beim Schopf packen, denn im nächsten Augenblick kann sich die Lage schon ändern.
Meist ist, was uns geboten wird, die Gelegenheit uns einfach zu freuen, an dem was dieser Augenblick bringt. Das klingt zu gut, um wahr zu sein, bis wir das Stop ‒ Look ‒ Go selber ausprobieren.
Wir halten ja so selten inne, sondern laufen wie Schlafwandler an der Gelegenheit uns zu freuen vorbei und wachen erst auf, wenn etwas Unangenehmes uns wachrüttelt. So oft wir aber dieses Stop ‒ Look ‒ Go üben, lassen wir dieses Roboterdasein einen Schritt zurück und kommen näher heran an das wache, erfüllte Leben dankbarer Menschen. So werden Selbstfindung und Selbstverwirklichung gerade denen geschenkt, die diese Werte nicht als ausdrückliches Ziel anstreben.»
Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Ester Platzer mit Bruder David:
«Wie kann man lernen, jeden Augenblick zu genießen?»
«Ich habe da eine kleine Methode entwickelt, die lautet: ‹Stop. Look. Go.› Mit ‹Stop› meine ich: Kurz innehalten, still werden, ins Jetzt kommen, um einen Augenblick zu erkennen. ‹Look› heißt: schauen, welche Gelegenheit das Leben gerade offenbart. ‹Go› bedeutet: etwas aus der Situation machen, handeln, sich erfreuen oder etwas lernen.»
Die drei Schritte der Dankbarkeit (2020) von in KARUNA-Straßenzeitung (Text 2001 erschienen)
Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln-Technik (2018):
«INNEHALTEN – präsent, wach, bewusst, empfänglich werden
SCHAUEN – bemerken, beobachten, betrachten, eine direkte Erfahrung machen
HANDELN – anerkennen, etwas in die Hand nehmen, etwas mit den Möglichkeiten und dem Bewusstsein tun, die durch Dankbarkeit entstehen»]
________________
[1] R. M. Rilke: ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (Das Stunden-Buch) ‒ Siehe auch Stille leben
[2] «Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann ‒
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...»
Mit diesem Gedicht eröffnet Rilke Das Stunden-Buch.
[3] LILA, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147f.:
«Lila ist ein Sanskrit-Wort, das ‹Spiel› bedeutet, und steht im Hinduismus für die Vorstellung, dass das gesamte Weltgeschehen letztlich Spiel des Großen Geheimnisses ist: göttliches Kinderspiel, der große Reigentanz des Universums.
Auch für Nicht-Hindus kann dieses Bild große Bedeutung haben: Sinn unsres Lebens ist es, mit dem kosmischen Tanz im Schritt zu sein.»
[4] R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (Aus dem Nachlass)
[5] Orientierung finden (2021), 102-104, 106f., 86, 107f.
[6] Musik der Stille (2015), 75:
«Die Prim ist die Stunde der Arbeitsverteilung. … Der Ort der Prim ist der Kapitelsaal, wo die Mönche zusammenkommen, um die praktischen Fragen der Gemeinschaft zu besprechen. Die Arbeit wird gemeinsam verteilt.»
Sinnenfreudiges Morgenlob
Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
Die klösterliche Stunde der Laudes[1] führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.
In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte.
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht.
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
weist er uns an,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.
Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken ...
Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Und zum Abschied sagt er uns:
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.
Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen: an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung. Oft gehen wir wie im Schlaf durchs Leben, bis etwas kommt, an dem wir keine Freude haben: Erst dann werden wir wachgerüttelt.
Wenn wir lernen, die zahllosen Gelegenheiten wahrzunehmen, die uns Grund geben zur Freude am Geschenk des Lebendigseins, dann sind wir vorbereitet, wenn die Zeit kommt, die etwas Schwieriges von uns verlangt. Dann werden wir auch in dieser Herausforderung eine Gelegenheit erkennen und ihr dankbar gerecht werden.
Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzig passende Antwort.
Freude ist jene Art von Glück,
das nicht davon abhängt,
was uns zustößt.
Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt.
Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist?
Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein?
Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade Jetzt geschenkt ist.
Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.
Selbstverständlich ist es oft schwierig, diese Haltung einzunehmen, wenn wir uns plötzlich in einer unangenehmen oder gar tragischen Situation befinden. Wenn wir aber mit einfachen Dingen beginnen, dann wird uns die Haltung der Dankbarkeit nach und nach zur zweiten Natur.
Haben wir nicht Augen, die wir im Morgenlicht öffnen können? Haben wir nicht Ohren, um auf Geräusche zu hören, und Füße; um zu gehen, und Lungen, um zu atmen? Was für Geschenke! Sollten wir nicht dankbar sein und uns an ihnen erfreuen?
Ich verbinde die Laudes immer mit den hohen Fenstern des Oratoriums. Wenn die Gesänge der Laudes an einem Wintermorgen erklingen, sind die Fenster noch immer völlig dunkel. Kaum aber dämmert das erste Licht, beginnen die Farben in den Scheiben zu leuchten und langsam treten Formen und Figuren hervor und werden erkennbar. Diese Klosterfenster in der Dämmerstunde sind für mich ein kraftvolles Bild für das, was geschieht, wenn wir unsere Augen in Dankbarkeit für alles öffnen, was uns begegnet: Wir sehen göttliches Licht durch alles, was ist, hindurchleuchten.
Was für ein Geschenk, jeden Morgen irgendeinem Teil der Natur zu begegnen. Vielleicht haben wir gar nie richtig darauf geachtet auf den Morgenhimmel, auf wiegende Bäume im Wind, auf singende Vögel, oder auf Blumen, die soeben erblühen.
Die Natur ist einfach da; sie hat keinen unmittelbaren Nutzen; sie ist ein reines Geschenk der Schönheit und des Lebens.
Gerard Manley Hopkins sagt:
Tief drinnen in den Dingen lebt die kostbarste Frische.[2]
Und diese ursprüngliche Frische wird jeden Morgen erneuert.
Solange wir unsere Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie die Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.
In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hereinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig. Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran.
Wenn das Licht des frühen Morgens auf das Geschenk des Daseins aufmerksam macht, so durchdringt dieses Mysterium jede Antwort, die wir geben können. Und diese Transzendenz, diese Überfülle ist ein wesentlicher Bestandteil der göttlichen, freizügig geschenkten Gabe, die eine tägliche Einladung zu einer neuen Antwort aus ganzem Herzen ist und zum spontanen Lobpreis ‒ dem Choral ‒ inspiriert.
Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.
Die Freude äußert sich im Lobpreis Gottes und durchzieht sogar die klagenden Melodien der Gesänge.
Freude ist etwas, das wir pflegen können: wenn wir erst einmal diese dankbare Freude in den Gesängen hören und ihre Schönheit unser Herz ergreift, dann können wir auf leichte und natürliche Weise anfangen, Dankbarkeit zu üben.
Die schlanken melodischen Linien des Gregorianischen Chorals in ihrer Einfachheit und überirdischen Schönheit wecken unsere volle Aufmerksamkeit.
Sie entspringen einer tiefen Stille, und haben die Kraft, uns selbst still werden zu lassen, wenn wir sie nicht nur mit den Ohren aufnehmen, sondern mit dem Herzen.
Diese Musik stumpft niemals unser Gehör ab, sondern verfeinert es.
Ihre «asketische» Schönheit und ihre lautere Sinnlichkeit vermitteln den Hörenden mühelos Sammlung und jene besondere Lebenshaltung, die daraus entspringt.[3]
Wach auf!
heißt es in einer ganz frühen christlichen Hymne:
Wach auf, der du schläfst,
steh auf von den Toten,
so wird dich Christus erleuchten.[4]
Das bedeutet zwar mehr, als dass unsere Sinne wach werden müssen, setzt es aber zumindest unbedingt voraus.
Wie soll unser Herz hellhörig sein, solange unsere Sinne abgestumpft bleiben?
Ist nicht schon das Wiederlebendigwerden unserer halbtoten Sinnlichkeit ein Aufstehen von den Toten?
Auf also endlich!
ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:
«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:
Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.
Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:
Heute, wenn ihr seine Stimme hört,
verhärtet nicht eure Herzen!
Das Wort vom «Licht, das uns göttlich macht» ist eines der kühnsten im Schrifttum der christlichen Überlieferung.
Nur solche Kühnheit aber wird der Frohbotschaft gerecht.
Christus ist das Licht der Welt. In ihm, durch ihn und auf ihn hin ist alles erschaffen ‒ vom «es werde Licht», bis zum «es war sehr gut».
In seinem Lichte sehen wir das Licht und in diesem Licht finden wir ihn als Urgrund alles Geschaffenen.
Indem wir ihn da finden, finden wir zugleich den Sinn alles Geschaffenen und uns selbst.
Sinn aller Schöpfung ist es ja, Gottes Liebe zu offenbaren.
Christus ist Offenbarung von Gottes Liebe; und das müssen auch wir selber werden.
Er ist Ebenbild des unsichtbaren Gottes.
Da wir als Gottes Ebenbild geschaffen sind, finden wir unser wahres Selbst, wenn wir im Herzen aller Dinge ihn finden.
Dem kühnen Wort des Heiligen Benedikt entspricht das berühmte Wort Meister Eckeharts:
Das Auge, mit dem ich Gott anschaue,
ist das Auge, mit dem mich Gott anschaut.[5]
Das findet seine Vollendung in der visio beatifica des Himmels.
Es beginnt aber mit unserer dankbaren Sinnlichkeit hier auf Erden.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 6]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(55:55) Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (Das Stunden-Buch)
1.2. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn
(20:46) ‹Wach auf, du Schläfer› (Eph 5,14)
(46:03) ‹Öffnen wir also unsere Augen für das Licht, das uns göttlich macht› (RB prol 9)
2. Weitere Texte
2.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268f.: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35f.:
«In unserem Herzen ist Gott uns näher, als wir uns selber sind. Der Heilige Augustinus versichert uns dies aus seiner mystischen Erfahrung, und wir ahnen es aus unserer eigenen. Zugleich weiß Augustinus aber auch (und wir wissen es), dass unser Herz ruhelos sei, bis es heimfinde zu seinem Ausgangspunkt, heim zur göttlichen Mitte.
Vom Ursprung unserer Ruhelosigkeit sagt Rilke:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand …
Was aber ist diese Sehnsucht? Ist sie nicht letztlich Heimweh? Heimweh nach jenem Urquell von Sinn, den wir Gott nennen. Und der quillt in unserem innersten Herzen auf. Die Sinne senden uns hinaus. Und nur so können wir dahin kommen, wo wir immer schon sind. Unsere Ausfahrt zum äußersten Rand unserer Sehnsucht ist Heimkehr zur Herzmitte. Sinn finden wir, wenn wir mit dem Herzen horchen lernen.»
2.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):
«Wenn der heilige Benedikt seinen Mönchen als Ziel setzt, ‹dass in allem Gott verherrlicht werde›, dann geht es ihm um mehr als darum, Gott Ehre zu erweisen. Er zitiert ja hier den ersten Petrusbrief (4,11) – ‹dass in allen Dingen Gott geehrt werde› – ersetzt aber ‹geehrt werde› (honorificetur) durch ‹verherrlicht werde› (glorificetur). Es geht ihm also nicht so sehr um die Ehrerbietung, die wir Gott erweisen, sondern umgekehrt: um die Herrlichkeit, die Gott vor uns erstrahlen lässt. So gut und wichtig unser menschliches ‹Alles-meinem-Gott-zu-Ehren› auch ist, im Vergleich zum Donnerschlag der göttlichen Glorie ist es kaum eine Knallerbse. Wir Menschen können Gott ehren, aber nur Gott selbst kann Herrlichkeit wie Wetterleuchten aufblitzen lassen. Und das ereignet sich in Augenblicken dankbaren Gehorsams, wenn wir, ‹attonitis auribus› (RB Prol 9) – mit dem Donnerkrachen der Gottesstimme in unseren Ohren – auf diesen Ruf hören und darauf antworten. Der Gehorsam und die Dankbarkeit öffnen unsere Augen für das ‹lumen deificum› (RB Prol 9), jenes Taborlicht (Mt 17; Mk 9; Lk 9), das die ganze Schöpfung verklärt, indem es sie durchscheinend macht für Gottes Herrlichkeit.»
2.3. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 26f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 23f.]:
«Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche.
‹Natur ist niemals verbraucht›, sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe. ‹Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.›[7]
Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals. Bei Regenbogen ist das offensichtlich. Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, ‹ein Schleier aus dem Atem eines Windes›, wie Robert Frost das nennt, ‹ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht.›
Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden. Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein.
Vielleicht sah ich ‹an diesem Morgen des Morgens Liebling›, Gerard Manley Hopkins ‹vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben›[8], oder einfach die zwei Zentimeter Zahnpasta auf meiner Zahnbürste.
Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, dass es überhaupt etwas gibt ‒ dass wir hier sind.
Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen lässt, öffnet ‹die Augen unserer Augen›.
Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Zentimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.»
2.4. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 32-35]
__________________
[1] Die Laudes (Plural von lat. laus‚ Lob, Lobgesang) sind das Morgengebet der Mönche bei Tagesanbruch
[2] «God’s Grandeur
The world is charged with the grandeur of God.
It will flame out, like shining from shook foil;
It gathers to a greatness, like the ooze of oil
Crushed. Why do men then now not reck his rod?
Generations have trod, have trod, have trod;
And all is seared with trade; bleared, smeared with toil;
And wears man's smudge and shares man's smell: the soil
Is bare now, nor can foot feel, being shod.
And for all this, nature is never spent;
There lives the dearest freshness deep down things;
And though the last lights off the black West went
Oh, morning, at the brown brink eastward, springs ‒
Because the Holy Ghost over the bent
World broods with warm breast and with ah! bright wings.»
«Gottes Größe
Die Welt ist erfüllt von Gottes Größe.
Ihr Feuer bricht auf wie aus Spiegelscherben.
Sie strömt ins Große wie gepresstes Öl aus den Kerben.
Warum kniet vor ihr nicht des Menschen Blöße?
Menschenalter immerfort in neuen Gleisen reisen und kreisen.
Und alles verdorrt vom Getriebe, verrucht, verflucht von Qualen.
Alles starrt von Menschenschmutz, riecht nach Menschenschweiß: ohne Schalen
liegt die Erde nackt, kein Fuß kann fühlen mit Sohlen aus Eisen.
Und doch ist von alldem Natur nicht ganz zuschanden.
Es ist noch aus Lebenstiefen köstlichste Frische zu trinken.
Auch wenn die letzten Schimmer im schwarzen Westen verschwanden,
o Morgen, über dem braunen Saum gen Osten, dein Winken ‒
denn der Heilige Geist brütet über den Banden
der Welt mit warmem Flaum und ah! seine Flügel blinken.»
Gerard Manley Hopkins: ‹Poems and Prose› (Penguin Classics, 1985); übersetzt von Detlev Wilhelm Klee
[3] Musik der Stille: Laudes: Tagesanbruch (2015), 55-59, 61
[4] Eph 5,14
[5] «Soll mein Auge die Farbe sehen, so muss es ledig sein aller Farbe. Sehe ich blaue oder weiße Farbe, so ist das Sehen meines Auges, das die Farbe sieht ‒ ist eben das, was da sieht, dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.» (Meister Eckhart: Predigt ‹Qui audit me›)
[6] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 279f.: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 51f.
[7] Siehe Anm. 2
[8] «The windhover
I caught this morning morning's minion, king-
dom of daylight's dauphin, dapple-dawn-drawn Falcon, in his riding
Of the rolling level underneath him steady air, and striding
High there, how he rung upon the rein of a wimpling wing
In his ecstasy! then off, off forth on swing,
As a skate's heel sweeps smooth on a bow-bend: the hurl and gliding
Rebuffed the big wind. My heart in hiding
Stirred for a bird, – the achieve of, the mastery of the thing!
Brute beauty and valour and act, oh, air, pride, plume, here
Buckle AND the fire that breaks from thee then, a billion
Times told lovelier, more dangerous, O my chevalier!
No wonder of it: shéer plód makes plough down sillion
Shine, and blue-bleak embers, ah my dear,
Fall, gall themselves, and gash gold-vermilion.»
«Der Windgleiter
Ich fing heut Morgen des Morgens Liebling, den Königssohn
im Reich des Tageslichts, den Falken im getupften Dämmerkleid, er ritt
übers Hügelland, unter ihm die stille Luft, und schritt
hoch daher, wie flog über Flatterflügels Zügel der schrille Ton
in seinem Rausch! Dann weg, weit weg im Schwunge schon,
wie ein Schlittschuh sanft die Schleife saust: Sturz und Gleiten
stieß vor sich her der große Wind. Meines Herzens stumme Saiten,
ein Vogel schlug sie wach ‒ ihn zu erlangen, Ihn zu fangen war mein Lohn!
Wüste Schönheit und Mut und Tat, o Luft Stolz, Gefieder,
hier knicke ein! Und die Feier, die da aus dir brechen ohne Zahl,
ihren Zauber, ihre Fährnis, o mein Troubadour, fassten besser deine Lieder!
Wen nimmt es wunder: Schiere Schufterei pflügt tausendmal
die Lichter unter, und blau-graue Aschenglut fällt hernieder,
mein Teurer, sie sauert ein, und Goldrubine sickern aus dem Wundenmal.»
Gerard Manley Hopkins: ‹Poems and Prose› (Penguin Classics, 1985); übersetzt von Detlev Wilhelm Klee
Horchen und Gehorchen
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
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«Hören, DU großes Geheimnis, ist Dein Geschenk. Dich hören zu können, ist Deine große Gabe an mich; auf Dich zu horchen ist meine große Aufgabe vor Dir. Öffne DU die Ohren meines Herzens. Mach mich ganz Ohr.
In den Singenden singst DU; in den Weinenden weinst DU; in den Schweigenden schweigst DU ‒ mit beredtem Schweigen. Lass mich so still werden, dass auch Deine Stille deutlich zu mir redet. In Deinem Schweigen darf ich schweigend ruhen.
Lass mich so hellhörig werden, dass am Wendepunkt, an dem Deine Gegenwart mir entgegenwartet, mein Horchen zum Gehorchen wird und mein Hören zum Dir Angehören. Amen.»[1]
Das Schlüsselwort für meinen Zugang zum geistlichen Leben heißt Horchen.
Damit ist eine besondere Art des Horchens gemeint, ein Hinhorchen des Herzens.
So zu horchen, ist das Rückgrat der mönchischen Tradition, in der ich stehe.
Das allererste Wort der Regel des heiligen Benedikt lautet: «Horch!» ‒ «Ausculta!»[2] ‒, und aus dieser ersten Geste des Horchens aus ganzem Herzen erwächst die gesamte Disziplin der Benediktiner, wie eine Sonnenblume aus ihrem Samen wächst.[3]
Die Spiritualität der Benediktiner geht ihrerseits auf die umfassendere und ältere Disziplin der Bibel zurück.
Aber hier ist der Begriff des Horchens von grundlegender Bedeutung. Aus biblischer Sicht kommen alle Dinge durch Gottes schöpferisches Wort in die Welt; die gesamte Geschichte ist ein Dialog mit Gott, der zum Herzen der Menschen spricht.
Die Bibel verkündet mit großer Klarheit, dass Gott eins ist und transzendent.
Bewundernswert ist die Einsicht des religiösen Geistes, der in der biblischen Literatur seinen Ausdruck gefunden hat, dass Gott zu uns spricht.
Der transzendente Gott spricht in Natur und Geschichte. Das menschliche Herz ist dazu aufgerufen, zu horchen und zu antworten.
Horchen und Antworten ‒ das ist die Form, welche die Bibel unserem grundlegenden religiösen Streben als menschliche Wesen vorzeichnet: dem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, dem Streben nach Sinn.
Unser Glücklichsein gründet sich nicht auf Glücksgefühle, sondern auf inneren Frieden, den Frieden des Herzens.
Selbst inmitten einer sogenannten Pechsträhne, inmitten von Leid und Schmerz können wir unseren inneren Frieden finden, wenn wir aus all dem Sinn heraushören.
Die biblische Überlieferung zeigt uns den Weg, indem sie verkündet, dass Gott selbst in der schlimmsten Notlage und durch sie zu uns spricht.
Indem ich mich der Botschaft des Augenblicks ganz öffne, kann ich zur Quelle der Sinnhaftigkeit vorstoßen und den Sinn des Lebens erkennen.
So zu horchen heißt, mit dem Herzen horchen, mit dem ganzen Wesen.
Herz bedeutet das Zentrum unseres Wesens, in dem wir wahrhaftig eins sind. Eins mit uns selbst, nicht aufgespalten in Verstand, Wille, Gefühle, Körper und Geist, eins mit allen anderen Geschöpfen.
Denn das Herz ist der Bereich, in dem wir nicht nur mit unserem innersten Selbst in Berührung sind, sondern gleichzeitig mit dem ganzen Dasein innigst vereint sind.
Hier sind wir auch vereint mit Gott, der Quelle des Lebens, welche im Herzen entspringt. Um mit dem Herzen zu horchen, müssen wir immer wieder zu unserem Herzen zurückkehren, indem wir uns die Dinge zu Herzen nehmen.
Wenn wir mit dem Herzen horchen, werden wir Sinn finden, denn so wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Geräusche, ist das Herz das Organ für Sinn.
Die Disziplin des täglichen Horchens und Antwortens auf den Sinn wird Gehorsam genannt
Dieser Begriff von Gehorsam ist viel umfassender als die beschränkte Vorstellung von Gehorsam als Tun-was-einem-gesagt-wird.
Gehorsam, im umfassendsten Sinn, heißt, sein Herz auf den einfachen Ruf einstimmen, der in der Vielfalt und Vielschichtigkeit einer gegebenen Situation enthalten ist.
Die einzige Alternative dazu ist Absurdität, Ab-surdus bedeutet wörtlich «absolut taub».
Wenn ich eine Situation absurd nenne, gebe ich zu, dass ich taub für ihren Sinn bin. Ich gestehe indirekt ein, dass ich ob-audiens werden muss ‒ aufmerksam horchend, gehorsam.
Ich muss mein Ohr, mich selbst, so völlig dem Wort, das mich erreicht, hingeben, dass es mir zum Auftrag wird.
Vom Wort gesandt, werde ich meiner Sendung gehorchen und so, durch liebevolles und wahrhaftiges Handeln, nicht durch eine Analyse der Wahrheit, fange ich an zu verstehen.
Was aus all dem für mein Handeln folgt, liegt auf der Hand.
Umso wichtiger ist es, im Auge zu behalten, dass es uns hier nicht vornehmlich um ethische, sondern um religiöse Erwägungen geht, nicht um Zweckbestimmung ‒ selbst dann nicht, wenn es sich um die edelsten Zwecke handelt ‒, sondern um jene religiöse Dimension, aus der jeder Zweck seinen Sinn ableiten muss.
Die Bibel nennt das Horchen und Antworten des Gehorsams «vom Wort Gottes leben», und das bedeutet viel mehr, als nur Gottes Willen tun.
Es bedeutet, sich vom Wort Gottes zu nähren wie von Speis und Trank ‒ vom Wort Gottes in jedem Menschen, jedem Ding, jedem Ereignis, dem wir begegnen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin. Ihre Beschaffenheit, ihr Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist. Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?
Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht. Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft. Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.
Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.
Aber auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. Im Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen.
Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebenspendendes Wort?
Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.
Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt.
Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit.
Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.
Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube.
Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebers nicht offenbar ist, heißt, den Weg zum Herzensfrieden finden.
Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.
Übung im Horchen mit dem Herzen lehrt uns in einem lebenslangen Prozess, unterschiedslos nach jedem Wort zu leben, das aus dem Munde Gottes kommt.[4]
Wir lernen es, indem wir in allen Dingen unsere Dankbarkeit bezeugen.
Die klösterliche Umgebung soll genau dies erleichtern. Die Methode ist Losgelöstheit.[5]
Ich kenne zwei alte Schwestern, die ihre eigene Methode haben: Jedes Mal, wenn die Pendeluhr schlägt, sagt eine von den beiden:
«Denk an Gottes Gegenwart!»,
und die andere antwortet:
«Und sei allzeit dankbar!»[6]
Das mag manchen ein bisschen verschroben anmuten. Man braucht es aber nur selbst zu versuchen, um zu entdecken, was sich da ereignet:
Kronos verwandelt sich in Kairos,
Uhrzeit in einmalige Gelegenheit,
ein unpersönlicher Zeitpunkt
in tief persönliche Begegnung
mit dem Geber aller Gaben.
Wenn wir nur einmal anfangen, wach zu sein für die Gelegenheit, die ein gegebener Augenblick uns bietet, dann ist es nur ein kleiner Schritt von sinnenfroher Aufgewecktheit zur wachen Antwort ernster Verantwortlichkeit.
Meistens, ja fast immer, ist die Gelegenheit, die uns geboten wird, Gelegenheit zu sinnlicher Freude.
In dem Maß, in dem wir lernen, diese Gelegenheiten dankbar freudig zu ergreifen, werden wir auch ganz da sein, wenn ein gegebener Augenblick Schwieriges von uns verlangt ‒ etwa für unsere Überzeugung einzutreten.
So gesehen, zeigen sich traditionelle Elemente christlicher Askese von einer neuen Seite. Wenn der Heilige Bernhard zum Beispiel von der Nützlichkeit des Fastens spricht, erwähnt er an erster Stelle, dass Hunger uns lehrt, den Geschmack der Speisen erst so recht zu würdigen.
Auch die «lectio divina» der Benediktinermönche gehört hierher. Es handelt sich dabei ja keineswegs nur um «geistliche Lesung» im engen Sinn, sondern um ein waches «Lesen» der Botschaft, die jeder Augenblick bringt. Nur so ist die zentrale Stellung von «lectio» in der benediktinischen Askese zu verstehen.
Einmal liest der Mönch mit gesammelter Aufmerksamkeit die Worte der Heiligen Schrift, ein andermal mit derselben Konzentration die Zeichen der Maserung im Holz, mit dem er arbeitet, oder die Zeichen der Zeit in der er lebt.
Ein und dieselbe innere Haltung kennzeichnen das «Lesen» in all diesen Bereichen. Wer die Zeichen der Zeit nicht lesen kann oder die Schrift der Eisblumen an den Fensterscheiben, der liest vielleicht die Buchstaben in der Bibel, bleibt aber doch geistlicher Analphabet.
Um Botschaft und Antwort dreht sich alles in der christlichen Askese, um Gelegenheit und Bereitschaft, um Horchen und Gehorchen.[7]
«Gehorchen will ich letztlich nur DIR, DU ‹sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen›.[8]
Wie Jakob eine ganze Nacht lang rang mit Deiner dunklen Gegenwart, so rang und ringt die Menschheit in der Nacht der Zeit mit Dir schon von Anbeginn.[9]
Mein Ringen ist mein Nicht-horchen-Wollen, obwohl ich Dich hören kann tief im Herzen.
Siege DU über mich ‒ in mir.
Nicht nur horchen will ich dann, sondern so hingegeben horchen, dass mein Horchen zum Gehorchen wird ‒ und zum Überschreiten: zum Überschreiten meiner eigenen begrenzten Einsichten und Absichten; zum Überschreiten aller Hindernisse durch gehorsames Tun; zum Überschreiten auch ‒ im Vertrauen auf Dich ‒ von allem, was ich mir selber je zugetraut hätte.
Als ‹sanftestes Gesetz› lass mich Dich erkennen.
In wahrhaft wachen Augenblicken ist mir ja klar, dass DU die Freiheit bist, nach der ich mich sehne. Amen.»[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5, 7, 10]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(06.45) «Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
(10:01) Dieses Horchen mit dem Herzen ist keineswegs etwas Abstraktes, sondern ist ganz konkret mit dem Horchen mit den Ohren verbunden. Es beginnt mit einem intensiven Horchen lernen. Wie können wir uns denn einbilden, mit dem Herzen horchen zu können, wenn wir nicht einmal mit den Ohren eingeblendet sind auf die vielen wundervollen Geräusche, die uns ständig umgeben.
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(32:33) Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten (Rilke, Die erste Elegie) – Die Gestalt des Orpheus – Da schufst du ihnen Tempel im Gehör (Die Sonette 1. Teil, I) – Jeden Morgen weckt er mein Ohr (Jes 50,4)
(41:22) Eine Linie zum völlig offenen Horchen über das Hören ‒ Horchen ‒ Hinhorchen ‒ Gehorchen. Unterschied von Gehorchen und Dressur. Das erste Wort der Benediktinerregel: Horche! Ausculta! – Ohr und inneres Gleichgewicht in den Forschungen von Alfred A. Tomatis
2.2. Horchen ‒ die Kunst des Betens (2002): Interview von Johannes Kaup mit Bruder David:
(06:37) Wir horchen auf das Wort, das uns jeder Augenblick zuspricht. Dieses ES, das alles gibt, darauf horchen wir hin. Jede Gelegenheit, jeder Augenblick, jedes Ding, jede Begegnung, jede Situation ist Wort und hat Sinn, will uns etwas sagen. Und wenn wir uns darauf einlassen und darauf hinhorchen, dann hören wir auch etwas, und was wir hören, ist, dass wir zu einer Entscheidung aufgerufen werden. Jeder Augenblick ist in gewissem Sinn Entscheidung.
(10:42) Im Kloster gehört zur ‹lectio divina›, zur heiligen Lesung, nicht nur die Schriftlesung. Eine meiner liebsten Formen der heiligen Lesung ist Biologiebücher zu lesen: die Evolution der Pflanzen, der Tiere; die Komplexität dieser Vorgänge, die Schönheit der Blüten usw.. Das ist für mich sehr erhebend und kann ebenso spirituelle Lesung sein.
2.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25.11) Öffne die Ohren ‒ ‹neige Dein Ohr› ‒ Gott spricht in jedem Augenblick
2.4. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(00:00) Mit dem Herzen horchen fällt uns nicht leicht ‒ Erlauben wir uns eine halbe Minute der Stille (02:04) Wie können wir von Herz zu Herz sprechen? Die Dichtung gibt uns eine helfende Hand
2.5. Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
Gesammelt horchen
Gelassen horchen
Gläubig horchen
Verantwortlich horchen
Dankbar horchen
3. Weitere Texte
3.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 265: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 18f.:
«Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist›, wie T. S. Eliot es ausdrückt.[11]
In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist› zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒
‹jetzt und in der Stunde unseres Todes.›
‹Und die Todesstunde ist jeder Augenblick›, sagt T. S. Eliot, denn der Augenblick, in dem wir wirklich hinhorchen, ist ‹Augenblick in und außer der Zeit.›[12]
Eine Methode, mit deren Hilfe man Augenblick für Augenblick in dieses Mysterium eindringen kann, ist die Disziplin des Jesus-Gebetes, Training im Herzensgebet, wie es auch heißt.»
3.2. Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 23f. [derselbe Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille : Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein» (2016), 103]:
«Um im Rhythmus zu bleiben, muss man hinhorchen. Um den Weg zu sehen, muss man hinschauen. Das Kloster ist deshalb ein Ort, an dem man lernt, Augen und Ohren offen zu halten. ‹Höre!› ist das erste Wort der Klosterregel des Heiligen Benedikt. Ein weiteres Schlüsselwort lautet: ‹Betrachte!› (lateinisch: considera, von sidus = das Sternbild/Gestirn, also wörtlich: seinen Kurs nach den Sternen bestimmen).
Der Heilige Benedikt, Vater des abendländischen Mönchtums, will, dass die Mönche ‹apertis oculis› und ‹attonitis auribus› leben, d. h. mit so offenen Augen und so horchenden Ohren, dass die Stille göttlicher Gegenwart sie wie Donner trifft.
Deshalb ist ein Benediktinerkloster ‹schola Dominici servitii›, eine Schule, in der man lernt, sich auf die höchste Ordnung einzustimmen.»
3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:
Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)
3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben›. Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben.» (38)]
_________________
[1] Leseprobe aus dem Buch Erwachende Worte (2023), 19
[2] Für Bruder David ist der Ausdruck «Ausculta» ‒ von «auscultare: horchen, lauschen, gehorchen» ‒ geläufig, obwohl in den lateinischen Ausgaben der RB «Obsculta» ‒ «Höre» steht.
[3] Bruder David übersetzt RB Prol 8f. in Sinne und Sinnlichkeit (1996), 280, dem Auszug aus Die Achtsamkeit des Herzens: Der Dreischritt des horchenden Herzens (2021), 51:
«Auf also endlich!» ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:
«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:
‹Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.›
Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:
‹Heute, wenn ihr seine Stimme hört,
verhärtet nicht eure Herzen!›»
Siehe auch Sinnenfreudiges Morgenlob: Haupttext und Ergänzend: 2.2
[4] Siehe das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Gebet ‒ drei Innenwelten
[5] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 261-264: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 13-17
[6] In Musik der Stille (2015), 98:
«Ich habe zwei Schwestern gekannt, deren Standuhr jede Viertelstunde schlug. Jedes Mal, wenn die Uhr schlug, sagte die eine: ‹Denk an Gottes Gegenwart› und die andere antwortete: ‹und sei allzeit dankbar›.
Es ist so einfach, sich ein paar Mal am Tag oder jeweils zur vollen Stunde daran zu erinnern, dass wir in Gottes Gegenwart stehen. Der heilige Benedikt betonte, dass eben dies das Wesen des Gebets ausmacht. Drum freue ich mich immer, wenn ich in Europa die Kirchenglocken höre. Sie tauchen die ganze Landschaft in klösterliche Schwingungen.»
[7] Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 84-86
[8] R. M. Rilke: ‹Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz› (Das Stunden-Buch: ‹Vom mönchischen Leben›)
[9] Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 94f.
[10] Erwachende Worte (2023), 27
[11] Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(25:01) «T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.»
[12] Siehe Auszüge aus T. S. Eliot: Four Quartets in Stillehalten
Sinne und Sinn
Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Robert Graf
(Film 00:24) Lebendig sein: darauf kommt’s schließlich im Letzten an. Das geistliche Leben heißt ja, ein überaus lebendiges Leben führen. Dass wir noch nicht gestorben sind, bedeutet nicht, dass wir wirklich lebendig sind. Wir leben oft so halbtot dahin. Der Geist ist der Lebensatem Gottes in unserer christlichen Tradition, in der ganzen biblischen Tradition. Daher bedeutet ein geistliches Leben führen, völlig lebendig zu sein. Mit allen Sinnen. Und darauf kommt es schließlich im Letzten an: Lebendigkeit.
(04:00) Wenn wir vom Sinn finden sprechen, dann kommen natürlich die Sinne in das Spiel. Denn es ist ja kein Zufall, dass Sinn und Sinne dem Wort nach zusammenhängen. Rilke hat das so wunderbar in seinem Gedicht zusammengefasst in einem der Sonette an Orpheus:
Sei in dieser Nacht aus Übermass
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne.
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Sei Sinn! Denn Sinn finden, heißt ja eigentlich Sinn werden. Das heißt so zu leben, dass wir in jedem Augenblick uns dem stellen ‒ mit allen unsern Sinnen ‒, was uns entgegenkommt.
(06.45) Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
Ursprünglich in unserer natürlichen Frömmigkeit denken wir noch nicht notwendigerweise an einen persönlichen Gott. Sondern wir erleben in unsern besten, lebendigsten Augenblicken eine tiefe Geborgenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Daheimsein in der Welt. Wir sind hier nicht verweist, wir wurden erwartet, wir sind eingebettet, die Welt ist für uns vorbereitet, wir sind hier zu Hause.
Und von diesem Zugehörigkeitsgefühl ist kein sehr weiter Weg zu der Gegenseitigkeit der Zugehörigkeit. Und da kommt dann die persönliche Bezogenheit zum Göttlichen herein, und das ist der Gesichtspunkt des Religiösen, der in der biblischen Tradition besonders unterstrichen wird, auf den die biblischen Autoren besonders ansprechen.
Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: «Gott sprach und es ward Licht.» Und «Gott sprach», und da war ein Firmament», und «Gott sprach», und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.
Aber wie spricht Gott? Durch alles, was es gibt. Jeder Gegenstand, jede Person, jede Situation ist letztlich WORT. Das Wort sagt mir etwas und fordert mich auf zu antworten. Jeder Augenblick mit allem, was er enthält, spricht das große Ja auf neue und einzigartige Weise aus. Indem ich darauf anspreche, Augenblick für Augenblick, Wort für Wort, werde ich das WORT, das Gott in mir und zu mir und durch mich spricht.
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Du hast mich mit Augen beschenkt und Du beschenkst meine Augen mit Farben ‒
von den Farben, die im Morgengrauen stillschweigend zu sich finden,
bis zu den lauten Farben am Mittag
und den jubelnden beim Sonnenuntergang.
Jede Farbe hat ihren eigenen Ton.
Mit jeder Farbe sprichst Du mir ein Wort zu,
das sich nicht in Worte fassen lässt.
Mach mich heute hellhörig für Farben,
besonders für leise Farbtöne, die ich nicht nennen kann,
die mich Ehrfurcht lehren vor allem, was unnennbar ist wie Du.
Amen»
Deshalb ist Achtsamkeit eine so überaus wichtige Aufgabe. Wie kann ich auf diesen jetzigen Augenblick ganz ansprechen, wenn ich nicht wach bin für seine Botschaft? Und wie kann ich wach sein, wenn nicht alle meine Sinne hell wach sind?
Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Alles soll heute Begegnung werden mit Dir
durch Wort und Bild ‒ durch alles, was meine Sinne anspricht,
durch alles, was dabei in meinem Herzen aufleuchtet.
‹Quellgrund›? ‹Meer›? Bilder und Worte, von mir gefunden.
Aber was dahintersteht, ihre Bedeutung, ist nicht Erfindung, sondern Fund. Nur im Erfinden kann ich Dich finden.
‹Wir dürfen jenen erhorchen›, sagt der Dichter von Dir, ‹der uns am Ende erhört›.
Lass mich heute Dich erhorchen in allem, was ich mit Ohr und Herz höre!
Und erhöre Du dieses Gebet.
Amen»
Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!
Und welche Vielfalt von Tönen: Der Frühlingsregen, der Herbstwind, die Vögel im ganzen Jahr – Trauertaube, Blauhäher und Zaunkönig; der scharfe Ruf des Falken zur Mittagszeit und die Rufe der Eule zur Nacht –, das Geräusch der Ginsterruten auf dem Kies, das Spiel des Windes und die knarrende Gartentür.
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Öffne Du mir heute die Ohren meines Herzens, damit ich nicht nur Geräusche höre und Töne, sondern ‒ darüber hinaus ‒ Dich? Ja, Dich!
Dich in Vogelstimmen mitzuhören ‒
im Singen der Amseln,
im Zwitschern der Spatzen,
im nächtlichen Schrei der Zugvögel ‒
das ist leicht.
Mach mich aber bereit, auch in Stimmen,
die mir nicht so angenehm sind, Dich mitzuhören ‒
in Sirenen und Kreissägen,
in den Abendnachrichten,
vor allem aber in allem Unausgesprochenen,
das um liebendes Hinhorchen fleht.
Darum bitte ich Dich heute, Du, mein ‹Darüber-Hinaus›!
Amen.»
Wer könnte den Geschmack einer Erdbeere oder Feige in Worte übersetzen?
Und welch endlose Auswahl von Dingen, die man berühren kann, vom taunassen Gras unter meinen nackten Füßen bis zu den sonnen-durchwärmten Felsen, an die ich mich lehnen kann, wenn die Abende kühl werden.
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden.
Amen.»
Meine Augen gehen vor und zurück zwischen Fernem und Nahem: der goldgrüne, metallisch glänzende Käfer zwischen den Blütenblättern einer Rose, die unermessliche Weite des Pazifischen Ozeans zwischen der Küste tief unten und dem weiten Horizont, wo Meer und Himmel sich im Dunst begegnen.
Ja, ich gebe es zu: Einen solchen Platz zu haben, ist ein unschätzbares Geschenk. Es lässt das Herz aufgehen, die Sinne erwachen, einen nach dem anderen von neuer Vitalität lebendig werden. Wie auch immer die Umstände beschaffen sein mögen: Wir brauchen Zeit und Ort, um uns dieser Art von Erlebnis zu widmen. Es ist eine Notwendigkeit im Leben eines jeden, kein Luxus.
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Erst, wenn ich mich so recht in Vögel einfühle, wird mir bewusst, dass ja auch wir ohne Hände auskommen müssten, wenn uns keine geschenkt wären.
Wo immer man im Freien isst, nie fehlen Spatzen unter den Tischen.
Um wieviel geschickter diese Spatzen Krümchen aufzupicken verstehen, als Kinder beim Wettspiel mit gefesselten Händen in den Apfel zu beißen, der im Wasser schwimmt!
Sie schauen mich an wie beim Fahrradfahren-Lernen: «Schau! Freihändig kann ich's!»
Was ich alles mit Händen tun kann, will ich heute beachten.
Amen.»
Was in solchen Momenten zum Leben erwacht, ist mehr als Augen und Ohren: unsere Herzen lauschen und öffnen sich.
Bevor ich nicht meine Sinne eingestimmt habe, bleibt mein Herz düster, schläfrig, halbtot. In dem Maße, in dem mein Herz erwacht, vernehme ich die Aufforderung, mich meiner Verantwortung zu stellen. Wir übersehen leicht die enge Verbindung zwischen Antwortbereitschaft und Verantwortlichkeit, zwischen Sinnlichkeit und gesellschaftlicher Herausforderung.
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Mit verschlafenen Augen sehe ich die Welt weit anders als später am Tag. Auch darin liegt ein Geschenk:
Beim Aufwachen greifen meine Augen noch nicht nach dem, was ich sehe, sondern empfangen es einfach, ohne scharf zu unterscheiden,
ohne zu benennen, ohne zu wählen.
Wie viel reicher ist da die Ernte meines Blickfeldes als die karge Auswahl,
die ich dann später treffe.
Hilf mir heute, mich bewusst einzulassen auf diese bereitwillige Empfänglichkeit des Schauens, und so erst wahrhaft wach
durch diesen Tag zu gehen.
Amen.»
Wenn wir lernen, wirklich mit unseren Augen zu sehen, beginnen wir auch mit dem Herzen zu schauen. Wir fangen an, uns dem zu stellen, das wir lieber übersehen, um zu bemerken, was auf dieser unserer Welt geschieht.
Wenn wir lernen, mit unseren Ohren zu lauschen, beginnt unser Herz den Schrei der Unterdrückten zu vernehmen. Mit dem eigenen Körper in Kontakt zu sein heißt, mit der Welt in Verbindung zu sein – und dazu gehören auch die Dritte Welt und alle anderen Bereiche, derer sich unsere stumpfen Herzen bequemer Weise nicht bewusst sind.
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Jeden Morgen erwache ich zum Geschenk eines neuen Tages, aber auch zu allem E1end der Welt.
Unheil, das wir Menschen anrichten, ist entsetzlich genug.
Aber Erdbeben, Epidemien, Tsunamikatastrophen, wo kommen die her?
Ich will keine rosa Brille, will Dich nicht nach meinen Wunschträumen erfinden.
Ich möchte Dich kennenlernen, wie Du bist.
Lebensfülle und Vernichtung ‒ beides stammt von Dir, Du Unergründlicher. Mich schaudert.
Ich kann verzweifeln oder vertrauen. Ich wähle vertrauen.
Alles Böse ist das Noch-nicht-Gute.
Mit diesem Vertrauen will ich heute Schreckensnachrichten hören.
Amen.»
Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht man seine Achtsamkeit verliert. Die Übersättigung unserer Sinne neigt dazu, die Wachheit zu dämpfen. Eine Flut von Sinneseindrücken lenkt das Herz leicht von der gesammelten Aufmerksamkeit ab.
Aber der Einsiedler in jedem von uns läuft nicht vor der Welt davon; er sucht das Zentrum der Stille im Innern, wo der Pulsschlag der Welt zu hören ist.
Wir alle – jeder in anderem Maße – brauchen Einsamkeit, weil die Pflege unserer Achtsamkeit notwendig ist.
Wie sollen wir dies praktisch durchführen? Gibt es eine Methode zur Pflege der Achtsamkeit?
Es gibt viele Methoden. Der Weg, den ich gewählt habe, ist Dankbarkeit; man kann sie üben, pflegen, lernen. Je mehr wir in der Dankbarkeit wachsen, desto mehr wachsen wir in der Achtsamkeit. Bevor ich des Morgens meine Augen öffne, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe zu sehen, während Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind – die meisten aufgrund von Umständen, die man bessern könnte, wenn die Menschheitsfamilie zur Vernunft käme und ihren Reichtum sinnvoll, das heißt gleichmäßig, verteilte.
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!»
Wenn ich bewusst und hellwach schauen lerne, wächst meine Lebensfreude, meine Dankbarkeit fürs Sehen-Können, aber auch Bestürzung darüber, dass mehr als 40 Millionen meiner Mitmenschen blind sind ‒ Hauptursache: Mangelernährung und Hunger bei Kindern. Dabei würden die weltweiten Aufrüstungskosten von nur drei Tagen genügen, Hunger aus der Welt zu schaffen.
Heute will ich wenigstens einem Menschen diese erschütternden Statistiken bewusst machen und fragen: ‹Was können wir tun?›
Solche Fragen können weite Kreise ziehen und Menschen aufwecken. Statt zu verzweifeln, lass mich also wach hinterfragen.
Amen»
Wenn ich meine Augen mit diesem Gedanken öffne, bin ich höchstwahrscheinlich dankbarer für die Gabe des Sehens und wacher für die Bedürfnisse jener, die dieser Gabe ermangeln. Bevor ich am Abend das Licht ausschalte, notiere ich mir etwas, für das ich noch niemals dankbar gewesen bin. Das übe ich nun seit Jahren, und der Vorrat scheint unerschöpflich zu sein.
Dankbarkeit bringt Freude in mein Leben. Wie könnte ich Freude finden in Dingen, die ich für selbstverständlich halte? Also höre ich auf, etwas für «selbstverständlich» zu halten, und schon ist kein Ende mehr der Überraschungen, die mir begegnen.
Eine dankbare Haltung ist schöpferisch, denn letzten Endes ist Gelegenheit das Geschenk, das verborgen ist in dem Geschenk eines jeden Augenblicks – die Gelegenheit, mit Vergnügen zu sehen, zu hören, zu riechen, zu berühren und zu schmecken.
Es gibt kein engeres Band als jenes der Dankbarkeit, die Verbindung zwischen dem Gebenden und dem Dankenden. Alles ist Geschenk. Dankbares Leben ist ein Fest des universellen Gebens und Nehmens im Leben, ein grenzenloses Ja zur Zugehörigkeit.
Kann unsere Welt ohne Dankbarkeit überleben? Wie die Antwort auch lauten mag - ein bedingungsloses Ja zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller Wesen bringt mehr Freude in diese Welt.
Aus diesem Grunde ist Ja mein Lieblings-Synonym für Gott. [[1]]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1]
[Ergänzend:
1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.
(13:55) Für jemanden, der wirklich mit dem Herzen fühlen lernt, der wirklich mit dem Herzen der Wirklichkeit begegnet, besteht kein Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen.
Der Rausch aus dem Räucherstäbchen ist nicht heiliger als der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt. Auch der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt, ist eine Geste des Gebetes.
(14:30) Zu der großen Aufgabe des geistlichen Lebens, durch die Sinne Sinn zu finden, gehört natürlich auch das Riechen und der Geruchsinn. Aber das ist für die meisten von uns ‒ oder zumindest bei sehr vielen Menschen ‒ eine traurige Angelegenheit. Für die gibt es nur zweierlei Gerüche: gut und schlecht. Und das ist eine große Verschwendung unseres Geruchsinns: All diese wunderbaren Gerüche, die es in der Welt gibt. Wenn wir uns einmal darauf eingestellt haben, gar keine Gerüche als schlecht abzuschreiben, sondern uns einmal ihnen auszusetzen, dann finden wir, dass Dinge einen ganz eigenen Geruch haben, denen wir vorher gar keinen Geruch zugeschrieben haben. Holz hat einen ganz eigenen Geruch und verschiedene Holzarten ganz verschiedene Gerüche. Bücher: ein neues Buch, ein altes Buch. Für viele Menschen ist nur das Aufschlagen eines Buches schon mit einem gewissen Geruch verbunden und sogar gewisse Bücher mit der Erinnerung an gewisse Gerüche.
Überhaupt ist ja der Geruchsinn am engsten mit unserer Erinnerung verbunden. Wenn wir nur an die vielen Kindheitserinnerungen denken, die mit Gerüchen verbunden sind: eine Wäschelade, in der Lavendel ist, oder ein Fischmarkt oder das Meer oder Weihrauch: für wie viele Menschen Weihrauch ganz mit dem religiösen Kindheitserleben verbunden ist. Darum soll es uns auch gar nicht wundern, wenn in der Bibel und in vielen andern Traditionen der Geruchsinn eine ganz wichtige Rolle spielt.
(18:34) Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.
Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: «Überrasche mich!», dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.
(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne so viel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.
(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.
(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.
(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.
Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.
(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.
(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.
Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.
(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.
(36:46) Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ spientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.
Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.
Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.
(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.
Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.
(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss.
Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten.
Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein.
Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.[2]
Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: ‹Gott›, wenn wir es so nennen wollen.
(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen.
In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür.
Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen.
Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.
(47:50) Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.[[3]]
Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken.
Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.
Die Sinnoffenheit von der wir hier sprechen: mit dem Herzen fühlen, das ist nicht nur eine sinnliche Angelegenheit.
Das hat sehr viel zu tun mit sozialen Problemen.
Mit der Ganzheit der Welt.
Wir öffnen uns der Welt als Ganzes. Das heißt: Wenn wir wirklich schauen lernen mit dem Herzen, dann schauen wir auf die Welt wie sie ist und schauen nicht weg, wenn es uns nicht gefällt.
Wir müssen Dinge ins Auge fassen, die wir eigentlich nicht gerne sehen.
Wir werden vielleicht das Weinen der Welt hören.
Das Weinen der Unterdrückten.
Wir werden vielleicht riechen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark.
Wir werden, wenn wir uns zu Tisch setzen, das Salz der Tränen kosten, das mit aus der Dritten Welt importiert wird mit unsern Lebensmitteln.
Wir werden ‒ wenn wir wirklich ehrfürchtig fühlen lernen, das heißt, uns auch wirklich berühren lassen von dem, was wir berühren ‒, dann werden wir zutiefst berührt werden von dem Elend der Welt auch.
Nicht nur von allem Schönen. Von allem Schönen und von allem Schweren und allem Schrecklichen das es in unserer Welt gibt.
Und das fällt uns sehr schwer. Es ist aber eine große Aufgabe für uns alle.
2. Audios
2.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag und Fragerunde: Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 4: Antworten aus «einem Stück» ‒ Mystik in Tabuzonen von Theologie, Gesellschaft und Kirche
2.2. Im Paradoxen Sinn erfahren (1989)
Vortrag und Dialog:
Teil 3:
(15:31) ‹Es ging um Opfer bringen, Leibfeindlichkeit und Abwehr von zu viel Freude› / (16:59) Manichäische Unterströmung unter dem Einfluss von Augustinus
3. Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021)
Der Dreischritt des horchenden Herzens, 32-52
Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 53-79
Sinnlichkeit und christliche Askese, 80-99]
_____________________________
[[1]] Dieser Text ist eine Zusammenstellung aus der Transkription des Films Wir sind daheim in dieser Welt (1975), dem Text von Bruder David Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993) und Gebeten aus seinem Buch Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 10, 19, 18, 71, 54, 17, 12, 11
[[2]]: Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 56f.
«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»
[[3]] Stillehalten und Transkription Anm. 3; siehe auch: Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 112 und 127f.:
… den Punkt erreichen, «den T. S. Eliot den ‹ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt› nennt, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel, ‹wo Vergangenes und Zukunft vereint sind›.
‹Weder Fortgehen noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht ‒
und es gibt nichts als den Tanz.›»
«Diese Erfahrung des Einklangs mit sich selbst und mit allem, ein Einklang, im Herzen der Welt gefunden, im ruhenden Punkt, diese Erfahrung ist immer Geschenk. Aber es ist eine Sache, spontan im ‹Augenblick des Glücks, … dem Blitz der Erleuchtung› davon überrascht zu werden, und eine ganz andere, sein ganzes Leben auf diesem Ruhepunkt aufzubauen und es auf ihn auszurichten. Dazu brauchen wir die Unterstützung anderer, die dasselbe Ziel verfolgen.»
Sinne und Kind werden
Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - pixabay
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.[1]
Kreuzweg unserer Sinne ist das Herz.
Herz bedeutet den Schnittpunkt unserer geistigen und unserer leiblichen Wirklichkeit.
Herz bedeutet jenen Mittelpunkt unserer individuellen Innerlichkeit, wo wir zugleich eins sind mit allen anderen Menschen, Tieren, Pflanzen ‒ mit dem ganzen Kosmos.
Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen. Wenn wir Sinn finden wollen im Leben, so müssen wir mit den Sinnen beginnen.
Um mit dem Herzen horchen zu lernen, müssen wir zuerst lernen, mit den Ohren wirklich zu lauschen. Und so mit allen Sinnen.
Wie aber sollen wir dies angehen? Aus meiner eigenen Erfahrung glaube ich, drei Schritte unterscheiden zu können, die vielleicht Allgemeingültigkeit besitzen.
Den ersten Schritt nenne ich «Kindliche Sinnlichkeit», eine Haltung, die wir als Kinder besitzen, die wir aber im späteren Leben erst wieder erwerben müssen. Wesentlich daran ist das ungetrübte Vertrauen, mit dem wir uns dem Sinnlichen hingeben.
Diese Hingabe führt uns, wenn sie echt ist, zu einer Begegnung: Überrascht begegnen wir ‒ ich kann es nicht besser ausdrücken ‒ einem Gegenüber, das sich uns gibt, in dem Maß, in dem wir uns selber geben.
Diesen Schritt möchte ich mit Rilkes oben angeführten Ausdruck «Die seltsame Begegnung» nennen.
Im dritten Schritt wird uns zur Erfahrung, dass das ganz andere, das unseren Sinnen da begegnet, zugleich unser eigenstes Selbst ist. Wir sind selber der Sinn dessen, was wir sinnlich erfahren. Wenn uns das klar wird, erst dann finden wir durch unsere Sinne Sinn.
Sinn wird, wenn wir selber Sinn werden. Beides klingt an, wenn wir diesen dritten Schritt «Sinnwerdung» nennen.
Scheint das allzu philosophisch? Wir dürfen uns nicht abschrecken lassen. In Wirklichkeit ist es ganz einfach. In unserer Kindheit waren uns diese drei Schritte durchaus vertraut, wenn wir auch nicht darüber nachdachten. Wenn der Dichter sagt:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraut am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
so ist das unserem Herzen verständlich, wenn unser Verstand auch nachhinkt.
Sobald wir aber nur einmal damit anfangen, führt schon ein Schritt zum nächsten. Wir dürfen uns da auf unser eigenes Erleben verlassen. Darauf kommt es ja schließlich an.
Die meisten von uns sind mehr Augen- als Ohrenmenschen. Wir stoßen also wohl auf den geringsten Widerstand, wenn wir die Beispiele für unsere drei Schritte zunächst aus dem Bereich des Schauens wählen.
Gewöhnung und Übersättigung machen es andererseits gerade unseren Augen schwer, kindliche Frische zu bewahren.
Vielleicht bemerken das schon die Kinder. Sie unterhalten sich manchmal damit, Daumen und Zeigefinger zum Rahmen eines Guckloches zu machen, durch das die Welt auf einmal ganz anders aussieht. In den entlegensten Teilen der Welt erfinden Kinder dieses Spiel offenbar immer wieder von neuem. Dahinter steckt die Tatsache, dass ein ungewohnter Ausschnitt des allzu oft Gesehenen uns überraschend neu erscheinen kann.
Es gibt da in Spielwarenhandlungen neuartige Kaleidoskope, die nicht in einer Mattscheibe mit bunten Glasstückchen enden, wie die altmodischen, sondern in einer Linse. Man kann sie also wie ein Fernrohr ringsum auf Gegenstände richten, die dann die Prismen im Rohr zu sechs- oder achteckigen Sternen umgestalten. Plötzlich ist uns die alltägliche Umwelt verzaubert. Wir sehen sie wie zum ersten Mal.
Noch einfacher lässt sich das erreichen, indem wir in ein Blatt Papier ein winziges Guckloch stechen. Da brauche ich nur auf meine eigene Hand zu schauen. Weil ich nun nicht mehr die ganze Hand in den Blick bekomme, ja nicht einmal einen ganzen Finger, lässt sich, was ich sehe, nicht mehr einfach mit «Hand» oder «Finger» abtun. Was ist das denn eigentlich, dieses knollig gerunzelte Braune mit ein paar borstigen Haaren? In dem Bruchteil eines Augenblickes, bevor mir «Fingergelenk» in den Sinn kommt, habe ich endlich einmal wirklich hingeschaut.
Das lässt sich lernen. Und das Lernen wird uns Spaß machen, sobald das Kind in uns nur einmal wach wird.
Nichts ist wichtiger als das. Nur wenn wir das Kind in uns wiederentdecken und befreien, dürfen wir hoffen, Sinnenfreudigkeit wiederzufinden.
Das aber ist der erste Schritt auf dem Weg, im Leben Sinn zu finden.
Wieviel uns doch verlorengeht, nur weil wir so abgestumpft durchs Leben gehen.
Wieviel uns doch verlorengeht an Freuden, an Überraschungen, die uns überall umgeben und nur darauf warten, entdeckt zu werden.
Aber es muss nicht so sein. Wir können unser fortschreitendes Stumpfwerden aufhalten wie einen Krankheitsprozess.
Wir können den Ablauf umkehren, können lernen, jeden Tag noch nie Gewürdigtes neu zu erleben.
Am Morgen, noch bevor wir die Augen öffnen, können wir schon damit anfangen. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, was für ein Geschenk unsere Augen doch sind.
Der Blinde in einem Gedicht Rilkes kennt das Geschenk, weil es ihm fehlt. «Euch», sagt er zu uns, «kommt jeden Morgen das neue Licht warm in die Wohnung.»[2]
Würden wir nicht unsere Augen ganz anders öffnen, wenn wir es dankbar täten?
Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Lebensfreude. Wir halten diesen Schlüssel in unseren eigenen Händen.
Wir sagen «blau». Aber was heißt schon «blau»? Wir schauen ja kaum hin. Wir kleben dem Ding nur schnell eine Freimarke auf. Fertig. Wir drücken ihm einen Stempel auf: «Blau. ‒ Erledigt. Nächste Nummer!»
Was unser Verstand mit kalter Ungenauigkeit blau nennt, das kennt unser Herz als die Farbe von Taubenflügeln und von Wiesenenzian, von Stahl und Lavendel, von kleinen Schmetterlingen, die am Feldweg um eine Pfütze tanzen, und vom Sommerhimmel, der sich im Braun der Pfütze dennoch blau spiegelt.
Das Kind in uns weiß noch, wieviel tausenderlei Blau es gibt.
Das Kind in uns ist Dichter.
Unser Herz bleibt zeitlebens dichterisch, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Und Dichter wissen, wie vielschichtig, wie nahezu unerschöpflich das ist, was wir so einfachhin «blau» nennen. Wie Rilke etwa tiefer und tiefer taucht, wo an der Oberfläche nichts zu sehen ist, als eine «Blaue Hortensie».
So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;
Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.
Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.[3]
Können Kinder wirklich all das sehen? Nein. Aber Kinder können so schauen.
Und unser Leben ist nicht lang genug, um auszuschöpfen, was wir sehen können, wenn wir wie Kinder schauen; so offen, so hingegeben, so tapfer vertrauend.
Ja, es gehört Tapferkeit dazu, sich etwa dem Blau einer Hortensie auszusetzen und «eines kleinen Lebens Kürze» zu erleiden.
Als Kinder hatten wir noch den Mut dazu, aber seitdem sind wir feige geworden.
Goethe wundert sich in einem seiner Aussprüche, warum denn aus so vielversprechenden Kindern immer wieder nichts würde als langweilige Erwachsene. Die Antwort ist einfach: aus Feigheit.
Darum ist Dichtung so wichtig.
Dass Dichter Gedichte machen, ist halb so wichtig, als dass sie uns dadurch Mut machen, Mut, unsere Sinne zu öffnen.
Unsere Kindheit ist viel zu kurz, um die Versprechen zu erfüllen, die sie enthält. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus.
Kindwerden liegt immer in der Zukunft, wie das Himmelreich, «das Land der tausend Sinne», wie Walter Flex es nennt.[4]
Kindwerden kostet uns den Panzer aus eisernen Ringen, mit dem wir unser Herz unverwundbar machen, aber auch gefühllos.
Wir können Kinder werden, wenn wir uns getrauen, unser Herz dem Leben auszusetzen, ungesichert, unverwundbar, aber wahrhaftig lebendig.
Dichter wagen es. Sie haben ihr Leben ‒ und wieder hat Rilke das rechte Wort gefunden ‒
ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.[5]
Kindwerden will geübt sein. Wir müssen nur irgendwo anfangen, und heute noch.
Vielleicht sollten wir unsere geistige Ernährung aufbessern, etwa mit einem Gedicht pro Tag.
Oder wir könnten es uns leisten, täglich fünf Minuten lang etwas anzuschauen, ganz gleich was, nur einfach um der Freude des Anschauens willen.
Ein Museum erlaubt uns das, wenn wir nicht im Studieren steckenbleiben. Freilich, wir dürfen und sollen Museen auch zum Studieren benützen. Noch wichtiger ist aber, dass wir lernen, darüber hinauszugehen; dass wir die reine Freude des Anschauens lernen. Und dazu bedarf es gar keines Museums. Wir Kinder kannten ein Weidengestrüpp am Preinerbach, das wir «Bachmuseum» nannten. Nach jedem Wolkenbruch schwemmte dort das Wasser neue Sehenswürdigkeiten an. Da war ein rostiger Vogelkäfig, halb im Sand vergraben. Ein lederner Stiefel mit Löchern in der Sohle lag halb im Wasser. Noch grüne Äpfel schwammen wieder und wieder im Kreis in einer seichten Bucht. Und Fetzen von einem gestreiften Hemd hingen im von der Strömung kahlgespülten Wurzelwerk.
Stundenlang konnten wir da auf dem Schulweg am Bachrand stehen und schauen.
Wenn ich heutzutage wenigstens vor einem Werk Picassos oder El Grecos so stehen könnte und so schauen. Wenn es uns aber einmal geschenkt wird ‒ so sehr wir uns nämlich bemühen müssen, es bleibt letztlich doch Geschenk ‒, wenn wir einmal ganz Auge sind, dann ereignet sich etwas Seltsames.
Wieder ist es Rilke, der uns dies in Erinnerung ruft. Wir haben es ja alle erlebt. Aber es ist uns irgendwie unheimlich, und da ziehen wir uns furchtsam ins Vergessen zurück.
In seinem Sonett «Archaischer Torso Apollos», feiert der Dichter jene seltsame Begegnung.
Zwölf Zeilen genügen ihm, um uns völlig in den Bann dieses griechischen Bildwerks zu ziehen. Wir stehen wie geblendet vor diesem Torso aus flimmerndem Marmor. Wir sind ganz Auge. Und das ist der Punkt, an dem sich das Seltsame ereignet. Völlig ins Anschauen versunken, sind wir plötzlich die Angeschauten, Mitten in der vorletzten Zeile dreht sich unvermittelt alles um:
denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.
Die wir uns für Kenner hielten, sind erkannt. Wir, die als Richter kamen, stehen vor Gericht. Dann fällt der Richtspruch.
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter den Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.[6]
Der letzte Satz, ganz am Ende der letzten Zeile, spricht das Urteil über uns aus. Dass dieser Richtspruch uns zu dem verurteilt, was wir uns im Geheimen ersehnen, wird noch zu zeigen sein.
Hier wollen wir zunächst die seltsame Begegnung ins Auge fassen, aus der das Urteil mit innerer Notwendigkeit fließt.
Wenn unser befeuertes Schauen jenen Grad erreicht, den wir den Schmelzpunkt nennen könnten, dann sind wir endlich völlig gesammelt. Was sich sonst an Vergangenes klammert oder nach Zukünftigem ausstreckt, ist jetzt in Sammlung gegenwärtig.
Und da ereignet es sich dann, dass uns etwas Geheimnisvolles «entgegenwartet».[7]
Ob wir es das Schöne nennen, das Wahre, das Gute, oder einfach die treue Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge ‒ was uns da begegnet, erwartet etwas von uns, erwartet alles von uns:
Du musst dein Leben ändern.
Unser gesammeltes Herz erlebt, dass Gegenwart etwas von uns erwartet.
Wir mögen von der Forderung betroffen sein. Was aber von uns gefordert wird, ist etwas, wonach unser Herz sich im Grunde sehnt.
Das Kind in uns sehnt sich danach. Immer wieder erfinden Kinder ein Spiel, in dem das Ausdruck findet. Das Kind schließt die Augen und springt von einer Bank oder vom Treppenabsatz dem Vater in die Arme. «Papa, fang mich auf!»
Was die Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge von uns verlangt, ist, dass wir uns darauf verlassen. Treue fordert Vertrauen.[8]
Darin liegt immer ein Wagnis.
Wie aber sollen wir ohne Wagnis verwandelt werden?
Und auf Verwandlung läuft alles hinaus.
Verwandlung ist das Wesen
des dritten Schrittes im Dreischritt des horchenden Herzens.
Kindliche Sinnlichkeit, unser erster Schritt, führt zu einem Höhepunkt im zweiten, in der seltsamen Begegnung.
Aber diese Begegnung verwandelt uns.
In seinem Gedicht «Spaziergang» spricht Rilke mit seltener Klarheit von der Verwandlung, die sich in unserem dritten Schritt vollzieht.
Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an ‒
und wandelt uns, auch wenn wir's nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …
Wir aber spüren nur den Gegenwind.[9]
Schau wird hier zur Wandlung.
Schönheit ergreift und macht die Ergriffenen selber schön.
Das Erlebnis von Erhabenem ist erhebend.
Mehr noch: der Anblick dieses blühenden Mandelbäumchens (im Garten oder auf van Goghs Leinwand) lässt mich ganz klar fühlen, dass ich dadurch jetzt mehr ich selbst bin, als ich vorher war.
Die Begegnung mit dem Unfasslichen am Rande unserer Sehnsucht verwandelt uns aber nicht in Fremdes, sondern
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind.
Von hier aus rückblickend, können wir den Dreischritt des schauenden, horchenden Herzens überall dort entdecken, wo es darum geht, im Leben Sinn zu finden.
Wir Menschen sind ja so angelegt, dass Zweck allein uns nicht genügt. Kein Zweck kann uns befriedigen, wenn wir ihn nicht sinnvoll finden. Und wenn wir im Leben keinen Sinn mehr finden, dann ist es um uns geschehen. Was für Tiere der Selbsterhaltungstrieb ist, das ist für uns Menschen die Sehnsucht nach Sinn. Darum können wir ja unseren Selbsterhaltungstrieb, den wir mit den Tieren gemeinsam haben, opfern, so stark er auch immer sei. Wir können unser Leben hingeben, wenn uns das sinnvoll erscheint.
Wir können freiwillig sterben. Jeder weiß das.
Was nur wenige wissen, ist dies: Wir können auch freiwillig leben.
Die innere Gebärde ist die gleiche. Unser Leben (täglich) hingeben, das heißt Sinn finden. Das aber heißt, wahrhaft leben.
Wem fällt da nicht Goethes «Selige Sehnsucht» ein, und besonders die letzte Strophe?
Und solange du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.[10]
Rilke sagt es mit einer einzigen Zeile. Und die stammt aus dem Sonett, dem wir die Überschrift für diese Erwägungen entnommen haben:
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Ist das der Sinn unseres Lebens? Seit Urzeiten fragt das Kind in unserem Herzen nach dem Sinn des Lebens. Seit Urzeiten gibt unser Herz die Antwort, gibt sie in der Form des Heldenmythos.
Es ist daher gar nicht schwer, im typischen Heldenmythos den Dreischritt des horchenden Herzens wiederzufinden.
Kindliche Sinnlichkeit hat doch etwas von der Tapferkeit an sich, mit der ein jugendlicher Held in die Welt hinauszieht, bereit für Abenteuer.
In der seltsamen Begegnung
fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
es ergreift uns Ergriffene.
Auch der Held muss sich am Höhepunkt des Mythos dem Unfassbaren stellen, dem Geheimnis von Liebe und Tod. Liebe und Tod verlangen letztlich vom Helden, was die seltsame Begegnung von uns verlangt: Bereitschaft, unser Leben hinzugeben.
Das ist es ja, was wir innerlich tun, wenn wir uns vertrauend verlassen auf die Treue und Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge ‒ wenn wir uns (uns selbst) verlassen.[11]
Aber diese innere Gebärde verwandelt. Den Helden, wie uns, verwandelt sie.
Der Held wird durch die Begegnung mit dem Unfasslichen zum Lebensbringer, das heißt, zum Sinnträger.
An uns wird das Wort wahr:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Dass wir selber Sinn werden, wenn wir Sinn finden, das ist vielleicht am schwersten zu verstehen. Das christliche Verständnis unserer drei Schritte kann uns da vielleicht weiterhelfen.
In christlicher Schau entspricht die kindliche Sinnlichkeit dem Glauben. Mit gläubig tapferem Vertrauen geht sie auf Gottes Welt zu, verlässt sich auf die göttliche Güte.
Grundzug der seltsamen Begegnung ist dann die Hoffnung. Wie kindliche Sinnlichkeit zur seltsamen Begegnung führt, so der Glaube zur Hoffnung. Hoffnung ist ja völlige Offenheit für Überraschung, und die ist nur im Vertrauen des Glaubens möglich.
Hoffnung kann sich ergreifen lassen vom Ergreifenden; sie kann sich verlassen, weil sie um die Verlässlichkeit weiß, die jedem Ding und jedem Augenblick zuinnerst eignet. Sie kann sich fallenlassen, weil sie weiß, dass einer
dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.[12]
So aufgefangen zu werden im Fallen und dazu «ja» zu sagen, das ist der Liebe eigen.
Es ist zugleich die innerliche Gebärde der Sinnfindung, der Sinnwerdung.
Nur durch Liebe finden wir Sinn. Indem wir in Liebe aufgehen, werden wir Sinn.[13]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 13]
[Ergänzend:
1. Film (1975) und Transkription:
(20:33) «In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2016)
Wort
(20:08) ‹Archaïscher Torso Apollos›
2.2. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Audio ‹Sehen lernen›:
(01:02:35) Mit den Augen des Herzens sehen, was die Augen nicht sehen können: ‹Hast du deine Schwester, deinen Bruder gesehen, dann hast du deinen Gott gesehen› ‒ Einander wie mit den Augen einer Mutter anschauen: ‹Das kannst du doch› schafft Raum, in den wir hineinwachsen können ‒ Sich an Träume erinnern
(01:11:10) Augen und Ohren ‒ sehen und hören
(01:14:07) Das Kind werden, das wir sind
2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
Audio: Das Kind in uns und das mönchische Leben
2.4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen ‒ Die Themen des Gesprächs:
Audio ‹Und wandelt uns ...› (R. M. Rilke, ‹Spaziergang›)
2.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(16:08) Franziskus und Eigenschaften des Kindes: Wenn ein Kind vor Freude strahlt, ist das schon Dankgebet. Milch! Die Szene im Film von François Truffaut ‹L’enfant sauvage› (1970): Unsere Kindheit ist zu kurz für uns, um die Kinder zu werden, auf die hin wir angelegt sind
(22:03) Sich an einen Geschmack erinnern, der die ganze Kindheit zurückbringt, Schmecken und Kosten wirklich erleben
3. Weiter Texte
3.1. Musik der Stille (2015), 62f.:
«Die kleine Tochter eines Freundes sagte eines Morgens zu ihrem Vater: ‹Papi, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?› Kinder wissen intuitiv, wie erstaunlich und erfreulich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Und das Kind in uns stirbt nie. Wir können es einsperren, wir können es vergessen oder stark vernachlässigen, aber solange wir leben, bleibt es am Leben. Es ist eine unserer großen Aufgaben, dieses Kind wieder zu befreien und es zu ermutigen, solche tiefsinnigen Fragen zu stellen. Dann schauen wir alles durch staunende Augen an und nehmen alles mit einem offenen Herzen auf.
Dieses Erwecken des Kindes in uns ist nicht einfältige Sentimentalität; es macht den Kern der mönchischen Bemühungen und jeder Spiritualität aus.
Das eigentliche Ziel ist das, was der Philosoph Paul Ricœur die ‹zweite Naivität› nennt: die Verbindung der hellen Begeisterung kindlicher Unschuld mit jener Weisheit, die sich aufgrund von Erfahrung einstellt.
Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.»
3.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 128
Gedicht ‹Blaue Hortensie›
TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I,, 45-50:
Gedicht ‹Archaïscher Torso Apollos›
3.3. Der Mönch in uns (1978) [der Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger findet sich auch in Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63]
«Im Kind gibt es eine riesige Neugierde herauszufinden, wie die Dinge funktionieren, und einen starken Ansatz zur Zweckgerichtetheit; und dies ist der einzige Antrieb, den wir in der Regel fördern. Aber es gibt auch ein großes Verlangen nach Kontemplation, das wir in der Regel nicht fördern. Wenn wir heutzutage ein Kind auf der Straße sehen, so wird es meistens an einem langen Arm entlanggezogen, und wer immer es zieht, sagt: ‹Komm, wir müssen weiter! Wir haben keine Zeit! Wir müssen nach Hause (oder sonst wohin). Steh da nicht einfach herum! Tu was!› So sieht der Kern der Sache aus. Aber es gab andere Kulturen, zum Beispiel viele amerikanische Indianerstämme, die ein gänzlich anderes Erziehungsideal hatten:
‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und schauen können, wenn es nichts zu schauen gibt.› Und: ‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und zuhören können, wenn es nichts zu hören gibt.›
Das ist zwar eine Einstellung, die völlig anders ist als unsere, doch wird sie dem Wesen der Kinder viel gerechter. Genau das möchten sie nämlich tun: einfach nur herumstehen und schauen und völlig in dem aufgehen, was sie sehen oder hören oder lutschen oder lecken oder womit sie gerade spielen. Und natürlich zerstören wir diese Fähigkeit zum Offensein für Sinn bereits sehr früh; indem wir sie zu Sachen zwingen und die Dinge in die Hand nehmen, steuern wir sie ausschließlich in die Zweckbezogenheit hinein.»
3.4. Kind und Kunst (1948):
«Je mehr wir uns in diesen anspruchsvollen Vortrag von Franz Kuno vertiefen, umso mehr verstehen wir, wie sehr er von einem archimedischen Punkt aus spricht, der weit entfernt ist vom damaligen wie auch heutigen Zeitgeist. Es geht um das Einüben einer kindlichen Haltung: Bereitschaft lernen, staunen, unvoreingenommen Kunst zu betrachten»]
________________________
[1] R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIX, siehe Transkription
[2] ‹Das Lied des Blinden› (R. M. Rilke: ‹Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)
[3] ‹Blaue Hortensie› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
[4] Walter Flex (1887-1917): ‹Das Weihnachtsmärchen des fünfzigsten Regiments› (1918):
«‹Was ist das, das Reich der tausend Sinne?› fragte das Weib, und der graue Führer antwortete: ‹Es ist das, was ihr auf Erden den Himmel nennt. Ihr auf Erden dürft nur mit fünf armen Sinnen den Reichtum der Welt fühlen, sehen, hören, riechen und schmecken. Danach aber kommt ihr in das Reich der tausend Sinne und werdet mit Kräften begabt, die sich mit Menschenworten nicht nennen lassen. Darüber sind noch tausend Reiche, in denen die Seelen wohnen werden auf ihrer Wanderung zu Gott wie in Gasthäusern am Wege.»
[5] «Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewusstseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung. ‒ Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens ...»
R. M. Rilke, Aus dem Nachlass
[6] ‹Archaïscher Torso Apollos› (R. M. Rilke, Der Neuen Gedichte anderer Teil)
[7] Das Wort stammt auch von Rilke: «Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten.»
(R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)
[8] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]
[9] ‹Spaziergang› (R. M. Rilke, Aus dem Nachlass)
[10] ‹Selige Sehnsucht› (J. W. Goethe, West-östlicher Divan)
[12] ‹Herbst› (R. M. Rilke, ‹Das Buch der Bilder›); Bruder David spricht das Gedicht im Audio Wähle das Leben (1992)
Vortrag:
(03:59) Sich in Gottes Hände fallen lassen / (05:21) Die Blätter fallen‘ (Rilke)
[13] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268, 271-279: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35, 38-51
Friede
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Was ist denn eigentlich «Friede»? Ist es nicht, wie die abendländische Philosophie des Mittelalters diesen Begriff verstand «tranquillitas ordinis», Stille, die aus Ordnung entspringt?
Freilich dürfen wir da nicht an Friedhofsstille denken und nicht an ein schulmeisterliches «Ordnung muss sein!»
FRIEDE ähnelt mehr der dynamischen Stille einer ruhig brennenden Kerzenflamme und wurzelt in jener allumfassenden Ordnung, deren Ordnungsprinzip die Liebe ist:
Liebe als gelebtes «Ja» zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller mit allen. Friede, so verstanden, bezeichnet weit mehr als eine geschichtliche Periode ohne Krieg. Wahrer FRIEDE bedeutet die harmonische Entfaltung der ganzen Fülle des Daseins. So wie in der Musik das Können eines Komponisten dissonante und konsonante Akkorde zu einer höheren Harmonie verbindet, so überbrückt und versöhnt der göttliche FRIEDE alle Widersprüche. Selbst Zwist und Eintracht dienen gemeinsam einem höheren Ganzen. Aus dieser Sicht können wir Gott den FRIEDEN nennen.
Und wir können diesen Frieden nicht nur in geruhsamen Zeiten erleben, sondern gerade auch dann, wenn im persönlichen wie im öffentlichen Leben «Blitz aus Blitz sich reißt», wie Joseph von Eichendorff singt:
«Schlag mit den flamm'gen Flügeln!
Wenn Blitz aus Blitz sich reißt:
steht wie in Rossesbügeln
so ritterlich mein Geist.
Waldesrauschen, Wetterblicken
macht recht die Seele los,
da grüßt sie mit Entzücken,
was wahrhaft, ernst und groß.
Es schiffen die Gedanken
fern wie auf weitem Meer,
wie auch die Wogen schwanken:
die Segel schwellen mehr.
Herr Gott, es wacht Dein Wille,
ob Tag und Lust verwehn,
mein Herz wird mir so stille
und wird nicht untergehn.»
Wenn ich fühle, «mein Herz wird mir so stille», dann habe ich meinen persönlichen Bootssteg gefunden fürs Hineinsegeln in den FRIEDEN Gottes. Mögen auch die Wogen dann schwanken, die Segel schwellen: Wo kann ich in meinem Alltag solche Bootsstege finden? Sie sind leicht zu übersehen und doch ist es so wertvoll, wenn wir sie entdecken.[1]
«So wünsche ich Euch also tiefe innere Stille.
Stille, tief genug, um zu hören, wie Erdreich sich zurechtlegt für die lange Winterruhe; dann wird auch Euer Seelengrund fest und ruhig werden.
Stille, tief genug, um zu hören, wie Wasser rieselt und in den Boden sickert; dann wird auch Euer Sinn sanft werden, gefügig und geheilt.
Stille, tief genug, um zu hören, wie von Sternen am Winterhimmel Silberfunken stieben und tief im Erdinneren Feuer tost; dann wird auch Euer Innerstes erglühen.
Stille, tief genug, um das Fallen einer einzigen Schneeflocke durch die stille Winterluft zu hören; dann wird die Stille in Euch sich verwandeln in eine große Erwartung.
‹Frieden!› verkündigte der Engel, aber Frieden nicht nur als Gabe, sondern als Aufgabe.
Nur wenn Stille uns beständig macht wie Erde,
wendig wie Wasser
und glühend wie Feuer
werden wir uns der Aufgabe stellen können, Frieden zu schaffen, und die Luft um uns wird rauschen von Flügeln helfender Engel.
Deshalb wünsche ich Euch jene tiefe innere Stille, die allein es uns erlaubt, ohne Ironie ‹Frieden auf Erden› zu erhoffen und uns ohne Verzweiflung dafür einzusetzen.»[2]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]
[Ergänzend:
1. Stillehalten, Stille zulassen, Tanz, der Sinn des Ganzen [Ergänzend: 3.2], und Ordnung, mit Auszügen aus Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Die Umwelt als Guru», 30f. und Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein», 103-105, 109:
«Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als ‹tranquillitas ordinis›, die Stille der Ordnung.»
2. Audios
2.1. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen (Königsfeld im Schwarzwald)
Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben und Diskussion
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2:
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort
2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›
3. Weitere Texte
3.1. «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Film Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]
3.2, Kann man die Bergpredigt in Realpolitik umsetzen?: Bruder David im Gespräch mit Maio Quintana im Buch Ambivalenzen: Im Spannungsfeld zwischen Kirche und Gesellschaft (2021):
«Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes heißen» (84f.)
«Freut euch, ihr Friedensstifter, denn ihr werdet Gottes Kinder heißen» (85f.)
3.3.. Bruder Davids Vorwort im Buch Brot und Gesetze brechen (2021):
«Die Sterne der Pflugscharbewegung, die in diesem Buch aufleuchten, können uns auf dem Weg zum Überleben der Menschheit zu Leitsternen werden, denn dazu brauchen wir heute dreierlei, und das verkörpern diese oft ganz einfachen Menschen vorbildlich: Einsicht, Betroffenheit und tatkräftigen Einsatz.»
3.4.. Der menschliche Geist ist eins (2021): Meditation von Bruder David 1975 im Dag Hammarskjöld-Auditorium der UN in Anwesenheit von führenden Persönlichkeiten der Weltreligionen; der Text ist dem Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Meditation «Der menschliche Geist ist eins», 147-152, entnommen:
«‹Einer ist der Menschen Geist›, aber der Menschengeist ist mehr als nur menschlich, denn das Herz des Menschen ist unauslotbar. In diese Tiefe lasst uns still unsere Wurzeln senken. Darin liegt unsere einzige Quelle des Friedens.
Nach einem kurzen Augenblick werde ich Sie einladen, wieder die Augen zu öffnen, und zugleich auch, sich in diesem Geist der Ihnen am nächsten stehenden Person zuzuwenden und ihr den Friedensgruß zu entrichten. Lasst unsere Feier in dieser Geste gipfeln und zum Abschluss kommen. Wir ermächtigen einander mit dem Friedensgruß in der Welt als Botschafter des Friedens zu wirken.
Der Friede sei mit Ihnen allen!»
3.5. Innerer und äusserer Frieden: Vortrag mit anschließendem Gespräch in Königsfeld (1992):
«Das wäre der erste Schritt: Was ist eigentlich Frieden im Verständnis unserer westlichen Tradition?
Der zweite Punkt wäre: Was steht dem Frieden entgegen? Was steht ihm gerade heute entgegen in der spezifischen Situation, in der wir uns heute befinden, in der Welt und in unserer Kultur, in unserer Welterfahrung, in unserem Welterleben?
Dann kommen wir zum dritten Punkt, und das ist eigentlich unsere Hauptfrage: Lässt sich der Frieden doch verwirklichen? Und wenn ja, dann wie?
Und wie gesagt, die Fragezeichen bleiben bestehen, aber durch Nachdenken können wir denen wahrscheinlich schon näherkommen.»]
___________________
[1] 99 Namen Gottes (2019), 5 as-Salām, der FRIEDE, die Quelle des Friedens, 16f
[2] Weihnachtsgrüße 2004; der Text ist auch abgedruckt in Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Ein Wunsch», 160
Geheimnis
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Was meinen wir eigentlich, wenn wir Gott sagen?
Ich vermeide so weit wie möglich dieses Wort, denn es wurde auf vielerlei Weise missbraucht und führt daher allzu leicht zu Missverständnissen. Was aber kann es ‒ richtig verstanden ‒ für Menschen heute noch bedeuten?
Eigentlich das, was von Anfang an damit gemeint war. Das kennt jeder Mensch aus eigener Erfahrung:
Das Wort «Gott» weist auf das Geheimnis hin, mit dem unser menschliches Bewusstsein unumgänglich konfrontiert ist.
Was «Geheimnis» bedeutet, das lässt sich recht klar umschreiben:
Es ist jene Wirklichkeit, die wir nicht begreifen, nicht in den Griff bekommen, die wir aber verstehen können, indem wir uns von ihr ergreifen lassen.
Der Unterschied zwischen begreifen und verstehen kann uns vielleicht am Beispiel von Musik bewusst werden. Es ist zugleich der Unterschied zwischen wissen und erleben.
Was wir über ein Musikstück wissen ‒ etwa wer es wann und unter welchen Umständen komponiert hat und wie es musiktheoretisch aufgebaut ist -, das kann uns in mancher Hinsicht nützlich sein, das Eigentliche der Musik aber bekommt solches Wissen nie in den Griff. Wir können ein Stück nur verstehen, wenn wir es hören und davon ergriffen werden.[1]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
DU rührst mich an durch alles, was mich berührt, am tiefsten aber berührt mich Musik. Sie lässt mich auch am deutlichsten erfahren, was es heißt, Dich zu verstehen, DU unbegreifliches Geheimnis.
Begriffliches Begreifen ist etwas ganz anderes als dieses Ergriffenwerden durch Musik, das mich sie verstehen lässt, mich ganz drinstehen lässt durch meine Ergriffenheit.
Ich will heute wenigstens kurz irgendwann Musik anhören.
Letztlich ist aber alles, was es gibt, geheimnisvoll wie Musik.
Gib mir Mut, meine Rüstung abzulegen und mich ergreifen zu lassen.
Amen.»[2]
Was uns so in Bezug auf Musik bewusst werden kann, das gilt auch für das Leben als Ganzes:
Es bleibt unbegreiflich, aber in Augenblicken der Ergriffenheit - zum Beispiel bei Gipfelerlebnissen ‒ können wir den Sinn ahnend verstehen, weil wir mittendrin stehen und nicht als Beobachter davon abgesetzt. In dieser Hinsicht ist das Leben zugleich Bild für das große Geheimnis und mehr als Bild ‒ es ist unsere Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Geheimnis schlechthin, also mit Gott.
Weil ich wissen wollte, wie weit verbreitet ein solches Verständnis ist, machte ich ein Experiment: Ich gab bei Google die Worte ein: «Leben heißt …»
Dadurch ließ ich sozusagen einfach irgendjemanden zu Wort kommen. Was ich fand, waren Eintragungen wie «Leben heißt Veränderung», «Leben heißt kämpfen, leiden, lieben, loslassen, nicht zu warten, sterben lernen.»
Sind nicht all diese Erfahrungen Begegnungen mit einem letzten Geheimnis?
Wer das Wort Gott richtig verwendet, meint damit eben dieses überragende Geheimnis.
In diesem Sinn ist unser menschliches Leben unvermeidlich Gottesbegegnung, ganz gleich, ob wir das Wort «Gott» verwenden oder nicht.
An Gott glauben heißt ja nicht, für wahr halten, dass es Gott gibt. Welcher Mensch könnte denn das Geheimnis (und damit Gott) überhaupt leugnen?
Beim Glauben geht es nicht um die Frage, ob es Gott (= das Geheimnis) gibt.
Es geht vielmehr darum, ob Lebensvertrauen unsere Lebensangst überwindet.
Glaube ist ein Sich-Verlassen auf das Geheimnis ‒ auf Gott, auf das Leben.
Dieses Urvertrauen können wir aus Furcht verweigern, oder wir können es mutig verwirklichen durch ein immer neu gelebtes Ja zum Leben.[3]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Mit Dir bin ich untrennbar verbunden und durch Dich mit allem, was es gibt.
Doch ich erlebe Versuchung ‒ Bedrohung dieses Eingebettet-Seins:
Ich vergesse es manchmal. Aus Vergessen wird Entfremdung und die nimmt mir mein Lebensvertrauen.
Dann klammere ich mich aus Furcht an Vergangenes oder Zukünftiges.
Aber Lebensfülle ist nur in der Gegenwart.
Lass mich heute mangelnde Achtsamkeit schnell als Faulheit erkennen, rüttle mich wach und führe mich ins Jetzt zurück, wo DU mir entgegenwartest, um ‒ mitten im Alltag ‒ Leben in Fülle zu feiern.
Amen.»[4]
Das Ja zum Leben ist zugleich ein Ja zum DU ‒ zu jedem DU, das uns im Alltag begegnet, und darüber hinaus zum Geheimnis als dem großen letzten DU.
Ein Gottesverständnis, das nicht von Spekulation ausgeht, sondern von tiefster menschlicher Erfahrung, überwindet den Dualismus ‒ wir hüben, Gott drüben ‒, fällt aber deshalb nicht notwendigerweise in das Missverständnis des Monismus, der für liebende Beziehung zu Gott keinen Raum lässt, weil alles eins ist.[5]
Richtig verstanden ist menschliche Gotteserfahrung weder monistisch noch dualistisch, sondern trinitarisch.[6]
Gipfelerlebnisse, in denen uns bewusst wird, dass wir mit allem eins sind, können zugleich Höhepunkte unserer tiefsten DU-Bezogenheit sein.
So erleben wir das große Paradoxon: Das Eine hat in sich Platz für Beziehung.
Schon mein Ich-Sagen setzt ja ein DU voraus, das mir ebenso unergründlich ist wie mein Ich. Beide sind im Geheimnis verwurzelt.
Diese innerste Bezogenheit auf das Geheimnis als DU gehört zu unseren menschlichen Grunderfahrungen. Sie ist nicht an irgendeine Periode der Geschichte gebunden.
Bei Bruder Klaus drückt diese Erfahrung sich so aus, dass er Gott als DU anruft.[7]
Das ist auch für uns heutige Menschen erlebnismäßig nachvollziehbar.
Unsere DU-Beziehung zum göttlichen Geheimnis hat zeitlose Gültigkeit.[8]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Unergründlich bist DU mir. Darf ich Dich trotzdem so vertraulich DU nennen?
Aber auch engste Freunde bleiben mir ja geheimnisvoll und letztlich unergründlich.
Und doch: Freunde stehen mir gegenüber; in Dich aber bin ich ganz eingetaucht ‒ nicht nur wie der Fisch im Wasser, sondern wie der Tropfen im Meer.
Macht dies eine DU-Beziehung nicht unmöglich?
Logik bricht da zusammen Mein Ich-Sagen setzt Dich voraus als mein Ur-DU.
Heute will ich also manchmal innehalten und einfach ‹DU!› sagen ins unbegreifliche Geheimnis als mein Gebet.
Amen.»[9]
Nun ist aber neben «Gott» und «DU» «bitten» ein drittes Schlüsselwort im ersten Satz des Gebetes von Bruder Klaus.
Da stellt sich die Frage: Können auch wir noch mit der gleichen, nicht hinterfragten Ursprünglichkeit Gott um etwas bitten?
Ich glaube, das können wir, solange wir dabei nicht in den Irrtum verfallen, dass Gottes Geben von unserem Bitten abhängig ist.
Echtes Bitten drückt eigentlich unser vertrauensvoll vorweggenommenes Danken aus.
Das zeigt sich schon, wenn wir einen Mitmenschen um etwas bitten. Wir sagen damit eigentlich: Ich vertraue darauf, dass du meine Bitte gewähren wirst, aber ich nehme das nicht als gegeben hin, sondern ich weiß es zu schätzen.
Mit der gleichen Haltung können wir das große DU um etwas bitten.
Alles, was «es gibt», schenkt uns ja das große Geheimnis.
Denn worauf verweist das Wörtchen «es», wenn nicht auf den geheimnisvollen Urgrund, der uns alles schenkt, was «es gibt»?
Im Hinblick auf unsere persönliche Beziehung zum Geheimnis sehen wir es als DU an; im Hinblick auf alles, was es gibt, sprechen wir vom Geheimnis als Quellgrund und Mutterschoß von allem, was uns zufließt, zuwächst und geschenkt wird.
Ein und dasselbe Geheimnis (auch Gott genannt) begegnet uns als DU und als ES.
So leuchtet es ein, dass wir dem DU danken für alles, was es gibt, und es, den Dank vorwegnehmend, um alles bitten.[10]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Schon beim Aufwachen rufe ich spontan Deine Hilfe an, wenn mir das Aufstehen schwerfällt.
Aber was meine ich damit eigentlich?
Ich weiß doch, dass DU mir alles schenkst, auch wenn ich nicht darum bitte.
Mein Vertrauen auf Deine Hilfe will ich ausdrücken.
Und Deine Hilfe ist nicht Mithilfe mit meiner Kraft.
Was ich meine Kraft nenne, ist nur mein Durchfließen-Lassen Deiner Kraft.
DU Lebensstrom meiner Lebendigkeit. Ströme DU also heute in allem, was ich tue, durch mich und durch alle, die mir begegnen.
Amen.»[11]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4, 8-11]
[Ergänzend:
1. Film Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4:
(16:10) «Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind:
Ich beginne mit der Einsicht – und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind.
Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens.
Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.
Und wenn ich sage: das große Geheimnis, so meine ich nicht irgendetwas Vages, sondern etwas, was jeder Mensch kennt und mit dem jeder Mensch täglich umgeht, und es kann fast definiert werden auf diese Weise – natürlich keine echte Definition, sondern eine Beschreibung:
Wir müssen uns täglich mit etwas auseinandersetzen, was man nicht begreifen kann, was man aber verstehen kann, wenn es einen ergreift.
Also da muss man zunächst auch die wichtige Unterscheidung zwischen Verstehen und Begreifen machen: Begreifen heißt in den Griff bekommen. Durch Begriffe machen wir uns die Welt untertan: Wir wollen begreifen.
Wir können aber – so groß auch unsere Hände sind – immer nur einen begrenzten Teil der Wirklichkeit in den Griff bekommen.
Die ganze Wirklichkeit, das Ganze, können wir aber verstehen, wenn es uns ergreift.
Und das Beispiel, das vielen Menschen leicht zugänglich ist, ist das Beispiel von Musik:
Niemand kann begrifflich das Wesen von Musik analysieren.
Wir können vieles über Musik sagen, aber was Musik wirklich ist, geht weit über alles hinaus, was man begrifflich erfassen kann.
Aber jeder von uns – oder gottseidank die meisten von uns – können Musik verstehen und sagen ganz ehrlich: Das verstehe ich – und sogleich: Das ergreift mich.
Wenn die Musik mich nicht ergreift, verstehe ich sie auch nicht.
Also, was mich ergreift, verstehe ich, und Musik ist ein gutes Beispiel unserer Begegnung mit diesem großen Geheimnis.
Es ist nur ein Teil, ist nur ein Beispiel, aber das ereignet sich in unzähligen Varianten jeden Tag und das lebenslang, dass wir immer wieder auf etwas stoßen, besonders natürlich in der Begegnung mit andern Menschen, was wir unter keinen Umständen begreifen, aber zutiefst verstehen können, wenn wir uns davon ergreifen lassen.
Und diese Auseinandersetzung mit dem Geheimnis also ist, was ich Religiosität nenne. Und die drückt sich jetzt in Religionen aus.
Und zwar kommen im Lauf der Geschichte tiefreligiöse Menschen immer wieder, die ihre – unsere – Begegnung mit dem großen Geheimnis durch Worte, durch eine Lehre, durch Moral – eine Ethik – und durch Rituale ihren Zeitgenossen zugänglich machen.
Und eine Religion ist die kulturelle Zugänglichmachung unserer allgemeinmenschlichen Religiosität durch eine Religion eben.»
2. Audios
2.1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018)
Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(11:26) «Jeder Mensch ist auf die Begegnung mit dem großen Geheimnis angelegt. Und das große Geheimnis begegnet uns zum Beispiel im Leben: Das Leben selber. Wir müssen das Leben meistern. Das heißt, wir müssen irgendwie auskommen mit diesem geheimnisvollen Ding, das uns da begegnet.
Und geheimnisvoll heißt: Wir können es nicht begreifen ‒ sonst ist’s nicht Geheimnis ‒, wir können es nicht begreifen: Kein Mensch kann das Leben begreifen, das heißt in den Griff bekommen, analysieren, begrifflich erfassen, aber wir müssen uns bemühen, das Leben zu verstehen: Das Geheimnis kann nicht begriffen, aber verstanden werden, und verstehen heißt, sich hineinstellen und sich ergreifen lassen.
Begriffe ergreifen. Und Bernhard von Clairvaux sagt ja: ‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.›
Und diese Ergriffenheit vom göttlichen Geheimnis erleben viele Menschen in der Natur, viele auch im Ritual in der Kirche, und sehr viele in der Musik.»
(13:52) «Wir verstehen das Unbegreifliche. Das erfahren wir und erlebt jeder Mensch an der Musik. Also eine wichtige Unterscheidung zwischen begreifen und verstehen.
Und mit jedem Menschen kann man darauf hin kommen zum Beispiel im Gespräch: Was ergreift dich?
Sehr häufig ist es die Natur, sehr häufig. Natürlich in unsern Gipfelerlebnissen: die Geburt eines Kindes, der Tod eines nahestehenden Menschen, Freundschaft usw..»
(18:02-21:09) «Und das erlebt aber jeder Mensch:
Das Leben spricht zu mir, wenn ich nur die Ohren aufmache.
Das Leben brüllt mich an, aber ich habe andere Ideen oder andere Pläne oder so.
Es schreit mich nur so an.
Und jetzt hinzuhorchen und zu antworten; und auf Gott hinhorchen ist immer ein Thema von der Bibel: auf Gott horchen: ‹Verhärtet Eure Herzen nicht.› Immer geht’s darum. ‹So spricht der Herr›, sagt jeder Prophet immer wieder: ‹Spruch des Herrn›: Also sich ansprechen lassen und sich diesem Anruf zu stellen, verantwortlich zu stellen, darum geht’s im Leben. Das Leben ist unser persönliches Leben ‒ also nicht so abstrakt ‒, unser persönliches lebendig sein, und Leben ist die Form, in der jeder Mensch die Gottesbegegnung erlebt.
(19:05) Wenn man sagt ‹Gott› ist man schon auf dem falschen Weg eigentlich ‒ meistens ‒, weil man dann oft immer dran denkt, das ist sowas da draußen. Und die wichtigste Aussage über Gott macht Paulus auf dem Areopag, im 17. Kp. der Apostelgeschichte, wo zu den Athenern sagt: ‹Eure eigenen Dichter haben Euch das ja schon gesagt› ‒ also nicht was Christliches oder Jüdisches: Das ist menschlich. Der Dichter hat Euch das gesagt: ‹In Gott leben wir, bewegen uns und sind›.
Also wenn irgendjemand von uns ‒ mich eingeschlossen, ich muss mich auch bemühen ‒, das Wort ‹Gott› hört:
Dass wir in Gott leben, uns bewegen und sind, fällt uns nicht als Erstes ein. Als Erstes ist das irgendwer da draußen. Da kann man sich nicht helfen. Aber wenn man ‹Leben› sagt, weiß man: ‹Im Leben leben wir, bewegen uns und sind›. Und das ist es, worum es geht, wenn Paulus über Gott spricht. So begegnen wir Gott, nicht irgendwo draußen. In allem, was wir erleben.
(20:27-21:09) Indem ich das gesagt habe, habe ich schon irgendwie gezeigt, wie die Religiosität ‒ also die Auseinandersetzung mit dem Geheimnis, typisch durch das Leben ‒, wie das verbunden ist und uns erst so richtig aufmerken lässt auf ganz wichtige Bilder und Einsichten aus unserer jüdisch-christlichen Tradition. Und so geht das Leuten mit anderen Religionen auch. Aber diese Auseinandersetzung mit dem Leben, die bleibt keinem Menschen erspart. Das hat man mit allen Menschen gemeinsam.»
(21:37) Frage: «Diese persönliche Beziehung zu diesem Geheimnis, zu diesem Gott: Ist sie mir geschenkt ‒ oder?»
Bruder David: «Nein, alles ist geschenkt, sagt ja auch Augustinus: ‹Alles ist geschenkt›, sagt er.»
Frage: «Und warum kriegen es dann manche nicht geschenkt?»
Bruder David: «Das gehört zum Geheimnis.»
2.2. Audio-Interview Das glauben wir – Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Gott nicht begreifen, aber verstehen
Gott mit Blick auf das Leben
Gott mit Blick auf Beziehung – das ‹Es›
Große Fragen: warum ‒ was ‒wie?
Gott ‒ ein DU
Sich diesen Fragen stellen!
3. Texte
3.1. Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 43, 45:
«Es gibt drei existenzielle Fragen, um die wir Menschen nicht herumkommen. Früher oder später müssen wir uns ihnen stellen: Warum? Was? und Wie?» (43)
«Alle drei werden uns also, wenn wir beharrlich genug fragen, ins Geheimnis hineinführen, aber auf drei verschiedenen Wegen. Das Warum fragt nach den Wurzeln, dem Ursprung von allem und führt uns so hinunter in den unaussprechlichen Abgrund des Seins ‒ ins Geheimnis als Schweigen.
Das Was fragt nach dem innersten Wesen der Dinge und hört es am Ende heraus aus der geheimnisvollen Art und Weise, in der jedes Ding seine Einmaligkeit ausspricht, indem es ‹selbstet›[12] ‒ Geheimnis als Wort.
Das Wie fragt nach dem dynamischen Aspekt, nach der Kraft, die das Leben antreibt. Aber diese Kraft lässt sich von außen nur beobachten. Verstehen können wir sie nur, indem wir sie in uns selbst erfahren, indem wir ‹das Leben leben› ‒ Geheimnis als Verstehen durch Tun.
Diese drei Zugangswege zum Geheimnis werden aufmerksame LeserInnen in diesem Buch in immer neuen Abwandlungen wiederfinden.» (45)
3. 2. Ethik oder Religion (2018), 2f., die Antwort von Bruder David auf den Appell S. H. des Dalai Lama im Buch Ethik ist wichtiger als Religion (2014):
«Es gehört zum Geheimnisvollsten am Geheimnis, dass wir Menschen es als Gegenüber erfahren können, obwohl wir ihm angehören.
Paulus zitiert einen griechischen Dichter, wenn er von Gott sagt, ‹in ihm leben wir, weben wir und sind› (Apg. 7,27). Und nicht nur wie Fische im Wasser sind wir in Gott, sondern wie Wassertropfen im Meer.
Zugleich aber verstehen wir unter Gott unser Ur-DU, unser Ur-Gegenüber, das uns erst ermöglicht, ‹ich› zu sagen.»
«‹Gott› ist gleichbedeutend mit ‹Geheimnis› unter dem Gesichtspunkt unserer persönlichen ‒ gegenseitigen - Beziehung zur letzten Wirklichkeit. Und diese Beziehung ist unsere Religiosität.
(Obwohl wir schon gesehen haben, dass es bei Spiritualität um das Selbe geht, hat es Vorteile, hier von Religiosität zu sprechen, weil dadurch der innige Zusammenhang mit den Religionen anklingt.)»
3.3. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 23f.:
«Das Wort ‹heimlich› hängt eng mit Geheimnis zusammen. Wir als Menschen sind im Geheimnis beheimatet. Das macht uns zu Menschen.[13]
Geheimnis in diesem Sinn hat nichts mit Geheimnistuerei zu tun, mit Geheimhaltung, sondern mit dem, was uns so heimlich vertraut ist, dass man nicht darüber sprechen muss.
In jeder Familie, in jedem Heim gibt es Dinge, die einfach so, ohne erklärt zu werden, verstanden sind.
Und darum geht es beim Geheimnis: Es ist etwas, das man auch kaum sagen könnte, das eben diese Familie zu dieser Familie macht, das ist ihr Geheimnis, nicht das Skelett im Kasten, (das ist wieder anders! Jede Familie hat ihr Skelett im Kasten, worüber niemand sprechen darf, das ist so ganz geheim).
Was uns daheim fühlen lässt, warum man sich dort daheim fühlt, und woanders nicht ganz so, und das lässt sich nicht in Worten ausdrücken und das große Geheimnis ist das im Wort nicht Aussprechbare, das zum Daheimsein in der Welt gehört, zum Daheimsein im Leben und daher zum Daheimsein im Geheimnis des Lebens, im Geheimnis des Seins.
Rilke spricht da von einer ‹heimlichen leisen Gewahrung, die uns im Innern schweigend gewinnt›.[14]
Die gewinnt uns, diese heimliche leise Gewahrung, diese Stille.
Diese Stille, diese Dunkelheit, in die wir uns hinunterlassen, sie ergreift uns.
Das wäre auch so eine Anweisung, etwas, das man heute machen könnte:
Eine Blume, einen Berg, die eigene Hand, seinen Fuß lange anschauen, dass da etwas uns ergreift.
Das Leben ist ergreifend, nicht weil irgendetwas Besonderes geschieht, sondern … ganz still innehält und sich hinein versenkt, wird es ergreifend, kann bis zu Tränen rühren.
In Filmen manchmal, ist es nicht die Handlung, die uns zu Tränen rührt, sondern einfach die Darstellung des Lebens, und da braucht man so Milchkannen oder ein gedeckter Tisch und plötzlich kommen einem die Tränen, wirklich:
Das Daheimsein im Geheimnis berührt und ergreift.»]
__________________________
[1] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 112f.
[2] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 35
[3] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 113f.
[4] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 81
[5] TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL III, 99:
«Der Dualismus wird der Welt, wird dem Leben nicht gerecht und der Monismus wird auch dem Leben nicht gerecht.»
[6] Siehe Abschnitt «Bruder Klaus: Dreifaltigkeitsmystiker», 120-122
[7] Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich fördert zu dir.
Mein Herr und mein Gott
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen dir.
[8] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 114
[9] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 13
[10] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 115
[11] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 51
[12] Bruder David bezieht sich auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889), in welchem der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache prägt ‒ «to selve›, was man Deutsch mit «selbsten» wiedergeben kann. Etwas «selbstet», indem es durch sei Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede langezupfte Saite «selbstet» so durch ihren ganz eigenen Ton. [Credo: «Ein Glaube, der alle verbindet» (2012), 66]
[13] Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 46:
«‹Geheim› bedeutet ursprünglich ‹zum Heim gehörig›.
Geheimnis bezeichnet dann, was der Hausgemeinschaft selbstverständlich ist, Fremden oder Entfremdeten aber unverständlich bleibt, also ‹geheim›.
Das Wort eignet sich dazu, auf jenes allverbindende Unaussprechliche hinzuweisen, das uns Menschen zuinnerst vertraut ist, uns aber nur in dem Maße bewusst wird, in dem wir als Angehörige des allumfassenden Erdhaushaltes denken, fühlen und handeln. Ein solches Denken ist nichts andres als gesunder Menschenverstand und heißt im süddeutschen Sprachraum mit einem treffenden Wort auch Hausverstand: Spirituell gesunde Menschen verstehen den geheimnisvollen Kosmos, in dem wir leben, als ihr Zuhause, ihr Daheim.»
[14] Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 4: «Rühmt euch, ihr Richtenden, nicht der entbehrlichen Folter» (Rilke, Die Sonette 2. Teil IX)
Religiosität ‒ Urquelle aller Religionen
Text, Film, Audios und Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © -Barbara Krähmer
Raimon Panikkar (1918-2010) vergleicht Religiosität mit dem Sprachvermögen des Menschen. So wie das Sprachvermögen sich in den verschiedenen Sprachen ausdrückt, so drückt die uns allen gemeinsame Religiosität sich in den verschiedenen Religionen aus.
Religiosität verbindet uns, die Religionen unterscheiden uns ‒ und trennen uns sogar leider oft.
Immer wieder neu entspringen aus der ursprünglichen und allen Menschen gemeinsamen Religiosität Religionen in den verschiedensten Formen.
Welcher Reichtum ginge auch verloren, wenn es nur eine Einheitssprache ‒ nur eine einzige Religion ‒ gäbe!
Wir könnten Religiosität auch mit einem einzigen riesigen, unterirdischen Wasserreservoir vergleichen und die Religionen mit einer Vielzahl von Brunnen, die daraus ihr Wasser heraufholen.
Immer wieder einmal im Laufe der Geschichte kommt ein Religionsgründer und gräbt einen neuen Brunnen.
Die Brunnen können sich stark voneinander unterscheiden, je nach der Persönlichkeit des Erbauers, den Gegebenheiten des Ortes, seiner Menschen und ihrer Bedürfnisse zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt.
Wir dürfen uns an der Schönheit der Brunnen in ihrer Verschiedenheit freuen und uns daran erinnern, dass aus jedem von ihnen ein und dasselbe Wasser fließt.
Wenn wir eingebettet in eine religiöse Tradition aufwachsen, werden uns die Lehren, Gebote und Rituale dieser Religion ihre tiefere Bedeutung dadurch erschließen, dass sie unsre erwachende Religiosität zum Mitschwingen bringen und zu ihrem echten Ausdruck werden.
Jede Religion, in der wir aufwachsen, kann die Sprache werden, in der wir über das ‒ letztlich doch unaussprechliche ‒ Geheimnis sprechen, das unsre Religiosität erahnt.
Später im Leben ist es schwieriger, eine neue Sprache zu erlernen. Die Aneignung einer religiösen Sprache beim Aufwachsen stellt ein weit größeres Vermögen dar als ein fettes Sparbuch; sie kann zur unerschöpflichen Freudenquelle fürs ganze Leben werden.
Daher ist es ein schmerzlicher Verlust, wenn wir uns bewusstwerden, dass wir unsre Religiosität nicht mehr in der Sprache der Religion unsrer Kindheit ausdrücken können.
Formen aufzugeben, die nicht mehr echter Ausdruck unsrer Religiosität sind, und nach neuen Ausdrucksformen zu suchen, mag andren und sogar uns selbst als Verrat erscheinen, kann aber gerade unsre Treue zum religiösen Inhalt beweisen, den sowohl die alten wie die neuen Formen ausdrücken.
Wir dürfen bei der Auswahl neuer Formen langsam und wählerisch vorgehen. Es ist nicht nötig, plötzlich allen Halt aufzugeben, den das Vertraute uns bietet.[1]
Religionen neigen jedoch dazu, früher oder später ihre ursprüngliche Kraft zu verlieren.
Ein Grund dafür liegt darin, dass große Gemeinschaften es kaum vermeiden können, Institutionen zu werden. Alle Institutionen haben aber die Tendenz, ihren ursprünglichen Zweck zu vernachlässigen und stattdessen zum Selbstzweck zu werden.
Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass auch politische, akademische, medizinische und andre Institutionen zum Selbstzweck werden, nicht nur religiöse.
Eine weitere Gefahr für Religionen besteht darin, dass sie in den Bann des «Systems»[2] fallen können.
Wenn dies geschieht, friert ihre ICH-DU-Spiritualität zu einer ICH-ES-Ideologie ein: Lehre, Moral und Ritual verwandeln sich in Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus.
Was sollen wir tun, wenn diese Katastrophe unsre eigene Religion befällt und das lebendige Wasser, das einst aus ihrem Brunnen sprudelte, sich in Eis verwandelt?
Wir können dieses Eis immer wieder auftauen ‒ durch die Wärme der Religiosität unsres Herzens.
Das Herz jeder Religion ist die Religiosität des Herzens.
Religiosität kann Religion wiederbeleben.
Wo eben noch Eis war, sprudelt dann wieder lebenspendendes Wasser.
Ist es also nicht die Religiosität unsres Herzens, auf die alles ankommt?[3]
Viel Religionsvergleich und Faktensammeln war nötig, um dies wirklich zu erkennen, aber inzwischen ist es einer erheblichen Anzahl von Menschen bewusst geworden (und wird jedem Menschen auf dieser Erde zunehmend bewusst werden), dass es im Endeffekt nur zweierlei Arten der Religiosität gibt.
Die Grenzlinien, von denen wir annahmen, dass sie zwischen Christen und Buddhisten, zwischen Buddhisten und Hindus und Muslims und Juden verliefen, sind letzten Endes irrelevant.
Es gibt nur eine Linie, die trennt, und die verläuft in einer anderen Richtung, nämlich horizontal. Durch alle Buddhisten, durch alle Hindus, durch alle Christen, und durch jeden Einzelnen von uns, verläuft die Linie zwischen der richtigen Weise, religiös zu sein, und der falschen Weise, religiös zu sein.
Es ist die Linie zwischen Furcht und Glauben.
Furcht in ihrer religiösen Ausdrucksweise nimmt verschiedenste Gestalt an, sei es Dogmatismus, wo es am offensichtlichsten ist, oder Szientismus, der eigentlich nur eine andere Form des Dogmatismus ist, oder sei es Fundamentalismus.
Auch der Moralismus ist eine Gestalt der Furcht; denn er bedeutet, dass man sich an etwas festhält, das man tun kann ‒ es ist das, was Paulus das Gesetz im Gegensatz zur Gnade genannt hat, oder die Werke im Gegensatz zum Glauben.
Man tut etwas: solange man es tun kann, hat man etwas im Griff. Man braucht auf nichts zu vertrauen; man vertraut auf das, was man erreichen und handhaben kann.
Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass es auf der Welt nur noch zwei Arten gibt, religiös zu sein. Wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, dann will ich die eine Art die fundamentalistische nennen, das ist die Religion der Furcht.
Es ist zwar ganz offensichtlich, dass sie in meinem Sinne eigentlich gar keine Religion ist, aber sie wird nun einmal Religion genannt, und so wollen wir es bei diesem falschen Ausdruck belassen: es ist die Affenreligion, die äffende Religion, die Religion der Furcht.
Und im Gegensatz dazu steht die katholische Religion, aber wir wollen katholisch bitte mit einem kleinen «k» schreiben, denn das große Problem der Katholiken besteht darin, dass sie nicht katholisch genug sind. Es gibt katholische Buddhisten, die viel katholischer als die Katholiken mit dem großen «K»[4] sind, und es gibt katholische Juden und katholische Muslime und katholische Hindus. Es gibt sogar katholische Atheisten, aber auch fundamentalistische Atheisten. Hier eben verläuft die Trennungslinie.[5]
Richtig verstanden, ist «katholisch» nicht das Markenzeichen einer bestimmten Gruppe von Christen ‒ «allumfassende Teilgruppe» ist ein offensichtlich widersinniger Begriff ‒, sondern kennzeichnet die Gemeinschaft aller, die mit dem uns Menschen angeborenen Ur-Glauben dem Leben vertrauen.
Wer sollte da ausgeschlossen sein? Selbst Tiere und Pflanzen haben ja auf ihre eigene Art dieses Ur-Vertrauen. Auch wenn dieser Glaube manchmal einem Menschen selber nicht bewusst ist, im tiefsten Herzen bleibt er immer lebendig.[6]
Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn wir behaupten wollten, die großen Traditionen der Spiritualität verhielten sich zueinander komplementär. Ja, es wäre falsch, sich vorzustellen, sie ließen sich alle «zum Richtigen» zusammenfassen. Jede von ihnen ist «das Richtige». Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional. Jede enthält jede, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentuierung. Daher ist jede einmalig.
Jede ist in ihrer Art auch die höchste. Wo bleibt da der christliche Anspruch auf Universalität? Richtig verstanden, ist er nicht eine Art von kolonialem Anspruch, sondern er verweist auf innere Horizonte. Es verlangt nicht von den anderen, sondern von uns Christen, dass wir immer und immer wieder die vernachlässigten Dimensionen unserer eigenen Tradition wiederentdecken, damit wir wahrhaft universal, also wirklich katholisch werden.[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3, 5-7]
[Ergänzend:
1. Film Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4-7:
(16:10) «Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind: Ich beginne mit der Einsicht – und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind.
Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens. Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.»
Egbert Amann-Ölz: «Bei Dir hat man es auf jeden Fall gespürt: Du bist im Herzen der Katholischen Kirche verankert und hast aber die Fühler ganz weit ausgestreckt. Ja, du hast eine Verbindung zu allen Menschen, unabhängig von der Religion, aber auf dieser Basis der Religiosität, hab ich den Eindruck.»
Bruder David: «Das ist eben die Basis: Die glühende Religiosität, die leider in den meisten Menschen nicht zu glühen ist, aber ein kleiner Funke wenigstens ist, den man wieder zur Flamme entfachen kann: Die sind in uns – unser größtes Interesse! – wenn es nur möglich gemacht wird, uns wirklich damit auseinanderzusetzen.»
2. Audios
2.1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018)
Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(01:57) Der Begriff Religion ist zweideutig: «Einerseits bedeutet Religion ‹die Religionen›. Aber Religion hat auch noch eine zweite Bedeutung, nämlich ‹die uns Menschen angeborene Religiosität›. Und die drückt sich dann in den Religionen aus. So wie wir eine uns Menschen angeborene Sprachbegabung haben, die sich in den verschiedenen Sprachen ausdrückt. Man kann nicht Sprachbegabung sprechen, man kann nur Deutsch, Französisch oder Italienisch sprechen.
Und jede Sprache ist sehr wichtig, weil, wenn man mehrere Sprachen kennt, weiß man, wie schöne Einsichten man einfach gewinnt dadurch, dass man sich so ausdrückt. Man kann das in einer andern Sprache überhaupt nicht sagen. Es gibt viele deutsche Wörter, wo es keine Parallele gibt, z. B. ‹Vorfreude›: In keiner mir bekannten Sprache gibt es das Wort ‹Vorfreude›. Das muss man umschreiben. Das ist ein wunderschönes Wort: ‹Vorfreude ist die schönste Freude›. Das ist nur ein winziges Beispiel. Aber jede Sprache hat ihre Bedeutung und ihre Schönheit und ihre Einzigartigkeit, und so ist es mit den Religionen. Die haben auch jede ihre eigene Schönheit, aber die wachsen alle heraus aus diesem Mutterboden unserer Religiosität.»
(04:12) «Manche Leute nennen es Spiritualität [oder Ethik][8]. Ich nenne es gerne ‹Religiosität›, weil dieses Wort ‹Religion› ein sehr schönes Wort ist und außerdem zeigt es in dem Zusammenhang: aus der Religiosität wachsen die Religionen, das ist einleuchtend.
Und Religiosität heißt ja ‒ das ist nicht unbedingt stichhaltig ‒, aber die meisten Etymologen sagen, dass es mit ‹religare› zu tun hat, und das heißt, wie ‹re› ‒ ‹wieder› und ‹ligare› wie ‹Liga› und ‹Ligamente›, ‹wiederverbinden›.
Also Religion [im Sinn von Religiosität] ist das, was gebrochene Verbindungen wieder verbindet. Und zwar die Verbindung zwischen uns und dem großen Geheimnis Gottes, die Verbindung zwischen den Menschen untereinander und die Verbindung zwischen jedem und jeder von uns und unserm tiefsten wahren Selbst. Also das alles ist Aufgabe der Religion, uns wieder zu verbinden, wo wir zerbrochen sind.
Und diese Religiosität ‒ wenn wir sie pflegen, tut das. Also sie verbindet uns. Weil: es gibt nur eine menschliche Religiosität. Und viele, viele Religionen.
Und die Religionen sind zu ganz verschiedenen Zeiten entstanden und haben sich auf ganz verschiedene Weise fortgepflanzt, ganz verschiedene Geschichten usw.. Das muss man alles in Betracht ziehen und darum ist es nicht sehr leicht, die Religionen als verbindend anzusehen.
(06:09) Da kommt noch etwas dazu: Die Religionen sind alle heutzutage schon Institutionen geworden, und wir wissen alle, dass Institutionen für einen bestimmten Zweck gegründet werden ‒ sagen wir erzieherische Institutionen oder medizinische Institutionen oder politische Institutionen ‒, die werden für einen guten Zweck gegründet. In der kürzesten Zeit denkt niemand mehr an den Zweck, sondern nur mehr an die Institution und will die verwirklichen und verewigen. Und alles dreht sich um die Institution und der Zweck ist schon vergessen.
Das gilt auch für die Religionen als Institutionen. Die sind sehr in sich selbst verfangen. Ich bin ganz dafür, dass man so Begegnungen hat wie die in Assisi[9] usw.. Die Begegnung der Religionen ist äußerst wichtig, aber man darf nicht soviel davon erwarten. Und ich habe viel Erfahrung damit und so kann ich das aus Erfahrung sagen.
Aber von Meditation, wo Menschen sich auf ihre eigene Religiosität einlassen, kann man sehr viel erwarten. Im Augenblick, wo jemand wirklich ein spiritueller Mensch ist, versteht er sich mit allen andern spirituellen Menschen und nicht nur das: ist aufgeschlossen und nicht feindlich gegen andere, die er nicht so gut versteht, oder die sogar gegen uns feindlich sind.
Also das ist eine ganz andere Bewegung: Wir müssen in die Religiosität gehen oder in die Spiritualität, die uns verbindet, und von daher unsere Religionen, die ja sehr wertvoll sein können, immer wieder erneuern.
Wir sind verantwortlich dafür, unsere Religion immer wieder aus den Quellen unserer eigenen persönlichen Religiosität zu erneuern, zu beleben und in ihr das Leben einfließen zu lassen.
Und wenn man das macht, dann sieht man einerseits, wieviel Schönheit in der eigenen Religion … und wieviel Schönheit in den andern ist. Und immer wieder kommt mir unter, dass Leute, die Jahre und Jahrzehnte Buddhismus praktizieren und lange Christen waren, und das schon halbwegs vergessen haben, endlich sagen: Durch meine buddhistische Spiritualität ‒ nicht durch den Buddhismus, sondern durch meine Meditation ‒: endlich verstehe ich, was im Christentum wesentlich ist. Jetzt bin ich wieder offen für das Christentum. Immer wieder kommt das vor. Oder Judentum: genau dasselbe.
(11:08) «Und besonders auch, wenn Leute Schwierigkeiten haben mit ihrer Religion oder mit dem Religionsunterricht oder ihrer religiösen Erziehung usw., ist es ein sehr einfacher Kunstgriff, das einmal still liegen zu lassen und auf die Religiosität zu sprechen zu kommen, die man voraussetzen kann: Jeder Mensch hat diese tiefe Religiosität.
2.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2-5:
«Worum geht es bei der Religiosität? Das ist uns unbedingt wichtig, wenn wir unser Thema beantworten wollen. Worum geht es bei der Religiosität und zwar jetzt, in Ihrem Erleben?»
3. Texte
3.1. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2022): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:
«Mir wurden ungewöhnliche Gelegenheiten geschenkt, andre spirituelle Traditionen aus nächster Nähe kennenzulernen, besonders den Zen Buddhismus. Das gab meinem christlichen Glauben Anstoß, allumfassend, also im Vollsinn des Wortes ‹katholisch› zu werden. Ich sehe jetzt, dass die verschiedenen Religionen – meine eigene eingeschlossen – wie verschiedene Brunnen aus ein und demselben Grundwasser menschlicher Religiosität schöpfen. Diese Religiosität ist die uns als Menschen angeborene Beziehung zu dem großen Geheimnis, das wir Gott nennen. Ein solcher Brunnen, wie unsere christliche Tradition einer ist, stellt ein unermessliches Geschenk dar. ‹Geh nicht von einem zum andern›, warnt Swami Satchidananda: ‹Wenn du einen gefunden hast, grab‘ immer tiefer›. Das habe auch ich mir zu Herzen genommen. Es erweitert den Horizont und ist für das dringend notwendige gegenseitige Verständnis ungemein wichtig, andre Religionen kennenzulernen; es ist aber auch wichtig zu wissen, wo wir zuhause sind.»
3.2. «Die Religion religiös machen», in: Verbunden trotz Abstand (2021), 43-64; siehe auch: Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 195-204
3.3. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelyn Gander mit Bruder David:
Evelyn Gander: «Osttirol ist eine sehr traditionell katholisch geprägte Region und andere Religionen werden oft als Widerspruch zur eigenen wahrgenommen. Wie kann es gelingen zwischen den Religionen Verbindendes zu erkennen und damit Ängste abzubauen?»
Bruder David: «Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens. Sie ist uns Menschen angeboren, und auf sie allein kommt es letztlich an. Sie wird uns als Ehrfurcht bewusst, wenn wir dem großen Geheimnis der Natur und des menschlichen Lebens begegnen, und drückt sich im Alltag aus durch ehrfürchtigen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen. Die verschiedenen Religionen drücken diese eine uns allen gemeinsame Religiosität auf verschiedene Weise aus, weil sie in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen entstanden sind und von ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt wurden.
Bildlich gesprochen, sind die Religionen wie Brunnen, die alle aus ein und demselben unterirdischen Sammelbecken ihr Wasser heraufpumpen. Wenn es uns auf Äußerlichkeiten ankommt, werden wir uns am Baustil der uns fremden Brunnen stoßen. Wenn uns aber das Trinken das Wichtigste ist, werden wir den Geschmack des Wassers aus dem uns vertrauten Brunnen bei allen anderen wiedererkennen und uns an der vielfältigen Schönheit der verschiedenen Brunnen freuen.»
3.4. Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Esther Platzer mit Bruder David:
Esther Platzer: «Es gibt unterschiedliche Religionen auf dieser Welt. Warum stehen sie miteinander in Konkurrenz?»
Bruder David: «Ich möchte mit einer Definitionsfrage beginnen. Wir sollten zwischen Religion im Sinne von Religiosität und Religion als Institution unterscheiden. Auf der Ebene der Institution kann keine Vereinigung stattfinden. Eine Institution – und jede der großen Religionen ist eine Institution geworden – vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Sie verwendet ihre Energie darauf, sich selbst zu verewigen.
Das ist allen Institutionen gemeinsam, sei es politischer, medizinischer oder auch akademischer Natur. Religion ist keine Ausnahme. Auf institutioneller Ebene tauscht man vielleicht freundliche Worte untereinander aus, und wenn wir Glück haben, bekämpft man sich nicht, doch Religionen werden auf institutioneller Ebene sicherlich nicht zusammenfinden.»
«Und worauf setzen Sie dann Ihre Hoffnung?»
«Das Einzige, was den Zwiespalt überwinden kann, ist die Rückbesinnung auf Religiosität. Sie verbindet uns alle, ist angeboren. Menschsein bedeutet, sich mit den Geheimnissen des Lebens zu befassen.»
«Was meinen Sie genau mit Religiosität?»
«Ich will es mit einem Bild veranschaulichen: Stellen wir uns Religiosität als eine Art Grundwasser vor. Im Laufe der Geschichte bauten die Religionsgründer Brunnen. Gautama Buddha baute einen, Jesus auch. Beide befördern Grundwasser, also Religiosität an die Oberfläche, beide mit Brunnen, die für ihre Kultur und in ihren Kontext passten.»
«Und was folgt daraus?»
«Im interreligiösen Dialog lassen sich entweder die verschiedenen Brunnen miteinander vergleichen, oder wir vergleichen das Wasser, das diese Brunnen ans Tageslicht bringen. Wer das tut, wird bemerken, dass das Wasser immer das Gleiche ist. Es ist also die Aufgabe von Religionszugehörigen, in der Begegnung mit anderen Glaubensrichtungen immer so tief hinunterzugehen, dass sie das lebendige Wasser herausholen. So schafft man es, Gemeinsamkeiten zu erkennen und nicht auf die Unterschiede zu achten.»
3.5. Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern (2019): Interview von Michaela Gründler mit Bruder David:
Michaela Gründler: «Sie haben sich im Laufe Ihres Lebens immer wieder mit Vertretern anderer Religionen vernetzt. Was ist das Verbindende zwischen den Religionen?»
Bruder David: «Da müssen wir zunächst unterscheiden zwischen der allen Menschen angeborenen Religiosität und den Religionen.
Zu der Zeit, wo eine Religion gegründet wird, verfestigt sich eine von den vielen möglichen Ausdrucksformen der allgemein menschlichen Religiosität – der Begegnung mit dem großen Geheimnis.
Aber auf diese Religiosität kann man immer wieder von jeder der Religionen zurückgreifen. Auf dieser Basis kann ein Christ von einem Mohammedaner etwas lernen und umgekehrt, und sie können sogar gemeinsam beten.
Bei der Annäherung der verschiedenen Religionen als Institutionen sehe ich eher schwarz. Sie nähern sich vielleicht unter Druck an oder aus politischen Gründen, vielleicht auch mit guter Absicht, aber jede Institution will sich letztlich von der anderen abgrenzen.
Aber in der allgemein-menschlichen Religiosität, die das Leben als Ganzes sieht und jeder Religion auf verschiedene Weise zugrunde liegt, sind wir von Anfang an verbunden. Sich diese Verbundenheit bewusst zu machen, ist ungeheuer wichtig im interreligiösen Dialog.»
Michaela Gründler: «Worin besteht diese allgemein menschliche Religiosität genau?»
Bruder David: «Darin, dass wir als Menschen gar nicht umhinkönnen, uns mit dem großen Geheimnis des Lebens auseinanderzusetzen. Diese Beschäftigung kann man verschieben, solange man noch jung ist und andere Interessen hat. Aber für ein volles Menschenleben kann man nicht umhin, sich mit dem Warum, dem Was und dem Wie des Lebens auseinanderzusetzen. Warum gibt es uns überhaupt? Was schenkt uns das Leben und was verlangt es von uns? Wie sollen wir miteinander verbunden leben, um glücklich zu sein? Diese Grundfragen, die kein Mensch früher oder später umgehen kann, führen uns in das große Geheimnis hinein.»
3.6. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
Anne Voigt: «Welche Rolle spielt die Religion?
Bruder David: «Hans Küng, der große Vertreter des ‹Projekts Weltethos›, betont, dass man eigentlich von Menschenpflichten und nicht nur von Menschenrechten sprechen sollte. Und auch der Dalai Lama spricht in seinem Buch ‹Ethik ist wichtiger als Religion› von Menschenpflichten. Institutionelle Religion steht ihnen oft im Wege. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist, sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig.»
«Ist innerhalb dieses Dialogs die Religion also gar nicht so wichtig?»
«Ja, allerdings nicht in dem Sinne, wie es manchmal beschrieben wird. Es geht nicht um die Frage, was wir beispielsweise als Christen, Buddhisten oder Hindus glauben und was nicht. Vielmehr sollte der interreligiöse Dialog als ein Dialog aller Menschen verstanden werden.»
«Stehen religiöse Institutionen dem Dialog im Weg?»
Bruder David: «Die Institution ist dafür da, uns immer wieder an die Quelle zurückzuführen. Aber sie möchte sich als Institution auch selbst verewigen und vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Das ist eine große Gefahr. Das gilt nicht nur für religiöse und spirituelle Institutionen, sondern etwa auch für akademische oder politische. Ich nenne es das Syndrom der rostigen Röhren, denn Institutionen verhalten sich so. Es sind rostige Röhren, die uns aber auch immer wieder das Wasser der ursprünglichen Quelle zuführen.»
3.7.1. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 35f., [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33f.]:
«Ruhelos ist unser Herz.» So drückte Augustinus es aus.
Der Kern unseres Wesens ist ein unerbittliches Fragen, Suchen, Sehnen.
Selbst das Schlagen des Herzens in meiner Brust scheint lediglich das Echo eines tieferen Hämmerns in mir zu sein, eines Klopfens an eine verschlossene Tür.
Noch nicht einmal das ist mir klar: Klopfe ich, um hereinzukommen, oder klopfe ich, um herauszugelangen?
Eins aber ist gewiss: Ruhelos ist unser Herz. Und jene existenzielle Ruhelosigkeit ist das, was Religion religiös macht.
Jede Religion stellt nur den Rahmen für die Suche des Herzens bereit.
Innerhalb jeder Religion gibt es unzählige Wege, religiös zu sein.
Durch persönliches Suchen müssen wir unseren eigenen finden. Das kann niemand anders für uns erledigen.
Diese oder jene Religion mag den historischen, kulturellen, soziologischen Rahmen dazu liefern. Sie mag uns eine Interpretation unserer Erfahrung anbieten, eine Sprache, um darüber zu sprechen. Wenn wir Glück haben, liefert sie uns vielleicht Anreize, die uns bei unserer Suche wach und aufmerksam halten, und Kanäle, die ihre Antriebskraft davor schützen zu versickern, auszulaufen.
All dies ist von unschätzbarem Wert. Und doch sind das äußere Dinge.
Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens.»
Am Schluss des Buches zum Schlüsselbegriff Religion
3.7.2. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 182f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 183f.] der Schlüsselbegriff «Religion»:
«Religionen sind Wege, religiös zu sein. Wir denken an die zugrundeliegende Religiosität, wenn wir von Religion im Gegensatz zu Religionen sprechen. Wir bräuchten ein Tätigkeitswort, ein Verb, um auszudrücken, worum es bei Religion geht. Aber während uns Wörter wie ‹Religion› und ‹religiös› zur Verfügung stehen, ist es nicht möglich zu sagen, jemand ‹religione›.
Beten ist das Tätigkeitswort im Zusammenhang von Religion. Beten (im weitesten Sinne) ist das, was verhindert, dass religiöse Erfahrung in bloßen religiösen Strukturen vertrocknet. Erfahrung ist der Ausgangspunkt von Religion. Es ist nicht zu vermeiden, dass Intellekt, Wille und Emotionen ‒ alle in der ihnen eigenen Weise ‒ mit der Erfahrung fundamentaler Zugehörigkeit ringen. Der Intellekt interpretiert die Erfahrung, und das führt zur religiösen Lehre. Der Wille erkennt die Implikationen an, was die ethische Seite begründet. Die Emotionen feiern die Erfahrung durch das Ritual.
Religion aber ist nicht automatisch religiös. Jene drei Hauptbereiche jeder Religion neigen immer dazu, zu Dogmatismus, Legalismus und Ritualismus zu schrumpfen, wenn sie nicht immer wieder von persönlicher Erfahrung belebt werden. Dieser Prozess ist das Gebet. Gebet in diesem Sinne macht Religionen religiös.»
3.8. Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017):
«Wir müssen unterscheiden zwischen Religion [im Sinn von Religiosität] und den Religionen. Die Religionen sind verschiedene Brunnen, die Wasser heraufholen aus dem allen gemeinsamen Grundwasser der Religion.
Religion, wenn wir dieses Wort vom lateinischen ‹re-ligare› herleiten wollen, ist das Wieder-Verbinden und Heilen zerrissener Beziehungen – zu unserem echten Selbst, zu unserer Mit- und Umwelt und zum großen Geheimnis, mit dem wir uns als Menschen unvermeidlich auseinandersetzen müssen, um Sinn im Leben zu finden.
Geheimnis ist kein vager Begriff, sondern bedeutet jene Wirklichkeit, die wir nicht durch Begriffe in den Griff bekommen können, die uns aber verständlich wird, wenn sie uns ergreift. Wir kennen diese Ergriffenheit von der Musik, deren Wesen sich ja auch unseren Begriffen entzieht.
Dem Geheimnis begegnen wir in allen ergreifenden Lebenserfahrungen, etwa in Gipfelerlebnissen, bei der Geburt eines Kindes, im Angesicht des Todes und vor allem in der Liebe, weil sie das Ja zum Leben ist und so das Ja zum Geheimnis. Das Herz aller Religionen ist die Religion des Herzens: die Liebe.
Das griechische Wort ēthos bedeutet in erster Linie unsere menschliche Natur, unsere grundlegende Veranlagung – unsere innerste Ausrichtung also auf das große Geheimnis, unsere Religiosität.
Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität. Aus dieser Erwägung gibt S.H. der Dalai Lama seinem Appell an die Menschheit den Titel ‹Ethik ist wichtiger als Religion›. Er will damit aber das Gleiche sagen wie: Religion ist wichtiger als die Religionen.
Wenn das Herz jeder Religion die Religion des Herzens ist, dann ist das Herz jeder Ethik die Ethik des Herzens – die Sehnsucht glücklich zu werden und – untrennbar davon – andere glücklich zu machen. In aller Welt drückt die Volksweisheit diese Einsicht ähnlich aus wie bei uns: ‹Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.›
Ob wir es Religion nennen, Ethik oder Spiritualität, immer geht es um ‹die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns›, – wie der Dalai Lama sie nennt. Aus dieser einen Quelle schöpfen alle Religionen und alle Systeme ethischer Normen.»
3.9. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 177-182:
«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.
Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?»]
____________________________
[1] Orientierung finden (2021), 64, 65f.
[2] Orientierung finden (2021): «Das System ‒ die Macht, die Leben zerstört», 41:
«Das ‹System› kann nicht lächeln. Es kümmert sich um keinen Menschen. Ihm ist alles egal. Wir haben es ja mit einer völlig unpersönlichen Machtstruktur zu tun, obwohl sie wie von einem irrsinnigen Machthaber gesteuert erscheinen mag. In seinem Wesen ist das ‹System› uneingeschränkte Unpersönlichkeit ‒ Inbegriff eines leeren Nichts mit mörderischer Macht. Wo es eindringt, zerstört es das Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit und die Anerkennung persönlicher Einzigartigkeit ‒ die beiden Voraussetzungen von Menschenwürde. Sich gegen das ‹System› aufzulehnen, heißt also ‒ kurz und positiv auf eine Formel gebracht ‒ für Menschenwürde einzutreten. Menschenwürde entspringt letztlich der Ehrfurcht vor dem Geheimnis.»
[3] Orientierung finden (2021): «Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche», 69f.
[4] Katholisch identisch mit «Römisch-Katholisch»
[5] Der Mönch in uns (1978)
[6] Credo: «Ein Glaube, der alle verbindet» (2012), 189
[7] Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 9 «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 128f.
[8] Siehe Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017) in Ergänzend: 3.8:
«Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität.»
[9] Von 18. bis 20. September 2016 hatten sich in Assisi rund 500 Vertreter von einem Dutzend Religionen versammelt, um den Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften voranzutreiben. An der Zusammenkunft mit knapp 30 Podiumsrunden sowie Vorträgen und Gebeten nahmen insgesamt mehr als 10.000 Menschen teil. Neben dem Dialog der Religionen ging es auch um Themen wie Recht auf Nahrung, Migration und Bewahrung der Schöpfung.
Religiosität ‒ ethische Urquelle
Text, Film, Audios und Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
In seinem Buch, Ethik ist wichtiger als Religion richtet S.H. der Dalai-Lama einen Appell an die Menschheit, für den die Stunde geschlagen hat. Diesen Aufruf zu überhören, wäre gefährlich.
Allerdings hat das Buch auch zu Missverständnissen geführt. Diese lassen sich aber durch eindeutige Definitionen der verwendeten Begriffe klären.
Die wichtigste Klarstellung betrifft den Begriff Religion. Bedeutet er Religion als Religiosität, oder als eine der Religionen?
In den vielen verschiedenen Religionen drückt sich (mehr oder weniger erfolgreich) die eine, allen Menschen gemeinsame Religiosität aus ‒ «unsere elementare menschliche Spiritualität» nennt sie S.H. der Dalai-Lama, «eine in uns Menschen angelegte Neigung zur Liebe, Güte und Zuneigung ‒ unabhängig davon, welcher Religion wir angehören.»
Wir sprechen heute meist lieber von Spiritualität als von Religiosität, es handelt sich aber (unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten) um das Gleiche: um unsere Beziehung zur letzten Wirklichkeit.
Spiritualität - vom lateinischen spiritus, Lebensatem ‒ verweist auf die wache Lebendigkeit, die diese Beziehung kennzeichnet.
Religiosität - vom lateinischen re-ligare, wiederverbinden ‒ weist auf das Wesen dieser Beziehung hin: auf die Heilung unserer gestörten Verbindung zum Urgrund, zu Um- und Mitwelt und zu unserem wahren Selbst.
Unsere Beziehung zur letzten Wirklichkeit, zum abgründigen Geheimnis ‒ mögen wir sie Spiritualität nennen oder Religiosität ‒ ist eine Grundgegebenheit unseres Menschseins: Wir sind die spirituellen / religiösen Tiere.
Was uns zu Menschen macht, ist die Tatsache, dass wir uns unvermeidlich mit dem Geheimnis des Lebens auseinandersetzen müssen.
Spiritualität / Religiosität ist, kurzgefasst, die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Geheimnis.
Ein zentraler Aspekt der uns allen gemeinsamen Religiosität ist Ethik.
«Wir kommen nicht als Mitglieder einer bestimmten Religion auf die Welt», sagt S.H. der Dalai-Lama, «aber Ethik ist uns angeboren.»
Wieso angeboren? Weil Ethik untrennbar zum Bewusstsein vom großen Geheimnis gehört, einem Bewusstsein, das uns angeboren ist, ja, das uns als Menschen kennzeichnet:
Ethik entspringt aus unserer Begegnung mit dem Geheimnis, also unsrer Religiosität.
Ethische Verantwortlichkeit ist die positive Antwort auf den Anruf des Geheimnisses: unser Ja zum Leben.
Unter Ethik verstehen wir die Gesamtheit von Grundsätzen und Richtlinien, die einer verantwortungsbewussten Haltung und Tätigkeit zugrunde liegen.
In dieser Definition verdient das Wort «verantwortungsbewusst» besondere Beachtung.
Es weist auf zwei Wurzeln der Ethik hin: auf Bewusstheit und Antwort - Bewusstheit eines Anspruchs an uns und unsere Antwort darauf.
Verantwortungsbewusstsein entspringt aus unserer wach bewussten Begegnung mit dem Geheimnis des Lebens.
Diesem Bewusstsein unserer Verantwortlichkeit entspringt ethisches Verhalten.
Es stellt (im Gegensatz zu unverantwortlichem Verhalten) die positive Antwort auf den Anruf des Geheimnisses dar. Diese Antwort ist das «Ja!» zum Leben.
Wir können uns dessen bewusstwerden, dass das Leben eine Richtung hat: es will etwa Vielfalt, freie Entfaltung und das Wohlergehen aller seiner Glieder im Zusammenspiel aller mit allen.
Dieser Strömungsrichtung des Lebens können wir zustimmen, können uns ihr anvertrauen, uns von ihr tragen lassen. Darin besteht unser Ja.
Dieses gelebte Ja heißt Lebensvertrauen.
Wir können aber auch Nein sagen und uns gegen die Richtung des Lebens sträuben ‒ etwa aus kurzsichtiger Gewinnsucht oder aus Ungeduld.
Dieses Nein heißt Furcht. Aus unserem Ja entspringt ethisches, aus dem Nein unethisches Verhalten.
Ethik ist deshalb wichtiger als diese oder jene Religion, weil sie zu unserer Religiosität gehört, aus der alle Religionen entspringen. und weil im Fall des Widerspruches zwischen den beiden, die Religiosität den verlässlicheren Kompass darstellt.
Ein Beispiel: Papst Franziskus spielt die Ethik der Religiosität gegen deren bisherige Interpretation innerhalb seiner eigenen Religion aus, indem er ‒ nach Jahrhunderten von Ketzer- und Hexenverbrennungen ‒ dem Kirchenrecht zum Trotz, die Todesstrafe für grundsätzlich unerlaubt erklärt.
In Zweifelsfällen kann und muss eben jede Religion sich immer wieder neu an Religiosität orientieren, muss unter Umständen auch ein althergebrachtes Rechtsverständnis neu hinterfragen und aufgrund der in Religiosität verankerten Ethik berichtigen.
S.H. der Dalai Lama schreibt:
«Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine fundamentale ethische Urquelle in uns.»
Diese «ethische Urquelle» ist unsere Religiosität, die zugleich die Urquelle aller Religionen ist.
Aus dieser Quelle fließt Ethik auch in die einzelnen Religionen ein, drückt sich aber in jeder Religion (entsprechend deren kultureller Eigenart) unterschiedlich aus. [1]
(26:28) Da muss man sehr vorsichtig unterscheiden zwischen Ethik und ethischen Vorschriften. Die nenne ich lieber Moral. Nur einfach, um ein anderes Wort zu haben.
Wenn sich die Ethik schon in gewisse Sätze, Verhaltensvorschriften usw. entwickelt hat, dann kann man es auch Moral nennen.
Das Wesentliche an der Ethik ist, Augenblick für Augenblick hinzuhorchen: Was will das Leben jetzt von mir? ‒ und verantwortlich das zu tun.
Sehr häufig wird diese Verantwortung nicht so klar gesehen. Aber wenn man das übt, wenn man sich dessen bewusst ist: Also ich möchte in Gott und mit Gott leben, das heißt: in diesem Augenblick begegnet mir Gott, da muss ich ja mich immer wieder bemühen, zunächst einmal aufzuwachen:
Was will jetzt dieses Leben von mir?
Und das ist manchmal nicht so klar zu sehen, das ist auch schwierig. Da muss man halt das Beste tun, und wenn’s ein Fehler war, dann den ändern. Das zeigt ja dann der nächste Augenblick schon, dass es ein Fehler war. Da kann man dann den nächsten Augenblick verwenden.
Aber doch hinhorchen und vertrauen, dass das Leben ‒ da kommt wieder der Glaube herein ‒, etwas von uns verlangt. Jeden Augenblick. Und zwar oft sehr angenehme Sachen.
Das Leben ist ja nicht so ganz ein strenger Lehrer, der jeden Augenblick etwas verlangt. Das Leben verlangt von uns: «Freu dich doch dran!» ‒ und wir sind anderweitig beschäftigt. Das Leben sagt ja fast in jedem Augenblick: «Freu dich doch dran», und auch noch, wenn andere Sachen dazukommen ‒, es sagt ja nicht nur eines ‒:
«Ja das ist wirklich schwierig, aber schließlich kannst du doch noch tief durchatmen. Das ist ja auch ein Geschenk. Viele Menschen können nicht anständig atmen: du kannst jetzt atmen und trotzdem, mit der ganzen Belastung: Tu’s doch!» Das ist auch eine Antwort auf die Herausforderung des Lebens.
(30:26) Wann ist Ethik ethisch? – das ist die Frage. Es gibt eben sehr viele Atheisten, die sich Atheisten nennen, aber sehr ethisch sind, also z. B die Menschenwürde in andern schätzen, und dann kommt eben wieder die Frage: Was macht die Ethik ethisch?
Und meine Antwort wäre ‒ bevor sich‘s noch so ausdrückt in dem Satz: «Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu» ‒, zeigt sich Ethik darin, ob man wirklich auf das Geheimnis hinhorcht ‒, jeden Augenblick, und verantwortlich sich fühlt dem Leben gegenüber, oder ob man vorgefasste Meinungen hat ‒ und das können auch religiöse Lehren sein, die man dann anwendet. Aber die können auch falsch sein. Leider. Irrig. Das erleben wir heute noch.
(32:55) Und so wie sich jede Religion ‒ und meine eigene auch ‒ immer wieder verantworten muss vor meiner Religiosität: Das ist ein wichtiger Satz:
Meine Religion muss sich immer wieder verantworten vor meiner Religiosität ‒ nicht umgekehrt. ‒ Die Formen der Religion ‒ in dem Sinn: überkommene Formen ‒, das muss sich verantworten, das muss mir passen. Wenn das mir nicht passt, darf ich es nicht tun.
Das ist ja auch katholische Lehre: Wir haben‘s halt als Gewissen ausgesprochen: «Du darfst nicht gegen dein Gewissen handeln.»
So wie sich meine Religion vor meiner Religiosität verantworten muss, so muss sich auch meine Ethik vor meiner Religiosität, in der ja die Ethik wurzelt, verantworten.
Und so ein ethisches System: Es gibt ja auch ein katholisches ethisches System, und vieles davon kann ein heute gebildeter Mensch nicht mehr annehmen. Ich gebe nur ein Beispiel: die Haltung zur Homosexualität.[2]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]
[Ergänzend:
1. Film Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 5:
(17:59) «… S.H. der Dalai Lama hat ein Buch geschrieben: ‹Ethik ist wichtiger als Religion›, so heißt das Buch. Das ist seine Botschaft, aber damit meint er mit Ethik, was ich Religiosität nenne. Ich kann das völlig anerkennen, aber ich übersetze es und sage: Religiosität ist wichtiger als Religion. Das heißt: Lebendige Religiosität ist wichtiger als religiöse Formen. Das steht dahinter.»
2. Audios
1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(00:26) «Wer von Euch hat dieses Büchlein ‒ es ist kaum ein Buch ‒ gelesen von S.H. dem Dalai Lama, das heißt Ethik ist wichtiger als Religion? Es ist ein Aufruf.
Die Religionen entzweien die Menschheit. Offensichtlich, leider, es müsste ja nicht unbedingt so sein, aber es ist eine Tatsache. Und wir brauchen heute etwas, was uns verbindet als Menschheit. Sonst können wir die Probleme, die auf uns zukommen einfach nicht lösen. Wir können sie nur gemeinsam lösen, und wir brauchen also etwas, was uns verbindet. Und was uns verbindet, ist eine grundlegende Ethik, die uns angeboren ist, sagt auch S.H. der Dalai Lama.
Das Buch ist aber doch sehr problematisch, und ich arbeite gerade an einer kurzen Antwort darauf, Ethik oder Religion, weil eben der Begriff Religion zweideutig ist.
Einerseits bedeutet Religion ‹die Religionen›, und in diesem Sinn verwendet auch S.H. der Dalai Lama dieses Wort, obwohl er meistens Religion sagt ‒ nicht: die Religionen, sondern Religion ‒, meint aber fast immer die Religionen.
Aber Religion hat auch noch eine zweite Bedeutung, nämlich ‹die uns Menschen angeborene Religiosität›.
(09:02) Und nur einmal in diesem Buch spricht S.H. der Dalai Lama von Religion als die uns angeborene Religiosität, und von dieser Religiosität ist die Ethik ein ganz wesentlicher Bestandteil.
Also eigentlich könnte man genauso gut ‒ oder jetzt, nachdem, was wir hier besprochen haben ‒, sagen:
‹Religiosität ist wichtiger als die Religionen.›
Das ist sehr verständlich, und die Gefahr, in der Art, wie S.H. der Dalai Lama sich da ausdrückt, ist, dass manche Leute das Buch gar nicht lesen wollen, weil sie glauben, es ist religionsfeindlich: Ethik ‒ so was weltliches, weltliche Ethik usw.. Davon wollen wir gar nichts wissen. Wir sind religiöse Menschen.
Oder andere, die das lesen und bejahen ‒ man kann ja jedes Wort bejahen, was er drinnen schreibt, begeistern kann man sich dafür ‒, lassen sich in eine religionsfeindliche Einstellung ein: Die Religionen sind Unsinn und so.
Beides ist nicht günstig. Also ich bemühe mich da um Klärung: Immer wieder Unterscheidungen, wie zwischen Religion und Religiosität, damit das klarer wird.»
2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2, 8-11:
«Wie kommen wir von den Religionen jetzt, zu jener Weisheit, die alle verbindet? Denn die Religionen scheinen sich diese Weisheit noch nicht zu eigen gemacht zu haben. Darunter leidet die Menschheit, darunter leidet die ganze Gesellschaft und dadurch bringen wir uns in große Gefahr.»
3. Texte
3.1. Orientierung finden (2021): «Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche», 68:
«Wie Religiosität sich in Religion ausdrückt, drückt Ethik sich in Moral aus.
Ethik, wie wir den Begriff hier verwenden, ist unsre Verantwortung vor dem großen DU, Moral ist der Versuch, unsre ethische Verantwortung in einer konkreten Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Wenn S.H. der Dalai Lama sagt, ‹Ethik ist wichtiger als Religion› ‒ Buddhismus als Religion eingeschlossen ‒, so heißt das in der Sprache, die wir hier verwenden:
Religiosität ist wichtiger als Religion.
Dem stimmen wir vollkommen bei, denn ohne Religiosität bleiben die Formen der Religion leere kulturelle Erscheinungen.
Je vollkommener sich Religiosität/Ethik in einer bestimmten Religion ausdrückt, umso lebendiger und lebenspendender ist ihre Moral.»
MORAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 151:
«Moral ist ‒ zusammen mit Lehre und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Willen (im Sinne unsrer Willigkeit) und versucht, Werte allgemein menschlicher Ethik so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zur Zeit der Religionsgründung moralisch verpflichtend werden. Wenn sich zu späteren Zeiten die kulturellen Gegebenheiten ändern, wird die gegebene Religion versuchen müssen, neu entstandene ethische Probleme einzubeziehen, damit ihre Moral weiterhin als Leuchtturm für ethisches Verhalten dienen kann.»
VERANTWORTUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 161f.:
«Verantwortung zu übernehmen, heißt einstehen für ein gegebenes Wort ‒ bereit zu sein, dafür Rechenschaft abzulegen und dafür zu haften. Verantwortung tragen wir aber auch, wenn wir es versäumen, Antwort zu geben, die unerlässlich ist. Die volle Bedeutung von Verantwortung zeigt sich erst, wenn wir bedenken, dass das Leben uns in jedem Augenblick ein Wort zuspricht und unsre Antwort erwartet. Wenn uns ein Kind geboren wird, so ist diese Gabe des Lebens leicht als schicksalsschweres Wort zu erkennen, das uns zugleich die Aufgabe stellt, auf vielerlei Weise darauf zu antworten. Oder wenn ein Freund in Lebensgefahr gerät, so stellt auch dies recht offensichtlich ein Wort dar, auf das zu antworten unsre Verantwortung ist. Aber auch in weit weniger dramatischen Augenblicken ‒ ja, in jedem Augenblick täglichen Lebens ‒ dürfen wir die Gesamtheit aller Gegebenheiten als Wort verstehen und auf sie Antwort geben. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt verantwortungsbewusst zu leben ‒ und das ist ein freudig erfülltes Leben.»
3.2. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
Anne Voigt: «Welche Rolle spielt die Religion?
Bruder David: «Hans Küng, der große Vertreter des ‹Projekts Weltethos›, betont, dass man eigentlich von Menschenpflichten und nicht nur von Menschenrechten sprechen sollte. Und auch S.H. der Dalai Lama spricht in seinem Buch ‹Ethik ist wichtiger als Religion› von Menschenpflichten. Institutionelle Religion steht ihnen oft im Wege. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist, sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig.»
3.3. Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019):
Bruder David: «S.H. der Dalai Lama sagt, dass Ethik wichtiger ist als Religion. Die Religionen neigen dazu, uns zu trennen, aber wir brauchen eine Ethik, die uns verbindet. Damit stimme ich vollkommen überein, muss aber betonen, dass in unserer Religiosität die Ethik bereits enthalten ist. Das ist der Grund, warum wir heute die Religiosität ernstnehmen müssen, denn sie bietet uns das breiteste Fundament für eine allgemeine Ethik. Wir brauchen eine Spiritualität für alle, nicht nur für diejenigen, die Zeit haben, sich in spirituellen Erfahrungen zu spezialisieren, und genug Geld haben, um Zentren für spirituelle Fortbildung zu besuchen. Die allen zugängliche Religiosität eröffnet uns grundlegende ethische Einsichten ‒ zum Beispiel: ‹Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.› Wäre das nicht ein guter Anfang? Es wäre genug, um die Welt zu verändern.»
3.4. Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017):
«Das griechische Wort ēthos bedeutet in erster Linie unsere menschliche Natur, unsere grundlegende Veranlagung – unsere innerste Ausrichtung also auf das große Geheimnis, unsere Religiosität.
Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität. Aus dieser Erwägung gibt S.H. der Dalai Lama seinem Appell an die Menschheit den Titel ‹Ethik ist wichtiger als Religion›. Er will damit aber das Gleiche sagen wie: Religion [im Sinn von Religiosität] ist wichtiger als die Religionen.
Wenn das Herz jeder Religion die Religion des Herzens ist, dann ist das Herz jeder Ethik die Ethik des Herzens – die Sehnsucht glücklich zu werden und – untrennbar davon – andere glücklich zu machen. In aller Welt drückt die Volksweisheit diese Einsicht ähnlich aus wie bei uns: ‹Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.›
Ob wir es Religion nennen, Ethik oder Spiritualität, immer geht es um ‹die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns›, – wie S.H. der Dalai Lama sie nennt. Aus dieser einen Quelle schöpfen alle Religionen und alle Systeme ethischer Normen.
Darum lehrt jede Religion auf ihre Art: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst›. Und jedes Moralsystem lässt sich zusammenfassen in dem Satz: ‹So verhält man sich denen gegenüber, zu denen man gehört.›
Der Kreis der Zugehörigkeit wurde oft zu eng gezogen. Heute muss er nicht nur alle Menschen umfassen, sondern alle Tiere, Pflanzen, unsere Erde und das ganze Universum. In beiden, Ethik und Religion, geht es also letztlich um Liebe als das grenzenlose Ja zur Zugehörigkeit.»
3.5. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 177-182:
«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.
Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?»]
____________________
[1] Auszug aus Ethik oder Religion (2018), die Antwort von Bruder David auf den Appell S.H. des Dalai Lama im Buch Ethik ist wichtiger als Religion (2014), 2-4
[2] Auszüge aus dem Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast
Tanz ‒ der Sinn des Ganzen
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
I want to know what this whole show
is all about, before it's out.
Wüsst‘ ich nur jetzt, um was zuletzt
sich alles dreht, bevor‘s vergeht!
Piet Hein (19O5-1996)
Jetzt, mitten in meinen 90er-Jahren, frage ich meinen Freund Thomas, der in seinen 20ern ist:
«Wie steht's da eigentlich mit jungen Leuten heute? Wollt auch ihr so leidenschaftlich wie Piet Hein und ich wissen, worum sich letztlich alles dreht?»
«Ja», sagt er, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, «diese Frage beschäftigt auch uns immerfort!»
Tommys Antwort hat mich letztlich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte versuchen, die wichtigsten Orientierungspunkt zu markieren, die ich im Laufe meines Lebens finden konnte.
Denn: Wollen wir unsern Platz im Ganzen finden, dann müssen wir auf die dynamische Vernetzung von allem mit allem schauen. Das kann unsere persönliche Aufgabe im weitesten Zusammenhang erkennen lassen.[1]
Mein ganzes Leben lang wollte ich vor allem wissen, wie alles mit allem zusammenhängt.
Was mich brennend interessiert, ist das Gesamtbild ‒ die Frage nach dem äußersten Horizont, die Frage, worum es letztlich geht.
Karte ist ein zu statisches Bild. Es geht wohl eher um ein Verständnis der Choreografie des Ganzen, dessen wichtigste Merkmale Bewegung und Veränderung sind.
Wenn wir uns tief einfühlen, dann bemerken wir, dass zum Gesamtbild nicht nur verändernde Bewegung gehört, sondern auch ruhendes Bleiben.
Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit ausdrücken können, Bewegung und Ruhe.
Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt.
Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab:
Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.[2]
Beim Tanz dreht sich alles um die Gelegenheit, Augenblick für Augenblick im Schritt zu sein mit denen, die uns am nächsten stehen im Kreis, und durch sie mit allen Tänzern in eine Wechselwirkung zu treten.
Das Ziel ist, völlig eins zu werden mit Rhythmus und Harmonie des Tanzes.
Tanz aber ist hier Sinnbild für Wandel und den Gang des ganzen Universums.
Vergiss das Sinnbild des Reigentanzes nicht!
Es sollte aufleuchten, sooft es um das Gesamtbild geht, und als Hintergrund dienen für alle Erwägungen, auf die wir uns in diesem Buch einlassen werden.
Ringelreigen kennen zwar auch jetzt noch alle vom Kindergarten her, aber der Rundtanz für Erwachsene ist schon fast verlorengegangen. Es freut mich, dass junge Menschen heute diese Urform des Tanzens wiederentdecken.
Kreis und Ring sind unerschöpfliche Sinnbilder für das kosmische Ganze ‒ von den vorgeschichtlichen Steinkreisen bis zum Ensō in der japanischen Kalligraphie.
Oft werden wir sehen, dass es Dichter sind, die uns besonders gut den tieferen Sinn von Wort und Bild erschließen können. Das gilt auch für den Reigentanz.
Dabei ist es bedeutsam, dass wir als bloße Zuschauer das Wichtigste nicht sehen können.
Von außerhalb des Kreises gesehen, muss es uns immer so erscheinen, als ob die uns Fernsten in die entgegengesetzte Richtung jener gehen, die uns am nächsten sind.
Erst wenn wir selber in den Kreis eintreten, links und rechts unsre Partner bei den Händen fassen und mittanzen, wird uns klar, dass alle sich in der gleichen Richtung bewegen.[3]
Beim Bild des Reigentanzes schwingt stets die Vorstellung von Gemeinschaft mit. Wir müssen das betonen, weil beim heutigen Tanzen oft nur die Musik das Verbindende ist, die einzelnen Tänzer aber weitgehend unabhängig voneinander ihre eigenen Tanzschritte und Figuren ausführen.
Beim Rundtanz tanzen sie miteinander, er vereint die Tanzenden zu einer Gemeinschaft.
Dein Leben ist untrennbar verbunden mit dem Leben aller andren ‒ dem ganzen Universum.
Im großen Chor ist jede Stimme unentbehrlich; im großen Tanz ist jede Tänzerin, jeder Tänzer unersetzlich.
Das allumfassende Leben wird Dir schon zeigen, was Du mit deinem Anteil am Ganzen tun sollst. Darauf darfst Du Dich vertrauensvoll verlassen.[4]
Bei C. S. Lewis (1898-1963) bin ich zum ersten Mal auf das Bild des großen Tanzes gestoßen, den er auch das große Spiel nennt.
In seinem Weltraumroman «Perelandra» heißt es:
«Er hat vor allem Anfang begonnen ... Der Tanz, den wir tanzen, ist die Mitte und um des Tanzes willen wurde alles erschaffen ... Im Plan des großen Tanzes greifen Pläne ohne Zahl ineinander, und jede Figur führt zu ihrer Zeit zum Aufblühen des gesamten Entwurfs, auf den alles hinzielt ... Alles Geschaffene erscheint dem verdunkelten Geist planlos, weil da mehr Pläne im Spiel sind, als er sich vorstellen kann ... Fasse eine Bewegung ins Auge, und sie wird dich durch alle Figuren führen und dir als die Hauptfigur erscheinen. Und das Scheinbare wird wahr sein. Möge kein Mund widersprechen. Alles scheint planlos, weil alles Plan ist: Alles scheint ohne Mitte, weil überall Mitte ist.»
Der amerikanische Schriftsteller T. S. Eliot (1888-1965) spricht von dieser geheimnisvollen Mitte ‒ vom Jetzt ‒ als «dem stillen Punkt der sich drehenden Welt».
«Das Jetzt ist der Augenblick, in dem der Tänzer ‹ruht und immer noch in Bewegung› ist, völlig im Schritt mit dem kosmischen Rhythmus. Es ist der Augenblick, in dem paradoxerweise der Pfeil unsrer Tanzbewegung sein Ziel erreicht, ohne anzuhalten in seinem Flug. An diesem ‹ruhenden Punkt, da ist der Tanz. ... Ohne den Punkt, den Ruhepunkt, gäbe es keinen Tanz, und es gibt nichts als den Tanz.›»[5]
Die Worte des bekannten Kanons «Liebe ist ein Ring. Ein Ring hat kein Ende» könnten gut von einem nachdenklichen Zuschauer bei einem Ringelreigen stammen.
Der Dichter Robert Frost (1874-1963) fügt hinzu:
«Wir tanzen rätselnd rundum im Kreis;
Das Geheimnis sitzt in der Mitte und weiß.»
Zusammengenommen weisen diese beiden kurzen Texte auf das Gleiche hin, was schon Dante (1265-1321) in seinem berühmten Vers angesprochen hat:
«L'amor che move il sole e I'altre stelle ‒ die Liebe, die alles bewegt.»
Das zentrale Geheimnis des kosmischen Rundtanzes ist die Liebe.[6]
Lila ist ein Sanskrit-Wort, das «Spiel» bedeutet, und steht im Hinduismus für die Vorstellung, dass das gesamte Weltgeschehen letztlich Spiel des Großen Geheimnisses ist: göttliches Kinderspiel, der große Reigentanz des Universums.
Auch für Nicht-Hindus kann dieses Bild große Bedeutung haben: Sinn unsres Lebens ist es, mit dem kosmischen Tanz im Schritt zu sein.[7]
Unser wahres Selbst ist nicht das kleine individualistische Selbst neben anderen.
Dies entdecken wir in jenen Augenblicken, in denen wir zu unserer großen Überraschung eine tiefe Kommunion mit allen anderen Wesen erfahren. Diese Momente gibt es in unser aller Leben.
Vielleicht erinnern wir sie als «Hochwassermarken» der Bewusstheit, der Lebendigkeit, als Momente unserer besten Verfassung, als jene Augenblicke, in denen wir am meisten wir selbst waren.
Vielleicht aber versuchen wir auch die Erinnerung an jene Momente zu verdrängen, denn jene Springflut der Kommunion ist eine Bedrohung der defensiven Isolation, in der wir uns geschützt vorkommen.
Die Mauern, hinter denen wir uns verstecken, mögen dem Ansturm des Lebens lange standhalten.
Aber ganz plötzlich, an irgendeinem Tag, wird, wie in dem folgenden Bericht aus «The Protean Body» von Don Johnson, die große Überraschung über uns einbrechen:
«Ich ging hinaus auf eine Mole im Golf von Mexico. Ich hörte auf zu sein. Ich erfuhr mich als Teil des Windes, der von der See hereinkam, als Bestandteil der Bewegung von Wasser und Fischen, der Sonnenstrahlen, der Farben der Palmen und tropischen Blumen. Es gab keine Vorstellung mehr von Vergangenheit oder Zukunft. Und es war kein besonders seliges Erlebnis: es war Furcht erregend. Es war die Art ekstatischer Erfahrung, die ich mit einigem Aufwand an Energie zu vermeiden versucht hätte. Ich erlebte mich nicht als identisch mit Wasser, Wind und Licht, sondern als nähme ich teil am gleichen Bewegungssystem. Wir tanzten alle miteinander...»
In diesem großartigen Tanz sind Gebende und Empfangende eins. Ganz plötzlich können wir erkennen, wie unwesentlich es ist, welche der beiden Rollen man in einem gegebenen Moment zu spielen hat.
Jenseits aller Zeit ruht unser wahres Selbst in vollkommener Stille in sich selbst.
Verwirklicht wird dies in der Zeit durch ein anmutiges Geben-und-Nehmen im Tanz des Lebens.
Wie bei einem sich schnell drehenden Kreisel sind Stille und Tanz eins.
Nur in jenem Einssein von Geben und Nehmen findet sich wahre Selbstständigkeit. Jede andere Selbstständigkeit ist Illusion.
Das Wirkliche aber erweist sich am Ende immer als jeder Illusion überlegen.
Früher oder später wird es durchscheinen wie die Sonne durch den Nebel. Das Leben, unser Lehrer, wird das besorgen.[8]
Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Manchmal fällt es mir schwer, zu vertrauen, dass wirklich alles dazugehört zum großen kosmischen Tanz und daher Sinn hat ‒ sogar meine Depression. In beängstigender Lustlosigkeit verfangen, kann ich bestenfalls an meinem gewohnten Tageslauf festhalten, tief durchatmen, spazieren gehen und abwarten, dass der Nebel sich lichtet.
Wie soll ich mich Dir zuwenden in meiner inneren Lähmung?
So tun als ob, wäre Verlogenheit.
Heute kann ich nur warten ‒ offen bleiben für unvorstellbare Überraschungen.
Dieses hoffnungsvolle Warten ‒ ohne Hoffnung zu fühlen ‒ soll heute mein Gebet sein.
Amen.[9]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3-4, 6-9]
[Ergänzend:
1. Im Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) kommt das Schweigen zu Wort und führt uns wieder zum Schweigen, dem «stillen Punkt der kreisenden Welt.» (T. S. Eliot, Four Quartets: Burnt Norton, II, siehe auch: Stillehalten):
(24:38-27:51) «Die Zeit, um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(31:00) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst … Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) / (34:52) ‹Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn› (Rilke, Die Sonette 1. Teil, VIII) – ‹Zwischen den Hämmern besteht unser Herz› (Rilke, Die neunte Elegie)
(48:31) … «das heißt: Kehre von der Vielfalt in die Einheit zurück, aus dem Wort ins Schweigen, in das eine Schweigen, was die kappadozischen Väter, die frühen griechischen Väter, schon im 4. Jh. den Reigentanz der Trinität genannt haben: Aus dem Schweigen des Vaters in das Wort des Logos und durch das Verstehen des Hl. Geistes zurück in das Schweigen: Aus der Einheit in die Vielfalt und durch das Tun und Verstehen wieder zurück in die Einheit. Also immer wieder geht es um unser Eingebettet sein in dem Geheimnis.»
2.2. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag
[ebenso weiter unten auch das Audio: «Ich vertraue dem Leben» (Rilke, Augustinus)]:
(01:15:24) ‹Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XXI) ‒ ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
2.3 Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Dem Welthaushalt freudig dienen:
(16:37) Ordnung als Zustand, in dem jedes Ding dem andern den ihm angemessenen Platz zugesteht ‒ Das Hochzeitsfest in der Natur /
(18:54) Ordo est amoris (Augustinus): Was würde die Liebe dazu sagen?
(38:59) Wie kann Gott Unglück, Leid und Not zulassen? Unsere Vorstellungen verlassen und uns auf das Leben verlassen: ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
2.4. Audio TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(28:12) «Wenn wir uns vom Wort in das Schweigen führen lassen und vom Schweigen in das Wort ‒ das ist ein Tanz, das ist eine Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort ‒, dann verstehen wir. Wir verstehen erst wirklich, wenn wir uns einem Wort: einer Situation, einem Menschen … diesem Wort, dem, was Sinn hat, so hingeben, dass es uns in die Stille führt ‒, dann verstehen wir. Und wenn wir so in die Stille lauschen, dass die Stille zu Wort kommt, dann verstehen wir auch. Oder wenn wir so uns dem Wort so hingeben, dass es uns in die Stille führt und uns dann sendet sozusagen, hinaussendet, etwas zu tun: In dem Tun verstehen wir dann. Im Tun, nur im Tun können wir richtig verstehen. … Verstehen und Tun gehören engstens zusammen.»
(41:47) ‹Das ist es!›: die Melodie zum Tanz in drei verschiedenen Betonungen – Der Reigentanz der Religionen von außen und von innen her betrachtet: «Wir können es nicht von außen verstehen, nur von innen. Und wenn wir selber aus dieser Mitte heraus leben, dann gibt es Hoffnung für unsere Welt. Denn dann werden wir nicht immer wieder in den Fehler verfallen, zu behaupten, dass die, die uns am weitesten entfernt sind, in der entgegengesetzten Richtung gehen wie die, die uns am nächsten sind. Sondern dann werden wir gemeinsam tanzen ‒ und tanzen! Darauf kommt es eigentlich an: uns freuen, singen, tanzen. Und das ist dann die Gesellschaft der Zukunft, die uns Hoffnung gibt, das TAO der Hoffnung. Das TAO ist ja diese Bewegung, das TAO ist dieser Fluss …»
2.5. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind
2.6. Audio-Vortrag Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat:
(12:17) ‹Das Herz, das ins Ganze geborne› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, II) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
2.7. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(49:55) «Was könnte sich mehr unterscheiden als Wort, Schweigen und Verständnis, drei Begriffe, für die wir überhaupt keinen Oberbegriff haben. Wir können es kaum ‹drei› nennen, und das ist ja auch sehr passend, denn auch in der Trinität soll man ja eigentlich letztlich nicht von ‹drei› sprechen. Der hl. Augustinus sagt schön: ‹Wenn du anfängst zu zählen, bist du schon in Häresie gefallen. Zu zählen ist da nichts. Aber es handelt sich um drei Grunderlebnisse.»
3. Texte
3.1. Im Buch Orientierung finden (2021):
«‹Ich sprach zu meiner Seele, sei still und warte›, sagt T. S. Eliot.[10] Aber er weiß auch, dass Stille beängstigend werden kann, weil sie uns des Lärms beraubt, mit dem wir uns gerne ablenken von der Dunkelheit, die in uns aufsteigt, wenn wir still werden. Fürchte dich nicht, sagt daher der Dichter, du kannst der inneren Stille und Dunkelheit vertrauen. Und er schließt mit den tröstlichen Worten:
‹Die Dunkelheit wird das Licht sein, und die Stille das Tanzen.›
Wenn wir also ein gesundes Zeitbewusstsein wiederfinden wollen, müssen wir zunächst gewahr werden, dass wir nicht im Schritt sind mit dem großen Tanz.
Rilke weiß: Wir sind nicht einig mit dem Rhythmus des Lebens und darum auch nicht einig mit uns selbst.
Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-
vögel verständigt. Überholt und spät,
so drängen wir uns plötzlich Winden auf
und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.»
[Orientierung finden (2021): Berufung ‒ Folge deinem Stern!, 97; siehe auch Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996)[11]]
‹Wir sind nicht einig› mit uns selbst, weil wir im Ego stecken, also auch ‹nicht einig› untereinander und wegen unsrer Eigenwilligkeit auch ‹nicht einig› mit dem Fließweg des Lebens. Weil wir nicht stillwerden und hinhorchen, versäumen wir den rechten Augenblick. Dann drängen wir uns plötzlich› dem Geschehen auf, anstatt mit ihm zu fließen. Und doch ist das Einzige, worauf es ankommt, Harmonie mit dem Leben. Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns. Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, ‹gute Arbeit› ist wie ein kosmisches Ballspiel, ‹wie ein heiliger Tanz.›»[12]
«So oft wir innehalten, sei's auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis als Schweigen. So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unsres Herzens für das Geheimnis als Wort. Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.» [Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 108f. und 113]
Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun sind grundlegende Schlüsselwörter, die wir unbedingt brauchen, um Sinn zu finden.
Jedes echte Wort muss aus dem Schweigen kommen, sonst ist es nur Geplapper.
Wenn wir dieses Wort schweigend empfangen und tief darauf hinhorchen, wird es uns ergreifen und uns dazu bewegen, durch unser Tun darauf zu antworten.
Dies ist es übrigens, was Gehorsam, richtig verstanden, bedeutet.
Durch intensives Hinhorchen ‒ gehorchen ist ja die Intensivform von horchen ‒ zeigen wir uns bereit, zu tun, was das Wort fordert, und kommen durchs Tun zum Verständnis.
So führt uns das Wort, das uns ergriffen hat, in das Schweigen zurück, aus dem es hervorgegangen ist.
Erkennst du in dieser Bewegung unsren ‹Rundtanz› wieder?
Kein Wunder. Es geht ja bei diesem Orientierungs-Dreischritt von Schweigen, Wort und Verstehen-durch-Tun letztlich um das, worum sich alles dreht ‒ und das ist das Geheimnis.» [Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 45f.]
«Wenn wir nach dem hier Gesagten nun nach dem Sinn des Lebens fragen, so ergibt sich die überraschende Antwort, dass es Spiel sein muss ‒ ‹Lila› nennt es der Hinduismus ‒ der große Tanz.» [SINN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 157]
«Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das TAO. ‹Watercourse Way› nennt Alan Watts das TAO auf English. ‹Fließweg› könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden. Um mit dem TAO zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum ‹Anfängergeist› des Kindes zurückfinden. Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt. ‹Du hast noch kein Ich, das sich von dem, was geschieht, unterscheidet›, wie Alan Watts es ausdrückt. ‹Deshalb geschieht Dir auch nichts. Es geschieht einfach.› Du nimmst teil, sagt er an ‹den wundervollen Tanzfiguren … fließenden Wassers›.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im ‹Fließweg›. Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet. Wie beim Baby ‹geschieht einfach› das Lebensbejahende, aber mit unsrer Zustimmung. Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.» [Orientierung finden (2021): «Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?» 88f.]
3.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021)
«Um im Rhythmus zu bleiben, muss man hinhorchen. Um den Weg zu sehen, muss man hinschauen. Das Kloster ist deshalb ein Ort, an dem man lernt, Augen und Ohren offen zu halten.
‹Höre!› ist das erste Wort der Klosterregel des Heiligen Benedikt, ein weiteres Schlüsselwort lautet: ‹Betrachte!› (lateinisch: considera, von sidus: das Sternbild/Gestirn, also wörtlich: seinen Kurs nach den Sternen bestimmen).
Der Heilige Benedikt, Vater des abendländischen Mönchtums, will, dass die Mönche ‹apertis oculis› und ‹attonitis auribus› leben, d. h. mit so offenen Augen und so horchenden Ohren, dass die Stille göttlicher Gegenwart sie wie Donner trifft.[13]
Deshalb ist ein Benediktiner Kloster ‹schola Dominici servitii›, eine Schule, in der man lernt, sich auf die höchste Ordnung einzustimmen.
Eine solche Ordnung ist allerdings keineswegs starr.
Es wäre ein großes Missverständnis, die höchste Ordnung als statisch zu begreifen. Ganz im Gegenteil. Sie ist zuinnerst dynamisch.
Das Einzige, womit wir diese Ordnung vergleichen können, ist der Tanz der Sphären.
Wir sind eingeladen, uns auf diese Harmonie einzustimmen, nach der das ganze Universum tanzt.
Im Kloster können wir dies in einem professionellen Rahmen lernen.
Der Heilige Augustinus drückt die Dynamik der höchsten Ordnung aus, wenn er sagt: ‹Ordo est amoris›, das heißt, Ordnung ist einfach Ausdruck der Liebe, die das All bewegt, Dantes ‹l‘amor che muove il sole e l'altre stelle›.
Während sich jedoch das übrige Universum frei und anmutig in kosmischer Harmonie bewegt, sind wir Menschen nicht ohne weiteres dazu in der Lage.
Es kostet uns Mühe, unser Leben mit der dynamischen Ordnung der Liebe in Einklang zu bringen.
An einem gewissen Punkt müssen wir sogar die ungewohnte Anstrengung machen, uns nicht anzustrengen.
Das mag uns die größte Kraft kosten. Das Hindernis, das es zu überwinden gilt, ist Verhaftetsein, selbst das Verhaftetsein mit unserem eigenen Bemühen.
Die Askese ist professionelles Training zur Überwindung des Verhaftetseins in jeglicher Form.
Das Bild vom Tanz kann uns helfen, dies zu verstehen. Losgelöstheit ‒ der verneinende Aspekt der Askese ‒ befreit unsere Bewegungen, macht uns behende, gelöst.
Der bejahende Aspekt der Askese ist wache Lebendigkeit. Indem wir frei werden, uns gelöst zu bewegen, lernen wir, Schritt für Schritt auf den Rhythmus einzugehen und lauschend mit der Musik lebendig zu werden.» (23-25)
«Wir wollen einander Stille schenken. Lasst uns hier und jetzt damit beginnen. Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.
Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.» (31)
«Die Choreographie des kosmischen Tanzes verlangt von uns den Willen zur Wandlung. Das Planmäßige an der Askese entspringt ja nicht der Willkür menschlichen Planens, sondern letztlich dem Bauplan des Kosmos, der sich wandelnd entfaltet.»
«Das Herz, das wirklich gehorsam hinhorcht auf den Rhythmus des großen Tanzes, steht immer am Wendepunkt, lässt leicht los, nimmt Abschied vorweg.» (94)
FÜNF BLAUE FALTER
SOMMERFEST AM STRASSENRAND
IHR, STIEFEL, STEHT STILL
Auch hier ergibt sich der Sinn aus der Zweideutigkeit der letzten Zeile. Handelt es sich um einen Befehl? Mahnt der Dichter: ‹Schau doch hin! Hier ist er ja, der große Tanz. Alles, was es dazu braucht, ist dies: eine Handvoll der allergewöhnlichsten kleinen Falter, der winzigen blauen, die man nur selten auf Blumen sieht. Sie sind damit zufrieden, ihr Sommerfest in den Spurrillen staubiger Feldwege zu feiern. Hier ist er, der ruhende Punkt des großen Tanzes, ganz für Dich allein. Du musst nur stehen bleiben›?
Oder handelt es sich hier wieder um einen vollendeten Augenblick des Sich-Verlierens und Sich-Findens?
Vielleicht ist es die All-Einheit des einsamen Wanderers, dessen staubige Stiefel endlich ‹in dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt› stillstehen ‒ ‹und es gibt nichts als den Tanz›.
DER SEE VERLIERT SICH
IM REGEN DER SICH WIEDER
TIEF IM SEE VERLIERT
SIE BLÜHEN UND DANN
SCHAUEN WIR UND DANN FALLEN
DIE BLÜTEN? UND DANN …
Der Schmerz seligen Alleinsseins und die Seligkeit des einenden Schmerzes verschmelzen auf dem Gipfel des Gipfelerlebnisses, im Ruhepunkt, im Haiku.» (112f.)
3.3. In Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 175f. und 163 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 176f. und 163f.]:
The universe may
Be as great as they say.
But it wouldn't be missed
If it didn't exist.
Das Weltall ist vielleicht
so großartig wie man sagt.
Aber niemand würde es vermissen,
wenn es gar nicht da wäre.
Piet Hein (19O5-1996)
«Mit einem entwaffnenden Lächeln legt dieser kleine Reim von Piet Hein die Tatsache bloß, dass alle gegebene Wirklichkeit reine Gabe ist. Das Universum ist gratis. Es kann und braucht auch nicht verdient werden.
Dieser einfachen Erfahrungstatsache entspringt dankbares Leben, ein Leben aus Gnade.
Dankbarkeit ist die uneingeschränkte Antwort des Herzens auf eine uns gnädig geschenkte Welt.
Und Dankbarkeit ist Begabung im doppelten Sinn. Durch sie wird uns die Welt, mit der wir begabt sind, erst richtig zur Gabe.
Und unsere Dankbarkeit macht uns begabt, anmutig am großen Tanz des Lebens teilzunehmen.»
«So ist schließlich Dankbarkeit einfach ein Weg, das Leben des Dreieinigen Gottes in uns zu erfahren
Dieses Leben kommt aus dem Vater, dem Quellgrund und unerschöpflichen Born der Göttlichkeit, dem Geber aller Gaben.
Der Vater verschenkt sich rückhaltlos im Sohn.
Der Sohn empfängt sich selbst vom Vater und wird zum Wendepunkt dieses göttlichen Stroms des Gebens.
Denn im Heiligen Geist gibt der Sohn dem Vater sich selbst als höchsten und letzten Dank zurück.
Der Dreieinige Gott ist Geber, Gabe und Dank.
Alles was ist, nimmt; teil an dieser Bewegung vom Vater durch den Sohn und im Heiligen Geiste zurück zum Ursprung.
Das ist es, was der heilige Gregor von Nyssa ‹den Reigen der Heiligen Dreieinigkeit› nannte.
Tanzen, das ist Gottes Art zu beten.
Es ist ein einziges großes Fest des Zusammengehörens im Geben und Danken.
An diesem Fest können wir in unserem Herzen jederzeit teilhaben: durch Dankbarkeit.
Mit welchem anderen Namen könnten wir Leben in Fülle benennen?» (163)
3.4. Das Buch Musik der Stille (2015) entlässt uns am Schluss wieder in den Alltag:
«Wir haben nun alle mönchischen Tageszeiten durchlaufen, den Kreis geschlossen und sind im großen Schweigen angelangt, der Brücke der Stille zwischen Komplet und Vigil, die erneut den Kreislauf der Stunden eröffnet. …
Die Botschaft der Stunden lädt uns ein, täglich nach dem wirklichen Tagesrhythmus zu leben. Aufmerksam, bewusst und absichtsvoll zu leben, unser Leben von innen heraus zu lenken und uns nicht von den Forderungen der Uhr oder äußeren Terminen oder von bloßen Reaktionen auf irgendwelche Geschehnisse fortreißen zu lassen.
Wenn wir dem wirklichen Rhythmus zufolge leben, werden wir selbst wirklicher.
Wir lernen, auf die Musik dieses Augenblicks zu lauschen, lernen, ihr süßes Flehen und ihre nüchternen Anweisungen zu hören.
Wir lernen, im Herzen ein wenig zu tanzen, unsere inneren Pforten einen Spalt weiter zu öffnen und auf die Musik der Stille, den göttlichen Herzschlag des Universums, zu horchen.» (155f.)
3.5. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten.
Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen.
Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet.
Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens.
Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. (66)
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]
_________________________
[1] Orientierung finden (2021): «Vorbemerkungen», 8
[2] «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›» [Der Zen-Christ: David Steindl-Rast im Portrait (2012)]
[3] Orientierung finden (2021): «Auf der Suche nach einem Gesamtbild», 12f.
[4] Orientierung finden (2021): Berufung ‒ Folge deinem Stern!, 99, 93, 100
[5] «At the still point oft he turning world. Neither flesh nor fleshless;
Neither from nor towards; at the still point, there the dance is,
But neither arrest nor movement. And do not call it fixity,
Where past and future are gathered. Neither movement from nor towards,
Neither ascent nor decline. Except for the point, the still point,
There would be no dance, and there is only the dance.»
T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II, in: Stillehalten
[6] Orientierung finden (2021): «Auf der Suche nach einem Gesamtbild», 12-14
[7] LILA, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147f.
[8] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): «Staunen und Dankbarkeit», 27f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 24f.]; siehe auch ST 112-114 unter dem Titel «Selbständigkeit»
[9] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 92
[10] «Wait without thought, for you are
not ready for thought:
So the darkness shall be the light, and the stillness the dancing.»
«Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif,
Dann wird das Dunkel das Licht sein und die Stille der Tanz.»
T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III, siehe auch: Stillehalten
[11] Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996):
(01:47) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Elegie) – horchen, gehorchen, Gehorsam als Methode und Ziel)
[12] Rilke verwendet das Bild vom kosmischen Ballspiel im Gedicht «Solang du Selbstgeworfnes fängst» und der taoistische Philosoph Huang Tsu (369-286 v. Chr.) die Bilder vom heiligen Tanz und von guter Arbeit in seinem Gedicht «Einen Ochsen zerteilen» [Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 106-108, 109-112]
[13] «Wir Menschen können Gott ehren, aber nur Gott selbst kann Herrlichkeit wie wetterleuchten aufblitzen lassen.
Und das ereignet sich in Augenblicken dankbaren Gehorsams, wenn wir, attonitis auribus (RB Prol 9) – mit dem Donnerkrachen der Gottesstimme in unseren Ohren – auf diesen Ruf hören und darauf antworten.
Der Gehorsam und die Dankbarkeit öffnen unsere Augen für das lumen deificum (RB prol 9), jenes Taborlicht (Mt 17; Mk 9; Lk 9), das die ganze Schöpfung verklärt, indem es sie durchscheinend macht für Gottes Herrlichkeit.» [Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019)]
Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen
in der Erfahrung von Stille und Ergriffenheit
STILLE
«Stille hängt nicht davon ab, ob die Umgebung ruhig oder lärmerfüllt ist. Das wird verständlicher, wenn wir die Vorstellung von Lärm und Ruhe durch den Gegensatz Tumult und Gelassenheit ersetzen.
Stille ist eine heiter gelöste, gelassene Haltung des Herzens.
Innere Stille, und um die geht es hier, kann sich auf zweifache Weise bekunden: durch Schweigen und Wort ‒ durch ein Wort, das nicht das Schweigen bricht, sondern ein Wort, in welchem das Schweigen zu Wort kommt.
In unsrem ganzen Alltag sollte unser Schweigen sowie alles, was wir sagen, aus der Stille kommen.
Dies lässt sich üben und Menschen, denen es im täglichen Leben gelingt, strahlen Frieden aus.
Bisher haben wir von Wort und Schweigen gesprochen, die aus unsrer eigenen Stille aufsteigen. Aber auch unsre Antwort auf ein Wort, das wir hören, wird nur dann durch gehorsames Tun zum Verstehen führen, wenn sie aus der Stille kommt.» (157f.)
SCHWEIGEN
«Schweigen ist eine der beiden Weisen, auf welche Stille sich bekundet.
Die zweite Weise ist das Wort. Im Wort äußert sich die Stille ‒ sie drückt sich aus, geht aus sich heraus, indem sie ‹zu Wort kommt›.
Im Schweigen bleibt die Stille bei sich selbst.
Ein Bild kann das veranschaulichen.
Ein Gong, den wir betrachten, bleibt bei sich; ein Gong, den wir anschlagen, ‹äußert sich› ‒ sein innerstes Wesen wird äußerlich offenbar.
Um Stille in ihrem Wesen zu erfahren, müssen wir mit ihr einswerden, dadurch, dass wir uns ins Schweigen versenken, uns ins Schweigen hinablassen.
Schweigen kann zu einem wirkungsvollen Mittel werden, um im Tumult des Alltags immer wieder stille Gelassenheit zu finden, indem wir Schweigepausen in unsren Tagesablauf einbauen.» (155)
WORT
«Wort als spirituelles Phänomen hat zugleich zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Funktionen:
Es definiert einen Begriff und es offenbart eine unbegreifliche Wirklichkeit, die über Begriffe hinausgeht.
Dahinter stehen zwei gegensätzliche Bewegungen. Im Dienste der Wissenschaft fängt das Wort Begriffe ein, im Spiel der Dichtung aber setzt es Sinn frei.
In beiden Bereichen ‒ Verstand und Weisheit ‒ können wir unsre Empfänglichkeit üben. Dann erst werden wir die Macht des Wortes voll zu würdigen wissen.
Die Macht des Wortes zeigt sich aber auch auf einer andren Weise ganz handgreiflich und oft schmerzlich: Worte lassen sich nicht zurückrufen und was sie in Bewegung setzen, lässt sich nicht leicht rückgängig machen.
Darum ist es eine wichtige Aufgabe, schweigen zu lernen, bis für das rechte Wort der rechte Augenblick gekommen ist.» (164)
VERSTEHEN
«Verstehen wird oft irrtümlich gleichbedeutend mit dem Wort ‹begreifen› verwendet.
Diese beiden Formen intellektuellen Erfassens ergänzen einander, entspringen aber zwei unterschiedlichen Haltungen.
Beim Begreifen greifen wir willkürlich und einseitig nach dem zu Erfassenden, beim Verstehen gehen wir aber darüber hinaus und lassen uns selber unwillkürlich ergreifen ‒ in jener gegenseitigen Umarmung, die wir Ergriffenheit nennen.
Beim Begreifen bekommen wir immer nur einen Teil dessen in den Griff, was wir erfassen wollen.
Was uns aber in Ergriffenheit ergreift, ist das Ganze ‒ letztlich das große Geheimnis.» (162)
ERGRIFFENHEIT
«Ergriffenheit ist zunächst ein Zustand, den wir fühlen.
Das schließt aber nicht aus, dass sie auch eine höchst wichtige intellektuelle Komponente hat.
Begreifen und ergriffen werden sind einander entgegengesetzte Bewegungen.
Wie Begriffe zum Begreifen führen, so führt Ergriffenheit zum Verstehen.
‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›, schreibt Bernhard von Clairvaux (1090-1153) in seinem Kommentar zum Hohen Lied.
Ergriffenheit geht über das Begreifliche hinaus, indem sie auch das Unbegreifliche versteht.
Darin besteht Weisheit.
Ergriffenheit und Begreifen dürfen keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden.
Sie ergänzen einander, so wie Emotionen und Intellekt nur gemeinsam unsrer Welterfahrung gerecht werden.
Wo eine anti-intellektuelle Atmosphäre vorherrscht, besteht immer die Gefahr, klares Denken durch sentimentale Schwärmerei ersetzen zu wollen.
Ergriffenheit aber ist, auch wenn sie bis zum Gefühlssturm ansteigen kann, klar und nüchtern.» (135)
[Quelle: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021)]
Seele
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
Leben spielt sich auf allen seinen Stufen als Gegenseitigkeit ab, als Wechselwirkung zwischen DU und ICH und WIR.
Das gilt mit besonderer Intensität vom Leben im Heiligen Geist.
Wir sagten es schon: «Inter-Sein» nennt der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh † diese Vernetzung alles Lebendigen.
Der Heilige Geist «hält alle Dinge zusammen» (Weish 1,7).
Darum dürfen wir gläubig vertrauen, dass alles Fleisch, alles was hinfällig ist und auf den Tod zugeht, unser sterblicher Leib nicht ausgenommen, in Gott, der jeden Grashalm kennt und liebt und nicht vergessen kann, unzerstörbares Leben hat.
Alles in der Welt ist hinfällig; auch wir selber.
«Wir alle fallen», wie Herbstlaub, sagt Rilke, «und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält.»[1]
In Raum und Zeit vergehen alle Formen wie Seifenblasen; in Gottes ewigem Jetzt aber sind sie gegenwärtig.
«Nichts Vergängliches vergeht», sagt Werner Bergengruen (1892-1964); «Gott ist ein Herr der Dauer / und alles hat Bestand».[2]
Immer wieder kreisen seine Gedichte um die tiefe Einsicht, dass «nichts vergänglich ist, als die Vergänglichkeit».
Vielleicht bist du schon alt genug, um Fotos von Verwandten und Freunden zu besitzen, die du von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod kanntest.
Dann schließt deineee Liebe doch das Nackerpatzerl (liebevolle österreichische Ausdrucksweise für kleines nacktes Kind) in der Badewanne ebenso ein wie den zahnlückigen Volksschüler, den ruppigen Buben auf dem Fahrrad, den zum Abschluss-Ball geschniegelten Maturanten, das junge Ehepaar, und so Bild um Bild bis zum letzten matten Lächeln.
In welchem der Bilder siehst du den von Dir geliebten Menschen? Nicht doch in jedem? Musst du wählen?
Dieses Jetzt des Lebens ist gegenwärtig im «Jetzt, das nicht vergeht»[3], das heißt in der Ewigkeit.
Mein Leib ist nicht ein beliebiges Anhängsel an mein Bewusstsein, sondern seine Verkörperung ‒ im Vollsinn des Wortes. Er gehört zu mir, nicht wie meine Kleidung, sondern eher so, wie die Melodie zu einem Lied gehört.
Wenn ich mich im Spiegel sehe, so denke ich nicht: «das ist mein Körper», sondern einfach, «das bin ich».
Und doch war jedes Atom dieses Körpers vor nicht langer Zeit Teil eines anderen Lebewesens oder Dinges, und in absehbarer Zeit wird es das wieder sein.
Selbst jetzt sterben jede Sekunde Millionen meiner roten Blutzellen ab und Millionen neue entstehen ‒ und das gilt auch von den übrigen Zellen meines Körpers in unterschiedlichen Raten.
Was sich nicht verändert, hat man den «Inneren Leib» genannt oder «die Seele».
Meine Freunde erkennen mich noch nach langer Zeit wieder, obwohl inzwischen fast alle physischen «Bestandteile» ausgewechselt wurden, was so alle sieben Jahre der Fall sein soll.
Die «Seele», an der sie mich erkennen, ist nicht ein Homunculus irgendwo in meinem Inneren. Sie ist vielmehr meine Identität, die sich in meinem Leib verkörpert ‒ mein ganz eigener und einzigartiger Ausdruck der allgemeinen Lebenskraft, die auch in mir fließt.
Ich bin ja nicht batteriebetrieben wie ein Spielzeug, sondern mit einem unerschöpflichen Stromnetz verbunden ‒ dem Heiligen Geist, der das Universum füllt.[4]
Es ist ein viel zu harmloses Bild vom Tod zu denken, dass der Körper stirbt, doch die Seele lebt.
Gibt es wirklich eine unabhängige Seele gegenüber einem Körper mit eigener unabhängiger Existenz?
Konkret erfahren wir uns als körperlich-seelische Wesen.
Die ganze Person, erlebt von außen, ist Körper. Erfahren von innen ist dieselbe ganze Person Seele.
Bei dem Ereignis, das wir Tod nennen, kommt die ganze Existenz zu einem Ende. Aber die ganze Person, die jetzt hier sitzt und redet, weiß, dass, wann immer in diesem Leben etwas wirklich stirbt, das nicht Zerstörung bedeutet, sondern immer einen Schritt in ein größeres Leben.
Und deshalb können wir den Glauben zu Hilfe nehmen und sagen: Ja, ich vertraue, dass ich mit diesem endgültigen Tod auch in ein endgültiges Leben gehe.
Und das ist Glaube an die Auferstehung im christlichen Sinn, denn Auferstehung ist nicht Überleben; es ist keine Wiederbelebung oder Rückkehr ins Leben, oder sonst irgend eine Art vom Umkehrung.
Der Fluss des Lebens kann niemals umgekehrt werden. Durch den Glauben sterben wir vorwärts in die Fülle des Lebens hinein.
Auf solche Art können heute auch christliche Theologen auf die Lehre von der unsterblichen Seele verzichten, ohne die Frohbotschaft von der Auferstehung und dem ewigen Leben kompliziert zu machen.
Sobald wir uns nicht länger verpflichtet fühlen, am Satz von der unsterblichen Seele festzuhalten, können wir tatsächlich viel freier und tiefer die existenzielle Haltung einnehmen, auf der die biblischen Äußerungen über die Auferstehung gegründet sind.
Wir können dann mit Überraschung entdecken, dass selbst der christliche Glaube an die Auferstehung des Fleisches einfach auf der Erfahrung basiert, dass Seele und Körper in der menschlichen Person existenziell eine Einheit bilden.
Man kann nicht von einem körperlosen Menschen sprechen, weil das nicht länger ein menschliches Wesen ist. Der Körper gehört absolut dazu.
Deshalb meint Paulus, wenn er vom Leben der Auferstehung spricht (ein Leben jenseits des Todes, wie er sagen würde, eher als eines nach dem Tod ‒ denn wenn der Tod das Ende der Zeit ist, was könnte danach sein?) ‒ dann meint Paulus ein Leben, das in einem Körper ist.
Es geschieht im Laufe unseres Lebens, dass wir zu «jemand» werden.
Wer wir werden hängt ab von unseren Entscheidungen und davon, wie wir sie körperlich umsetzen.
Es wird von den Antworten abhängen, die wir den Anrufungen Gottes geben, die uns in vielen verschiedenen Formen erreichen, und auch diese Antworten werden wir verkörpern.
Dass wir auf diese Art ein «Jemand» werden, ist offensichtlich eine Aussage ebenso über unseren Körper wie über unsere Seele.
Doch der Körper, den wir den unseren nennen, ist in diesem Sinn nicht durch unsere Haut begrenzt.
Er umfasst all die Elemente des Kosmos, durch die wir unsere eigene persönliche Einzigartigkeit ausgedrückt haben: es ist die ganze, vollständige Person, von außen gesehen.
Doch wenn diese vollständige Person gestorben ist, dann muss die Auferstehung des Lebens, wie Paulus es sieht, die Erschaffung einer vollständigen Person sein, mit Seele und Körper, durch Gott, der alleine die Kontinuität vom alten zum neuen Leben herstellt.
Alles, was Paulus über das unsterbliche Leben ‒ das Leben Christi in uns sagen kann, ist , dass es «mit Christus in Gott bewahrt»
(Kol 3,3) ist.
Es bleibt wahr, ob wir gestorben sind oder nicht. In beiden Fällen ist «unser wahres Leben in Christus», wie Paulus an derselben Stelle sagt.
Sätze wie dieser machen deutlich, dass die christliche Anschauung vom unsterblichen Leben den sogenannten «östlichen» Ideen viel näher steht als den populären westlichen Glaubensvorstellungen, die an eine Unsterblichkeit der Seele gebunden sind.
Wenn Christen bei einem Guru des Ostens lernen zu begreifen «Ich bin nicht mein Körper, ich bin nicht meine Seele», dann geben sie Raum für ein Verständnis der Worte des Heiligen Paulus:
«Dein wahres Leben ist in Christus».[5]
Nur zu oft wird dieses Verständnis behindert durch das Missverständnis «Ich bin nicht mein Körper, sondern ich bin meine Seele», eine falsche Vorstellung, die durch die Doktrin der unsterblichen Seele aufrecht erhalten wird.
Doch wir fürchten uns immer, unsere Individualität in jener allumfassenden Wirklichkeit zu verlieren.
Ich denke, wir könnten diese Angst überwinden, wenn wir uns bewusst werden, dass die göttliche All-Einheit uns nicht Gleichförmigkeit aufzwingt, sondern grenzenlose Vielfalt umfasst; in ihr gibt es Raum für alle unsere persönlichen Unterschiede.[6]
Und wie siehst du das? Ist der Leib ‒ dein eigener und der von jemanden, den du liebst ‒ Dir wichtig genug, dass die Vorstellung eines entleibten Lebens nach dem Tod Dich nicht besonders reizt?
Ist dein über Zeit und Raum erhabenes Selbst Dir jemals so tief bewusst geworden, dass es Dich nicht mehr stört zu wissen, dass dein Gehirn verwesen muss?
Wie berührt es Dich, wenn du von jemandem, der Dir lieb ist, Fotos ‒ aus Kindheit, Jugend, Alter ‒ betrachtest?
«Alles ist immer jetzt» (T. S. Eliot)[7]; wie beeinflusst diese Tatsache dein Verständnis von Auferstehung der Toten?[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 4, 6, 8]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. «Wähle das Leben» (5. Mose 30,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben (1992)
Vortrag:
(26:02) Wenn jedes Jetzt meines Lebens gegenwärtig ist …
(28:44) «Da kommt die ganze Frage: Werden wir unsere Hunde im Himmel wiedersehen? Unsere Katzen, usw.?
Wenn man das so anpackt, wie das bisher angepackt wurde: Ja haben die eine unsterbliche Seele, haben die keine unsterbliche Seele?
Das ist mein Hund und ich habe eine unsterbliche Seele. Wenn ich in den Himmel komme und der Hund nicht dort ist, dann geh ich wieder. Der Hund ist dort, selbstverständlich, er ist ja Teil meines Lebens.
Und alle andern Menschen, denen ich je begegnet bin, und so Menschen, die man nur einmal kurz gesehen hat. Und dann kann man sich dann ausdenken: Was wäre gewesen, wenn wir uns besser kennengelernt hätten. Es ist alles möglich.
Und nachdem alles mit allem zusammenhängt ‒ das wissen wir auch in unserem Leben schon ‒, reicht unsre Ewigkeit in jeder Richtung auf das Ganze hin. In diesem Ganzen sind wir ein kleiner Punkt, der sozusagen das Ganze beinhaltet und jeder kleine Punkt beinhaltet das Ganze. Und in dieser unglaublichen Facette spiegelt sich die Gegenwart Gottes.»
1.2. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im paradoxen Sinn erfahren
Vortrag und Dialog
Teil 3 in folgende Themen zusammengefasst:
(07:57) Ein Psychotherapeut berichtet / (10:02) Bruder David zum Ausdruck ‹Seele›, zum Thema Reinkarnation im Zusammenhang mit dem Buddhismus
1.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen — Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(20:05-39:47) Bruder David beantwortet Fragen zur Seelenwanderung, Reinkarnationstherapie, Fegefeuer, Hölle, jüngstes Gericht
(39:47) Im Jetzt leben: Deshalb das Desinteresse der jüdischen Propheten an Themen, die in den Religionen ihrer Nachbarvölker einen zentralen Platz einnehmen — «Von einem einzigen Punkt aus, wenn ich wirklich da bin, habe ich zu allem Zugang»:
Bruder David ermutigt zum wissenden Nichtwissen
2. Text
2.1. SEELE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155f.:
«Seele wird in vielerlei Bedeutung, oft mit sehr ungenauer Definition verwendet, zum Beispiel unsre Psyche, unsre Innerlichkeit, der für unsterblich gehaltene Teil unsres Wesens, das Lebensprinzip in uns.
Für uns bedeutet Seele das, was einem Menschen seine Einzigartigkeit gibt.
Diese Definition ‒ eine altehrwürdige in der westlichen Philosophie ‒ versteht Seele nicht als Gegenpol zum Leib, wie etwa in dem Ausdruck ‹mit Leib und Seele›, sondern weist darauf hin, dass jeder Mensch ein Selbst ist, obwohl das eine Selbst doch unteilbar ist.
Das Wort Seele weist auf die überraschende Tatsache hin, dass wir Bekannte nach Jahrzehnten wiedererkennen. Sie bleiben sie selbst.
Wie aber kann das Selbst, das für uns alle ein und dasselbe ist, zugleich unsre Individualität kennzeichnen?
Was unterscheidet uns dann?
Es ist unsre Körperlichkeit.
Aber es ist eben eine beseelte Körperlichkeit, ein menschlicher Leib, der Anteil hat am allen Menschen gemeinsamen Selbst.
Was aber macht unsre Teilnahme am unteilbaren Selbst möglich?
Die Antwort auf diese Frage lautet: unsre Seele!
Antwort, aber nicht Begründung.
Unsre Einzigartigkeit lässt sich nicht begründen, sondern ist eine Gegebenheit, die wir feststellen.
Die Tatsache, dass ein und dasselbe Selbst sich uns in einer unerschöpflich scheinenden Vielfalt darstellt, macht den Begriff Seele notwendig.
Um dies richtig zu verstehen, müssten wir eigentlich mit dem Staunen darüber beginnen, dass das eine unteilbare Selbst uns in einer solchen Vielfalt von Menschen begegnet, von denen jeder mit Recht ‹lch-Selbst› sagen kann.
Seele ist unser Anteil an etwas, was unteilbar ist.
Dieses Paradox ist im abstrakten Begriff ‹Seele› zusammengefasst ‒ und häufig personifiziert.»
2.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 148-150 (siehe auch Audio Tag 5,1)
(38:12) Eine Teilnehmerin: «Bruder David, du hast vom Selbst gesprochen, wie ist der Zusammenhang zur Seele?»
(38:23-44:16) Bruder David: «Das ist eine wichtige Frage: die Beziehung vom Selbst zur Seele. Ich vermeide den Ausdruck Seele soweit wie möglich, und zwar deshalb, weil es so wie Gott so ein Begriff ist, der immer missverstanden wird. Die meisten Menschen stellen sich die Seele als so irgendein kleines weißes Wesen vor: hoffentlich weiß, nicht befleckt, so innen drinnen, und wenn wir sterben kommt’s heraus und fliegt davon. Man sieht das sogar auf mittelalterlichen Bildern: Der Marientod. Maria liegt dort und die kleine Seele kommt heraus und Christus empfängt sie und trägt sie in den Himmel.
Das ist ein gutes Bild, besonders für Kinder, aber es ist in der westlichen Philosophie ganz klar ausgedrückt, was Seele bedeutet:
Es klingt technisch, aber die Definition von Seele ist ‹Forma corporis› — und das heißt: was diesen Leib zu diesem Leib macht.
Forma im Zusammenhang mit den Causae des Aristoteles, den drei Ursachen, für alles, was es gibt und eine davon ist die Forma. Und die Forma ist, was ein Tisch zum Tisch macht, und was eine Feder zur Feder, und was mich zu ‹mich› macht. Und das ist, was diesen Leib zu diesem Leib macht.
Und das ist ja die Schwierigkeit: Das Selbst ist unbegrenzt und ich bin begrenzt.
Im Selbst sind wir alle eins: Buddha-Natur, — Christus lebt in uns, — Atman.
Als Ich sind wir ganz verschieden und kenntlich verschieden, nach einiger Zeit erkennt man uns noch.
Und ich hab gesagt: Wieso erkennt man jemanden noch, warum bin ich noch derselbe nach so vielen Jahren, wenn schon jedes Molekül meines Körpers ausgewechselt ist?
Ich habe gesagt, weil eben das Selbst in mir gleichbleibt.
Aber Seele heißt jetzt: Dass dieses Selbst sich in diesem Ich einzigartig und einmalig ausdrückt. Also Seele ist nicht Etwas, Seele ist sozusagen ein Formular.
Wenn man es so versteht ein wichtiger und hilfreicher Ausdruck: Es ist was mich zu mich selbst macht, dieses Ich zu diesem Ich macht.
Dieser Leib, jede und jeder von uns, ist Verleiblichung des Selbst, aber eine ganz einzigartige Verleiblichung des einen und einzigen Selbst.
Und dieser Zusammenhang — wenn man sich natürlich Gedanken macht — ist ausgedrückt in diesem Formular Seele.
Darum sind wir so verschieden und doch eins, weil jede und jeder von uns eine Seele hat.
Und die Seele ist unsterblich, weil das Selbst nicht sterben kann, darum unsterbliche Seele.
Das heißt, wer ich wirklich bin, was mich zu mich macht, ist nicht vergänglich.
Alles Übrige ist in mir schon mehrmals gestorben. In jeder Sekunde sterben Millionen roter Blutkörperchen und Millionen werden geboren. Es ändert sich alles. Aber doch bleibt es gleich, und das ist die Seele, was mich zu mich macht. Es ist ein schwieriger Begriff, weil das Ganze schwierig ist, aber es sollte klar sein wenigstens! … sagt immer: ‚Es sollte wahr sein, nicht nur klar sein‘. (Lachen). — Es ist wenigstens klar.
(44:26-44:55) Es ist eine wichtige Frage, und wenn wir es so verstehen, hoffe ich auch verständlich, warum man das so im Hintergrund behalten kann und eigentlich nur vom Ich-Selbst und von den traurigen Möglichkeiten des Ich: wenn das Ich das Selbst vergisst, zu sprechen und die Seele nicht ausdrücklich zu erwähnen. Aber ist schon wichtig, zu wissen, was wir damit meinen.»
2.3. Im Buch Wendezeit im Christentum: (2015), TEIL 3: Gespräch von Fritjof Capra mit Bruder David und Thomas Matus, 125-127:
«Fritjof Capra: Was bedeutet es also, dass der Mensch als Abbild Gottes geschaffen wurde? Anscheinend wurden die Tiere nicht als Abbild Gottes geschaffen. Oder doch? Adam gab ihnen Namen, und er erhielt die Herrschaft über sie. Sie kennen ja diese Geschichte. Wie kann man das in der vom neuen Paradigma bestimmten Theologie umformulieren?
Vielleicht könnten wir damit beginnen, dass wir uns auf die Vorstellung einer unsterblichen Seele konzentrieren, die meines Wissens in der christlichen Theologie eine ausschließlich menschliche Eigenschaft ist.
Menschen sollen angeblich eine unsterbliche Seele haben, Tiere und Pflanzen aber nicht.
Thomas Matus: Wer behauptet denn das?
Fritjof Capra: Mein Religionslehrer in der Schule.
Bruder David: Im neuen Paradigma muss man diese Geschichte so verstehen, dass alles durch den Atem Gottes geschaffen wurde. ‹Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen …›
Thomas Matus: ‹… Und du erneuerst das Antlitz der Erde. Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin› (Psalm 104).
Bruder David: Der ‹Geist des Herrn›, sein Atem, ‹erfüllt die Erde und hält alles zusammen›. Das ist eine biblische Aussage. Dementsprechend sind alle Pflanzen und Tiere, ist alles vom Lebensatem Gottes erfüllt.
Der Mensch wird in diesem Zusammenhang besonders erwähnt, weil das uns am meisten betrifft und weil wir es aus unserem Inneren heraus wissen.
Wir Menschen leben durch Gottes eigenes Leben, und wir können Gott erkennen, werden Gott von Angesicht zu Angesicht schauen.
Fritjof Capra: Dann ist also der Geist Gottes, oder die Seele, nicht etwas, was den Menschen von anderen Wesen unterscheidet.
Bruder David: Nicht nach den biblischen Begriffen. ‒ Das ist eine philosophische Vorstellung, die erst viel später aufkommt.
Die Vorstellung einer unsterblichen Seele im landläufigen Sinn ist strenggenommen nicht biblisch.
Fritjof Capra: Wie steht es dann um die Unsterblichkeit und ein Leben nach dem Tode?
Thomas Matus: Das findet man nur in einem Buch der Bibel, im Alten Testament und zwar in ‹Das Buch der Weisheit› (Die Weisheit Salomos), das übrigens weder von jüdischen Gelehrten noch von Protestanten anerkannt wird. Vom römisch-katholischen Standpunkt gehört es zu den kanonischen Büchern der Heiligen Schrift. Genauer gesagt, bezeichnet man es als ‹deuterokanonisch›, ein der hebräischen Bibel nach ihrer Übersetzung ins Griechische hinzugefügtes Buch.
Bruder David: Das ist ein dünnes Rinnsal, und selbst die Auferstehung Jesu hat äußerst wenig, wenn überhaupt etwas, mit der Unsterblichkeit der Seele zu tun.
Das ist eine griechische Vorstellung, die aus der griechischen Philosophie in die christliche Überlieferung übernommen wurde.
Fritjof Capra: Die Auferstehung ist aber doch etwas Menschliches, nicht wahr? Pflanzen erfahren keine Auferstehung.
Thomas Matus: Im Gegenteil. Es gehört zum alten Paradigma, zu sagen, dass unsere Lieblingstiere nicht in den Himmel kommen werden. Das ist eine der schlimmsten Geschichten, die man jemals Kindern erzählt hat. Das ist keine Theologie, sondern kultureller Ballast, ein Sammelsurium von Plunder, aber keine Theologie.
Fritjof Capra: Wie deuten Sie dann das Glaubensbekenntnis, das von der Auferstehung des Fleisches und vom ewigen Leben spricht? Allgemein wird das doch als eine ausschließlich dem Menschen vorbehaltene Zukunft, als die Erlösung verstanden.
Bruder David: Aber nur in der landläufigen Meinung. Richtig verstanden bedeutet es kosmische Erneuerung.»]
_______________________
[1] Bruder David spricht das Gedicht im Audio «Wähle das Leben» (5. Mose 30,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben (1992)
Vortrag
(05:21) ‹Die Blätter fallen› (Rilke, Herbst)
[2] Siehe das Gedicht: «Nichts Vergängliches vergeht», in: Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, im Verlag der Arche 19626, 20; siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 110
[3] «In elegantem Latein definiert Augustinus Ewigkeit als ‹nunc stans›: Das ‹Jetzt›, das nicht vergeht, weil es jenseits aller Zeit ‹steht›. Ewigkeit hebt die Zeit auf.» (Ebd. 223); siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 90f.
[4] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 208, 213, 219, 208f.
[5] «‹Das Angesicht, das wir hatten, vor unserer Geburt›, wie die Buddhisten sagen, ist die Christus-Wirklichkeit. Das bedeutet nicht, eng gesprochen, Jesus von Nazareth; es bedeutet: Christus. Die Christus-Wirklichkeit ist nicht von Jesus zu trennen, ist aber nicht auf ihn beschränkt. Es kommt dem sehr nahe, was die Buddhisten ‹Buddha-Natur› nennen, oder was die Hindus als ‹Atman› bezeichnen, die letztlich bleibende Realität.» [Sterben lernen (2005)]; siehe auch: Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2005)
Vortrag:
(23:41) «Jesus und Christus bilden zwei Pole in einem Spannungsverhältnis: Jesus ohne Christus ist für uns nicht verbindlich, Christus ohne Jesus ist eine mystische Erfahrung ohne Bezugspol in der Außenwelt. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen wird in jeder geschichtlichen Epoche neu und auf verschiedene Weise erlebt.»
[6] Sterben lernen (2005)
[7] Siehe Stillehalten: «All is always now.» T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 83, 90
Sinn und Feier
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
Wir Menschen werden keinen Frieden finden, solange wir in unserem Leben keinen Sinn finden können. Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet. Sinn wird gefunden, nicht durch harte Arbeit erworben. Er wird einem immer als reines Geschenk zuteil. Und dennoch müssen wir unserem Leben Sinn geben. Wie ist das möglich? Durch Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die innere Haltung, durch die wir unserem Leben Sinn geben, indem wir das Leben als Geschenk empfangen. Was jeden gegebenen Augenblick sinnvoll macht, ist, dass er gegeben ist. Dankbarkeit erkennt diesen Sinn, anerkennt und feiert ihn.[1]
Das mönchische Bestreben wird oft missverstanden als eine Bemühung, überfromm und heiliger zu sein als andere. In Wirklichkeit ist das Grundprinzip des Mönchstums die Bemühung, einfach im Jetzt leben.
Das Kloster ist ein Ort, wo es einem leicht gemacht wird, im Hier und Jetzt zu sein. Alles ist darauf hin angeordnet. Dem natürlichen Rhythmus der Stunden des Tages zu folgen, ist dabei eine große Hilfe. Mönche wissen immer, was sie zu einer bestimmten Zeit zu tun haben. Im Augenblick, in dem die Glocke läutet, lassen sie fallen, was sie in Händen haben, und tun das, wozu es jetzt Zeit ist. Sie wenden sich der neuen Aufgabe bereitwillig und offen zu, weil diese Stunde wie ein Engel ist, der sie ruft und herausfordert zur Antwort, die diesem Augenblick entspricht.
Das zu tun, ist im Kloster leichter als anderswo. Die Haltung, die dahinter steht, können wir aber in jeder Lebenslage zu verwirklichen versuchen. In dem Maß, in dem uns das gelingt, werden wir glücklich.
Der Dichter Rainer Maria Rilke reiste um die Jahrhundertwende in Russland umher und war sehr vom mönchischen Leben beeindruckt, das er dort vorfand. Wie viele, die selbst weder die Neigung haben noch die Berufung verspüren, Mönch zu werden, berührte der Archetyp des Mönchs den jungen, 25jährigen Mann dennoch zutiefst. Er schrieb eine Reihe von Gedichten unter dem Titel «Das Stunden-Buch», und nannte es wie das Buch, aus dem die Mönche in den Gebetsstunden singen.
Im allerersten Gedicht dieser Sammlung beschreibt er, wie die von der Klosterglocke angekündigte Stunde sich neigt und den Dichter berührt, der ausruft: «Mir zittern die Sinne.»[2]
Unsere Sinne mögen wohl zittern, wenn wir uns öffnen und zulassen, dass eine Stunde, eine Zeit, die für uns reif ist, uns wirklich berührt.
Die Glocke erweckt uns zum Jetzt und fordert uns auf, das zu tun, wofür es Zeit ist, weil es jeden Moment Zeit ist, etwas zu tun, auch wenn es bloß Zeit zum Schlafen ist.
Ein altes Motto lautet: «Age quod agis» ‒ «Tue, was du tust.»
Freiheit liegt darin, das, was du tust, wirklich zu tun. Gehorsam ist keine Einschränkung, es ist ein liebevolles Zuhören und eine Antwortbereitschaft.
Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt.
Der Gesang lehrt uns noch etwas anderes über das Leben in der Gegenwart. Von einem pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts.
Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht.
Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten.
Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.
Sich auf die Gesänge einzulassen, kann eine Art nüchterner Ekstase auslösen. Ekstase heißt wörtlich außerhalb von sich stehen.
Wenn wir singen oder Gesängen zuhören, haben wir Zugang zu jener Dimension, die außerhalb der Zeit ist: dem Jetzt.
Paradoxerweise brechen wir aus der Uhrzeit genau dann aus, wenn wir ganz im Augenblick sind.
Der Augenblick und die Ekstase gehören zusammen: Wenn wir wirklich hier, jetzt, in diesem Augenblick sind, dann sind wir ganz spontan auch ekstatisch.
T. S. Eliot spricht von «Musik, so innig gehört, dass sie nicht gehört wird, weil man selbst die Musik ist, solange sie forttönt.»[3]
Und in dieser Erfahrung sieht er einen Aspekt vom «Augenblick in und außer der Zeit».[4]
Wenn wir lernen, die beiden miteinander zu verbinden und in und außer der Zeit zu leben, dann lassen wir aus der Polarität zwischen Zeit und Jetzt, zwischen Augenblick und Ekstase eine schöpferische Spannung entstehen.
Dank dieser inneren Einstellung können wir ein volles und schöpferisches Leben leben.[5]
Muße ist ein oft missverstandener Begriff. Verwechseln wir nicht allzuoft Muße mit Müßiggang? Muße ist aber keineswegs Untätigkeit. Wie könnten wir sonst mit Muße arbeiten? Und wir wissen doch, dass die beste Arbeit in Muße geleistet wird. Diese echte Muße ist aber die Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Spiel.
Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fällt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?
Hier liegt der springende Punkt. Wir wagen es einfach nicht, uns ergreifen zu lassen.
Aber Feier ist ergreifend; und so flüchten wir vor dem Feierabend in ununterbrochene Geschäftigkeit. Wir wagen es nicht, uns ansprechen zu lassen.
Aber alles, was wir mit Muße tun, wird ansprechend; und so flüchten wir uns in Geschäftigkeit ohne Muße, in Zweckgerichtetheit, die sich dem Sinn verschließt.
Ist es nicht offensichtlich, wie unmittelbar hier unser tägliches Erleben an das große Thema von Wort und Sinn rührt?
Es scheint zunächst, als ob dieses öffnen für den Sinn, der uns in jedem Ding, in jeder Begegnung und in jedem Ereignis anspricht, das Alleransprechendste sein sollte, das Allerschönste, das Allererfreulichste.
Warum fällt es uns dann so schwer, uns packen zu lassen? Warum wollen wir immer ständig alles selber anpacken? Warum wollen wir alles begreifen, anstatt uns auch zugleich ergreifen zu lassen?
Die Antwort liegt darin, dass Feier immer Wagnis ist, und wir sind einfach zu feig.
Solange wir die Angelegenheit in der Hand behalten, solange wir begreifen, kann uns nicht viel geschehen. Das einzige, das uns dabei nicht so angenehm ist, ist die Tatsache, dass es sehr bald schrecklich langweilig wird; denn in einer Welt, wo alles unter Kontrolle steht, schleicht sich die Langeweile sehr bald ein. Man weiß ja schon, was kommt. ‒ Wir beginnen darum, ein bisschen unseren Griff zu lockern! Wir beginnen, der Welt zu erlauben, uns zu berühren, uns anzusprechen, uns etwa gar zu packen. Und da beginnt das Abenteuer. Es wird ungemein interessant; sofort aber wird es auch gefährlich. Was wäre denn Abenteuer ohne Gefahr? Im Augenblick aber, wo wir der Gefahr dieser Feierhaltung gewahr werden, versperren wir uns wieder und nehmen wieder alles fest in die Hand.
Unser ganzes geistliches Leben als Suche nach Sinn, als Suche nach Glück hängt daran, wieweit wir fähig sind, uns ergreifen zu lassen, während wir zu begreifen suchen.
Die Sicherheit, die wir uns oft vortäuschen, wenn wir alles fest in der Hand halten, ist ja eigentlich keine Sicherheit, sondern eine Scheinsicherheit. Es ist die Sicherheit dessen, der sich vor dem Ertrinken sicher meint, weil er nie dem Wasser nahe kommt. Aber es kann ja geschehen, dass das Wasser ihm nahe kommt. Wer schwimmen lernt, lebt viel sicherer, nur bedeutet das, dass man sich zunächst einmal dem Wasser aussetzen muss und das ist die Sicherheit, die wir eigentlich anstreben, wenn wir nach Glück suchen: die Sicherheit des Schwimmers, in der Abenteuer und Kontrolle in eins verschmelzen.
Das Wagnis der Feier liegt darin, dass wir uns dem, was uns ergreift, aussetzen; dass wir uns dem Worte stellen, dem Worte im weitesten Sinn, der Welt als Wort, das an uns persönlich jetzt und hier gerichtet ist; dass wir uns jeder geschichtlichen Situation, jeder menschlichen Begegnung als einem Wort steilen, uns öffnen für den Sinn des Lebens, der über allen Zweck hinausgeht.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 5f.]
[Ergänzend:
1. Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Audio «Spiritualität und Ökologie»: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(45:47) Feste feiern: tanzen, singen, spielen, essen und unsere Widerstände: Das Gleichnis vom Festmahl (Lk 14,15-24) ‒ Sabbat: Feierabend und die Eucharistie
2. Im Buch Orientierung finden (2021), 98f.; siehe auch: Impulskontrolle finden (2022):
«Auch wir werden also Zeiten stillen Ausruhens in unsren Alltag einbauen wollen ‒ wenn auch noch so kurze Zeiten, in denen wir alle unsre Bildschirme ausschalten. Vielleicht gelingt es uns, wenigstens am Ende unsres Werktags einen klaren Schlussstrich zu ziehen nach all dem eilenden Treiben, um Dingen von bleibendem Wert den Abend zu weihen.
Mir selber ist dies äußerst wichtig geworden. Als Autor hatte ich die Gewohnheit, wenn ich zu müde wurde, mit ‹Hier morgen weitermachen› im Text anzumerken, wie weit ich gekommen war.
Dann kam mir eines Tages der Einfall, stattdessen das Datum hinzuschreiben und das Wort ‹Feierabend›.
Es erstaunt mich noch heute, welche Freude mir immer wieder dieses wunderschöne Wort ‹Feierabend› schenkt.
Schon wenn ich es niederschreibe, beginne ich, den Abend jetzt wirklich mit Muße zu feiern.»
3. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 233-235:
«Hier beim Parlament der Weltreligionen[7] zeigte sich mir aber etwas Wichtiges: Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn. Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam. Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes[8] drängte sich mir dabei auf und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.»
4. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Wenn Sie jetzt an eine Situation denken, in der Ihnen plötzlich der Sinn von etwas einleuchtet, vielleicht zum ersten Mal ‒ wo kommt da das Begreifen herein? Packen wir dann wirklich etwas an, oder packt es uns?
Bernhard von Clairvaux sagt so schön:
‹Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.›
Es handelt sich um Ergriffenheit, wenn wir uns dem Sinn einer Situation, eines Wortes, einer persönlichen Begegnung stellen.
Wir sagen auch: es rührt mich an, es bewegt mich, es packt mich, ich bin ergriffen.
Die Frage, wie man es anpacken soll, wird hier gar nicht aktuell. Man kann das ganz leicht an irgendeinem kleinen Beispiel illustrieren, etwa an dem Beispiel einer Kerze.
Es gibt so viele Kerzen in den Schaufenstern, dass man sich schon wundert, ob es überhaupt noch elektrisches Licht gibt. Und dabei müssen wir das elektrische Licht abschalten, um die Kerzen überhaupt würdigen zu können; also sind sie nicht so besonders zweckdienlich.
Warum sind sie dann so gesucht und beliebt?
Weil sie sinnvoll sind; weil uns das Kerzenlicht anrührt.
Ja, wenn man eine Kerze machen will, dann muss man wissen, wie man es anpackt. Wenn man aber den Sinn einer Kerze erfahren will, muss man nur einfach hinschauen; man muss die Kerze etwas tun lassen; man muss es der Kerze erlauben, dass sie einen ergreift und ich glaube, dass wir uns so sehr an Kerzen freuen, weil sie so überflüssig sind.
Es gibt schon zuviel Nützliches, zuviel Zweckgerichtetes.
Was uns wirklich etwas bedeutet, ist oft das Überflüssigste.
Ist Tanzen zweckdienlich oder Dichten oder die Musik dieser schönen Stadt, die noch nachschwingt in den steinernen Überflüssen von Torbögen und Balustraden?
Ist nicht der Zweck aller Arbeit letztlich das, was über allen Zweck hinausgeht, der Überfluss von Spiel und Feier?»]
___________________
[1] Schlüsselwort SINN, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 183 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 184]
[2] Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...
Mit diesem Gedicht eröffnet Rilke Das Stunden-Buch.
[3] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V, in: Stillhalten
[4] Ebd.
[5] Musik der Stille (2015), 29-32
[6] Vortrag Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 13f.
[7] «Mehr als acht tausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. [Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 232]
[8] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz..» [Vortrag Jesus als Wort Gottes, in: Die Frage nach Jesus (1973), 66]
Sinn und Zweck
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
So wie ich den Begriff «religiös» benutze, bezieht er sich auf die Suche nach dem letzten Sinn des Lebens.
Der Tod muss dabei offensichtlich eines der wichtigen Elemente sein, weil er ein Ereignis ist, das den ganzen Sinn des Lebens in Frage stellt.
Wir können beschäftigt sein mit zweckvollen Tätigkeiten, mit der Erledigung von Aufträgen, mit dem Durchführen von Arbeiten ‒ und plötzlich kommt der Tod daher ‒ sei es unser endgültiger Tod oder einer der vielen Tode, durch die wir Tag für Tag gehen.
Der Tod konfrontiert uns mit der Tatsache, dass ein zweckerfülltes Leben nicht genug ist. Wir brauchen Sinn, um wahrhaft zu leben.
Wenn wir dem Tod nahe kommen, und alles was auf Zweck abzielt, uns aus den Händen gleitet, wenn wir die Dinge nicht länger manipulieren und kontrollieren können, um bestimmte Ziele zu erreichen ‒ kann dann unser Leben noch sinnvoll sein?
Wir tendieren dazu, Zweck und Sinn gleichzusetzen, und wenn der Zweck wegfällt, stehen wir da ohne Sinn.
Hier liegt also die Herausforderung: wie kann es, wenn alles Streben nach Zweck zu einem Ende kommt, doch noch Sinn geben?[1]
Was ist also Sinn? Was meinen wir, wenn wir von Sinn sprechen?
Sinn ist zunächst das Ziel des Nachsinnens, das Ziel des Sinnens; und Sinnen, das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung (es ist ein sehr altes Wort in der deutschen Sprache) heißt Auf-dem-Weg-Sein.
Der Sinn ist also das, worin wir zur Ruhe kommen; das Ziel des Auf-dem-Weg-Seins ist das Zur-Ruhe-Kommen.
Der Sinn ist das, worin wir daheim sind.
Wenn etwas für uns Sinn hat, dann sind wir darin zur Ruhe gekommen.
Das brauchen wir nicht weiter zu erörtern, das kann auch nicht weiter bewiesen werden. Wir alle erfahren Sinn im Erlebnis des Daheimseins.
Dem Sinn ist der Zweck gegenüberzustellen.
Zweck ist ein ganz anderes Wort, obwohl wir häufig Sinn mit Zweck verwechseln. Zweck ist auch Ziel, aber von Tätigkeit, nicht von Sinnen, nicht von Nachsinnen. Zweck ist Zielpunkt einer Tätigkeit. Das Wort Zweck hat ursprünglich Nagel bedeutet. Wir haben heute noch das Wort «Zwecke» für Nagel. Den Nagel auf den Kopf zu treffen, das ist der Zweck einer Tätigkeit. Tätigkeit führt aber zu weiterer Tätigkeit, nicht zu der Ruhe des Daheimseins, wo wir Sinn finden.
Es gibt nämlich sinn-volle und sinn-lose, ja sogar widersinnige Tätigkeit.
Eine Tätigkeit wird erst dadurch sinnvoll, dass wir in ihr Sinn finden.
Sinn finden wir aber nicht durch Nachdenken, sondern durch Nachsinnen.
Das Denken ist dem Handeln gegenübergesetzt, aber das Sinnen steht im Gegensatz zu dem Sich-im-Handeln-Verlieren.
Denken und Handeln als solche sind wertfrei. Ich kann richtig oder irrig denken, ich kann lebensfördernd oder lebensstörend handeln.
Sinnen hat jedoch immer eine positive Bedeutung.
Und was dem Sinnen gegenübersteht, hat immer eine negative Bedeutung: sich im Handeln verlieren.
Wir sollten bedenken, wie eng Sinnoffenheit und Sinnfreudigkeit mit spielerischem Nachsinnen zusammenhängen. Wie wichtig ist es also Kindern die Sinnenfreudigkeit, die Sinnoffenheit nicht zu nehmen, sondern sie bewusst zu fördern.
Wie spielend werden sie dann Sinn finden.
Wir denken mit dem Kopf, wir sinnen mit dem Herzen.
Wir sinnen als ganze Menschen, daher auch mit dem Kopf.
Das ist kein Widerspruch. Herz im vollen Sinn bedeutet den ganzen Menschen, nicht nur den Kopf, aber auch nicht nur die Gefühle, sondern Denken, Fühlen, Wollen ‒ Leib, Seele, das ganze menschliche Wesen.
Wenn wir so vom Herzen sprechen, im traditionellen Sinn des Wortes, dann bedeutet Herz: unsere Mitte, unsere innerste Mitte, unsere paradoxe Mitte.
Paradox, weil im Herzen die Widersprüche am deutlichsten werden, aber zugleich überbrückt sind.
Augustinus ist bekannt durch zwei Sätze, die dieses Paradox des Herzens ganz deutlich aussprechen; sie scheinen in Widerspruch zueinander zu stehen.
Einerseits sagt er: In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst bin, weil Gott das Selbst meines Selbst ist.
Aber derselbe Augustinus sagt andererseits, und dieses Wort ist noch besser bekannt: Ruhelos ist unser Herz bis es Ruhe findet in Dir, o Gott.
Nur in Gott, als dem Urquell von Sinn, findet unser rastloses Herz Ruhe.
Das Paradox des Menschenherzens drückt sich aus im scheinbaren Widerspruch zwischen diesen beiden Sätzen des großen Heiligen.
Daheimsein in Gott und immer auf der Suche sein nach Gott; in dieser Spannung erfahren wir Gott, erfahren wir das Leben, leben wir das Paradox.
Und im Paradox erfahren wir Sinn.
Paradox ist das, was der allgemein üblichen Meinung widerspricht. So widerspricht es der allgemein üblichen Meinung, dass Sinnen über Denken hinausgeht. Es ist aber so, weil Leben über Logik hinausgeht.
Leben widerspricht zwar nicht der Logik, geht aber weit über sie hinaus.
Lebenswahrheit geht über das nur Logisch-Richtige hinaus und Lebenswahrheit finden, heißt Sinn finden.[2]
Um unseren Zweck zu erreichen, ganz gleich was es sei, müssen wir die Situation beherrschen, die Sache in die Hand nehmen, die Dinge in den Griff bekommen. Wir müssen Kontrolle ausüben.
Gilt das auch für eine Situation, in der du tiefen Sinn erfährst? Du wirst feststellen, dass du Worte gebrauchst wie «berührt», «bewegt», ja selbst «fortgerissen werden» von dem Erlebnis.
Das hört sich nicht so an, als würdest du das Geschehen kontrollieren. Vielmehr hast du dich dem Erlebnis überantwortet, es hat dich fortgetragen, und nur so hast du in ihm Sinn gefunden. Wenn du die Kontrolle nicht übernimmst, wirst du Ziel und Zweck nicht erreichen; wenn du dich andererseits nicht hingibst, wirst du Sinn nie erfahren.
Es besteht eine Spannung zwischen diesem Kontrolle-Übernehmen und Sich-dem-Sinn-Hingeben. Diese Spannung zwischen Geben und Nehmen ist die Spannung zwischen Sinn und Zweck, zwischen Schau und Tat. Lassen wir diese Spannung zerreißen, dann polarisiert sich unser Leben. Eine kreative Spannung aber aufrechterhalten ist anstrengend. Es erfordert von uns eine Hingabe, die uns schwerfällt.
Warum schwer? Weil sie Mut erfordert. Solange wir die Kontrolle haben, fühlen wir uns sicher. Lassen wir uns aber hinreißen, dann ist nicht zu sagen, wohin das führen wird. Wir wissen nur, dass das Leben abenteuerlich wird. Zum Abenteuer aber gehört Wagnis.[3]
Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts.
Es ist zweckfrei, aber sinnvoll.
Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.
Beim Tanz dreht sich alles um die Gelegenheit, Augenblick für Augenblick im Schritt zu sein mit denen, die uns am nächsten stehen im Kreis, und durch sie mit allen Tänzern in eine Wechselwirkung zu treten.
Das Ziel ist, völlig eins zu werden mit Rhythmus und Harmonie des Tanzes.
Tanz aber ist hier Sinnbild für Wandel und den Gang des ganzen Universums.[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4]
[Ergänzend:
1.1. Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011):
(06:43) Sinn ist etwas ganz anderes als Zweck: Sinn ist das, worin wir Ruhe finden / (10:51) Sich berühren lassen im Jetzt in Arbeit und Spiel, hören, gehört werden, zugehören
1.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 3:
(09:16) «Die tiefste Unruhe zielt nicht auf Zweck hin, sondern auf Sinn.»
1.3. Audio-Vortrag Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat:
(12:17) Das Herz, das ins Ganze Geborne (Rilke) – Schau auf das Ganze, rühme das Ganze (Augustinus) – Sinn, Zweck, Spiel
1.4. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren:
(02:18) Sinn im Erlebnis von Daheimsein / (03:07) Sinn dem Zweck gegenüberstellen / (04:02) Nachsinnen im Unterschied zu Nachdenken ‒ Bedeutung von Sinnenfreudigkeit, Sinnoffenheit / (05:08) Im Herzen sind wir allein und zugleich all-eins / (07:55) Daheimsein in Gott und immer auf der Suche nach Gott (Augustinus) / (09:37) Sinnen geht über das Denken hinaus
1.5. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag:
(30:50) Unser Ringen um Sinn ‒ Spannung zwischen Sinn und Zweck: wir sind gefangen in Zweckhaftigkeit
2. SINN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164:
«Sinn und Zweck sind zwei Begriffe, die bei schlampigem Sprachgebrauch oft verwechselt werden. Solche Nachlässigkeiten im Reden drücken unklares Denken aus und führen zu verwirrtem Tun. Präziser Wortgebrauch ist daher für unsre Orientierung wichtig.
Zweck gehört zum Bereich der Arbeit, Sinn aber zum Bereich des Spiels.
Wir arbeiten, um einen Zweck zu erreichen. Das Spiel aber ist sinnvoll, ohne etwas bezwecken zu müssen. Es ist sich selbst Zweck genug, hat also Sinn. Sobald die Arbeit ihren Zweck erreicht, ist sie zu Ende. Das Spielen hingegen kann weitergehen, solange es uns Freude macht: Denn sinnvolles Tun ruht in sich selbst.
In einem ausgewogenen, erfüllten Leben gilt es, Zweck und Sinn im Gleichgewicht zu halten. Diese Ausgewogenheit erreichen wir nicht einfach durch abwechselndes Arbeiten und Spielen, sondern erst dadurch, dass wir nur sinnvolle Arbeit tun ‒ Arbeit also, die es wert ist, um ihrer selbst willen getan zu werden. Sonst kann es geschehen, dass wir die höchste Sprosse unsrer zweckgerichteten Arbeitsleiter erklimmen und uns plötzlich fragen müssen: ‹Was ist eigentlich der Sinn all meiner Bemühungen›?
Wenn wir nach dem hier Gesagten nun nach dem Sinn des Lebens fragen, so ergibt sich die überraschende Antwort, dass es Spiel sein muss ‒ ‹Lila› nennt es der Hinduismus ‒ der große Tanz.»
3. Der Mönch in uns (1978) [derselbe Text, aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, in: Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 «Der Mystiker in uns», 43-63]:
Im Kind gibt es eine Sehnsucht nach Sinnfindung, «eine Offenheit für den Sinn, die durch unsere Zweckorientierung droht verlorenzugehen oder überschattet zu werden.
Ich sollte wohl gleich zu Anfang feststellen, dass ich dabei nicht versuche, ‹Zweck› gegen ‹Sinn› oder ‹Sinn› gegen ‹Zweck› auszuspielen.
Aber in unserer Zeit und in unserer Kultur sind wir derart vom ‹Zweck› in Anspruch genommen, dass man tatsächlich dazu gezwungen wird, die Bedeutung der Dimension des ‹Sinns› überzubetonen; sonst bekommt das Schiff Schlagseite.
Wenn Sie also meinen, dass der Sinn hier außergewöhnlich stark betont wird, so geschieht das nur, um einen Ausgleich zu schaffen.» (44f.)
4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Was den Menschen wirklich glücklich macht, ist nur eines: Sinn. Was immer wir aber sinnvoll nennen in diesem oder jenem Zusammenhang ist nur deshalb für uns sinnvoll, weil wir es letztlich in einem tiefsten Sinnbereich verankert wissen. Diese tiefste Sinngebundenheit der menschlichen Existenz aber ist Religion, ob wir es ausdrücklich so nennen oder nicht.
Wenn wir im folgenden vom religiösen Streben des Menschen sprechen, so soll darunter zunächst ganz allgemein die Suche nach dem Sinngrund menschlicher Existenz verstanden sein, unser Hunger nach letztem Sinn, wie wir ihn erleben in unserem unbestreitbaren Hunger nach Glück.
Nur müssen wir jetzt klar zwischen Sinn und Zweck unterscheiden. Ein Grund, warum wir so oft fehlgehen (nicht nur in unseren Erwägungen, sondern auch in unserem Leben), ist ja der, dass wir Sinn und Zweck so leicht verwechseln. Oft drückt sich das in unserer Alltagssprache aus: Wir sagen Sinn, wo wir eigentlich Zweck meinen; diese Ungenauigkeit der Ausdrucksweise drückt ja nur eine Ungenauigkeit des Denkens aus.
Es würde auch nicht sehr viel helfen, wenn ich nun versuchen wollte, irgendwelche Definitionen von Sinn und Zweck zu geben. Diese Frage ist so zentral, dass wir versuchen müssen, Sinn und Zweck in einer ganz persönlichen Weise zu verstehen.
Und so muss ich Sie einladen, selber darüber nachzudenken oder ‒ noch besser ‒ dem nachzufühlen, wie Sie sich in einer Situation verhalten, die ausdrücklich zweckgerichtet ist, und wie Sie sich innerlich zu einer Situation stellen, die ausdrücklich sinnbezogen ist.» (10f.)]
_____________________
[1] Sterben lernen (2005)
[2] Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 59-61, anlässlich der 38. Internationalen Werktagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe auch Ergänzend 1.4.
[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015), 63f.]: «Kontemplation und Muße», 65; siehe auch ST 77f. unter dem Titel «Kontrolle»
[4] Orientierung finden (2021), 12
Sinnorgan Herz
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
Herz steht hier für den Kern unseres Wesens, in dem wir mit uns selbst eins sind, eins mit allen, eins sogar mit dem göttlichen Grund unseres Wesens.
Deswegen ist ein Schlüsselwort für das Verständnis des Herzens der Begriff Dazugehören ‒ das Einssein im grenzenlosen Dazugehören.
Ein zweites Schlüsselwort ist Sinn, denn das Herz ist das Organ für den Sinn.
Wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Klang, so nimmt das Herz Sinn wahr.
Gemeint ist hier nicht Sinn mit der Bedeutung, wie wir im Wörterbuch den Sinn eines Begriffs nachschlagen, sondern Sinn als das, was wir meinen, wenn wir eine Erfahrung als zutiefst sinnvoll bezeichnen.
Sinn mit dieser Bedeutung ist das, worin wir Ruhe finden.[1]
«Ruhelos ist unser Herz.» So drückte Augustinus[2] es aus. Der Kern unseres Wesens ist ein unerbittliches Fragen, Suchen, Sehnen. Selbst das Schlagen des Herzens in meiner Brust scheint lediglich das Echo eines tieferen Hämmerns in mir zu sein, eines Klopfens an eine verschlossene Tür. Noch nicht einmal das ist mir klar: Klopfe ich, um hereinzukommen, oder klopfe ich, um herauszugelangen? Eins aber ist gewiss:
«Ruhelos ist unser Herz, bis ...» Bis was? Bis wir Ruhe finden.
Was aber kann unseren existentiellen Durst löschen?
«Wie ein Hirsch, der da lechzt nach Wasserbächen, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott» (Psalm 42,2).
Ein glücklicher Psalmist, konnte er doch dem einen Namen geben, wonach es uns durstend verlangt.
Welchen Namen aber sollten wir heute verwenden? Heute werden viele, deren Durst nicht weniger brennt, den Namen «Gott» nicht gebrauchen wollen, und das wegen jener unter uns, die ihn verwenden. Wir haben ihn missbraucht und sie damit verwirrt. Gelingt es uns, einen anderen Namen zu finden für das, was unserem Herzen Ruhe gibt?
Der Begriff «Sinn» bietet sich von selbst an.
Finden wir Sinn in unserem Leben, dann finden wir Ruhe. Das ist zumindest ein Ansatzpunkt für eine Antwort.
Wir wollen einmal davon ausgehen, dass wir wissen, was Sinn bedeutet. Wir wissen jedenfalls, dass wir zur Ruhe kommen, wenn wir etwas sinnvoll finden. Hier handelt es sich um eine Sache der Erfahrung, und das ist alles, was wir über Sinn wissen.
Sinn ist einfach das, worin wir Ruhe finden. Das aber ist gerade das Herz.
Es scheint ein Widerspruch zu sein. Und doch ist unser ruheloses Herz der einzige Ort, an dem wir Ruhe finden, wenn wir «am Ende all unseres Suchens» dort ankommen, wo wir anfingen und «den Ort zum ersten Mal kennen.»[3]
Das Herz zu kennen bedeutet zu wissen, dass es Tiefen kennt, die zu tief sind, um mit dem Verstand ausgelotet zu werden: die Tiefen des göttlichen Lebens in uns. Das Herz, das schließlich in Gott Ruhe findet, ruht in seiner eigenen unauslotbaten Tiefe.
Ein Gebet aus Rilkes Stunden-Buch lässt diese Intuitionen zu poetischen Bildern kristallisieren. Wieder beginnt Rilke mit der Polarisierung von Lärm und Ruhe.
Diesmal ist es die Versammlung von Widersprüchen in unserem Leben, die den Palast unseres Herzens mit einem ausgelassenen Narrenfest füllt. Natürlich ist es unmöglich, die Widersprüche alle auf einmal aus unserem Leben zu verbannen. Das Leben selbst ist widersprüchlich. Aber wir können Widersprüche in den großen ursprünglichen Symbolen zusammenlaufen lassen, wie das Symbol des Herzens eines ist. Gelingt uns das, dann beginnt eine große Stille zu herrschen, eine Stille, die auf heitere Weise festlich und sanft ist. Und in der Mitte dieser Stille steht Gott als ein Gast, als die ruhende Mitte unserer Monologe, als das temporäre Zentrum, eines Kreises, dessen Peripherie über die Zeit hinausreicht.
«Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.
Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.»
Ruht unser Herz an der Quelle allen Sinnes, dann kann es auch allen Sinn fassen.
So verstanden ist Sinn etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt.
Sinn lässt sich nicht wie eine Definition in einem Buch nachschlagen.
Sinn ist nichts, das sich greifen, halten und aufbewahren lässt.
Sinn ist nichts …
Vielleicht sollten wir diesen Satz hier abbrechen.
Sinn ist nicht Etwas unter anderem.
Eher könnte man ihn mit Licht vergleichen, in dem wir alles andere überhaupt erst sehen.
Ein anderer Psalm ruft Gott durstigen Herzens an:
«Denn bei dir ist der Brunnquell des Lebens, und in deinem Lichte schauen wir Licht» (Psalm 36,9).
Durstend nach der Fülle des Lebens, dürstet unser Herz nach dem Licht, das uns den Sinn des Lebens schauen lässt.
Finden wir Sinn, dann wissen wir es sofort, denn unser Herz findet Ruhe.
Immer ist es unser Herz, worin wir Ruhe finden.
Wie unsere Augen nur auf Licht und unsere Ohren nur auf Töne reagieren, so reagiert das Herz einzig auf Sinn.
Das Organ für Sinn ist das Herz.[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 4]
[Ergänzend:
1. Film Der Sinn des Lebens (2011):
«Ich finde es hilfreich, wenn man sich bewusst macht, dass Sinn das ist, worin unser Herz Ruhe findet. Und das hat immer mit Beziehungen zu tun, immer mit Zugehörigkeit: Liebe als das gelebte Ja zur Zugehörigkeit, zum Zusammensein, ist der Sinn des Lebens, nach dem das menschliche Herz sich im Tiefsten sehnt.»
2. Audios zu «Sinn und Herz»:
2.1. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(06:45) Augenblicke in denen wir als ganze Menschen da sind, oft ganz unverhofft, auch in schwierigen Situationen, Augenblicke, in denen uns die Wirklichkeit berührt, die wir oft auf Armeslänge von uns fernhalten, Herzensaugenblicke: Das Herz ist das Organ für Sinn und die tiefste Sinnsuche des Menschen ist allen Religionen gemeinsam
2.2. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag:
(30:50) Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet
2.3. Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
Gesamter Vortrag:
(18:57) Unser Herz ‒ Organ für Sinn
3. Audios zu Gedichten:
«Wer seines Lebens viele Widersinne» (R. M. Rilke, Das Stunden‒Buch), in:
Fragen, die uns bewegen (2005):
(28:44) Vortrag
Mit dem Herzen horchen (1988):
(06:26) Vortrag
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften …» (T.S. Eliot, Four Quartets: Little Gidding, V), in:
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat, Vortrag:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)
4. Weitere Texte:
4.1. RUHE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 154:
«Ruhe wollen wir von Stille unterscheiden. Es gibt ja auch ruhelose Stille. Andererseits gibt es auch Ruhe die Stille nicht unbedingt voraussetzt. Diese innere Ruhe, auch inmitten eines bewegten und geräuschvollen Alltags beizubehalten, ist ein herausforderndes Ziel, das wir aber anstreben müssen. Ruhe in diesem Sinne ist nicht eine Art Grabesruhe, sondern ganz im Gegenteil Ausdruck höchst dynamischer Lebendigkeit. Sie entspringt dem Bewusstsein, jeden Augenblick dem Großen Geheimnis gegenüberzustehen, ja mehr: ihm mit jedem Atemzug zu begegnen.
Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der das Große Geheimnis Gott nennt, sagt über diese Begegnung:
‹Der ruhige Gott beruhigt alles und wer sich in die Ruhe Gottes versenkt, ruht.›»
4.2. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Im wahren Wort muss unser Herz zur Sprache kommen; das Herz als unser innerstes Zentrum, unser innerstes Schweigen, muss zu Wort kommen.
Das wahre Wort ist Ausdruck des Schweigens; es ist sozusagen schwanger mit Schweigen.
Das Wort muss ins Schweigen aufgenommen werden, so wie die Saat in die schweigende Erde fallen muss.
Das Wort muss von Herz zu Herz gehen, muss das Schweigen eines Herzens dem Schweigen eines anderen Herzens mitteilen mittels des Wortes.» (41)]
Auf dem Weg der Stille (2016), 24
«Der große Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ‒ was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete ‒, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.
Der heilige Augustinus schrieb: ‹In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.›
Paradoxerweise schrieb er auch: ‹Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.›
Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn.
Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens.
Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.» [Auf dem Weg der Stille (2016), 24f.]
«We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning …»
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor.
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war …»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in: Stillehalten; [siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114]
Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) im Kp. «Herz und Sinn», 35-38 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33-36]]
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[1] Auf dem Weg der Stille (2016), 24
[2] «Der große Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ‒ was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete ‒, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.
Der heilige Augustinus schrieb: ‹In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.›
Paradoxerweise schrieb er auch: ‹Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.›
Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn.
Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens.
Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.» [Auf dem Weg der Stille (2016), 24f.]
[3] «We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning …»
«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor.
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war …»
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in: Stillehalten; [siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114]
[4] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) im Kp. «Herz und Sinn», 35-38 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33-36]
Religionen und heiles Gottesbild
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Georg Stahl
Die Menschheit kann sich in Zukunft kein Gottesbild mehr leisten, das Menschen voneinander trennt.
Die Vorstellung von einem Gott, den ein Abgrund von uns trennt, führt unvermeidlich zu Spaltungen, die uns Menschen voneinander trennen.
Die große Herausforderung unserer Zeit ist es, über bloße religiöse Toleranz hinauszugehen.
Es genügt nicht mehr, miteinander unverträgliche Gottesbilder nebeneinander stehen zu lassen.
Wir brauchen ein Gottesbild, das uns verbindet.
Die Mystiker aller religiösen Traditionen haben Zugang gefunden zu einer Wirklichkeit, die nicht nur den Einzelnen ganz macht, sondern uns alle vereinigt. Religionskriege sind ja nicht Kriege zwischen spirituellen Menschen, sondern zwischen religiösen Ideologien und Institutionen.
Die Zeit ist gekommen für spirituelle Menschen, innerhalb dieser Institutionen ihre Einheit zu finden und zu feiern. Die Institutionen werden sich mit dieser Tatsache abfinden müssen oder aus Irrelevanz zugrunde gehen.
Ist es aber nicht höchst unwahrscheinlich, dass wir jemals ein Gottesverständnis finden könnten, das die Konfessionen übersteigt und verbindet?
Dieses Gottesverständnis gibt es schon und wir können es jederzeit entdecken, indem wir auf unsere innere Erfahrung achten und auf das Mehr, das unserem Leben Sinn gibt.
Wir stoßen auf dieses Mehr, wenn wir die drei großen Fragen stellen, die uns als Menschen kennzeichnen:
Menschen aller Zeiten und Zonen fragen: «Was ist wirklich wirklich» und begegnen dabei einem Geheimnis, das wirklicher ist als alles, was es gibt ‒ dem unerschöpflichen «Es», das wir aus der Wendung «es gibt» kennen.
Menschen fragen immer und überall: «Wer bin ich?» und stoßen auf das Mehr in der Tiefe ihres eigenen Herzens, ein Mehr, das Gedanken nicht ausloten und Worte nicht ausdrücken können.
Die dritte Frage lautet: «Worum geht es im Leben?»[1]
Wir finden die Antwort in einem unerschöpflichen Mehr an Liebe und Leben, an dem unser eigenes Lieben und Leben teilnimmt.
Unser geistiges sowie unser physisches Gesundsein hängt davon ab, dass wir uns auf die Antworten zu diesen letzten Fragen einlassen ‒ Antworten, die wir nicht in Worte fassen können.
Das Mehr, in das wir durch diese Fragen eintauchen, durchdringt unser ganzes Dasein und übersteigt es zugleich unendlich.
Die ursprüngliche Religiosität begegnet den drei Aspekten des Mehr als noch undifferenzierte heilige Gegenwart.
Die großen religiösen Traditionen der Welt entfalten sich aus dieser ursprünglichen Matrix, indem sie einen der drei Aspekte besonders beachten. (Raimundo Panikkar hat dies in vielen seiner Schriften eingehend aufgezeigt; ich kann es hier nur ganz kurz andeuten.)
Der Buddhismus beachtet mehr als alle andern spirituellen Traditionen den Abgrund des Schweigens, durch den wir das Mehr als Grund und Ursprung von allem, was es gibt, erfahren.
In seiner großen wortlosen Predigt hält Buddha einfach eine Blume hoch. Alle, die auf Worte warten sind enttäuscht. Der einzige, der versteht, zeigt dies, nicht durch Worte, sondern durch ein schweigendes Lächeln. Buddha, so wird uns berichtet, lächelt zurück und gibt so das Herzstück der buddhistischen Tradition an diesen, seinen Nachfolger weiter, schweigend.
Wie verschieden ist dies doch von den westlichen Traditionen: der jüdischen, christlichen und islamischen. Wenn wir ihnen die Worte wegnehmen, was bleibt übrig?
Viele im Westen wenden sich heute dem Buddhismus gerade deshalb zu, weil sie vor dem fliehen, was ihnen als leere Worte erscheint. Und doch weiß T. S. Eliot: «Words after speech reach into silence» ‒ «Nach dem Reden reichen Worte in das Schweigen hinein.»[2]
Auch das Wort kann durchsichtig werden für das Mehr.
Alle Dinge, Menschen und Situationen dürfen wir im weitesten Sinn als Worte verstehen, durch die das Schweigen spricht.
Das Mehr wird Wort in den «Amen-Traditionen» ‒ Judentum, Christentum, Islam ‒, die man so nennen kann, weil das Wort «Amen» ihnen gemeinsam ist.
Amen ist der Ausdruck menschlichen Vertrauens als Antwort auf die treue Verlässlichkeit der göttlichen Wirklichkeit.
Die Erfahrung von Wort, Horchen und Antworten öffnet die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu dem Mehr ‒ zu Gott als persönlich mit uns verbunden (obwohl wir nicht in den Irrtum verfallen dürfen, Gott sei «eine Person»).
Wir dürfen uns selbst als Wort Gottes verstehen, als Wort von Gott ausgesprochen und zugleich angesprochen (Ferdinand Ebner).
Durch unsere Antwort werden wir erst zu dem Wort, als das wir gemeint sind. Das Selbstverständnis Jesu als eins mit dem «Vater» ist der Durchbruch auf eine neue Ebene menschlichen Selbstverständnisses und darf nicht auf Jesus beschränkt werden.[3]
Christliche Mystiker wussten dies und Thomas Merton fasste es zusammen, wenn er sagte: «Gott ist nicht jemand anders».
Wer immer mit dem Buddhismus vertraut ist, weiß, dass dort das Schweigen eine so zentrale Stellung einnimmt, wie das Wort in den westlichen Traditionen.
Wie der Hinduismus in dieses Schema passt, mag auf den ersten Blick nicht so deutlich sein.
Swami Venkatesananda gibt uns jedoch einen Schlüssel zum Verständnis, wenn er sagt: «Yoga ist Verstehen». Das deutsche Wort «Joch» kommt von derselben Wurzel wie Yoga.
Wort und Schweigen sind da zusammen gejocht im Verstehen.
Kommt Verstehen nicht immer dann zustande, wenn wir auf ein Wort so tief hinhören und ihm so innig gehorchen, dass es uns zurückführt in das Schweigen, aus dem es kommt?
Dieses Horchen und Gehorchen ist auch der springende Punkt in der Bhagavadgita: Arjunas verzweifelte Frage kann keine andere Antwort finden als im Tun.[4]
Nur im Tun verstehen wir wirklich.
Es gibt einen Aspekt des Mehr, den wir nicht erfahren können, außer wir handeln.
Das ist der Aspekt, auf den der Hinduismus hinzielt durch Yoga in allen seinen Formen.
In einem heilen spirituellen Leben ‒ der Grundlage für körperliches Heilsein ‒ finden wir Zugang zu dem unerschöpflichen Mehr auf diesen drei Pfaden ‒ Schweigen, Wort und Verstehen.
Die frühchristliche Tradition drückte diese mystische Erfahrung aus, indem sie Gottes Einheit als Vater, Sohn und Heiligen Geist bekannte. Dies ist ein panentheistisches Gottesverständnis, das sich vom Pantheismus (alles ist Gott) durch die Silbe en (= in) unterscheidet.
Gott ist in allem und alles ist in Gott ‒ in dem Mehr, das immer noch mehr ist als alles.
Die theistische Vorstellung von Gott als dem absolut Anderen war aber so tief eingegraben in der westlichen Mentalität (und so vorteilhaft für die Machthaber), dass diese wilde wundervolle Gottesanschauung gezähmt werden musste.
Christliche Theologen vergegenständlichten die mystische Erfahrung von Gott als dreieinig und projizierten sie auf den theistischen «Gott da draußen». Die Zeit war noch nicht reif.[5]
Heute jedoch können wir diese Projektion zurücknehmen und dürfen uns so das trinitarische Gottesbild wieder zu eigen machen.
Die Trinität Gottes ist ja kein christliches Monopol, sondern vielmehr ein Modell, das der Mystik aller Traditionen vertraut ist.[6]
Dieses Gottesverständnis lässt jeder spirituellen Tradition ihre eigene Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit, ermutigt sie aber zugleich, von den andern zu lernen, da diese einen anderen Aspekt des unerschöpflichen Mehr in den Mittelpunkt stellen.
Nur wenn wir uns weltweit gemeinsam darum bemühen, dürfen wir hoffen, zu einem heilen und heilenden Gottesverständnis vorzustoßen.
[Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis, in: «MYSTIK ‒ Spiritulität der Zukunft: Erfahrung des Ewigen» (2005), 80-83]
[Ergänzend:
1. Beitrag von Bruder David in der Zeitschrift «Christ in der Gegenwart» Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Mitte der sechziger Jahre hatte ich die Erlaubnis bekommen, für längere Zeit mit Mönchen anderer Traditionen zu leben, besonders mit Buddhisten und Hindus. Bei diesem Experiment, das damals noch völlig neu war, zeigte sich etwas Erstaunliches: Mönche weit auseinanderliegender Traditionen fanden, dass sie in ihrem innersten mönchischen Streben eins waren; allen ging es um das Gleiche, um ‹die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit›.
Das wurde uns so klar, dass selbst die Weigerung der Buddhisten, das Wort ‹Gott› zu verwenden, die Einsicht nicht trüben konnte, dass wir alle mit derselben Wirklichkeit Erfahrungen machten.
Zugleich wurde uns bewusst, dass eine Tradition sich von der anderen dadurch unterschied, dass ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt derselben Wirklichkeit gerichtet ist.
So sehen Buddhisten die letzte Wirklichkeit vor allem als jenes namenlos Unaussprechliche, das Ursprung und Ziel allen Daseins ist und als existenzielles Schweigen erlebt wird.
Für Juden, Christen und Muslime steht dagegen im Zentrum des Blickfeldes das Wort (im weitesten Sinn), die Wirklichkeit, in der sich das letztlich Unsagbare doch ausspricht und so für uns und in uns gegenwärtig wird.
Für den Hindu ist von letzter Bedeutung das Verstehen, das im Tun zu sich selbst kommt.»
2. Text zum Thema: «Gott ‒ das geheimnisvolle ‹Mehr-und-immer-mehr›»:
2.1. Im Buch Orientierung finden (2021), 58f.:
«…denn hinter allem, was uns im Leben begeistert, steckt stets mehr: das ‹Mehr›, das wir Geheimnis nennen. Deshalb kann die große Theologin Dorothee Sölle (1929-2003) Gott ‹das Mehr› nennen ‒ das ‹Mehr-und-immer-mehr›, könnten wir sagen.
Wenn wir die Bezeichnung Gott in diesem Sinne anwenden, verweist sie auf das geheimnisvolle ‹Mehr›, das uns hinreißt, so oft uns Begeisterung erfasst. Spielverderber, die jede Begeisterung mit ihrem ‹Das ist ja nichts weiter als ...› zerstören, haben immer etwas Bedauernswertes an sich. Ihnen fehlt der Blick für das innerste Glänzen des Lebens und daher auch jener sprühende Enthusiasmus, den dieser Tiefblick auslöst.
Schon das aus dem Griechischen stammende Wort ‹Enthusiasmus› weist ja wörtlich auf den ‹Gott im Inneren› (‹en theos›) hin.
Auf Begeisterung kommt alles an bei unsrer Gottesbeziehung. Für Gläubige kann Begeisterung dürre Glaubenssätze zum Blühen bringen, aber auch Atheisten sind oft außerordentlich begeisterungsfähig. Zwar wird ein Atheist wahrscheinlich das «Mehr-und-immer-mehr» in jeder echten Begeisterung nicht Gott nennen wollen. Warum aber sollten wir uns auf ein Wort versteifen ‒ und gar auf das Wort Gott? Worte trennen uns oft; was uns verbindet, ist Erfahrung. Dass wir im Leben immer wieder dem ‹Mehr› begegnen, dem begeisternden Geheimnis, das wir ‒ wenn wir wollen ‒ ‹DU› und ‹Gott› nennen dürfen, das ist Erfahrungssache, nicht Projektion.»
2.2. Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben (2008):
«Wir finden uns in der Unruhe unseres Herzens von einem unauslotbaren Geheimnis umgeben. Wir wissen nicht, woher wir letztlich kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir sind rundum vom Geheimnis umgeben. Und je tiefer wir versuchen, dieses Geheimnis zu erfahren, umso mehr kommen wir in Geheimnisse hinein.
Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist Nichts. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.
Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das Nichts, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar.
Dieses Mehr und immer Mehr, das das Göttliche bedeutet, ist in uns selbst.»
3. Audios / Text zu «Gott ist nicht jemand Anders.» — «God isn‘t somebody else.» (Thomas Merton):
Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(09:46) «Und das ist auch eine der großen Gefahren, wenn wir von Gott sprechen, dass man sich vorstellt: Das ist irgend Jemand, der von uns getrennt ist …»
TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 15
Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014)
Vortrag und Fragerunde, siehe auch Transkription, 12:
(55:46) «Denn der Irrtum, den wir unter allen Umständen vermeiden müssen, ist, dass wir irgendwie von Gott getrennt sind. Und drum ist dieses Wort ‹Gott› so gefährlich, weil: wenn‘s Gott ist, bin’s nicht ich. Und Thomas Merton hat ganz ausdrücklich, sehr treffend, gesagt: ‹Gott isn‘t somebody else› ‒ ‹Gott ist nicht ein Anderer›. Wenn man denkt: ich und Gott ‒ ein Anderer: schon falsch. Wir sind völlig eingetaucht in dieses Geheimnis und das Geheimnis ist völlig in uns: Das göttliche Geheimnis, wenn wir wollen.»
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
Fragerunde nach dem Vortrag in der evangelischen Ludwigskirche in Freiburg (DE):
(12:24) «Wenn wir uns bewusst bleiben, dass es sich um eine Beziehung handelt, nicht um Jemanden, dann wird uns unsere Beziehung zu dem Göttlichen und zu Gott viel leichter. Thomas Merton hat das in einem sehr prägnanten Satz ausgedrückt …»
Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2019)
Gespräch:
(03:42) «Wir sind zu sehr gewohnt, Gott uns als Jemanden vorzustellen. Wir haben schon lange aufgegeben an Gott als den alten Mann auf dem Thron über den Wolken zu denken. Aber trotzdem denken wir immer noch: Gott ist jemand anders. Und einer der wichtigsten theologischen Sätze des 20. Jh. ist für mich ein Satz von Thomas Merton: ‹Gott ist nicht jemand Anders.›»
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Paradoxien und Meilensteine:
(40:09) «Nun muss man da sehr vorsichtig sein, dass man aus Gott nicht eine Person macht. … Thomas Merton sagt das einmal so schön ‒ das ist ein ungeheuer tiefer theologischer Satz, den wir uns einprägen müssen: ‹Gott ist nicht jemand Anderer.›»]
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[1] Siehe auch: Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
Vortrag:
(19:28) Drei große Fragen wollen in eine Antwort hineingelebt werden / (22:18) Was ist der tiefste Grund von allem?
(31:58) Wer bin ich? – der Schöpfungsmythos antwortet mit drei Bestandteilen, die allen Schöpfungsberichten gemeinsam sind
(44:04) Worum geht es im Leben letztlich? – die Antwort des Heldenmythos
[2] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe Stillehalten
[3] «Jesus selbst sieht dieses Einssein mit Gott keineswegs als ein Privileg, das ihm allein zusteht. Er will dieses mystische Bewusstsein allen zugänglich machen. Im Johannes-Evangelium ist das so ausgedrückt: ‹Alle aber, die ihn aufnahmen, ermächtigte er, Gottes Kinder zu werden› (Joh 1,12). Und Paulus prägt immer neue Wortformen, um klar zu machen, dass wir alle ‹in› Christus am Leben Gottes Anteil haben.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]; siehe auch: Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(38:49) Jesus: Ganz der Vater (Joh 1,18; 10,30) — ‹Die Weisheit hat ihr Haus gebaut› (Spr 8) — ‹Und allen, die an seinen Namen glauben, gab er Kraft, das zu werden, was er ist› (Joh 1,12)
[4] «In der Bhagavad-Gita wird Prinz Arjuna mit einem Rätsel konfrontiert, das er wahrscheinlich gar nicht lösen kann. Der Glaube hat ihn in eine Situation gebracht, in der es seine Pflicht ist, eine gerechte, aber grausame Schlacht gegen seine eigenen Verwandten und Freunde zu führen. Wie kann ein friedliebender Prinz dieses Dilemma sinnvoll lösen? Sein Wagenlenker, der als Krishna verkleidete Gott Vishnu, kann ihm nur den Rat geben: Tu deine Pflicht, und im Tun wirst du verstehen.»
[Auf dem Weg der Stille (2016), 38f.]; siehe auch: TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(36:08) Yoga ist Verstehen – Atman und Brahman – Krishna zu Arjuna in der Bhagavad Gita: Tu’s, dann wirst du verstehen
[5] «So unausrottbar war jedoch der Theismus, dass der geistige Durchbruch Jesu wie ein Leck im Boot verstopft wurde, um so schnell wie möglich den Status quo wiederherzustellen. Die Lehre Jesu musste uminterpretiert und dem theistischen Weltbild eingefügt werden. So wurde der Aspekt der göttlichen Wirklichkeit, den Jesus ‹Vater› nannte, um die intimste Lebensgemeinschaft auszudrücken, zu einer von uns unendlich abgetrennten Vatergottheit. … Wir dürfen, was sich da ereignete, als geistesgeschichtliche Katastrophe betrachten, es steht uns aber auch frei, es positiv zu sehen. Die westliche Welt war einfach noch nicht reif für die Botschaft Jesu.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]
[6] «In vielen Gesprächen sagten mir nicht nur Christen, sondern auch Menschen, die dem Christentum fernstehen, dass die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ihrer eigenen mystischen Erfahrung entspricht. Hier haben wir es mit Allgemeingut der Menschheit zu tun, weil es um mystische Einsichten geht, die allen Menschen zugänglich sind. Hindus, Buddhisten, ja Menschen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, haben mir das bestätigt.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]
Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Thorsten Scheu
Glücklichsein und ein sinnvolles Leben gehören untrennbar zusammen.
Sie werden sicher Menschen kennen, die scheinbar so ungefähr alles haben, was einem ein günstiges Schicksal bescheren kann, aber trotzdem furchtbar unglücklich sind. Dagegen gibt es andere, die mitten im größten Elend zutiefst im Frieden sind und ‒ ja, echt glücklich sind. Überlegen Sie einmal, was diesen Unterschied ausmacht.
Wenn wir tief genug gehen, kommen wir darauf, dass die Glücklichen das gefunden haben, was den anderen fehlt: ein sinnvolles Leben.
Aber wir sollten den Sinn nicht als «das», also eine Sache bezeichnen.
Tatsächlich ist er die einzige Wirklichkeit in unserem Leben, die kein «Etwas» ist.
Auch sollten wir nicht sagen, jemand habe ein für alle Mal den Sinn gefunden, so wie wenn sich der Sinn, hat man ihn erst einmal gefunden, sicher für dunklere Tage aufbewahren lässt.
Sinn muss man ständig neu empfangen.
Das ist wie mit dem Licht: Wenn wir etwas sehen wollen, müssen wir hier und jetzt wieder die Augen aufschlagen.
Ein Bild kann uns sehen helfen, dass Sinn tatsächlich kein «Etwas» ist.
Wir im Westen zeigen auf eine leere Vase oder einen leeren Aschenbecher und fragen: «Was ist das?»
Die Antworten, die wir darauf bekommen, mögen noch so vielfältig sein, aber sie werden dieses «Etwas» im Allgemeinen als ein bestimmtes Material vorstellen, das auf besondere Weise gestaltet ist: als Glas, das in eine bestimmte Form gepresst oder geblasen ist, oder als Ton, der auf einer Töpferscheibe geformt und dann gebrannt und glasiert worden ist. Das ist ganz natürlich so.
Dabei kommen wir kaum auf die Idee, es könnte jemand eine derart andere Geisteseinstellung haben, dass er auf die Frage hin, was das sei, nicht unwillkürlich das Gefäß sieht, sondern den Inhalt und folglich beim Anblick unserer Vase oder unseres Aschenbechers spontan zur Antwort gibt: «Leerheit!»
Das ist für uns verblüffend. «Leerer Raum? Ist das alles?»
Natürlich muss diese Leere mittels dieser oder jener Form definiert werden. Aber das ist weniger wichtig. Worauf es wirklich ankommt, ist die Leerheit des Gefäßes. Ist nicht sie es, die das Gefäß ausmacht?
Das müssen wir zugeben, so merkwürdig uns dieser Ansatz auch vorkommen mag. Das ist so merkwürdig wie der «Klang des Nichtklangs», mit dem es verwandt ist.
So besehen ist auch das Schweigen nicht die Abwesenheit von Wort und Klang.
Es wird nicht als Zustand der Abwesenheit charakterisiert, sondern der Präsenz, einer Präsenz, die für Worte zu groß ist.
Wenn wir irgendeine kleine Freude oder einen kleinen Schmerz haben, reden wir unwillkürlich darüber.
Werden die Freude oder der Schmerz stark, äußern wir diese Freude oder schreien.
Aber wenn das Glück oder Leiden überwältigend wird ‒ werden wir still.
Jede Begegnung mit dem Geheimnis verbirgt sich im Schweigen.
Im deutschen Begriff «Geheimnis» steckt das Wort «Heim»: ein Geheimnis behalten wir bei uns daheim, zeigen es nicht öffentlich.
Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff dafür, «Mysterium» ist vom Tätigkeitswort «myein» abgeleitet, das bedeutet «still bleiben» oder «den Mund halten».
Ein Mysterium, ein Geheimnis ist keine Leere, sondern die unfassbare Präsenz, die uns anrührt und uns sprachlos macht, indem sie uns Sinn erschließt.[1]
«So oft wir innehalten, sei’s auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis im Schweigen.
So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unseres Herzens für das Geheimnis als Wort.
Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, dein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.[2]
Sinn wird nur mittels der Spannung zwischen Wort und Schweigen aufrechterhalten.[3]
Vom Prasseln des Feuers im offenen Kamin, vom Sommerregen vor der offenen Türe, vom Wind in den Laubkronen sagen wir «das spricht mich an».
Recht verstanden, spricht aber jedes Geräusch zu uns, wenn wir uns nur ansprechen lassen.
Jeder Laut ist Botschaft von Unaussprechlichem.
Weil er Botschaft ist, sollen wir hinhorchen lernen.
Weil hier aber Unaussprechliches laut wird, sollen wir uns nicht mühen, die Botschaft in Worte zu übersetzen.
Was uns letztlich anspricht, ist das Wort jenseits aller Worte, das Wort, das so unerschöpflich ist, dass es immer neuen Ausdruck finden will ‒ wie die Liebe.
Die Botschaft in jedem uns geschenkten Laut ist Liebesbotschaft; einmalig, unübersetzbar, ganz persönlich.
Aber auch Stille bringt uns Botschaft.
Hat uns nicht schon oft Stille angesprochen?
Manchmal kommt es mir vor, dass der Augenblick der Stille nach dem Verstummen der Orgel alle Musik noch überträfe; jenes unvergleichliche Einatmen, nachdem das allerletzte Nachhallen im Domgewölbe ausgeatmet hat.
Und diese Stille spricht uns nicht nur an, diese Stille horcht.
Auf dem Höhepunkt, wenn wir ganz Ohr sind, horcht plötzlich Stille auf unsere Stille.
Nur einen Augenblick lang können wir dieser Begegnung standhalten.
Dann beginnt das Scharren von Schuhen in den Kirchenbänken.
Wo Menschen noch hellhörig sind für die Botschaft der Laute, da sind sie auch hellhörig für Stille.
Sei es Wort oder Schweigen, worauf es ankommt, ist, dass wir uns ansprechen lassen von dem, was immer der Augenblick bringt.
Und oft bringt er Unerwartetes.
Nahe bei der Universitätsbibliothek in Berkeley ist ein Kanalgitter, unter dem es Tag und Nacht geheimnisvoll braust. Wie viele der Studenten da stehenbleiben und ehrfürchtig lauschen, weiß ich nicht. Für mich aber ist das, sooft ich vorbeigehe, ein geradezu heiliger Ort. Die ganze Musik der Welt ist in diesem Brausen. Wie es in einem altindischen Text heißt:
«Die Urmusik ist das Rauschen von Wasser.»
Ja, jeder gegenwärtige Augenblick ist Botschaft.[4]
Wort und Schweigen: Indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, können wir beides als wesentliche Aspekte alles Sinnvollen unterscheiden.
Aber wir müssen noch einen dritten Aspekt erkunden: das Verstehen.
Wollen wir etwas als sinnvoll bezeichnen, setzt das Verstehen voraus.
Ohne Verstehen haben weder das Wort noch das Schweigen Sinn.
Was genau ist also das Verstehen?
Wir können es uns als Prozess vorstellen, durch den das Schweigen ins Wort kommt und das Wort, indem es verstanden wird, ins Schweigen zurückkehrt.
In der amerikanischen Umgangssprache gibt es eine eigenartige Redewendung: Wenn uns etwas ‒ sagen wir ein Musikstück oder ein bewegender Augenblick (also etwas, das «Wort» ist) ‒ recht sinnvoll erscheint, sagen wir womöglich: «This really takes me ...» oder «transports me …» oder «sends me.»[5]
Hier gibt uns die Sprache einen Hinweis. Wenn das Wort uns tief anrührt, packt es uns und schickt uns ins praktische Tun.
Paradoxerweise stimmt dabei beides: Wird das Wort verstanden, so kommt es im Schweigen zur Ruhe; aber diese Ruhe ist kein Nichtstun, sondern ein recht dynamisches Tun.
So ereignet sich also Verstehen dann, wenn wir derart bereitwillig auf das Wort hören, dass es uns zum Tun bewegt und uns dadurch ins Schweigen zurückführt, aus dem es kam und zu dem es zurückkehrt.
Durch Tun verstehen wir.[6]
Beten ist wie in einen Raum eintreten. Wie man zum Beispiel in einen Kirchenraum als Raum des Gebetes eintritt. Zunächst ist da das Gebäude, die Wände, das Gewölbe, die Bilder, die uns ansprechen wie ein Wort, das uns anspricht. Aber wenn wir uns ansprechen lassen, dann bemerken wir, dass wir von einer Stille, von einem Schweigen ganz geheimnisvoll angesprochen werden. Denn das Wesentliche an diesem Raum des Gebets ist die Stille. Und in dieser Stille begegnen wir einer geheimnisvollen Gegenwahrheit. Wir erleben, was wir die Gegenwart Gottes nennen könnten. Etwas, was uns geheimnisvoll entgegenwartet. Was etwas von uns erwartet. In jedem Augenblick erwartet diese Gegenwart etwas von uns, und indem wir antworten, verstehen wir. Erst im Tun, in liebenden Antworten verstehen wir, worum es dabei geht.
Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.
Denn einerseits sprechen wir von Gott, dem Urgrund des Seins, dem Abgrund des Schweigens, aus dem das Wort geboren wird, das ewige Wort, das immer neu die Liebe Gottes ausdrückt und ausspricht.
Und andererseits erfahren wir, dass wir verstehen, indem wir uns diesem Wort stellen und darauf antworten.
Man könnte fast sagen, dass Beten die Tätigkeit Gottes oder das Spiel Gottes oder der Reigentanz Gottes sei, ein Raum, in den wir als Menschen eintreten, eingebettet sind, mitschwingen, mittanzen.[7]
Da jede religiöse Tradition Ausdruck der ewigen Suche des menschlichen Herzens nach Sinn ist, zeichnen diese drei Aspekte des Sinns ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ auch die Weltreligionen aus.
Alle drei stecken in jeder Tradition, weil sie für den Sinn wesentlich sind, aber wir können damit rechnen, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen.[8]
Wenn wir die Erkenntnisse der vergleichenden Religionswissenschaft zu Rate ziehen, finden wir bestätigt, was auf den ersten Blick fast zu gut sein könnte, um wahr zu sein. Juden, Christen und Muslime finden ihren letzten Sinn im Wort. Buddhisten finden diesen letzten Sinn im Schweigen, in der Leere, die Fülle ist, im Nichts, das allem Sinn gibt. Dagegen ist das Verstehen, das Wort und Schweigen zusammenspannt, die zentrale Zielsetzung des Hinduismus.
Der Hinduismus zum Beispiel ist ein so unermesslich weiter und vielfältiger Dschungel von Religionen und Philosophien, dass man niemandem einen Vorwurf machen kann, dem es nicht gelingt, hinter all dem ein einigendes Prinzip zu finden.
Aber wenn es eines gibt, dann ist es die schon unzählige Male wiederholte Einsicht, dass der erkennbare Gott der unerkennbare Gott ist und der unerkennbare Gott der Erkennbare.
Das ist ein Verständnis in unserem Sinn: nämlich, dass das Wort Schweigen ist und dieses Wort im Schweigen zu sich selbst kommt; und wir verstehen damit, dass das Schweigen Wort sein kann, begriffenes Wort.
«Der begreifbare Gott ist der unbegreifliche Gott» ist die hinduistische Parallele zu Jesu Ausspruch: «Ich und der Vater sind eins» (Joh 10,30).
Wort und Schweigen sind eins, und sie sind eins im Geist des Verstehens und durch ihn.
Die Hindus haben fünftausend oder noch mehr Jahre damit verbracht, zwar keine Theologie des Heiligen Geistes zu entwickeln (denn Theologie gehört zum Bereich des Logos, des Wortes), jedoch das zu entwickeln, was den Platz der Theologie einnehmen muss, wenn dem Geist der Platz eingeräumt wird, den das Wort in unserem Ansatz einnimmt.[9]
Sollte uns das nicht mit der Hoffnung erfüllen, dass sich bei künftigen Begegnungen mit dem Hinduismus in den Tiefen unseres christlichen Erbes neue Quellen anzapfen ließen?
Auf ähnliche Weise konzentriert sich der Buddhismus auf eine Dimension, die zum Wort gehört, aber in der christlichen Tradition ziemlich vernachlässigt worden ist.
Bei dem, was einer Theologie des Vaters entsprechen würde (da Theo-Logie nur vom Vater handeln kann), müsste das Schweigen an die Stelle des Mediums Wort treten.
Die Buddhisten könnten uns vielleicht auf diesem Gebiet etwas beibringen.
Wenn Buddhisten von einer Tür sprechen, meinen sie damit nicht in erster Linie Rahmen, Türblatt und Angeln, wie wir das tun, sondern den leeren Raum.
Wenn Christus sagt: «Ich bin die Tür» (Joh 10,9), haben wir die Freiheit, das im westlich-christlichen Sinn zu verstehen oder im buddhistischen. Warum sollte der letztere Sinn weniger christlich sein?
Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn wir behaupten wollten, die großen Traditionen der Spiritualität verhielten sich zueinander komplementär. Ja, es wäre falsch, sich vorzustellen, sie ließen sich alle «zum Richtigen» zusammenfassen. Jede von ihnen ist «das Richtige». Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional:
Jede enthält jede, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentsetzung. Daher ist jede einmalig.
Jede ist in ihrer Art auch die höchste. Wo bleibt da der christliche Anspruch auf Universalität?
Richtig verstanden, ist er nicht eine Art von kolonialem Anspruch, sondern er verweist auf innere Horizonte.
Es verlangt nicht von den anderen, sondern von uns Christen, dass wir immer und immer wieder die vernachlässigten Dimensionen unserer eigenen Tradition wiederentdecken, damit wir wahrhaft universal, also wirklich katholisch werden.
Nicht irgendeine Theorie, sondern unsere eigene Erfahrung muss der Schlüssel zum Verständnis der der spirituellen Traditionen werden, vor die wir uns gestellt sehen.
Denn wenn unsere Suche nach Sinn im Leben die Wurzel der Spiritualität ist und Glück ihre Frucht, dann sollten wir dazu fähig sein, vom Ausgangspunkt unserer uns vertrauten und sehr persönlichen Glücksmomente her Zugang zu allen ihren Formen zu finden.[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4, 6-8, 10]
[Ergänzend:
1.1. Audio-Interview Das glauben wir – Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:
(22:55) «Wenn man lang genug etwas nachgeht oder auch nur meditativ etwas anschaut ‒ eine Blume, einen Berg, eine Wolke oder sogar ein Glas Wasser einfach anschaut ‒, wenn man es still genug und ruhiggenug tut, kommt man zu dem Punkt, wo es eine Überraschung wird ‒ überraschend, dass es überhaupt etwas gibt. Und darauf führt uns diese Frage ‹Warum?› hin.
Und dann nächste Frage: ‹Was?›, ‹Was ist es?›, ‹Was ist irgendetwas?› Und immer wieder ist die große Antwort, eigentlich die letzte Antwort ‒ auch sie führt über die Dinge hinaus ‒: Es ist ein Wort, das mich anspricht.
Also wir haben das Schweigen, das die Quelle und der Ursprung von allem ist. Wir haben das Wort:
Alles, was ist, ist entweder sinnlos für mich, oder es spricht meine Sinne an und spricht mich an. Und was mich anspricht, ist in diesem Sinn Wort. Und ich kann antworten.
Und das ist das Dritte: Schweigen, Wort und Verstehen durch Antworten. Man versteht nur durch das Tun.
Welcher Lehrer weiss das nicht: Wenn man’s hört, geht’s bei einem Ohr hinein und beim andern wieder heraus, wenn man etwas sieht: Schon mehr Hoffnung, dass man’s versteht. Aber wenn die Kinder etwas tun, dann verstehen sie, was sie da getan haben. Und in diesem Sinn: durch das Tun ‒ durch das Leben verstehen wir das Leben. Durch das Tun.»
1.2. Audio-Vortrag Das Gottesbild der modernen Menschen (2009):
(20:41) Sinn finden in den drei Bereichen: Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen / (24:00) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in den Weltreligionen: Das Wort ‚Amen‘, die Antwort auf die ‚amunah‘, die Verlässlichkeit Gottes, in den westlichen Amen-Traditionen Judentum, Christentum und Islam / (25:21) Das Schweigen im Buddhismus und das Verstehen im Hinduismus
1.3. Im Audio: «Schweigen — Wort — Verstehen» (siehe auch Mitschrift) am Schluss des Vortrages Wie das Göttliche in uns wächst (2005) erfahren wir, wie wir uns im Gebet auf die Bewegung von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen-durch-Tun einlassen und im «Rundtanz»[11] der Religionen mittanzen.
1.4. Audio TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(26:56) Der Tanz, die Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort: Das Verstehen – Verstehen und Tun gehören engstens zusammen / (29:11) Wort – Schweigen – Verstehen in den Primärreligionen und die unterschiedliche Betonung in den westlichen und östlichen Religionen / (31:06) Die Blumenpredigt des Buddha – Zerreisset die Bücher – Wie schade, dass du es sagen musst / (36:08) Yoga ist Verstehen – Atman und Brahman – Krishna zu Arjuna in der Bhagavad Gita: Tu’s, dann wirst du verstehen / (41:47) ‚Das ist es!‘ in drei verschiedenen Betonungen – Der Reigentanz der Religionen von außen und von innen her betrachtet – ‚Tao‘ und ‚Amen‘: Ausklang mit dem Kanon: Alleluja, Amen
1.5. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(25:37) Zu diesen Augenblicken der Sinnfindung gehören die drei Dimensionen von Wort – Schweigen – Verstehen und diese Dreiheit bildet eine Art Reigentanz. Ob ein Spaziergang, Dichtung oder Musik: Wir geben uns so dem Wort hin – und Wort meint hier nicht ‹Wörter› –, dass es uns ins Schweigen führt, aus dem es kommt – Dieser Augenblick nach einem Orgelkonzert
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: ‹Das ist es› in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita)
1.6. Audio-Vortrag Mit dem Herzen horchen (1988):
(43:13) Sinn finden durch Wort, Schweigen und den dynamischen Prozess des Verstehens im Tun mit Blick auf den Buddhismus, Hinduismus und das Geheimnis des dreieinigen Gottes
2.1. Im Buch: Orientierung finden (2021), 45-46:
«Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun sind grundlegende Schlüsselwörter, die wir unbedingt brauchen, um Sinn zu finden. Jedes echte Wort muss aus dem Schweigen kommen, sonst ist es nur Geplapper. Wenn wir dieses Wort schweigend empfangen und tief darauf hinhorchen, wird es uns ergreifen und uns dazu bewegen, durch unser Tun darauf zu antworten. Dies ist es übrigens, was Gehorsam, richtig verstanden, bedeutet. Durch intensives Hinhorchen ‒ gehorchen ist ja die Intensivform von horchen ‒ zeigen wir uns bereit, zu tun, was das Wort fordert, und kommen durchs Tun zum Verständnis. So führt uns das Wort, das uns ergriffen hat, in das Schweigen zurück, aus dem es hervorgegangen ist. Kein Wunder. Es geht ja bei diesem orientierungs-Dreischritt von Schweigen, Wort und Verstehen-durch-Tun letztlich um das, worum sich alles dreht ‒ und das ist das Geheimnis.»
2.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 20:
Das Hinhorchen und Antworten, das unser geistliches Leben ausmacht, «ist Feier dreieiniger Verbundenheit: das Wort, das aus der Stille entspringt, führt im Verstehen heim in die Stille. Mein Herz ist wie ein Gefäß, das im Meer versinkt, ist voll von Gottes Leben und zugleich völlig darin eingetaucht. All das ist reines Geschenk. Meine Antwort ist Dankbarkeit.»
2.3. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 233-235:
«Sinnsuche ist die Triebkraft, die alle Menschenherzen bewegt. Das haben wir alle gemeinsam. Sobald mir das bewusst wurde, war mir klar, worüber ich vor dem Parlament der Weltreligionen[12] sprechen müsste: Über unsere Aufgabe, die uns gemeinsame Sinnsuche besser zu verstehen; und es würde meine Aufgabe sein, gemeinsam mit meinen Zuhörern damit zu beginnen.
Jetzt begann sich auch eine klare Struktur für meinen Ansatz herauszukristallisieren.
Sinn hat immer drei Aspekte: Wort, Schweigen und Verstehen. Wenn eines von den dreien fehlt, fehlt auch Sinn.
Das müsste ich erklären im Hinblick auf die allgemeinmenschliche Erfahrung der Sinnsuche, und zwar unter den drei Gesichtspunkten von Wort, Schweigen und Verstehen.
Dass Wort und Sinn zusammengehören, leuchtet vielleicht am schnellsten ein.
Wenn wir etwas sinnvoll finden, dann sagen wir, dass es uns etwas sagt. Es ist also Wort in der weitesten Bedeutung ‒ nicht ein Wort aus einem Wörterbuch, aber doch Wort, dadurch, dass es Sinn vermittelt.
Jedes Wort aber, das wirklich sinnträchtig ist, kommt aus dem Schweigen ‒ aus dem Herzen der Stille; nur so kann es zur Stille des Herzens sprechen. (Alles andere ist nur Geschwätz.)
Weder Wort noch Schweigen können aber das ‹Aha!› der Sinnfindung auslösen, wenn Verstehen fehlt.
Verstehen ist ein dynamischer Vorgang.
Wenn wir so tief hinhorchen auf ein Wort, dass es uns in das Schweigen führen kann, aus dem es kommt, dann ereignet sich Verstehen.
Schweigen kommt zu Wort und das Wort kehrt durch Verstehen heim ins Schweigen.
Die Delegierten in Chicago waren eine buntgemischte Schar und boten einen farbenreichen Anblick ‒ von den safranfarbenen Roben der buddhistischen zu den schwarzen Soutanen der orthodoxen Mönche; von den hohen Kopfbedeckungen der ostkirchlichen Archimandriten zu den Gebetskäppchen der Rabbiner, den Turbanen der Derwische und dem Federschmuck der Indianerhäuptlinge. Während sich meine Augen an dieser großen Vielfalt weideten, wusste ich, dass unter all diesen Hüllen ein und dieselbe Sehnsucht diese Menschen hier zusammengeführt hatte und in ihren Herzen brannte: Sehnsucht nach Sinn.
Wenn jede spirituelle Tradition Ausdruck der unstillbaren Sinnsuche des Menschenherzens ist, dann müssen die drei charakteristischen Aspekte von Sinn ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ jede Religion auf eigene Art kennzeichnen. Freilich sollten wir Unterschiede in der Betonung des ein oder anderen Aspektes erwarten, und die finden wir auch tatsächlich.
In den uralten ursprünglichen Religionen ‒ z. B. in Australien, Afrika und Amerika ‒ sind die drei noch gleichbetont und eng miteinander verwoben in Mythos, Ritual und Gemeinschaftsleben.
Als aber Hinduismus, Buddhismus und die Amen-Traditionen des Westens aus der gemeinsamen ur-religiösen Matrix herauswuchsen, begann der Nachdruck immer stärker auf einen oder den anderen Bereich zu fallen, obwohl alle drei ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ in keiner Tradition ganz verloren gehen können.»
2.4. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit» im Verstehen durch Tun.» (16)
«In einem Gespräch zum Beispiel muss das Wort aus dem Schweigen kommen, sonst ist es gar kein Wort.
Im wahren Wort muss unser Herz zur Sprache kommen; das Herz als unser innerstes Zentrum, unser innerstes Schweigen, muss zu Wort kommen.
Das bedeutet, dass das Wort Ausdruck des Schweigens sein muss, sonst ist es Geplapper.
Das wahre Wort ist Ausdruck des Schweigens; es ist sozusagen schwanger mit Schweigen.
Und das Wort muss in das Schweigen heimkehren, denn wenn es nur Ohren und Gehirn erreicht, so ist noch kein wahres Verständnis zustande gekommen.
Das Wort muss ins Schweigen aufgenommen werden, so wie die Saat in die schweigende Erde fallen muss.
Das Wort muss von Herz zu Herz gehen, muss das Schweigen eines Herzens dem Schweigen eines anderen Herzens mitteilen mittels des Wortes.
Ein sinnvolles Gespräch ist also viel mehr als ein Wortwechsel. Das wissen wir alle.
Es ist Begegnung von Schweigen mit Schweigen im Wort.
So gehört das Schweigen ganz unmittelbar zu unserem Sinnerlebnis.
Wir können vielleicht sagen:
Das Wort hat Sinn, aber das Schweigen gibt Sinn.» (41)
«Solange der Mensch Mensch bleibt und Gott Gott, wird unser Streben nach Glück und Sinn diese dreidimensionale Struktur aufweisen. Wir können dabei ganz auf das Wort der Offenbarung eingestellt sein oder auf das offenbarende Schweigen oder auf das Verstehen in Gehorsam.
Es geht hier nur um verschiedene Akzente. Aber diese Akzente sind so wichtig und bringen eine solche Vielfalt der Wege hervor, dass man sich eine grössere Verschiedenheit der Möglichkeiten nicht mehr denken kann. Trotzdem ist es die eine Bewegung vom Menschen, der in dieser innersten Ausrichtung immer und überall der gleiche ist, auf den einen Gott hin, der der letzte Sinngrund ist. Von dieser Mitte her können wir beides verstehen: die Vielfalt und die Einheit der religiösen Tradition als Wege der Menschen auf der Suche nach Sinn. Wir können es von unserem persönlichen Erleben her verstehen.» (64f.)
«Unser Glaube sieht all dies im Lichte der Dreifaltigkeit. Für uns Christen sind die Wege des Menschen auf der Suche nach dem tiefsten Sinn nur im Lichte des trinitarischen Geheimnisses verständlich.» (65)
«Weil die Menschheit im Suchen nach letztem Sinn bewusst oder unbewusst immer auf den dreieinigen Gott verwiesen wird, spiegelt sich das Geheimnis der Dreifaltigkeit im Verhältnis der großen Religionen zueinander.» (48)]
_______________________
[1] Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 9: «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 122-124; siehe auch im Buch Ein Garten voll Glück (2019) unter dem Titel: Suche nach dem Sinn
[2] Orientierung finden (2021), 113
[3] Auf dem Weg der Stille (2016), 124
[4] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 61-63
[5] In etwa: «Das packt mich richtig, … nimmt mich mit, … schickt mich los.» [Anm. d. Ü.]
[6] Auf dem Weg der Stille (2016), 29f.
[7] Film Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), transkribiert von Werner Binder †. Die Transkription erschien im Buch Staunen und Dankbarkeit (1996), 138-147 unter dem Titel: «Teilnahme am göttlichen Leben»
[8] Auf dem Weg der Stille (2016), 30
[9] «Um das an mich gerichtete Wort, das Wort, das ich zugleich bin, zu verstehen, muss ich die Sprache des Einen, der mich anspricht und ausspricht, sprechen. Wenn ich Gott überhaupt verstehen kann, so ist dies nur möglich, weil Gott mir am Geist des göttlichen Selbstverständnisses Anteil schenkt.» [Die Achtsamkeit des Herzens, 19f.] [Bruder David macht immer wieder auf 1 Kor 2,10-16 aufmerksam.]
[10] Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 9: «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 126-129
[11] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz..» [Jesus als Wort Gottes, in: Die Frage nach Jesus (1973), 66]
[12] «Mehr als acht tausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. Mit dem ersten Parlament der Weltreligionen 1893 war Chicago zum Geburtsort des weltweiten interreligiösen Dialogs geworden, der damals etwas Unerhörtes war. Seitdem hatte dieser Austausch nach und nach Schwung gewonnen, aber erst jetzt, hundert Jahre später, war die Zeit reif für ein zweites solches Treffen. Jetzt war dieser historische Augenblick gekommen. Und da war ich nun, ganz überwältigt von der Ehre, zu diesem Ereignis beitragen zu dürfen. Spannung lag in der Luft. Die Frage, worüber ich vor einer so achtunggebietenden Zuhörerschaft sprechen sollte, ließ mich in dieser Nacht nicht schlafen.» [Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 232]
Stille leben
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Ich staune in die große Stille Deines Abgrunds hinein; ich horche bewundernd hin auf ein Wort, das aus der Stille aufsteigt, und versuche, im Alltag danach zu leben.
… Je mehr ich mich bemühe, still zu werden, umso geschwätziger schnattern meine Gedanken. Ich sollte mich wohl gar nicht bemühen, sondern mich mühelos tiefer sinken lassen ‒ von der lauten Oberfläche in die Stille tief in meinem Inneren.
Mein Herzensabgrund bist ja Du.
Wie Wasser danach strebt, sich wieder tief unten zu sammeln, von wo es herkommt, so sehne ich mich nach Sammlung in Dir.
Schenk Du mir heute Augenblicke spontaner Sammlung.
Wenn ich etwa selbstvergessen, gedankenlos Wolken nachträume ‒ in Dich versunken, Du großes Geheimnis. Amen.
[aus: «Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 40, 61]
Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.
Er findet Gott «die Stelle welche heilt»[1], während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.
Könnten wir nur all diese Aufregung in uns und um uns, den Lärm, der uns ablenkt, beruhigen.
In der Stille könnten tausend verstreute Gedanken in einem einzigen zusammengefasst werden.
[FN 1) 30; 2-5) 32; 6) 34 im Kp. «Herz und Sinn»]
«Mein Herz wird mir so stille und wird nicht untergehn.» (Joseph von Eichendorff)
Je mehr der nervzerrüttende Lärm unserer Städte in unseren Ohren gellt, umso mehr spüren wir die Lebensnotwendigkeit der Stille.
Früher oder später dämmert uns, dass es nicht nur äußere, sondern vor allem innere Stille ist, nach der wir uns sehnen.
Mönche des Ostens wie des Westens haben sich seit Jahrhunderten als Gärtner der Stille bewährt ‒ haben ihren Alltag zu einem Garten der Stille gemacht, und uns in ihren Schriften beides hinterlassen, Früchte der Stille und Anleitungen zum Stillwerden.
Während die Zahl der Mönche in vielen Klöstern heute abnimmt, nimmt die Zahl der Menschen, die ihr Innenleben vom mönchischen Geist befruchten lassen, beständig zu. Gottsuche ist die treibende Kraft im Menschenherzen ‒ nicht weniger bei denen, die das Wort «Gott» (oft aus guten Gründen) vermeiden. Und wer in sich die göttliche Lebensmitte aufspürt, findet Stillung.
Gerhard Teerstegen, ein Dichter, der inmitten des weltlichen Alltags mönchische Stille verwirklichte, fasste das Herzensanliegen aller, die sich gleich ihm darum bemühen, in eine einzige Zeile zusammen:
«Gott ist in der Mitte! Alles in uns schweige.»[2]
Über Stille darf zuletzt nur Dichtung reden. Nur die Worte der Dichter brechen das Schweigen nicht, sondern lassen es vielmehr zu Wort kommen.
Unsere westliche Kultur wird vom Wort beherrscht. Wir können uns in eine Kultur des Schweigens und der Stille kaum hineindenken.
Oft sind wir wie vom Wort besessen, voller Angst vor all dem, was sich nicht in Worte fassen lässt.
Und doch ahnen wir, dass das «erlösende Wort» aus dem Schweigen kommen muss.
Ja, wir ahnen sogar, dass Wort und Schweigen untrennbar zusammengehören, dass an echten Worten die Stille das Wesentliche ist.
Wir haben keine Schwierigkeit, zwischen einem bloßen Wortwechsel und einem Gespräch zu unterscheiden.
Was an einem echten Gespräch wichtiger ist als die Worte, ist die Bereitschaft, uns von den Worten in jene Stille führen zu lassen, aus der sie auf uns zukommen.
Darum münden die tiefsten Gespräche in gemeinsames Schweigen.
Auch jedem guten Gedicht merkt man es an, dass es aus der Stille stammt und in die Stille zurückführen will.
Wenn auch die deutsche Dichtung eindeutig Dichtung des Wortes ist, so hat sie doch Höhepunkte gerade dort erreicht, wo Worte noch sanft am Unsagbaren ausgehen und wo dann nur noch Stille übrigbleibt.
So wenn Eichendorff singt:
«Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.»
Oder Ricarda Huch:
«Tief in den Himmel verklingt
traurig der letzte Stern.
Noch eine Nachtigall singt
fern ‒ fern.»
Und wer denkt da nicht auch an Goethes «Über allen Gipfeln ist Ruh' ...»?
Es ist kein Zufall, dass wir eines der gelungensten Gedichte zum Thema Stille im ersten Teil von Rilkes «Stunden-Buch» finden, im Buch «Vom mönchischen Leben».
Ist nicht Stille der Lebensatem mönchischen Lebens?
Und wetterleuchtet nicht in jedem Menschenherzen manchmal die Sehnsucht nach tiefem Atemholen in Stille. Diese Sehnsucht wird in Rilkes Gedicht zum Gebet.
«Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte
und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒
Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.»
Die erste Strophe gipfelt in dem Wort «Wachen».
Nur Stille ermöglicht uns ein solches Wachen, das weit mehr ist als bloßes Wachsein.
Wachen ist Hellhörigkeit, ein Hinhorchen, für das die Stille nicht nur Voraussetzung ist, sondern Inhalt.
Wer wirklich wacht, horcht auf die Stille selbst ‒ und schaudert.
«Wir hören’s nicht, wenn Gottes Weise summt.
Wir schaudern erst, wenn sie verstummt»,
sagt Hans Carossa.
Wir schaudern, weil alle, die auf Stille horchen, Gott hören. Wir schaudern, weil alle, die in Stille eintauchen, Gott angehören.
Da solches Angehören immer gegenseitig ist, kann Rilke sich danach sehnen, in der Stille Gott zu «besitzen», wenn auch «nur ein Lächeln lang».
Wie aber sollen wir das überschwängliche Bild verstehen vom «tausendfachen Gedanken», mit dem der Dichter das göttliche Du «bis an den Rand» denken möchte?
In der Glut eines so tausendfach übersteigerten Gedankens schmilzt das Begreifen und wird zu Ergriffenheit.
«Wachen» war das Endwort der ersten Strophe; die zweite Strophe steigert sich zum Wort «Dank»:
Vollwaches Denken wird zum Danken.
Wer kennt nicht diesen Wendepunkt von denken zu danken aus eigener Erfahrung?
Wir müssen nur an einen jener Augenblicke denken, die wir alle manchmal erleben, obwohl wir sie nur den Mystikern zutrauen. Ganz unerwartet werden wir da plötzlich «wach», fallen aus Zeit und Raum in eine unauslotbare Stille hinein und fühlen überwältigende Dankbarkeit in uns aufsteigen.
Ganz gleich wo uns das widerfährt ‒ auf einem Berggipfel, in einer Kathedrale, oder mitten im Verkehrsstau ‒ das ist ein mystisches Erlebnis.
Abraham Maslow erforschte solche «peak experiences», wie er sie nannte, vom Standpunkt der Psychologie. Er fand, dass solche Erfahrungen bei «ganz gewöhnlichen Menschen» häufig sind und sich in keiner Weise von denen der «Mystiker» unterscheiden.
Ein Unterschied liegt vielmehr darin, dass die meisten von uns weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, und bald wieder «das Zufällige und Ungefähre» laut werden lassen, während die Mystiker aus der Stille leben.
Es steht auch uns frei das zu tun, und so unser Leben im Bleibenden zu verankern.
Der Schlüssel dazu ist dankbares Leben.
Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten oder sonst auf sinnliche Weise wahrnehmen, ist in diesem Sinne Wort, das uns aus der Stille des göttlichen Urgrundes zugesprochen wird.
Wir selber sind in diesem Sinne Wort ‒ «ausgesprochen und zugleich angesprochen» (worin Ferdinand Ebner tiefsinnig unsere menschliche Sonderstellung sieht).
All die Vielfalt rund um uns und in uns ist letztlich ein einziges Wort, das auf immer neue Weise «Ja» sagt, und so allem Dasein Wirklichkeit gibt.
Wenn wir wach darauf hinhorchen, führt uns dieses Wort zurück in die Stille, aus der es stammt. Uns dahin führen zu lassen, heißt verstehen.
Es geht bei diesem Verstehen um weit mehr als intellektuelles Begreifen; es geht um ein Einstehen für das, worauf wir uns verstehend einlassen.
Uns vom Wort führen lassen, heißt verantwortlich handeln.
Im Alltag bedeutet das, dass alle, die «durch den Geist Gottes geführt werden», mit kindlicher Unbefangenheit in jeder Lage die rechte Antwort finden können in Wort und Tat.
In der weitesten Sicht bedeutet es Teilnahme an dem göttlichen Reigentanz, den die christliche Vorstellungskraft aus Johannes 16,28 herausliest, wo der Logos spricht:
«Ausgegangen bin ich vom Vater und gekommen bin ich in die Welt; ich verlasse wieder die Welt und gehe zum Vater.»
Aus dem Schweigen kommend, kehrt das Wort durch liebendes Verstehen ins Schweigen zurück.
Mitzutanzen in diesem Reigen ist die höchste Erfüllung dessen, was wir «Leben aus der Stille» nennen.
Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.
Wir können «mitten in der Welt» all das, was wir tun, bestimmen lassen von jener Stille, die in der monastischen Tradition zu Hause ist.
Dazu bedarf es nicht einmal der äußeren Stille, obwohl diese eine große Hilfe sein kann. Wir müssen nur dankbar leben lernen.
Im trinitarischen Rundtanz dürfen wir den Kreislauf der Dankbarkeit sehen. Wir erleben den Urgrund der Wirklichkeit als den Ursprung all dessen, was «es gibt».
Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, zeigt sich uns immer als Gegebenheit ‒ also als Gabe.
Unser eigenes Leben ist uns zugleich gegeben und aufgegeben.
Die Aufgabe, die in dieser Gabe liegt, heißt Leben in Dankbarkeit.
Und worin besteht das?
Einfach darin, dass wir uns dem Leben stellen.
Dankbarkeit ist still und einfallsreich; sie macht etwas aus jeder Gegebenheit. Meistens ist uns Gelegenheit gegeben, uns an etwas zu freuen. Leider sind wir oft nicht wach genug, das wahrzunehmen.
Aber in jeder gegebenen Lage, sei sie noch so schwierig, wird uns Gelegenheit geschenkt, uns schöpferisch ‒ und dadurch dankbar ‒ zu erweisen. Wir müssen uns nur etwas einfallen lassen. Und jeder Einfall ist selber wieder Geschenk.
Indem wir so Schritt für Schritt, aus unserem Leben etwas machen, steigt es zum Ursprung zurück als Dank.
In dieser gegebenen Welt dankbar leben, heißt Sinn finden.
Und in dem Maß, in dem wir Sinn finden, werden wir still. Dann fallen wir nicht mehr, wie Hölderlins leidende Menschen
«blindlings von einer
Stunde zur andern,
wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen,
jahrlang ins Ungewisse hinab.»[3]
Der Kreislauf in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen:
«… und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.»[4]
[«Leben aus der Stille», in: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159; Text entnommen dem Geleitwort und Epilog von Bruder David: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille im Buch: Buch der Ruhe und der Stille (2005), 7-8, 179-184, siehe auch: Alles in uns schweige (2013) und Finde die Stille (2010)]
[Ergänzend:
1.1. Im Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) kommt das Schweigen zu Wort und führt uns wieder zum Schweigen, dem «stillen Punkt der kreisenden Welt.» (T. S. Eliot, Four Quartets: Burnt Norton, II):
(24:38-27:51) «Die Zeit, um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.»
1.2. Im Film Wort und Stille (2019) spricht Bruder David über die Weitergabe des Schweigens im Buddhismus.
2. Audios zu Gedichten:
«Immer wieder von uns aufgerissen» (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XVI), in:
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992):
(00:28) Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg
«Wenn es nur einmal so ganz stille wäre» (Rilke, Das Stundenbuch), in:
Fragen, die uns bewegen (2005):
(37:46) Vortrag
Wie das Göttliche in uns wächst (2005):
(05:14) Audio: «Was fördert gesundes spirituelles Wachstum» (siehe auch Mitschrift)
«… und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.» (Conrad Ferdinand Meyer, Der römische Brunnen), in:
Lebendige Spiritualität (2015)
(55:30) Verstehen durch Tun
Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag
3. STILLE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 157f.:
«Stille hängt nicht davon ab, ob die Umgebung ruhig oder lärmerfüllt ist. Das wird verständlicher, wenn wir die Vorstellung von Lärm und Ruhe durch den Gegensatz Tumult und Gelassenheit ersetzen. Stille ist eine heiter gelöste, gelassene Haltung des Herzens.
Innere Stille, und um die geht es hier, kann sich auf zweifache Weise bekunden: durch Schweigen und Wort ‒ durch ein Wort, das nicht das Schweigen bricht, sondern ein Wort, in welchem das Schweigen zu Wort kommt.
In unsrem ganzen Alltag sollte unser Schweigen sowie alles, was wir sagen, aus der Stille kommen. Dies lässt sich üben und Menschen, denen es im täglichen Leben gelingt, strahlen Frieden aus.
Bisher haben wir von Wort und Schweigen gesprochen, die aus unsrer eigenen Stille aufsteigen. Aber auch unsre Antwort auf ein Wort, das wir hören, wird nur dann durch gehorsames Tun zum Verstehen führen, wenn sie aus der Stille kommt.»
4. STILLE, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe am Ende des Buches:
«Es gibt eine negative und eine positive Bedeutung von Stille. Negativ aufgefasst bedeutet Stille die Abwesenheit von Geräusch oder Wort. Auf diesen Seiten beschäftigen wir uns mit der positiven Bedeutung. Stille ist die Matrix, aus der heraus ein Wort geboren wird, das Heim, zu dem es über das Verstehen zurückkehrt.
Ein Wort (im Gegensatz zur Unterhaltung) bricht die Stille nicht.
Im echten Wort kommt die Stille zu Wort.
Im wirklichen Verstehen kehrt das Wort heim in die Stille.
Für jene, die lediglich die Welt der Worte kennen, ist Stille bloße Leere.
Unser stilles Herz aber kennt das Paradox: Die Leere der Stille ist unerschöpflich reich; alle Worte dieser Welt sind nur ein Tropfen ihrer Fülle.»
5. SCHWEIGEN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155
«Schweigen ist eine der beiden Weisen, auf welche Stille sich bekundet. Die zweite Weise ist das Wort. Im Wort drückt sich die Stille ‒ sie drückt sich aus, geht aus sich heraus, indem sie ‹zu Wort kommt›. Im Schweigen bleibt die Stille bei sich selbst. Ein Bild kann das veranschaulichen. Ein Gong, den wir betrachten, bleibt bei sich; ein Gong, den wir anschlagen, ‹äußert sich› ‒ sein innerstes Wesen wird äußerlich offenbar. Um Stille in ihrem Wesen zu erfahren, müssen wir mit ihr einswerden, dadurch, dass wir uns ins Schweigen versenken, uns ins Schweigen hinablassen. Schweigen kann zu einem wirkungsvollen Mittel werden, um im Tumult des Alltags immer wieder stille Gelassenheit zu finden, indem wir Schweigepausen in unsren Tagesablauf einbauen.»
6. Uns wehrlos der Stille aussetzen - COVID 19 (2020):
«Nur was in der Stille wurzelt kann Frucht tragen.»
7. Führung aus der Stille ‒ Wissen und Weisheit für eine Welt im Wandel: Waldzell Dialog (2010)
«Wie man einem Weg nachgeht, wenn man sich führen lässt. So müssen wir der Stille nach-denken. Denn wenn man der Sprache nach-denkt, führt sie immer in die Stille.»
8. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Schweigen und Wort gehören im tiefsten Sinn zusammen. Das kann man auf vielen verschiedenen Ebenen zeigen. Die beiden gehören zunächst einmal zusammen, so wie Licht und Dunkelheit zusammengehören. Ohne Dunkelheit ist das Licht nicht Licht, und ohne Schweigen ist das Wort nicht Wort. Ohne Schweigen ist das Wort schon deshalb nicht Wort, weil man gar nicht sagen könnte, wo ein Wort beginnt und das andere Wort endet. Aber das ist noch eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise.
Es geht schon etwas tiefer, wenn wir bedenken, dass wir in der Musik zum Beispiel nicht nur die Töne hören, sondern auch die Pausen. (Musik gehört ja auch zu dem, was wir hier Wort nennen in diesem umfassenden Sinn.)
Wir bedenken es nur meistens nicht, aber wenn alle Pfeifen einer Orgel zugleich tönen, dann gibt das ebenso wenig Musik, wie wenn sie alle zugleich still sind. Die Musik besteht eben darin, dass jetzt einige Pfeifen spielen und dann einige andere. Und so hören wir nicht nur die Pfeifen, die spielen, sondern auch die, die still sind. Wir hören die Stille.» (40f.)
«Auch in unserer eigenen Tradition gehen wir ja über das Wort hinaus, zum Beispiel im Gebet der Stille. Für uns Christen ist das Gebet der Stille unsere eigene Buddhistische Form des Gebetes.» (43)
«Alle Zen-Geschichten wollen uns dorthin führen, wo das Wort aufhört und das Schweigen beginnt. Und so ist auch die Pointe dieser Geschichten nur ein Hinweis auf das Schweigen, aus dem das Wort entspringt und in das es mündet. In diesem Fall ist die Antwort, mit der der Novize dann kommt und dem Meister zeigt, dass er eingesehen hat:
‹Ich habe das Schweigen gehört.›
Paradox ‒ aber die Antwort lässt sich eben nur in einem Paradox ausdrücken, sonst würden wir uns ja noch im Bereich der Logik bewegen. Was aber über den Bereich der Logik hinausgeht, können wir im Bereich des Wortes nur in einem Paradox ausdrücken:
‹Ich habe das Schweigen gehört.›» (44)]
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[1] «Immer wieder von uns aufgerissen,
ist der Gott die Stelle, welche heilt.
Wir sind Scharfe, denn wir wollen wissen,
aber er ist heiter und verteilt.
Selbst die reine, die geweihte Spende
nimmt er anders nicht in seine Welt,
als indem er sich dem freien Ende
unbewegt entgegenstellt.
Nur der Tote trinkt
aus der hier von uns gehörten Quelle,
wenn der Gott ihm schweigend winkt, dem Toten.
Uns wird nur das Lärmen angeboten.
Und das Lamm erbittet seine Schelle
aus dem stilleren Instinkt.»
(Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI)
[2] Gerhard Tersteegen im Kirchenlied: «Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.»; siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I,, 64
[3] Friedrich Hölderlin: «Hyperions Schicksalslied»
[4] Conrad Ferdinand Meyer: «Der römische Brunnen»
Stille zulassen
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Klaudia Menzi-Steinberger
Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Ich möchte hellhörig werden für das ganz Leise in der Welt ‒ das Leise zwischen Katzenpfoten und Fußboden, die Stille im Schwertlilieninneren, das Schweigen ferner Berge, mein eigenes ruhiges Atmen beim Einschlafen.
Besonders bei Begegnungen mit Menschen möchte ich wach sein, wach für die leiseste Andeutung, dass sich vielleicht ein eisiges Schweigen danach sehnt, aufzutauen.
Zur Vorbereitung will ich heute immer wieder kurz innehalten und still werden.
In Dir, Du großes Geheimnis, ist Ruhe.
Ich will alles Laute verklingen lassen und aus Deiner Tiefe Ruhe schöpfen. Amen.
[aus: «Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 39]
Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt.
Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen.
Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse …
Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten.
Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße.
Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit.
Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt.
Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, das die Grundlage dieses Trainings bildet, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist», wie T. S. Eliot es ausdrückt.[1]
In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist» zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒ «jetzt und in der Stunde unseres Todes».
«Und die Todesstunde ist jeder Augenblick», in dem wir wirklich hinhorchen, ist «Augenblick in und außer der Zeit».[2]
Dankbares Hören beginnt damit, dass wir das Gehörte als Gabe erkennen.
Wenn Abendwind in den Linden rauscht, fällt uns das nicht schwer.
Oder wenn uns so etwas geschenkt wird wie das Erlebnis, das ich in Hongkong hatte. Da wohnte ich im Zentrum von Kowloon, einem Stadtteil von unvorstellbarer Bevölkerungsdichte. Zeitlich am ersten Morgen trat ich ans Fenster. Da umgab mich statt des erwarteten Straßenlärms der Jubel von zehntausend Singvögeln. Ganze Familien mögen in einem winzigen Raum der Wohnbauten zusammengedrängt hausen, irgendwo im zwanzigsten Stockwerk, doch vor dem Fenster hängen die Käfige der geliebten kleinen Sänger.
Was aber, wenn der Großstadtlärm uns wirklich umtost? Können wir das auch noch als Geschenk erleben?
Mir persönlich hilft es, wenn ich unangenehmen Geräuschen so lange wie möglich keinen Namen gebe.
Solange ich nur einfach hinhorche, ohne das Gehörte etwa Bremsenkreischen oder Sirenengeheul zu nennen, habe ich es nur mit einem reinen Sinneseindruck zu tun, der, ohne Interpretation, ganz für sich allein genommen, immerhin ‒ ich will nicht sagen angenehm, aber ‒ bemerkenswert ist. Das heißt, er ist meiner Aufmerksamkeit wert. Darin liegt aber schon eine Wertschätzung. Und diese lässt sich unbegrenzt weiterentwickeln.
Manchmal lässt sich ein unliebsames Geräusch sogar uminterpretieren.
In einem Kloster, das ich besuchte, trieb das Kreischen der Kreissäge beim Nachbarn eine der Schwestern buchstäblich die Wände hoch.
«Wie kann denn so ein Geräusch Gabe Gottes sein?»
Mein Vorschlag war: nur hinhorchen; nicht benennen.
Und in diesem Fall wirkte es.
«Ich hab's versucht», berichtete die Schwester nach ein paar Tagen, «und was ich da hörte, klang wie die Stimme eines Erzengels!»
Zwar verstehe ich mich nicht auf die Unterscheidung von Engelstimmen, aber ich glaube, mir würde schon die Stimme eines ganz gewöhnlichen Engels genügen.
Und, wenn wir's bedenken, ist nicht alles, was wir hören, Stimme des einen oder anderen Engels?
Alles, was wir hören, ist ja letztlich göttliche Botschaft.
Und Engel sind Boten Gottes.
Für arglose Ohren ist jeder Laut Geschenk.
Und für Herzen, die hören können, ist jedes Geschenk Botschaft.
Vom Prasseln des Feuers im offenen Kamin, vom Sommerregen vor der offenen Türe, vom Wind in den Laubkronen sagen wir «das spricht mich an». Recht verstanden, spricht aber jedes Geräusch zu uns, wenn wir uns nur ansprechen lassen.
Jeder Laut ist Botschaft von Unaussprechlichem.
Weil er Botschaft ist, sollen wir hinhorchen lernen.
Weil hier aber Unaussprechliches laut wird, sollen wir uns nicht mühen, die Botschaft in Worte zu übersetzen.
Was uns letztlich anspricht, ist das Wort jenseits aller Worte, das Wort, das so unerschöpflich ist, dass es immer neuen Ausdruck finden will ‒ wie die Liebe.
Die Botschaft in jedem uns geschenkten Laut ist Liebesbotschaft; einmalig, unübersetzbar, ganz persönlich.
Aber auch Stille bringt uns Botschaft.
Hat uns nicht schon oft Stille angesprochen?
Manchmal kommt es mir vor, dass der Augenblick der Stille nach dem Verstummen der Orgel alle Musik noch überträfe; jenes unvergleichliche Einatmen, nachdem das allerletzte Nachhallen im Domgewölbe ausgeatmet hat.
Und diese Stille spricht uns nicht nur an, diese Stille horcht.
Auf dem Höhepunkt, wenn wir ganz Ohr sind, horcht plötzlich Stille auf unsere Stille.
Nur einen Augenblick lang können wir dieser Begegnung standhalten.
Dann beginnt das Scharren von Schuhen in den Kirchenbänken.
Wo Menschen noch hellhörig sind für die Botschaft der Laute, da sind sie auch hellhörig für Stille.
Tief im Inneren Australiens lernte ich die Schwestern von St. Joseph kennen, die selber horchende Herzen haben und so zu Hütern dieser Hellhörigkeit unter einem Rest von Ureinwohnern wurden.
Der Stamm lebte noch ohne feste Behausungen im Umkreis von fünf großen Feuern, an denen die nackten Schläfer nachts Schutz vor der Wüstenkälte fanden. Nahe an diesen Lagerplatz hatte die Regierung ein Schulhaus hingestellt, in dem die Kinder hier aus den gleichen Lesebüchern lernen sollten, wie die Stadtkinder in Sydney oder Perth. Da übernahmen es diese verständigen Frauen, den Kulturschock abzufangen. Sie unterrichteten nicht im Schulhaus, sondern im Schatten einer Laube; und eigentlich nicht die Kinder, sondern die Mütter, die mit zur Schule kamen und das Gelernte dort gleich an ihre Kinder weitergaben. Wie still das alles vor sich ging; oft nur durch Bilder, durch Anschauen, durch Zeichnen. Und doch war diesen armen Menschen dabei immer noch zu viel Gerede. In der Pause, wenn Stadtkinder schreiend ins Freie stürmen, gingen diese Kinder schweigend hinaus. Ich kann sie noch vor mir sehen mit ihren großen braunen Augen, von langen Wimpern noch tiefer verdunkelt, wie sie aufatmeten in Stille nach so vielen Worten.
Sei es Wort oder Schweigen, worauf es ankommt, ist, dass wir uns ansprechen lassen von dem, was immer der Augenblick bringt.
Und oft bringt er Unerwartetes.
Nahe bei der Universitätsbibliothek in Berkeley ist ein Kanalgitter, unter dem es Tag und Nacht geheimnisvoll braust.
Wie viele der Studenten da stehenbleiben und ehrfürchtig lauschen, weiß ich nicht. Für mich aber ist das, sooft ich vorbeigehe, ein geradezu heiliger Ort.
Die ganze Musik der Welt ist in diesem Brausen. Wie es in einem altindischen Text heißt:
«Die Urmusik ist das Rauschen von Wasser.»
Ja, jeder gegenwärtige Augenblick ist Botschaft.
Allzuleicht können wir diese Botschaft versäumen, wenn wir nicht aufpassen.
Wenn wir uns nur freimachen vom Zwang, alles selbst leiten und unter Kontrolle halten zu müssen, wenn wir uns endlich wieder, wie Kinder, überraschen lassen, dann ist unser Überraschtsein schon der Anfang der Dankbarkeit.
Unserem dankbaren Hinhorchen öffnet sich dann in der Tiefe jeden Lautes abgründige Stille und im Herzen der Stille die Botschaft der Liebe.
In seinem Kommentar zum Hohenlied sagt es der Heilige Bernhard etwa so:
«Der ruhige Gott beruhigt alles. Und wer sich in Gottes Ruhe hinablässt, ruht.»
Wir haben das, glaube ich, alle erlebt, in Augenblicken, in denen wir einfach am Ende sind und wir einfach nicht mehr weiter können.
Dann tritt so etwas wie eine ganz große Stille ein, und wenn wir uns der hingeben, wenn wir uns nicht ängstlich zurückziehen, dann wendet sich unsere Angst in Vertrauen:
Nicht, als ob wir jetzt plötzlich festen Boden unter den Füßen hätten, aber es ist ein Vertrauen, dass wir auch weitergehen können, ohne festen Boden unter den Füßen zu haben. Dass es einfach weitergeht. Wir können uns diesem Fluss hingeben, und es führt uns weiter.
Es gibt diese Situationen, dass wir uns plötzlich berührt, angerührt und angesprochen fühlen:
wenn wir eine schwere Nacht überstehen oder am Krankenbett.
Das kann man so verstehen, dass Gott, dieses geheimnisvolle Du, uns anspricht.
Aber es ist nicht ein Ansprechen mit Worten.
Man könnte paradox sagen, es ist eine unendliche Stille, eine geheimnisvolle Stille, die zu uns spricht.
Nicht in Worten, aber verständlich.
Wir können verstehen.
Und dieses Verstehen äußert sich in einer Antwort, die wir geben, nicht in Worten, sondern in der Tat.
Beim Gebet gehören diese Bereiche zusammen: unendliche Stille, die uns anspricht, wie ein Wort. Und die Antwort, die wir selber geben, in der Tat.
Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als «tranquillitas ordinis», die Stille der Ordnung.
Ordnung ist untrennbar von Stille, aber diese Stille ist dynamisch. Die Ruhe der Ordnung ist eine dynamische Ruhe, es ist die Stille einer unbewegt brennenden Flamme, eines Rades, das sich so schnell dreht, dass es still zu stehen scheint.
Stille in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umwelt, sondern vor allem eine innere Haltung, die Haltung des Hinhorchens.[3]
Jeder von uns ist eingeladen, dieses Geschenk der Stille allen anderen weiterzuschenken.
Wir wollen einander Stille schenken.
Lasst uns hier und jetzt damit beginnen.
Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.
Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.
[AH 1-2) 18f., 61-65, 31; 3-5) 18f., 60-64, 30f. und ergänzt mit dem Film Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), transkribiert von Werner Binder †. Die Transkription erschien im Buch Staunen und Dankbarkeit (1996), 138-147 unter dem Titel: «Teilnahme am göttlichen Leben»]
[Ergänzend:
1. Film Was am Ende wirklich zählt (2022), siehe auch Transkription, 3f.
(09:20) «Was würdest Du denn sagen, Bruder David: Was ist ein ganz wichtiges Werkzeug, um das in sich zu erschaffen, wenn’s nicht schon da ist oder wenn wir’s einfach nicht sehen können. Ich denke, so viele wünschen sich ja diesen Zustand des Vertrauens und der Liebe und der Dankbarkeit und sich Wohlfühlen. Sie erahnen, wie schön das wäre, wenn es in ihnen wach wäre und finden trotzdem nicht dahin. Gibt’s ein Werkzeug?»
David Steindl-Rast: «Und da kommt wieder die Dankbarkeit herein. Und die Übung der Dankbarkeit ist ein ganz einfacher Dreischritt:
Stop ‒ Look ‒ Go.
Also ein Innehalten, Innewerden und dann Tun.
Und das heißt immer wieder im Laufe des Tages ‒ und das kann man üben ‒, immer wieder innezuhalten, einen kleinen Augenblick der Stille dieses automatische Dahinleben unterbrechen und einen Augenblick lang still zu werden.
Und in dieser Stille: die schafft jetzt Raum zu sehen. Und zwar hinzuschauen: Was gibt mir jetzt das Leben in diesem Augenblick für eine Gelegenheit? Und das ist das ‹Look›.»
2. Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011)
Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch:
(13:52) Wie wir Stille finden können, wenn Lärm und Geräusche uns stören / (17:47) Die Tiefe des menschlichen Herzens, diese Tiefe liegt hinter allem: diese sehr tiefe Traurigkeit, die gehört dazu, und das Heimweh der Menschen liegt am Grund von allem Lärm
3. Credo - ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche Freiburg (DE):
(08:24) Empfangen – weiterschenken – die Stille / (09:13) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› (Rilke)
4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen — Die Themen des Gesprächs:
Die Stille nicht brechen: Musik und Alltag aus der Kraft der Stille (Paul an der Panflöte)]
______________________
[1] «And under the oppression oft he silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future …»
«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Mißt Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als die Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen …»
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», I, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 46f.]
«Die Salvages sind eine Felsengruppe vor Cape Ann (Massachusetts), die nur bei Ebbe zu sehen ist und in deren Nähe Eliot in seiner Jugend ‹riskante Segeltörns› unternahm. Die Erfahrung der rauen See, der Urgewalt des Meeres, ein im Zusammenhang mit Eliots Dichtung treffendes Vokabular, schlägt sich in The Dry Salvages entsprechend nieder. Da wird die auf dem Wasser schaukelnde Boje zur Schicksalsglocke, eine sorgenvolle akustische Begleitung für die implizite Frage: Kehren die Seeleute wieder nach Hause zurück?» [Mario Osterland zu T. S. Eliot]
[2] «Pastimes and drugs, and features oft he press:
And always will be, some oft hem especially
When there is distress of nations and perplexity
Whether on the shores of Asia, or in the Edgware Road.
Men’s curiosity searches past and future
And clings to that dimension. But to apprehend
The point of intersection of the timeless
With time, is an occupation for the saint ‒
No occupation either, but something given
And taken, in a lifetime’s death in love,
Ardour and selflessness and self-surrender.
For most of us, there ist only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.»
«Zeitvertreib, Drogen, Zeitungsthemen:
Und werden es bleiben, und zwar ganz besonders
Wenn die Nationen in Not sind und Wirren
Gleich ob an Asiens Küsten oder der Edgware Road.
Die Neugier des Menschen sucht vorwärts und rückwärts
Und hält sich an diese Kategorien. Aber die Stelle
Zu erkennen, wo die Zeit das Zeitlose
Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒
Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird
Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens,
Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.
Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.»
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]
[3] «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Film Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]
Gebet ‒ drei Innenwelten
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Gebet im Unterschied zu Gebeten
Der Rosenkranz, der «Engel des Herrn» und das Jesusgebet ‒ das sind einige der Gebete, die ich am nährendsten finde. Es sind bei Weitem nicht die einzigen, sondern eben nur diejenigen, die sich am leichtesten beschreiben lassen. Wie könnte ich jemals richtig damit anfangen, Ihnen zu erklären, was mir die monastischen Stundengebete bedeuten? …
Aber wir sind dann immer noch im Bereich des formellen Gebets und das formelle Gebet ist wie ein kleiner Eimer, aus dem ein Kleinkind immer und immer wieder ein bisschen etwas aus dem Meer des Gebets herausschöpft und ausgießt.
Der schwarze Humus, in dem das formelle Gebet gedeiht, ist die informelle Gebetshaltung. Die (formellen) Gebete lassen sich vom (informellen) Gebet zwar nicht trennen, aber wir müssen zwischen beiden unterscheiden und uns für einen Augenblick auf das Gebet als innere Einstellung konzentrieren, statt es als äußerliche Gebetsform zu betrachten.
Wenn ich das tue, stelle ich fest, dass ich in drei Gebetshaltungen hinein- und wieder herausgerate, die derart verschieden voneinander sind, dass ich sie als völlig unterschiedliche Gebetswelten empfinde.
«Wort» ‒ der Schlüssel zum Gebet «Vom Worte Gottes leben»
Meinen Schlüssel zur ersten dieser inneren Welten nenne ich «Wort».
Damit meine ich nicht ein bestimmtes Wort oder bestimmte Worte, sondern die Entdeckung, dass jedes Ding, jeder Mensch und jeder Umstand, ein von Gott an mich gerichtetes Wort ist.
Dessen Botschaft begreife ich durchaus nicht immer, aber ich weiß, dass ich sie erfasse, wenn ich mit den Ohren meines Herzens wirklich intensiv darauf höre.
Der heilige Benedikt bezeichnete dieses tiefe, bereitwillige Hören als «Gehorsam».
Wir verstehen unter Gehorsam oft nur das Gefügigsein gegenüber einem Befehl. Aber damit würden wir Gott zu einer Art von überdrehtem Feldwebel machen, der ständig seine Kommandos brüllt. Meiner Erfahrung nach erteilt Gott die meiste Zeit keine Befehle.
Gott singt eher und ich antworte ihm mit Singen.
Das Singen, das ich meine, kann so jubelnd sein wie das Rot einer von Gott gemachten Tomate oder das Sirren eines Drachenfliegers oder das Plantschen von Kindern in einem Becken.
Das Singen ist die fröhliche Antwort meines Herzens.
Aber Gottes Singen kann auch so schwer wie der Duft der Lilien in einem Leichenhaus sein, so schwer wie die Nachricht von der Trauer eines Freundes.
Gottes Singen kann so leicht sein wie Harfenmusik oder ein Frühjahrsausflug, so traurig wie das Heulen eines Nachtzugs oder der Inhalt der Abendnachrichten.
Es kann fröhlich, bezaubernd, herausfordernd, amüsierend sein.
Wenn wir aufmerksam genug hinhören, können wir in allem, was wir erfahren, Gott singen hören.
Unser Herz ist ein hochempfindlicher Empfänger; es kann mittels aller unserer Sinne horchen.
Was immer wir hören, aber auch alles, was wir sehen, schmecken, berühren oder riechen, vibriert im Tiefsten im Einklang mit Gottes Lied.
Wenn man in dieses Lied mit Dankbarkeit einstimmt, nenne ich das ein Zurücksingen.
Diese Gebetshaltung hat allen meinen Sinnen und meinem Herzen schon viel Freude gemacht. [Auf dem Weg der Stille (2016), 14-16]
Die biblische Dimension im Gebet «Vom Worte Gottes leben»
Wo das Wort so zentral ist, wird der Antwort eine große Bedeutung zugemessen:
Von daher wird in der abendländischen Tradition der Spiritualität die Antwort so betont. Das «Leben mit dem Wort» stellt eine ganze Welt des Gebets dar, das typischerweise dem biblischen Glauben an Gott entspringt, der spricht.
Und die Aufgabe, «mit dem Wort zu leben», impliziert viel mehr als bloß die Vorstellung, dass Gott sein Wort im Sinn eines Befehls spricht, den der gläubige Mensch dann ausführt.
Die volle religiöse Dimension impliziert, dass wir «von jedem Wort leben, das aus Gottes Mund kommt».
Aber wir sollten hier das Wort auch in seinem weitesten Sinn verstehen.
Da alles und jeder Mensch und jeder Umstand von dem Gott, der spricht, stammen, ist die ganze Welt Wort, von dem wir leben können.
Wir brauchen nur zu «kosten und sehen, wie gut Gott ist».
Das tun wir mit allen unseren Sinnen.
Mit allem, was wir schmecken oder berühren, riechen, hören oder sehen, kann Gottes Liebe uns nähren.
Denn das eine erschaffende und erlösende Wort[1] wird uns immer wieder auf neue Weisen zugesprochen.
Gott, der die Liebe ist, hat in alle Ewigkeit nichts anderes zu sagen als «Ich liebe dich!»
Gott sagt das auf immer neue Weisen durch alles, was ins Sein kommt. Wir aber «essen das alles auf»; oder wie wir von einem Buch sagen: «Ich habe es geradezu verschlungen, von Anfang bis Ende!»
Wir assimilieren diese Nahrung und sie wird unser Leben.
Wir leben aus ihrer Kraft. Wir werden Wort. [Auf dem Weg der Stille (2016), 32f.]
Schweigen ‒ der Schlüssel zum Gebet der Stille
Eine vollkommen andere innere Welt des Gebets, in der ich mich auch daheim fühle, ist die, zu der das Schweigen die Tür öffnet ‒ das nicht nur von den Ohren wahrgenommene Schweigen, sondern auch die Stille des Herzens, das lichtvolle innere Stillsein, das der Stille eines windstillen Tages mitten im Winter gleicht.
Dieses Schweigen glänzt wie jungfräulicher Schnee im Sonnenlicht.
Das ist dann wie an Tagen, an die ich mich noch aus meiner Kindheit in den österreichischen Alpen erinnere.
Oder es ist wie das Schweigen zwischen einem aufzuckenden Blitz und dem auf ihn folgenden Donnergrollen, also in der kurzen Zeit, in der man den Atem anhält.
Auf einer Insel in Maine in Neuengland fand ich einmal an der Granitküste kleine Gezeitentümpel, in denen das Wasser so still und klar stand, dass ich auf ihrem Grund die feinen, wie festliche Wimpel wehenden Fasern von Seeanemonen sehen konnte.
Noch viel durchsichtiger ist der innere Raum, den das Schweigen erschließt.
Den Schlüssel dazu finde ich nicht immer, aber wenn, dann trete ich einfach ein.
Schon das bloße Darinsein ist Gebet. [Auf dem Weg der Stille (2016), 16f.]
Die buddhistische Dimension im «Gebet der Stille»
Die Betonung des Wortes ist in der christlichen Spiritualität sehr stark. Deswegen sind sich sogar manche gläubige Christen kaum dessen bewusst, dass es innerhalb ihrer eigenen Tradition auch noch andere Gebetswelten zu erkunden gibt.
Eine von ihnen ist als das «Schweigegebet» bekannt.
Dabei wird das Schweigen selbst für uns zum Gebet.
C. S. Lewis war im Einklang mit der altchristlichen Tradition, als er von Gott als einem ‹Abgrund des Schweigens› sprach, in den hinein wir immer und immer wieder unser ganzes Denken werfen können und nie ein Echo zurückkommen hören werden.
Aber dieser schweigende Abgrund ist paradoxerweise zugleich auch der göttliche Schoß, aus dem das ewige Wort hervorkommt.
Ein frühchristliches Sprichwort bringt das so zum Ausdruck:
«Wer Gottes Wort zu hören vermag, kann auch Gottes Schweigen hören.»
Beides ist untrennbar verbunden.
Heute gibt es immer mehr Christen, die von sich aus das Schweigegebet entdecken. Zuweilen können sie sich ihren Hunger nach Schweigen gar nicht richtig erklären, diesen tiefen Wunsch danach, sich einfach in die stille Tiefe Gottes hineinsinken zu lassen.
Sie sind sich gar nicht dessen bewusst, dass sie von allein ihren Weg in einen uralten, zeitlos gültigen Bereich des christlichen Gebets gefunden haben.
Sie würden sich noch mehr wundern, wenn sie erfahren würden, dass sich dieser Bereich tatsächlich als die buddhistische Dimension der biblischen Tradition bezeichnen lässt. Dabei sind das Wort und das Schweigen, wie bereits erwähnt, untrennbar miteinander verbunden. [Auf dem Weg der Stille (2016), 33f.]
Verstehen im Tun ‒ der Schlüssel zum Gebet Kontemplation im Handeln
Der Schlüssel zu einer dritten Innenwelt ist das Tun, das liebevolle Tun.
Der Unterschied zwischen dem Gebet des Tätigseins, und diesem Schweigen oder Wort ist tatsächlich riesig.
Hier bin ich mit Gott nicht durch Hören und Antworten und auch nicht durch Eintauchen ins Schweigen in Kontakt, sondern durch Tätigsein.
Alles, was ich mit Liebe zu tun vermag, kann zum Gebet des Tätigseins werden.
Es ist zudem gar nicht notwendig, dass ich während der Arbeit oder beim Spielen an Gott denke. Zuweilen dürfte das sowieso kaum möglich sein.
Wenn ich zum Beispiel ein Manuskript korrigiere, ist es besser, ich konzentriere mich ganz auf den Text statt auf Gott. Wäre mein Geist zwischen beidem hin und her gerissen, so würden mir die Druckfehler wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz schlüpfen. Gott wird genau in der liebevollen Aufmerksamkeit anwesend sein, die ich der mir anvertrauten Arbeit zuwende.
Indem ich mich voll und liebevoll dieser Arbeit widme, gebe ich mich voll und ganz Gott hin.
Das geschieht nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Spiel, etwa wenn ich Vögel beobachte oder einen guten Film ansehe.
Wenn ich mich in Gott darüber freue, wird sich bestimmt auch Gott in mir darüber freuen.
Macht nicht diese Kommunion, diese innige Verbindung das Wesen des Gebets aus? [Auf dem Weg der Stille (2016), 17f.]
Die hinduistische Dimension im Gebet «Kontemplation im Handeln»
Genau wie man das Stillegebet als die buddhistische Dimension der christlichen Spiritualität bezeichnen kann, so lässt sich die Kontemplation im Handeln als deren hinduistische Dimension bezeichnen.
Zugegeben, dies alles stelle ich aus meiner eigenen Sicht vor, die christlich ist. Aber welche andere Wahl hätte ich denn?
Würde ich versuchen, völlig von meiner eigenen religiösen Sinnsuche abzusehen, so würde ich die Berührung mit genau der Wirklichkeit verlieren, die ich genauer erkunden möchte.
Ich wäre dann wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen und genauso wenig Freude, Leben oder Religion.
Es ist nichts Falsches daran, wenn man vom Inneren einer Tradition her spricht, solange man nicht seine eigene Sichtweise verabsolutiert, sondern diese in ihrer Beziehung zu allen anderen sieht. [Auf dem Weg der Stille (2016), 39f.]
[Ergänzend:
1. Film: Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), sowie die Transkription von Werner Binder †:
«Beten ist wie in einen Raum eintreten.»
«Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.»
2. Audios:
2.1. Audio-Vortrag Fragen in Wendezeiten (2010)
Fragerunde
(16:10) Drei Welten des Gebetes: Das Gebet der Stille – ‚Vom Wort Gottes leben‘ – ‚Contemplatio in actione
2.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 9f.:
(48:28) «Und wir haben in unserer westlichen Tradition, diese drei Wege, uns mit dem Göttlichen auseinanderzusetzen, in den drei großen Welten des Gebetes.
Da gibt es das Gebet der Stille:
Da lassen wir uns einfach nur hinab, in die Tiefe, in die Tiefe des Schweigens.
Das ist unsere westliche Art des Buddhismus. Denn im Buddhismus geht alles um das Schweigen. Wir können uns das schwer vorstellen, aber wer Buddhismus studiert, findet, dass im Buddhismus das Schweigen so wichtig ist wie bei uns das Wort.
(49:14) Und dann haben wir die ‹Amen-Traditionen› das Judentum, das Christentum und den Islam. Ich nenne sie ‹Amen-Traditionen›, weil die das Wort ‹Amen› alle gemeinsam haben.
Das ist sehr wichtig, denn Amen ist die Antwort auf die ‹Amunah› Gottes, und die ‹Amunah› Gottes ist die Verlässlichkeit. Amen ist der letzte tiefste Ausdruck des Glaubens:
‹Wir verlassen uns› ‒schön ausgedrückt im Deutschen ‒, ‹auf die Verlässlichkeit Gottes›, auf die ‹Amunah›.
Das Gebet, das für diese Traditionen gilt, ist: ‹Vom Worte Gottes leben›.
Jedes Wort Gottes ist lebensspendend.
Alles, was es gibt, ist Wort Gottes.
Und jeder von uns ist ein Wort Gottes, ein ganz einzigartiges Wort Gottes. Und wir unterscheiden uns von den anderen Worten Gottes dadurch, dass wir erst das Wort Gottes werden müssen. Durch unsere eigene Hingabe.
Ein Hund spricht immer gütig, liebend ein vollkommenes Wort Gottes.
Derjenige, der den Hund an der Leine führt, muss erst dieses Wort Gottes werden.
Da können uns die Hunde viel lehren. Auch die Katzen übrigens und die Kühe. Wir können sehr viel von den Tieren lernen.
Wir müssen das Wort werden:
Das ist eine weitere Welt des Gebetes: ‹Vom Wort Gottes leben›.
(50:54) Und das dritte heißt traditionell ‹Contemplatio in actione›, das heißt, durch das Tun Gott finden. Durch das Tun Gott finden. Und nicht während des Tuns, sondern: Im Tun.
So liebend, so lebendig, so kreativ im Handeln, dass Gottes Liebe, Gottes Lebendigkeit, Gottes Schöpferkraft durch uns durchfließt.
Und jeder von uns kann das tun, nicht nur die großen Künstler und großen Musiker, sondern jeder von uns ist dazu aufgerufen, dieses Gebet zu beten.
Und wir können es, indem wir liebend und schöpferisch handeln, was immer unsere Aufgabe ist.
Und so wie das Gebet der Stille uns mit den Buddhisten verbindet, so verbindet uns, das Gebet: ‹Vom Wort Gottes leben›, mit den anderen ‹Amen-Traditionen›, mit den Juden und mit den Muslimen. Und die ‹Contemplatio in actione›, mit dem Hinduismus.
2.3. Audio-Vortrag Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(28:29) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in drei Gebetsformen: ‚Vom Worte Gottes leben‘: Wir selber sind Wort Gottes, ausgesprochen und angesprochen und müssen das werden, was wir sind / (31:08) Das Gebet der Stille und Gott im Tun finden (‚Contemplatio in actione‘) / (33:10) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens im Unterschied zum Pantheismus.
2.4. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993):
Vortrag:
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: Das ist es in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita).
3. Weitere Texte:
3.1. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 67-78, 79-80:
In diesem Seminar geht Bruder David ebenfalls auf die drei Innenräume des Gebetes ein und setzt das Gebet der Stille in Beziehung zum Glauben, das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Beziehung zur Hoffnung und Kontemplation im Handeln in Beziehung zur Liebe.
3.2. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«Dazu muss man zunächst auf die drei großen Welten des Gebetes hinweisen, die es in der christlichen Tradition gibt:
Das Gebet der Stille, von dem C.S. Lewis sagt, ‹wenn wir unsere Gedanken immer und ewig in diesen Abgrund der Stille hinabwerfen, der Gott ist, werden wir nie ein Echo zurückhören›. Das ist das Gebet der Stille, nichts darüber zu sagen. Aber eine ganze Welt des Gebets in der christlichen Tradition, eine ganz wichtige.
Die zweite ist, vom Worte Gottes leben, die Liebe Gottes durch alles zu erfahren, das ist vom Wort Gottes leben.
Und das dritte ist Contemplatio in actione, die Aktion, das Tun, und zwar nicht Kontemplation üben, während wir etwas tun – das kann sehr gefährlich werden, wenn es etwas Heikles ist, was wir tun und wir haben unsere Gedanken irgendwo anders –, sondern im Tun Gott finden. Im liebenden Tun erleben wir von innen her die Liebe Gottes, die durch uns fliesst. Und das ist Contemplatio in actione.»
3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:
Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)
Stillehalten Das Gebet der Stille in Beziehung zu Hoffnung
Kontemplation im Handeln in Beziehung zu Liebe
3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67
In diesem Vortrag geht Bruder David grundlegend ein auf die drei Dimensionen Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen im Tun in denen wir Sinn erfahren. Bruder David führt uns ein in eine Gesamtschau, mit der wir die Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten aller religiösen Traditionen erfassen können.
Die Gesamtschau, die Bruder David eröffnet, weitet unser Beten in einen Resonanzraum mit der Menschheit zu allen Zeiten und Religionen weltweit. Der Blick auf die Unterschiede und das Verbindende der Religionen weitet, vertieft und stärkt unser eigenes Beten.
Bruder Davids Gesamtschau weitet uns selber: wir spüren, wie sehr unser Durst nach Sinn uns in diese drei Erfahrungsräume zieht und wir aus ihrer Weite und Kraft leben wollen. Und in diesem Spüren werden unsere Gebete zum Gebet, nach dem wir uns sehnen.
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens[2] folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.»
«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben.› Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben.» (38)
«In Dankbarkeit vom Worte Gottes leben, das ist bei weitem die am vielfältigsten gepflegte Form unseres Gebetes in der biblischen Tradition. Aber es gibt auch bei uns, und darauf haben wir im Bezug auf den Buddhismus hingewiesen, das Gebet der Stille, das Sich-Versenken ins Mysterium. Buddhisten erkennen sehr gut, dass das Gebet der Stille in der christlichen Tradition unsere buddhistische Dimension sei. Sie sagen etwa von Johannes vom Kreuz: Das ist ein Buddhist! ‒ Warum auch nicht?
Nun kommt aber zu diesem Gebet der Stille und zu dem ‹Vom Worte Gottes leben› die meditatio in actione, das Gott im Tun finden hinzu. Diese drei sind ja gar nicht voneinander zu trennen.
Weil unser Gebetsleben Teilnahme ist am Leben des dreieinigen Gottes, sind diese drei Dimensionen bei aller möglichen Unterschiedlichkeit der Akzentsetzung untrennbar miteinander verbunden in unserem Gebet.
Nur so kann unser Herz in Wort, Schweigen und Verstehen[3] jenen tiefsten Sinn finden, nach dem es so dürstet.
Nur so können wir eintreten in das Geheimnis des lebendigen Gottes, von dem Paulus sagt, dass wir in ihm leben, uns bewegen und sind.» (56f.)]
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[1] Martin Buber in der Erzählung von Rabbi Sussja
[2] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)
[3] «… Das wahre Selbst ist also das erkennende Selbst, das selbst nicht mehr erkannt werden kann, denn das Erkennen kann zutiefst nur im Vollzug der Erkenntnis erkannt werden.
Das ist nun das Entscheidende; das Verstehen ist jene Tätigkeit, die wir nur im Vollzug verstehen können. Was es heißt zu verstehen, das müssen wir von innen her verstehen. Es von außen her verstehen ist noch kein richtiges Verstehen des Verstehens. Man versteht nur, was verstehen heißt, indem man eben etwas versteht. Aber dieses Etwas ist nicht das Verstehen selbst. Der Sehende sieht ja nicht sein Sehen. Es geschieht im Sehen, dass wir sehen, es geschieht im Verstehen, dass wir verstehen. Indem wir uns ergriffen dem Wort hingeben und uns so in das Schweigen führen lassen, erkennen wir im lebendigen Vollzug des Verstehens unser wahres Selbst. Das Verstehen ist unser innerstes Selbst als lebendiger Vollzug.» (53)
Religionen ‒ drei Innenwelten
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Da jede religiöse Tradition Ausdruck der ewigen Suche des menschlichen Herzens nach Sinn ist, zeichnen diese drei Aspekte des Sinns ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ auch die Weltreligionen aus.
Alle drei stecken in jeder Tradition, weil sie für den Sinn wesentlich sind, aber wir können damit rechnen, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen.
In den Urreligionen ‒ zum Beispiel der Einwohner Afrikas oder Ureinwohner Amerikas ‒ werden unsere drei Sinn-Aspekte immer noch ziemlich gleichstark betont und in Form von Mythen, Ritualen und Anweisungen zum richtigen Leben miteinander verwoben.
Aber mit dem Herauswachsen der westlichen Traditionen Judentum, Christentum und Islam und des Buddhismus und Hinduismus aus der Urmatrix der Religion wurde die Betonung jeweils stärker auf Wort, Schweigen oder Verstehen gelegt; allerdings spielen in jeder Tradition immer auch alle diese drei Elemente ihre Rolle.
Ich möchte mit meiner eigenen Tradition ‒ der christlichen ‒ anfangen, um ein (notwendigerweise nur grobes) Schema zu skizzieren, das uns helfen könnte, die Vielfalt der religiösen Traditionen ermessen und ihre Beziehung zueinander schätzen zu lernen.
Man braucht sich keine große Mühe zu geben, um zu sehen, wie stark im Christentum ‒ ja in der ganzen biblischen Tradition ‒ die Betonung auf dem Wort liegt.
Gott sprach und die Welt wurde erschaffen.
Das ist eine mythische Art und Weise, die Weltsicht der Bibel zum Ausdruck zu bringen:
Alles, was existiert, lässt sich als Wort Gottes verstehen. Diese Vorstellung ist derart zentral, dass man zu Recht sagen könnte, die Religionen Judentum, Christentum und Islam seien alle drei wie in einem Samenkorn in der Aussage «Gott spricht» enthalten.
In einer der chassidischen Erzählungen, die Martin Buber überliefert hat, kommt recht deutlich zum Ausdruck, welchen Vorrang in der westlichen religiösen Tradition das Wort hat.
Von Rabbi Sussja, einem der großen chassidischen Mystiker, wird erzählt, er sei nicht imstande gewesen, sich die Predigten seines Lehrers zu merken. In der Erzählung wird dieses bedenkliche Unvermögen folgendermaßen erklärt:
Rabbi Sussjas Lehrer hatte die Gewohnheit, vor seinen Predigten immer zuerst einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift vorzulesen. Der Lehrer begann also damit, die Tora-Rolle aufzurollen, «Und Gott sprach» zu sagen und dann mit Lesen zu beginnen.
Aber an diesem Punkt ‒ als der Lehrer erst gesagt hatte: «Und Gott sprach» ‒ hatte der arme Rabbi Sussja bereits mehr gehört, als er aushalten konnte. Er begann sich so wild zu gebärden, dass man ihn aus der Synagoge führen musste. Da stand er dann im Flur oder im Holzschuppen und schrie: «Und Gott sprach! Und Gott sprach!» Das reichte ihm schon.
Martin Buber vermutet, dass Rabbi Sussja den Sinn von Gottes Wort tiefer als alle diejenigen verstand, die sich den Inhalt der Predigten ihres Lehrers merken konnten. Er schreibt: «Mit einem Worte kann man die Welt erheben, mit einem Worte kann man die Welt entsühnen.[1] [Auf dem Weg der Stille (2016), 30-32]
Genau wie das Wort den Kern der abendländischen Tradition ausmacht, ist ja das Schweigen der Kern des Buddhismus [Bruder David im Film: Wort und Stille (2019)]:
Nirgends kommt das deutlicher zum Ausdruck als im Bericht von der großen wortlosen Predigt des Buddha. Kann es denn eine Predigt ohne Worte geben?
Der Buddha hielt einfach nur eine Blume in der Hand.
Es heißt, lediglich einer seiner Jünger habe verstanden.
Aber wie konnte dieser ohne ein Wort beweisen, dass er verstanden hatte?
In der Erzählung heißt es, er habe gelächelt.
Der Buddha lächelte zurück und im Schweigen zwischen ihnen beiden ging die Tradition vom Buddha auf seinen ersten Nachfolger über, nämlich dem Jünger, der verständnisvoll gelächelt hatte.
Uns wird erzählt, dass seit damals die Tradition des Buddhismus immer im Schweigen weitergegeben wird.
Oder um es richtiger zu sagen: Was weitergegeben wird, ist das Schweigen.
Das heißt durchaus nicht, dass die Buddhisten kein heiliges Wort hätten; aber der Schwerpunkt liegt bei ihnen ganz auf dem Schweigen.
Tatsächlich sind ihre heiligen Schriften derart umfangreich, dass man einen ganzen Tag lang brauchen würde, um sie nur einmal durchzublättern. In buddhistischen Klöstern tut man das rituell und mit großer Ehrfurcht mindestens einmal jährlich.
Aber dennoch kann ein guter Buddhist angesichts all dieser Schriften sagen: «Verbrennt sie alle!» Natürlich wird sie niemand verbrennen. Das ist also recht bezeichnend.
Doch schon allein die Aufforderung, sie alle zu verbrennen bringt die tiefe Überzeugung zum Ausdruck, dass dem Schweigen keine Worte im Weg sein dürfen.
Aus dem gleichen Grund können Buddhisten auch sagen: «Wenn du unterwegs dem Buddha begegnest, töte ihn!»
Ein mir bekannter katholischer Priester, der von der allgemeinen Gültigkeit dieser buddhistischen Einsicht überzeugt war, versuchte das seinen Gemeindemitgliedern zu erklären und formulierte: «Wenn du Christus begegnest, töte ihn!» Mit dieser Predigt kam er ‒ verständlicherweise ‒ nicht recht an, obwohl sich diese gleiche Einsicht, wenn auch weniger stark ausgedrückt, zum Beispiel auch im Johannesevangelium findet.
Wir müssen einfach die Tatsache respektieren, dass die Christen bei ihrer Sinnsuche sich so hartnäckig dem Wort widmen wie die Buddhisten dem Schweigen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 34-36]
«Yoga ist Verstehen», sagt Swami Venkatesananda aus tiefer Einsicht in das, was den Hinduismus ausmacht.
Genau wie sich Juden, Christen und Muslime bei ihrer Sinnsuche auf das Wort konzentrieren und die Buddhisten auf das Schweigen, so konzentrieren sich Hindus auf das Verstehen.
Es sei an das erinnert, was hier schon über das Verstehen gesagt wurde: Es ist der Prozess, in dessen Verlauf das Schweigen ins Wort findet und das Wort ins Schweigen heimfindet.
Das liefert uns den Schlüssel zur zentralen Intuition des Hinduismus: Atman ist Brahman ‒ der manifeste Gott (das Wort) ist der nichtmanifeste Gott (das Schweigen) ‒ und Brahman ist Atman ‒ das göttliche nicht Manifeste (das Schweigen) ist das manifeste Göttliche (das Wort).
Zu wissen, dass das Wort Schweigen ist und das Schweigen Wort ‒ unterschieden, aber ungetrennt und untrennbar verbunden, jedoch ohne Vermischung ‒, das ist Verstehen.
Das Sanskrit-Wort Yoga und das englische Wort yoke («Joch») haben die gleiche sprachliche Wurzel, die «verbinden» bedeutet. Yoga in allen seinen verschiedenen Formen ‒ Dienst, Einsicht, ‒Frömmigkeit usw. ‒ ist die Handlung, bei der Wort und Schweigen durch Verstehen miteinander verbunden werden.
Im Hinduismus weiß man, dass dieses Verstehen nur durch Tun zustande kommt.
In der Bhagavad-Gita wird Prinz Arjuna mit einem Rätsel konfrontiert, das er wahrscheinlich gar nicht lösen kann. Der Glaube hat ihn in eine Situation gebracht, in der es seine Pflicht ist, eine gerechte, aber grausame Schlacht gegen seine eigenen Verwandten und Freunde zu führen. Wie kann ein friedliebender Prinz dieses Dilemma sinnvoll lösen? Sein Wagenlenker, der als Krishna verkleidete Gott Vishnu, kann ihm nur den Rat geben: Tu deine Pflicht, und im Tun wirst du verstehen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 37-39]
Zugegeben, dies alles stelle ich aus meiner eigenen Sicht vor, die christlich ist. Aber welche andere Wahl hätte ich denn?
Würde ich versuchen, völlig von meiner eigenen religiösen Sinnsuche abzusehen, so würde ich die Berührung mit genau der Wirklichkeit verlieren, die ich genauer erkunden möchte.
Ich wäre dann wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen und genauso wenig Freude, Leben oder Religion.
Es ist nichts Falsches daran, wenn man vom Inneren einer Tradition her spricht, solange man nicht seine eigene Sichtweise verabsolutiert, sondern diese in ihrer Beziehung zu allen anderen sieht.
Hier sei an das früher über unsere Gipfelerfahrungen Gesagte erinnert, also über unsere kurzen Augenblicke des Aufblitzens von Sinn und unseren spontanen Ausruf:
«Das ist es!»
Die christliche Sichtweise verrät sich dadurch, dass sie das erste Wort dieses kurzen Satzes betont:
«Das ist es!»
Die Begeisterung über die Entdeckung, dass «Gott spricht» und dass alles Wort Gottes ist, lässt uns immer und immer wieder ausrufen:
«Das ist es!», und immer wieder «Das ist es», sooft uns ein weiteres Wort verblüfft, das Sinn offenbart.
Im Buddhismus ist das anders. Die Buddhisten verblüfft nämlich stattdessen das große Schweigen, das in einer so großen Vielzahl und Verschiedenheit von Worten zu Wort kommt.
Deswegen ruft der Buddhist aus:
«Das ist es!»; und das und das und das, jedes einzelne aller dieser Worte ist immer es, ist immer das eine große Schweigen.
Außerdem brauchen wir den Hinduismus, um uns daran zu erinnern, dass das, worauf es wirklich ankommt, ist, dass dies es ist ‒ das Wort Schweigen ist und Schweigen das Wort ist ‒ und darin das wahre Verstehen liegt.
Diese Sichtweisen ergänzen einander also gegenseitig.
Indem wir andere Sichtweisen schätzen, lernen wir die unsrige weiten, ohne sie zu verlieren.
In Wirklichkeit vertieft sich durch den Kontakt mit anderen für uns das Verständnis unserer eigenen Tradition.
So könnten Christen zum Beispiel das Geheimnis des dreieinigen Gottes im Muster von Wort, Schweigen und Verstehen gespiegelt sehen.
Gott, den Jesus «Vater» nennt, lässt sich auch als der mütterliche Schoß des Schweigens verstehen, aus dem vor aller Zeit das ewige Wort geboren wurde, indem durch Gottes Selbst-Verständnis das Schweigen zu Wort kam.
Das Wort wiederum, also der Sohn, führte gehorsam den Willen des Vaters aus, und indem er das tat, kehrte er durch das Verstehen, das vollkommene Liebe ist, also durch den Heiligen Geist, zu Gott zurück.
Erinnern wir uns an die Metapher des heiligen Gregor von Nyssa für die wechselseitige Bezogenheit der Dreifaltigkeit.
Tatsächlich hat man sich ab der Zeit der kappadokischen Väter, dieser großen Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, bis zu den Shakern im 19. Jahrhundert in der christlichen Tradition diese innertrinitarischen Beziehungen wie einen großen Reigentanz vorgestellt.
Christus, der große Anführer des kosmischen Tanzes, sprang vom himmlischen Thron, «während tiefes Schweigen alles umfing» (Weish 18,14), und tanzend führt er die gesamte Schöpfung in der Kraft des Heiligen Geistes zu Gott zurück. [Auf dem Weg der Stille (2016), 39-41]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 9f.
1.2. Audio-Vortrag Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(20:41) Sinn finden in den drei Bereichen: Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen / (24:00) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in den Weltreligionen: Das Wort ‚Amen‘, die Antwort auf die ‚amunah‘, die Verlässlichkeit Gottes, in den westlichen Amen-Traditionen Judentum, Christentum und Islam / (25:21) Das Schweigen im Buddhismus und das Verstehen im Hinduismus / (33:10) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens im Unterschied zum Pantheismus
1.3. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(35:56) Die unterschiedliche Betonung von Wort – Schweigen – Verstehen durch Tun in den verschiedenen Weltreligionen: Zunächst die Ausrichtung auf das Wort in den Amen-Traditionen Judentum, Christentum, Islam: Rabbi Sussja in der Deutung von Martin Buber und einem Axiom von Thomas von Aquin / (40:31) Das Schweigen im Buddhismus: Die Blumenpredigt des Buddha / (44:19) Das Verstehen durch Tun im Hinduismus: ‚Yoga ist Verstehen‘ (Swami Satchidananda) und der Prinz Arjuna in der Bhagavad Gita – ‚Wer bereit ist, den Willen Gottes zu tun, wird erkennen‘ (Joh 7,17) – ‚Du wirst nur durch die Tat erfasst‘ (Rilke)
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: Das ist es in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita) / (51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind
2. Weitere Texte
2.1. In Meine wichtigste Erfahrung in der Begegnung mit anderen Religionen (2018) fasst Bruder David zusammen, wie wir ‒ ausgehend von unserer Sinnfindung ‒ die Vielfalt der religiösen Traditionen, die drei Innenwelten des Gebetes und des Geheimnisses der Dreifaltigkeit in einer Zusammenschau erfahren können, wenn uns der essentielle Zusammenhang wie auch der Unterschied von Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen durch Tun in seiner Dichte und Fülle aufgeht.
2.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 159-162:
Bruder David beendet das Seminar mit einem Schlussakkord, in dem alle spirituellen Traditionen der Welt mit ihrem eigenen Ton mitschwingen.
2.3. Im Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«Das Gottesbild, das jetzt auftaucht und sich hier entfaltet, ist nicht mehr ausschließlich auf Überlieferung gegründet, sondern weitgehend auf persönliche Erfahrung. Und in diesem Gottesbild, in einem ganzheitlichen Bewusstsein, ist Gott ‹mir näher, als ich mir selber bin›.
Worum handelt es sich bei dieser Ur-Erfahrung? ‒ das ist unsere erste Frage. Und die zweite ist, wie drückt sich dann diese Ur-Erfahrung in den Religionen aus? Die dritte ist ganz praktisch, wie können wir diesem Ziel unserer religiösen Ur-Sehnsucht näherkommen?»
2.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67
In diesem Vortrag geht Bruder David grundlegend ein auf die drei Dimensionen Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen im Tun in denen wir Sinn erfahren. Bruder David führt uns ein in eine innere Schau, mit der wir die Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten aller religiösen Traditionen erfassen können:
«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit[2]. Wir werden dadurch sehen, wie alles das hinzielt auf das innerste Geheimnis des Christentums, nämlich das Geheimnis der Trinität. Und erst von dort, von unserem eigensten Zentralgeheimnis aus können wir hoffen, irgendwie zu verstehen, dass andere Traditionen der Menschheitsgeschichte ebensosehr im Schweigen das Zentrum ihrer Sinnsuche finden oder in der Ergriffenheit, wie wir es im Wort finden.» (16f.)
«Es ist daher auch klar, dass keine dieser Traditionen die andere ausschließt. Man kann nicht einmal sagen, dass die drei sich gegenseitig ergänzen, sie sind vielmehr interdimensional miteinander. Wenn man die eine hat, hat man auch schon die anderen.»
(S. 50)
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens[3] folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]
__________________________
[1] Martin Buber, «Die Erzählungen der Chassidim», Zürich 1949, 375
[2] Ergriffenheit im Unterschied zum Begreifen ist Verstehen in Ergriffenheit, liebendes Verstehen im Tun: «Was geschieht denn eigentlich, wenn wir verstehen? Wir hören ein Wort, öffnen uns dem Wort, stellen uns diesem Wort; das Wort ergreift uns, ergreift uns bis zur Sprachlosigkeit, wenn es uns wirklich zutiefst ergreift, und führt uns dadurch in das Schweigen. Verstehen ist also ein dynamischer Vorgang, der Wort und Schweigen miteinander verbindet.» (49f.)
[3] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)
Religionen ‒ drei Ausdrucksformen
Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Die Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen, lautet: Wie kommt man von der mystischen Erfahrung zur etablierten Religion?
Meine Antwort heißt kurz und knapp: unvermeidlich. Unvermeidlich macht diesen Prozess der Umstand, dass wir mit unserer mystischen Erfahrung das tun, was wir mit jeder Erfahrung tun: Wir versuchen sie zu verstehen; wir entscheiden uns für oder gegen sie; wir bringen unsere Gefühle bezüglich ihrer zum Ausdruck. Sobald man das mit seiner mystischen Erfahrung tut, hat man alle Elemente für die Gründung einer Religion beisammen. Das lässt sich aufzeigen.
Wenn wir Augenblick um Augenblick dieses und jenes erfahren, geht dabei unser Verstand ständig mit; er interpretiert dauernd, was wir wahrnehmen. Das ist besonders dann so, wenn wir einen dieser zutiefst sinn-erfüllten Augenblicke haben:
Unser Verstand fällt über diese mystische Erfahrung her und fängt an, sie zu interpretieren. An diesem Punkt beginnt die religiöse Doktrin. Es gibt auf der ganzen Welt keine Religion, die nicht ihre Doktrin hätte, ihre Glaubenslehre.
Und es gibt keine religiöse Doktrin, deren Wurzeln man nicht letztlich auf eine mystische Erfahrung zurückführen könnte ‒ das heißt, wenn man dafür Zeit und Geduld genug hätte, denn diese Wurzeln können recht lang und verwickelt sein.
Sogar wenn Sie sagen würden: «Meine persönliche Religion hat keine Doktrin, denn ich weiß, dass meine tiefste religiöse Wahrnehmung nicht in Worte zu fassen ist», wäre dies genau das, wovon wir sprechen: eine intellektuelle Interpretation ihrer Erfahrung. Ihre «Doktrin» wäre ein Stück der sogenannten negativen (apophatischen) Theologie[1], die man in den meisten Religionen findet.
Manche von uns haben eine stärkere Neigung zum Intellektuellen als andere und sind schneller dabei, Erfahrungen gründlich zu überdenken; aber in einem gewissen Maß tun wir das alle.
Jedoch bleibt es nicht dabei, uns bloß eine Meinung zu bilden, sondern auf deren Grundlage ergreifen wir für die eine oder andere Seite Partei; wir möchten etwas haben oder lehnen es ab.
Das tut unser Wille.
Sobald wir etwas als für uns gut erkennen, wünschen wir uns das unwillkürlich. Aus diesem Grund fangen wir an, ihm bereitwillig nachzugehen.
In dem Augenblick, in dem wir das mystische Glück des Dazugehörens zum allumfassenden Ganzen verkosten, sagen wir dazu ein bereitwilliges «Ja».
In diesem bedingungslosen «Ja» steckt die Wurzel der Moral[2].
Deswegen lassen sich alle moralischen[3] Systeme letztlich darauf zurückführen, dass man so handelt, wie man handelt, wenn man das Gefühl hat, zu etwas zu gehören.
In Interaktion mit der Welt ist immer der ganze Mensch, aber wenn die Interaktion auf das Erkennen zielt, sprechen wir vom Intellekt.
Steht das Begehren im Vordergrund, so sprechen wir vom Willen.
Der Intellekt siebt aus, was wahr ist; der Wille streckt sich nach dem aus, was gut ist.
Aber es gibt auch noch eine dritte Dimension der Wirklichkeit: die Schönheit.
Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.
Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.
Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!
Je stärker sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern. Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte. Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.
Auch das Ritual ist ein Element jeder Religion.
Und jedes Ritual auf der Welt feiert in der einen oder anderen Form das Dazugehören; es ist ein Verweis auf jenes letzte Dazugehören, das wir in Augenblicken mystischer Achtsamkeit erfahren.
Die Antwort, die wir in solchen Augenblicken geben, kommt immer aus ganzem Herzen.
Im Herzen, also im Kern der menschlichen Person, bilden Verstand, Wille und Emotionen immer noch ein integrales Ganzes.
Aber sobald die Reaktion des Herzens sich in Form von Denken, Wollen oder Empfinden ausdrückt, wird die ursprüngliche Ganzheit dieser Reaktion gebrochen.
Aus diesem Grund sind wir mit den einzelnen Ausdrucksweisen dieser tiefsten Einsichten in Wort oder Bild nie ganz zufrieden.
Genauso wenig sind es unser Wille zum Engagement für Gerechtigkeit und Frieden sowie unser Ja zum Dazugehören, selbst wenn das auf der praktischen Ebene genauso aus ganzem Herzen kommt wie in unseren Augenblicken mystischen Einsseins.
Zudem gelingt es unseren Gefühlen oft nicht, die Schönheit wirklich zu feiern, die wir einen Augenblick lang unverhüllt zu erblicken vermochten, diese Schönheit, die weiterhin durch den Schleier unserer Alltagswirklichkeit hindurchscheint.
So tragen Lehre, Moral[4] und Ritual sogar schon in diesen frühesten Knospen der Religion den Stempel unserer Unzulänglichkeiten.
Aber dennoch erfüllen sie eine ganz wichtige Funktion: So unvollkommen es sein mag, halten sie uns jedenfalls in Verbindung mit der Wahrheit, Güte und Schönheit, die uns einmal überwältigt hatten.
Das ist der herrliche, glänzende Zug jeder Religion.
Solange bei einer Religion alles seinen rechten Weg nimmt, wirken Lehre[5], Moral[6] und Ritual wie ein Bewässerungssystem und bringen aus der Quelle der Mystik immer wieder frisches Wasser ins Alltagsleben. Die Religionen sind untereinander verschieden, genau wie das auch bei Bewässerungssystemen der Fall ist. Dabei gibt es objektive Unterschiede: Manche Systeme sind einfach effizienter als andere. Aber wichtig sind auch subjektive Vorlieben. Der Mensch neigt dazu, das System besonders zu schätzen, das er gewöhnt ist; seine Vertrautheit mit ihm macht es für ihn effizienter, ganz gleich, welche anderen Modelle auch noch auf dem Markt sein mögen.
Auch die Zeit hat ihren Einfluss auf das System:
Die Rohre neigen dazu, rostig zu werden und Lecks zu bekommen, oder sie werden verstopft. Dann bleibt womöglich vom Strom aus der Quelle bloß noch ein schwaches Herauströpfeln übrig.
Glücklicherweise ist mir noch keine Religion begegnet, deren System überhaupt nicht mehr funktioniert hat.
Aber leider beginnt die Verschlechterung bereits ab dem Tag, an dem das System installiert wird.
Ganz zu Anfang ist die Doktrin einfach nur die Interpretation der mystischen Wirklichkeit; sie entspringt aus dieser und führt wieder zu ihr zurück. Aber dann beginnt der Verstand diese Interpretation zu interpretieren. Kommentare um Kommentare werden auf der ursprünglichen Lehre aufgestapelt. Mit jeder neuen Interpretation der vorherigen entfernen wir uns von der Erfahrungsquelle weiter weg.
Die lebendige Doktrin versteinert zur Dogmatik.
Ein ähnlicher Prozess spielt sich unvermeidlich auch mit der Ethik ab. Anfangs formulieren moralische Vorschriften bloß, wie man das mystische Einssein ins praktische Leben umsetzen soll. Die Vorschriften erinnern uns nur daran, dass wir so handeln sollen, wie man unter Menschen handelt, die zusammengehören, und so verweisen sie weiterhin auf unser tiefstes, mystisches Gefühl des Dazugehörens zurück.
Die Tatsache, dass eine Gemeinschaft oft einen zu engen Kreis um sich selbst zieht, steht auf einem anderen Blatt. Das ist einfach nur eine unzureichende Übersetzung der ursprünglichen Intuition. Der Kreis des mystischen Einsseins ist allumfassend.
Weil wir es zum Ausdruck bringen wollen, dass wir uns unwandelbar dem Gutsein verschreiben möchten, das uns in mystischen Augenblicken aufgeblitzt ist, meißeln wir die Moralvorschriften in steinerne Tafeln ein.
Aber indem wir das tun, machen wir den Ausdruck unserer Selbstverpflichtung unabänderlich. Wenn sich dann die Umstände ändern und nach einer neuen Ausdrucksweise dieser gleichen Verpflichtung verlangen, bleibt das, was wir tun und lassen sollten, starr im Stein eingemeißelt und lässt sich nicht ändern.
Damit wird dann aus der Moral Moralismus.
Und was passiert mit dem Ritual?
Wie wir gesehen haben, ist es zunächst eine wahre Feier. Wir feiern, indem wir uns dankbar erinnern. Alles andere ist freigestellt. Das besondere Ereignis, das wir feiern, löst einfach diese dankbare Erinnerung aus, eine Erinnerung an die Augenblicke, in denen wir uns am tiefsten unseres grenzenlosen Dazugehörens bewusst waren.
Als Erinnerungsakt und Erneuerung unseres endgültigen Verbundenseins hat jede Feier religiöse Obertöne, Echos des mystischen Einsseins. Das ist auch der Grund dafür, dass wir, wenn wir feiern, den Wunsch haben, alle, die in besonderer Weise zu uns gehören, sollten dabei anwesend sein. Auch die Wiederholung ist ein Bestandteil der Feier.
Immer wenn wir zum Beispiel einen Geburtstag feiern, wird dieser Tag angereichert mit all den Erinnerungen an die vorhergehenden Geburtstagsfeiern.
Aber das Wiederholen hat seine Gefahren, insbesondere für das Feiern religiöser Rituale. Weil diese so wichtig sind, möchten wir ihnen die perfekte Form geben. Doch ehe wir es recht merken, sind wir dann bald mehr auf die Form als auf den Inhalt bedacht.
Wenn die Form formalisiert wird und der Inhalt in Vergessenheit gerät, verkommt das Ritual zum Ritualismus.
So traurig es ist: Eine sich selbst überlassene Religion wird irreligiös.
Als ich einmal in Hawaii über einen immer noch heißen Vulkanfelsen ging, kam mir ein Bild für diesen Prozess, und zwar eines nicht mit Wasser, sondern mit Feuer. Die Anfänge der großen Religionen waren wie die Ausbrüche eines Vulkans.
Da war Feuer, Hitze, Licht: das Licht der mystischen Einsicht, die in einer neuen Lehre frischen Ausdruck fand; die Glut von Herzen voller Hingabe, die zur begeisterten Gemeinschaft wurden; und eine Feier, die feurig wie neuer Wein war. Das Licht der Lehre, die Glut ethischen Engagements, das Feuer der Ritualfeier waren Ausdrucksweisen, die glühend rot aus den Tiefen des mystischen Bewusstseins hervorquollen. Aber als dieser Lavastrom dann an den Hängen des Berges herabfloss, begann er sich abzukühlen. Je weiter er sich von seinen Ursprüngen entfernte, desto weniger sah er nach Feuer aus; schließlich gerann er zu Stein. Dogmatik, Moral, Ritual:
Das alles sind Schichten von Asche-Ablagerungen und vulkanischem Fels, die sich zwischen uns und das feurige Magma tief unten geschoben und uns von ihm getrennt haben.
Aber es gibt Risse und Spalten im geronnenen Feuerfels der alten Lavaflüsse: heiße Quellen, Gas- und Wasserdämpfe aus den Rissen und Geysire; gelegentliche Erdbeben und kleinere Vulkanausbrüche.
Sie stellen die großen Menschen dar, welche die religiöse Tradition von innen her reformiert und erneuert haben. Das ist auf die eine oder andere Weise auch unsere Aufgabe. Jede Religion hat einen mystischen Kern.
Die Herausforderung besteht darin, zu ihm vorzustoßen und aus seiner Kraft zu leben. Von daher gesehen ist jede Generation von Gläubigen aufs Neue aufgerufen, ihre Religion wieder wirklich religiös werden zu lassen. Das ist der Punkt, an dem die Mystik mit der Institution zusammenstößt.
Religiöse Institutionen brauchen wir. Gäbe es sie nicht, so würden wir sie schaffen.
Das Leben erschafft Strukturen. Man denke nur an die genialen Konstruktionen, die das Leben erfindet, um seine Samen zu schützen: alle diese Hülsen, Hüllen, Schoten, Schalen, Spelze, Kapseln, die man im Herbst an einer Hecke findet.
Wenn der Frühling kommt, knackt das Leben von innen her diese Behälter (sogar harte Walnuss-Schalen!) auf und bricht heraus. Kruste, Rinde, Schale platzen auf und fallen weg.
Unsere Sozialstrukturen dagegen haben die Tendenz, sich zu verewigen. Bei religiösen Institutionen ist es weniger wahrscheinlich als bei Samenhülsen, dass sie für das neue, in ihrem Inneren sich regende Leben aufplatzen.
Obwohl das Leben (immer und immer wieder) Strukturen erschafft, erschaffen Strukturen leider kein Leben.
Diejenigen, die am engsten mit dem Leben verbunden sind, das die Strukturen geschaffen hat, werden den größten Respekt vor ihnen haben; aber sie werden auch die ersten sein, die verlangen, dass Strukturen, die nicht länger das Leben fördern, sondern es behindern, geändert werden müssen.
Deshalb werden die am engsten mit dem mystischen Kern der Religion Verbundenen innerhalb des Systems oft zu unbequemen Aufrührern.
Wie echt ihr Anliegen ist, wird sich daran zeigen, wie groß ihr Mitgefühl und Verständnis für diejenigen ist, denen sie die Stirn bieten müssen; schließlich kommen die Mystiker aus einem Bereich, wo «wir» und «sie» ein und dasselbe ist.
In manchen Fällen sind hohe Vertreter der institutionellen Religion selbst Mystiker, wie das zum Beispiel bei Papst Johannes XXIII. der Fall war.
Das sind Männer und Frauen, die es spüren, wenn es an der Zeit ist, dass die Strukturen dem Leben Raum geben müssen.
Sie vermögen zu unterscheiden zwischen der Treue zum Leben und der Treue zu den Strukturen, die in der Vergangenheit das Leben hervorgebracht hatten, und sie setzen die richtigen Prioritäten.
Das tat zum Beispiel auch Rumi, der schrieb:
Erst wenn Treue
zum Verrat wird
und Verrat zur Treue
kann jeder Mensch
Teil der Wahrheit werden.[7]
Man beachte, dass hier «Verrat» ‒ oder das, was als solcher angesehen wird ‒ nicht der letzte Schritt ist.
Es gibt einen weiteren Schritt, bei dem der «Verrat» zur «Treue», zum Glauben wird.
Dieses Herausgehen und Zurückkommen stellt den Weg des Helden[8] dar; zugleich ist es die Aufgabe von uns allen.
Der Glaube (das heißt das mutige Vertrauen) lässt die institutionellen Strukturen los und findet sie damit auf einer höheren Ebene wieder ‒ immer und immer wieder.
Dieser Prozess ist so schmerzlich wie das Leben und genauso überraschend wie dieses.
Eine der großen Überraschungen ist die, dass das Feuer der Mystik sogar die tödliche Starre von Dogmatismus, Legalismus und Ritualismus zu schmelzen vermag.
Durch den Anblick oder die Berührung solcher, deren Herzen brennen, beginnen Doktrin, Ethik und Ritual von der Wahrheit, Güte und Schönheit ihres ursprünglichen Feuers zu glühen.
Der tote Buchstabe wird lebendig und atmet Freiheit.
Ein Uneingeweihter liest in Exodus 32,16 von «Gottes Schrift, in die Tafeln eingegraben».
Aber im hebräischen Text stehen nur die Konsonanten: «chrth». Mystiker, die zufällig Rabbis sind, sagen beim Anblick dieses Worts:
«Lies nicht ‹charath› (‹eingegraben›), sondern ‹cheruth› (‹Freiheit›)!»
Es braucht Mut und visionäre Fähigkeit dazu, über unser derzeitiges Verständnis hinauszublicken.
Kinder tun das die ganze Zeit und es fällt ihnen viel leichter als den Erwachsenen.
So schrieb zum Beispiel einmal eine Schülerin mehr, als ihr selbst dabei bewusst war: «Früher versteinerten viele tote Tiere, aber andere wurden lieber zu Öl.»
Das ist auch den Mystikern lieber. Im Leben wie im Tod nähren sie das Feuer der Religion.[9]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 9]
[Ergänzend:
1. Film
Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4-7:
(20:22) «Und diese Auseinandersetzung mit dem Geheimnis also ist, was ich Religiosität nenne. Und die drückt sich jetzt in Religionen aus. Und zwar kommen im Lauf der Geschichte tiefreligiöse Menschen immer wieder, die ihre – unsere – Begegnung mit dem großen Geheimnis durch Worte, durch eine Lehre, durch Moral – eine Ethik – und durch Rituale ihren Zeitgenossen zugänglich machen. Und eine Religion ist die kulturelle Zugänglichmachung unserer allgemeinmenschlichen Religiosität durch eine Religion eben.
Und die Religionen sind zu verschiedenen Zeiten und in ganz verschiedenen kulturellen Umfeldern entstanden und dadurch unterscheiden sie sich. Sie unterscheiden sich auch noch – ja, ja – durch alle die Eigenheiten, die da eben damit gegeben sind. Außerdem durchlaufen sie … die großen Religionen haben schon eine lange Geschichte durchlaufen und die Geschichte hat sie auch geformt und leider auch verformt in mancher Hinsicht, und zwar neigen diese drei Aspekte jeder Religion, von denen ich gesprochen hab: Die Lehre, die Moral und das Ritual neigen dazu sich zu verhärten.
Und das Bild, das ich gerne gebrauche, ist lebendiges Wasser, das da zuerst aussprüht: Aus einem Brunnen, den dieser Religionsstifter oder Religionsstifterin gebaut hat, kommt dieses lebendige Wasser hervor, aber die Atmosphäre unserer Welt ist sehr kalt und es gefriert.
Und so gefriert die Lehre und sie wird dogmatistisch: Ich hab nichts gegen Dogmen, wenn man sie richtig versteht, aber sie werden meistens missverstanden: dogmatistisch: Wir wissen, was wir damit meinen.
Die Moral wird moralistisch und versteift sich, ist eingefroren, kann sich nicht mehr mit ethischen Problemen auseinandersetzen, die erst jetzt überhaupt zustande gekommen sind, die zu der Zeit dieser Religionsstifter überhaupt nicht da waren – eine ganz andere Situation: Also muss sich auch die Moral anpassen aus der Kraft der inneren Ethik heraus.
S.H. der Dalai Lama hat ja ein Buch geschrieben: ‹Ethik ist wichtiger als Religion›, so heißt das Buch. Das ist seine Botschaft, aber damit meint er mit Ethik, was ich Religiosität nenne. Ich kann das völlig anerkennen, aber ich übersetze es und sage: Religiosität ist wichtiger als Religion. Das heißt: Lebendige Religiosität ist wichtiger als religiöse Formen. Das steht dahinter.
Das gilt eben auch für die Moral und es gilt für die Rituale: Die Rituale können auch einfrieren und niemandem mehr etwas bedeuten und müssen wieder aufgetaut werden.
Nun ist aber die große Frage: Wie kann man überhaupt eine eingefrorene Religion wieder auftauen? Und meine Antwort ist: Mit unserer eigenen Herzenswärme. Das ist das Einzige: Mit unserer eigenen Herzenswärme.»
2. Audios
2.1. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2, 5-8:
«Wie kommt man von der Religiosität zu den Religionen? Die Religionen sind ja etwas anderes. Religionen sind geschichtliche Formen, Institutionen, von denen wir uns hier umgeben wissen. Unsere Religiosität, das ist etwas ganz Innerliches. Wie kommt man von der einen zu der anderen?»
2.2. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgenaue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
Audio: Einführung, das Mehr und vier Fragen (Mitschrift):
Was ist Spiritualität und wie ist das Verhältnis zur Religion?
Audio: Die mystische Erfahrung ist religionsschöpferisch (Mitschrift):
Wie kommt man von der lebendigen Spiritualität zu den Religionen?
Audio: Das Herz der Religion ist die Religion des Herzens (Mitschrift):
Von der mystischen Erfahrung des Gründers zur Verhärtung im Laufe der Zeit
2.3. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3 in folgende Themen zusammengefasst:
(00:00) Der Zusammenhang von persönlicher Religiosität und Kirche, bzw. Religion / (01:18) Die persönliche Gotteserfahrung als Ausgangspunkt ‒ ‹Ich bin durch Dich so Ich› (E.E. Cummings) / (03:36) Vom Erlebnis zur Lehre ‒ ‹Negative Theologie› / (07:33) Vom Erlebnis zur Moral / (11:00) Vom Erlebnis zum Ritual / (12:10) Von der Lehre zu Lehrsätzen ‒ Gefahr des Dogmatismus / (14:49) Von der Moral zum Moralismus / (16:43) Vom Ritual zum Ritualismus / Religion kann irreligiös werden ohne menschliches Verschulden / (20:33) Religion wieder religiös machen ‒ Ein Wort von Karl Rahner
2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
«Wir müssen unsere Religion wieder religiös machen»
(00:00) Vom mystischen Erlebnis zur Lehre, Moral und Ritual: Wie der Verstand, der Wille und die Gefühle tätig werden und die Religionsgemeinschaft entsteht
(08:17) Wenn der Inhalt vergessen wird und die Formen verkalken: Dogmatismus, Moralismus, Ritualismus und unsere Aufgabe
(14:24) Die Last der Wirkungsgeschichte illustriert an drei Beispielen aus der Dogmatik, einer Stelle aus dem Galaterbrief (Gal 3,28) und dem Abendmahlsstreit
(21:56) Wo und wie bin ich in Gefahr zu verkalken?
(47:11) Immer wieder aufs Herz zurückkommen: Herz meint den ganzen Menschen, unsern ganzen Verstand, unsere ganze Gefühls- und Willenskraft
3. Texte
3.1. Im Buch: Orientierung finden (2021), 66-70:
«Vielleicht erhebt sich hier die Frage: Muss Religiosität sich in Religion ausdrücken?
Die Erfahrung zeigt, dass sich dies unvermeidlich immer wieder ereignet. Natürlich nicht unbedingt in den spezifischen Formen dieser oder jener Religion, unvermeidlich aber in einer Reihe von Formen, die für jede Religion typisch sind.
Führen wir uns diesen Prozess an einem Beispiel vor Augen. Erinnern wir uns an einen Augenblick höchster Lebendigkeit. Was immer die äußeren Umstände sein mögen ‒ und diese können ganz alltäglich sein ‒, das Geheimnis ergreift uns und einen zeitlosen Augenblick lang erleben wir beseligendes All-Eins-Sein mit uns selbst und mit dem All.
Solange dieses Erlebnis andauert, denken, wollen oder fühlen wir nichts ‒ oder vielleicht sollten wir sagen: Denken, Wollen und Fühlen sind ununterscheidbar eins in der allumfassenden Einheit unsres Erlebens.
Aber schon im nächsten Augenblick löst sich unser Denken aus dieser Einheit heraus und macht sich selbständig.
Unser Verstand fragt ‹Was war das?›
Nun haben wir aber etwas erlebt, was sich nicht in Begriffe fassen lässt. Wie sollen wir also darüber sprechen? Wie können wir uns selbst klarmachen, was wir erlebt haben, und die Freude daran mit andren teilen?
Dichtung ist der Ausweg, den Menschen in dieser Lage immer wieder finden. Nur Dichtung kann Ahnungen ausdrücken, die nur wie ein Duft an den Worten hängen.
So reden wir also über Begegnungen mit dem Geheimnis ‒ denn darum geht es ja hier ‒ immer, indem wir vertraute Begriffe verwenden, sie aber dichterisch überhöhen.
Darin liegt der Keim für die Lehre, für das intellektuelle Element jeder Religion.
Wenn wir vergessen, dass alle Texte, die über das Geheimnis sprechen, symbolisch zu verstehen sind, also nicht wörtlich, dann sind wir schon auf dem Holzweg.
So hat zum Beispiel der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide (1922-1997) treffend gesagt:
‹Man kann die Bibel ernst nehmen oder wörtlich, beides zusammen ist nicht möglich.›
Ähnlich gilt das von den heiligen Schriften aller Religionen.
Sobald unser Verstand einige Klarheit über das eben Erlebte erreicht hat, kommt nun auch unser Wille unweigerlich zum Zug.
Er konzentriert sich auf die Glückseligkeit der All-Zugehörigkeit, die wir in unsrem Augenblick höchster Lebendigkeit erfahren haben, und setzt sich zum Ziel, nach diesem Glück zu streben:
‹Ja, so möchte ich leben, in der Freude völliger Zugehörigkeit aller zu allen!›
In diesem ‹Ja›, mit dem unser Wille sich auf Zugehörigkeit ausrichtet, liegt der Keim jeder Moral.[10]
Unter Moral verstehen wir hier die Form, in der die Ethik sich in einer bestimmten Kultur ausdrückt. Die Formen jeder Religion gehören ja der einen oder der andren Kultur an, also auch ihre Moral. Es kann sogar vorkommen, dass unethische Elemente einer Kultur unversehens in ihre religiöse Moral aufgenommen werden.
So sehr sich auch Moralsysteme voneinander unterscheiden, ja einander manchmal zu widersprechen scheinen, sie alle sagen auf ihre Weise:
So verhält man sich denen gegenüber, denen man angehört.
Sie unterscheiden sich nur durch die Weite des Kreises ihrer Zugehörigkeit. Im Laufe der Geschichte wurde dieser Kreis im Bewusstsein der Menschen weiter und weiter.
In unsren Tagen ist bereits jede Ausschließlichkeit unmoralisch geworden.
Nichts darf mehr ausgeschlossen werden.
Nicht nur allen Menschen schulden wir ethisches Verhalten, sondern auch allen Tieren, Pflanzen und sogar der ganzen unbelebten Natur.
Wie Religiosität sich in Religion ausdrückt, drückt Ethik sich in Moral aus.
Ethik, wie wir den Begriff hier verwenden, ist unsre Verantwortung vor dem großen DU, Moral ist der Versuch, unsre ethische Verantwortung in einer konkreten Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Wenn S.H. der Dalai Lama sagt, ‹Ethik ist wichtiger als Religion› ‒ Buddhismus als Religion eingeschlossen ‒, so heißt das in der Sprache, die wir hier verwenden:
Religiosität ist wichtiger als Religion.
Dem stimmen wir vollkommen bei, denn ohne Religiosität bleiben die Formen der Religion leere kulturelle Erscheinungen.
Je vollkommener sich Religiosität/Ethik in einer bestimmten Religion ausdrückt, umso lebendiger und lebenspendender ist ihre Moral.
Wir haben hier beschrieben, wie Verstand und Wille Brücken schlagen vom religiösen Urerlebnis zu seinem Ausdruck in Lehre und Moral.
Aber auch unsre Emotionen reagieren unaufhaltsam auf das Gipfelerlebnis, von dem wir hier ausgehen.
Sie schwingen freudig mit, sie feiern.
Und dieses freudige Feiern ist der Keim, aus dem Rituale entstehen, die ein drittes Element jeder Religion darstellen.
Rituale, so verstanden, sind Handlungsweisen, die uns wach halten für Sinn und Ziel unsres Lebens, wie Lehre und Moral sie uns auf ihre Weise in Erinnerung rufen.
Da sind zunächst die Rituale wie für Hindus ein feierliches Bad im Ganges, die jüdische Seder-Mahlzeit oder das Anzünden von Räucherstäbchen im Buddhismus.
Auch in den Urkulturen finden wir vergleichbare Rituale, etwa Opfer oder die Jugendweihe.
Was sie aber auszeichnet ist, dass im Alltag jede Handlung zum Ritual werden kann.
Das bleibt auch für uns richtungsweisend. Durch Übung in Aufmerksamkeit können wir lernen, alles, was wir tun, im wachen Bewusstsein von Sinn und Ziel unsres Daseins zu tun.
Dadurch wird unser Leben zur Feier und wir entdecken ungeahnte Quellen der Freude im Alltag.
So regt die mystische All-Eins-Erfahrung unsrer Religiosität unumgänglich unser Denken, Wollen und Fühlen dazu an, die drei Grundsteine jeder Religion zu legen: Lehre, Moral und Riten.
Was wir hier im kleinen Maßstab beobachtet haben, das ereignet sich auch geschichtlich im großen Maßstab bei der Entstehung neuer Religionen.
Sie gehen auf das mystische Erleben der Religionsgründer:innen zurück.
Dieses Erleben wird Ausdruck in einer Lehre finden, die dem intellektuellen Rahmen der Zeit angepasst ist.
Die mystische Erfahrung der Gründer wird sich auch in einem Moralsystem ausdrücken, welches das Ideal der Allzugehörigkeit in konkrete Formen übersetzt, die in der gegebenen Gesellschaft verwirklicht werden können.
Auch wird sie Rituale hervorbringen, deren Formen der Kultur dieser Zeit und dieses Ortes entnommen sind.
Das Wasser eines solchen neuen Brunnens kann, wenn die geschichtlichen Gegebenheiten das begünstigen, weiterfließen und zu einem breiten Strom anschwellen, der immer mehr Menschen neue Einsichten, ein neues Verständnis von Gerechtigkeit und neue Formen des Feierns schenkt.
Religionen neigen jedoch dazu, früher oder später ihre ursprüngliche Kraft zu verlieren.
Ein Grund dafür liegt darin, dass große Gemeinschaften es kaum vermeiden können, Institutionen zu werden. Alle Institutionen haben aber die Tendenz, ihren ursprünglichen Zweck zu vernachlässigen und stattdessen zum Selbstzweck zu werden.
Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass auch politische, akademische, medizinische und andre Institutionen zum Selbstzweck werden, nicht nur religiöse.
Eine weitere Gefahr für Religionen besteht darin, dass sie in den Bann des ‹Systems›[11] fallen können.
Wenn dies geschieht, friert ihre lch-DU-Spiritualität zu einer Ich-Es-ldeologie ein: Lehre, Moral und Ritual verwandeln sich in Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus.
Was sollen wir tun, wenn diese Katastrophe unsre eigene Religion befällt und das lebendige Wasser, das einst aus ihrem Brunnen sprudelte, sich in Eis verwandelt?
Wir können dieses Eis immer wieder auftauen ‒ durch die Wärme der Religiosität unsres Herzens.
Das Herz jeder Religion ist die Religiosität des Herzens.
Religiosität kann Religion wiederbeleben.
Wo eben noch Eis war, sprudelt dann wieder lebenspendendes Wasser.
Ist es also nicht die Religiosität unsres Herzens, auf die alles ankommt?»
3.2. «Die Religion religiös machen», in: Verbunden trotz Abstand (2021), 57-67; siehe auch: Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 200-204:
«Wie gelangen wir von der religiösen Erfahrung, sagen wir des Gründers oder jedes Mitglieds einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, zu den Religionen? Jeder Mensch, so behaupte ich, macht zwangsläufig drei Dinge mit dieser religiösen Erfahrung. Wir können gar nicht anders, wir tun das mit jeder Erfahrung, aber im Falle der religiösen Erfahrung wird es besonders deutlich.»
3.3 Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019):
Bruder David: «Nun können wir fragen, auf welche Weise die verschiedenen Religionen aus der uns allen gemeinsamen Religiosität entspringen. Ganz kurz gefasst: Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte und inspiriert durch besonders religiöse Menschen ‒ die Religionsstifter ‒ bringt eine Gemeinschaft Religiosität zu einem für ihre Kultur stimmigen Ausdruck. Daraus kann eine Tradition entstehen, die in der Geschichte fortbesteht. Religiosität ist also der Mutterschoß, aus dem die Religionen geboren werden.»
«Leider finden viele Leute heute, dass ihre Religiosität in den ihnen vertrauten Formen der Religion nicht mehr ausgedrückt wird. …
Um zu beschreiben, wie ich diese zwei Dimensionen in meiner eigenen Religion erlebe, verwende ich die Metapher von rostigen Rohren. Die Formen sind verrostet, aber das Wasser, das hindurchfließt, ist immer noch das lebensspendende Wasser. Ich kann entweder auf den Rost schauen oder ich kann das Wasser trinken. Unser säkulares Klima ist jedoch kalt und das lebensspendende Wasser gefriert durch unsere kalte Gleichgültigkeit. Wir brauchen also eine Form der Lehre, die uns zurückführt zu der spirituellen Erfahrung, von der Ken gesprochen hat. Wir brauchen Rituale, die uns helfen, diese Erfahrung immer wieder lebendig zu erneuern. Und wir brauchen eine Moral, die zeitgemäß ausdrückt, wie Menschen handeln, wenn sie sich dessen bewusst sind, dass sie zusammengehören. Aber sehr oft gefriert die Lehre und wird zu Dogmatismus, das Ritual wird zu Ritualismus und die Moral wird zu Moralismus. Wie können wir dann dieses Eis wieder auftauen und in lebensspendendes Wasser verwandeln? Wir können dieses gefrorene Wasser nur durch die Wärme unseres eigenen Herzens auftauen ‒ durch das Feuer unserer Religiosität. Dann wird es wieder lebendiges Wasser für uns selbst und für alle, denen wir begegnen. Deshalb ist es so wichtig, immer und immer wieder zu unserer Religiosität tief in unserem Herzen zurückzukehren. Nichts anderes kann uns genug innere Wärme geben, um das Eis von Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus wieder aufzutauen.»
3.4. Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation im Buch Geist und Natur (1989), 292-294:
«Wie hängen Mystik und Religion zusammen?
Das ist die große Frage. Wie kommt man von dieser Religiosität, die allen Religionen gemeinsam ist, zu den Religionen, die sich oft gegenseitig in den Haaren liegen?
Die Antwort lautet: notwendigerweise. Ich verwende dieses Wort hier gern. ‹Notwendig› heißt ja nicht nur zwangsläufig, es bedeutet auch, dass dadurch eine Not gewendet wird. Und wir haben eine Not, die gewendet werden muss, nämlich wann immer wir in unseren Dunkelstunden mystische Tiefe erleben, Gott erleben, dann fühlen wir die Notwendigkeit, unser Erlebnis zu interpretieren. Unser Verstand findet es notwendig, zu interpretieren. Das führt zur Lehre, die ein Bestandteil jeder Religion ist.
Selbst wenn es sich um Ihre private Religiosität handelt und sie sagen: ‹Bei mir ist das ganz anders, ich weiß, dass man das nicht interpretieren darf und nicht interpretieren kann›, dann ist das ja auch eine Lehre, dann hat Ihr Verstand genau dasselbe gemacht, nur haben Sie die apophatische Theologie[12] entdeckt.
Die gibt es ja auch in allen Religionen. Es kommt nicht darauf an, was wir über unsere religiöse Erfahrung sagen, aber wir müssen etwas darüber sagen, und damit haben wir den ersten Bestandteil jeder Religion, die Lehre.
Die Lehre entspringt notwendigerweise aus der Religiosität. Sie entspringt notwendigerweise aus der Mystik. Nur läuft sie jetzt Gefahr, sich zu verhärten.
Im Augenblick, wo etwas ausgesprochen oder gar niedergeschrieben ist, beginnt es, sich zu verhärten. So läuft die Lehre immer Gefahr, doktrinär zu werden. Diese Gefahr müssen wir sehen. Sie ist da. Wenn wir sie nicht sehen, kann sie wirklich gefährlich werden. Wenn wir sie sehen, können wir ihr möglicherweise entgehen.
Aber unser Wille tut auch notwendigerweise etwas mit unserem mystischen Erleben. Unser Wille sagt: ‹Ja! Diese Zugehörigkeit möchte ich leben. Und das ist der Ursprungspunkt aller Moral. Denn alle Systeme der Moral, wo immer wir sie finden und wie sie sich auch in ihrem Ausdruck voneinander unterscheiden, haben alle eines gemeinsam: ‹So verhält man sich denen gegenüber, zu denen man gehört.›
Die Gefahr ist, dass wir den Kreis derer, zu denen wir gehören, viel zu eng stecken. In unserem mystischen Erlebnis wissen wir, dass wir alle zusammengehören, dass der Kreis ins Endlose geht. So entspringt dem mystischen Erlebnis notwendigerweise auch die Moral.
Nur ist auch die Moral, im Augenblick, wo sie ausgesprochen wird, in Gefahr, sich zu verhärten, zum Moralismus zu werden nämlich. Auch diese Gefahr müssen wir sehen, sonst sind wir ihr schon verfallen. Wenn wir sie aber sehen, können wir ihr entgehen.
Und unsere Gefühle, die kommen ja auch da herein. Der ganze Mensch nimmt teil am mystischen Erlebnis. Verständnis, Wille, Gefühle; Leib und Seele; der ganze Mensch, das ganze Herz. Was aber machen die Gefühle?
Die Gefühle feiern notwendigerweise unsere Zugehörigkeit zum All. Daraus entspringt das Ritual. Sie können kein Ritual in der Religionsgeschichte aufzeigen, das nicht Feier von Zugehörigkeit ist; das ist allen gemeinsam.
Aber im Augenblick, wo wir ein Ritual haben, kann es sich auch wieder verhärten. Die erste Generation feiert wirklich das Zugehörigkeitsgefühl. Die zweite Generation kann sich nicht mehr genau daran erinnern, was eigentlich gefeiert wurde, ist aber sehr darauf bedacht, es genau so zu machen wie die erste Generation. Und so geht es weiter. Ritual kann sich verhärten in Ritualismus.
Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn Generation um Generation die Lehre interpretiert und dann die Interpretation der Interpretation interpretiert. Bevor wir es begreifen ‒ nach einigen tausend Jahren… Sie verstehen.
Was verlangt das von uns? Es verlangt, dass wir unsere Religion, welche auch immer das ist, religiös machen.
Es ist ein großes Missverständnis, wenn Leute sich einer Religion anvertrauen und glauben, die Religion würde sie religiös machen.
Jede Religion der Welt ‒ meine eigene eingeschlossen ‒ hat eine eingebaute Tendenz, irreligiös zu werden, wenn nicht immer wieder jeder einzelne Mensch aus dem mystischen Leben heraus sie erneut religiös macht; das ist unsere große Aufgabe.
Nur müssen wir uns jetzt fragen, ist dann die Religion nur ein Ballast für die Mystik, nur eine Hinderung?
Nein! Wir haben schon gesagt: Religion verhält sich zur Mystik wie eine Landkarte zur Entdeckungsfahrt. Die Karte kann sehr hilfreich sein, wenn wir sie nicht verwechseln mit dem Abenteuer selbst.
Auch der Entdeckungsreisende verlässt sich nicht blindlings auf die Karte. Er muss sie hin und wieder in dem einen oder anderen Punkt korrigieren.
Aber dieses Erneuern, Lebendigmachen, Umgestalten der Religion ist ja nur ein Teil von etwas viel Umfassenderem, das uns im Leben aufgegeben ist: nämlich ganz allgemein unser Leben aus der Mystik heraus zu erneuern. Unser Leben in allen Bereichen aus dem Erleben unserer Zugehörigkeit zu erneuern und schöpferisch zu gestalten.
Und damit sind wir schon bei der Arbeit, bei der Verbindung von Arbeit und Schweigen. Denn die Tiefe, das Schweigen, das Mysterium, der Mythos, das Dunkel muss sich aussprechen in Wort, Logos, Erhebung, Licht, Auge.
Die beiden Bereiche gehören zusammen. Sie zusammenzubringen, das ist unsere eigentliche Arbeit. Jede andere Arbeit ist unbedeutend, oberflächlich, aber hier ist unsere wahre Arbeit.
In der biblischen Sprache heißt sie Schöpfung.»
3.5. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution im Buch Die Chance der Menschheit (1988), 176-181, 182:
«Dies ist der Punkt, in dem die religiösen Traditionen zusammenlaufen: Sie gehen alle von der Mystischen Erfahrung aus. Es gibt keine einzige religiöse Tradition auf dieser Welt, die einen anderen Ausgangspunkt hat. Oft fängt sie historisch mit der mystischen Erfahrung des Religionsgründers oder Reformators an. Sie fängt aber immer psychologisch mit der mystischen Erfahrung des bzw. der Gläubigen an. Dies ist der Ausgangspunkt. Der Endpunkt jeder Religion dieser Welt ist ebenfalls derselbe.
Das Ziel jeder Religion ist, dass der Mensch in jeder Erfahrung die Zugehörigkeit zur letzten Wirklichkeit erkennt und entsprechend handelt. Das wäre der Himmel.
Warum sind dann die Religionen so spaltende Faktoren auf der Welt?
Wie gelangen wir von der religiösen Erfahrung zur religiösen Tradition, von der einen großen Religion zu den vielen Religionen?
Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie sich mystisches Erleben unweigerlich in Lehre, Ethik und Ritual umwandelt, also in die entscheidenden Elemente jeder religiösen Tradition.
Die Mystik ist zugegebenermaßen das Herz jeder Religion. Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens.
Wie kommt man aber vom inneren Kern der Religion zu all ihrem Drum und Dran?
Die Antwort lautet: Unweigerlich! Sie kommen unweigerlich auf die eine oder andere Weise dorthin, selbst in Ihrer Privatreligion. Unsere mystische Erfahrung setzt der Geist unweigerlich in Lehre, Ethik und Ritual um. Als erstes stürzt sich ihr Intellekt auf Ihre Erfahrung und beginnt sie zu interpretieren. Das können Sie nicht verhindern. Dies ist der Ausgangspunkt für alle religiösen Lehren. Und das ist auch die Definition für religiöse Lehre: Die Interpretation der religiösen Erfahrung.
Als Kinder wurden wir mit allerlei Lehren über Gott konfrontiert. Niemand hat uns aber jemals dazu ermutigt, Gott in uns selbst aus erster Hand zu entdecken. Das ist eine Ungerechtigkeit, ein Vorenthalten von Möglichkeiten. Unter Dogmatismus verstehe ich eine verfestigte Lehre, eine Lehre, die nicht mehr lebendig ist, die starr im Raum steht. (Ich möchte klarstellen, dass Dogmatismus und Dogma nicht zwangsläufig miteinander verbunden sind. …). Soweit der Intellekt.
Aber auch Ihr Wille ist aktiv. Immer wenn Sie eine Erfahrung machen, sagt Ihr Wille: ‹Das ist schön, das will ich noch einmal erleben›,
oder aber: ‹Damit will ich überhaupt nichts zu tun haben!›
Mit diesen zwei Möglichkeiten werden wir konfrontiert, wenn wir vom Willen sprechen. Doch leider ist es nicht so einfach, denn unser Wille und unser Intellekt arbeiten eng zusammen.
Nach Ihrer mystischen Erfahrung wird Ihr Wille vielleicht sagen: ‹Dieses Gefühl der grenzenlosen Einheit ist etwas Wunderbares. Das ist alles, was ich mir jemals gewünscht habe, diesen Weg möchte ich weitergehen.›
Ihr Intellekt warnt Sie aber: ‹Sei vorsichtig, du lässt dich da auf ein Wagnis ein. Du weißt nicht, was das für Folgen haben kann! Nicht so schnell!›
Ihr Wille drängt Sie, aber Sie haben Furcht. Hier befinden wir uns plötzlich mitten im Bereich der Ethik, der Moral.
Der Bereich, in dem die Furchtsamkeit gegen die Hingabe an das grenzenlose Verbundenheitsgefühl ankämpft, ist die Arena der Moral. Aus diesem Grund ist die Moral ein weiteres Element jeder Religion. Wenn ich tatsächlich auf diese Weise verbunden bin, wie ich es in meinen mystischen Augenblicken erfahren habe, dann muss ich bestimmte Konsequenzen ziehen. Doch die Furcht setzt irgendwo eine Grenze. In Ihrem wunderbaren mystischen Augenblick haben Sie keine Grenze zwischen Gebildet und Ungebildet gesetzt, keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß, Männlich und Weiblich, ja noch nicht einmal zwischen Menschlich und Nicht-Menschlich gemacht. Es gab für Sie überhaupt keine Unterschiede. Und wenn Sie mit allem verbunden sind, zu allem dazugehören, haben Sie auch allem gegenüber Verpflichtungen. Im Augenblick Ihres mystischen Erlebnisses akzeptieren Sie diese Verpflichtungen mit einem Glücksgefühl.
Ethik, Moral ist einfach ein Aussprechen dessen, wie wir leben sollen, wenn wir unsere Zugehörigkeit zur letzten Wirklichkeit ernst nehmen.
Unweigerlich fangen wir an, unsere Verpflichtungen zu formulieren. Schließlich leben wir nicht in einem Vakuum, sondern in einer Gesellschaft. Wenn die Moral zum ersten Mal formuliert wird, ist sie noch lebendig. Sie können sich immer noch auf Ihre Erfahrung rückbesinnen und verstehen, was Sie mit Ihrer Formulierung gemeint haben. Doch das Leben geht weiter, die Zeit vergeht, die einst formulierten Gebote und Verbote bleiben aber unverändert. Sie sind an einem anderen Punkt angelangt, Sie würden Ihre Verpflichtungen nun nicht mehr in derselben Weise ausdrücken. Da stehen sie aber, fest und unverrückbar, diese Gebote und Verbote, und sie haben zu Ihrem tiefsten Zugehörigkeitsgefühl keinen Bezug mehr. Wenn dies geschieht, dann verkommt die Moral zum Moralismus.
So wie wir zwischen Dogma und Dogmatismus unterschieden haben, können wir auch zwischen Moral und Moralismus trennen.
Die Moral ist der Ausdruck unserer Verpflichtungen aus dem letzten Verbundenheitsgefühl heraus. Die Formulierung dieser Verpflichtungen neigt dazu, sich zu verfestigen, solange bis sich die Moral selbst verfestigt. Der Unterschied ist da, der Bezug zur Erfahrung fehlt. Es kann sogar zum Widerspruch mit der lebendigen Erfahrung der Verbundenheit kommen. Je mehr Sie mit formalisierter Religion zu tun gehabt haben, umso mehr Beispiele können Sie dafür anführen, wie die Moral im Widerspruch zu dem steht, was eben die Religion predigt.
Um Moralismus zu verhindern, müssen Sie ständig zu der Erfahrung an der Wurzel einer jeden Religion zurückkehren.
Die Moral muss nach Ihrer mystischen Erfahrung beurteilt werden.
Das ist aber nur die eine Hälfte. Das mystische Erlebnis muss — wenn Sie es wirklich rein bewahren wollen — nach der Moral beurteilt werden. Die Konfrontation ist also in beiden Richtungen wirksam. Wenn Sie über ein gesundes spirituelles Leben verfügen wollen, müssen Sie dieses Zusammenspiel zulassen.
Es gibt einen dritten Bereich, in dem die Religion der mystischen Erfahrung entspringt, nämlich den rituellen Bereich. Es gibt keine Religion auf dieser Welt, die nicht irgendeine Lehre verkündet, keine, die nicht irgendwelche moralische Regeln setzt, und ebenso keine, die nicht über irgendwelche Rituale verfügt.
Wieso bringt aber die mystische Erfahrung ein Ritual hervor?
So wie der Intellekt die Erfahrung interpretiert und der Wille die Hingabe an sie zulässt, so zelebrieren Ihre Emotionen, Ihre Gefühle diese Erfahrung, und an diesem Punkt entsteht das Ritual.
Das Ritual ist in erster Linie ein Zelebrieren des grenzenlosen Zugehörigkeitsgefühls.
Überprüfen Sie dies anhand Ihrer eigenen Erfahrung.
Manche Rituale da draußen, in den traditionellen historischen Religionen, mögen bizarr anmuten. Doch vielleicht zelebrieren Sie alle Jahre wieder eine tiefe spirituelle Erfahrung. Nun, dann haben Sie einen rituellen Kalender, so wie die meisten Religionen. Vielleicht kehren Sie ständig an den Ort zurück, an dem diese Erfahrung Sie überwältigt hat. Nun, dies ist dann das Ritual des Pilgerns. Angenommen, Sie haben dieses Erlebnis an einem Strand gehabt, dann ist jeder Strand auf dieser Welt nun ein heiliger Ort für Sie, weil er Sie immer an diese Erfahrung denken lässt. Auch ein Baum kann auf diese Weise für Sie ein heiliger Baum werden. Das Ritual ‒ das lebendige Ritual ‒ ist die Zelebrierung des mystischen Erlebnisses. Es ist ein Gedenken an dieses Erlebnis. Das Ritual kann aber zum Ritualismus verkommen. Dies geschieht immer dann, wenn die rituelle Handlung Sie nicht mehr zu der ursprünglichen Erfahrung zurückbringt, sondern Selbstzweck wird. Sie wissen den Grund für das Ritual nicht mehr, Sie absolvieren es nur. So haben Sie es schon immer gemacht, so soll es gemacht werden und so führen Sie es auch aus. Es bedeutet überhaupt nichts für Sie. Das ist Ritualismus.
Das Ritual im eigentlichen Sinn aber ist dazu gedacht, Sie immer wieder zurückzuführen, nicht nur zu einem Ereignis in der Vergangenheit, sondern zu Ihrer ureigenen mystischen Erfahrung.
Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.
Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen?›]
______________________
[1] Apophatisch (von apo = weg, phatis = Rede, Wort) und kataphatisch (kata = hinab) sind zwei Wege der Spiritualität ohne Rede und Wort, der andere mit Rede und Wort. Die kataphatische Spiritualität «ist auf das reine, leere Bewusstsein hin orientiert. Inhalte werden als Hindernis angesehen. Solange das Bewusstsein an Bildern oder Konzepten festhält, ist es noch nicht dort, wo die eigentliche Erfahrung Gottes möglich ist. Bilder und Vorstellungen verdunkeln das Göttliche mehr, als dass sie es erhellen. Sie sind Glasfenster, die vom Licht, das dahinter leuchtet, erhellt werden. Wer das Licht sehen will, muss hinter die Glasfenster schauen. Alle Religionen haben auch Wege gesucht und gelehrt, die in die wortlose Erfahrung dessen führen wollen, was die Heiligen Schriften verkünden.» (Willigis Jäger, «Suche nach der Wahrheit: Wege ‒ Hoffnungen ‒ Lösungen», Verlag Via Nova, Petersberg 20054, 199)
[2] Im Buch steht «Ethik», die genaue Wiedergabe von «ethics» in der amerikanischen Originalausgabe «The Mystical Core of Organized Religion» (1990). Bruder David verwendet das Wort Ethik heute analog wie Religiosität im Unterschied zu den Religionen: Ethik ist unsere Verantwortung vor dem großen DU, dem Anruf des Lebens Augenblick für Augenblick. Die in Sätze, Verhaltensvorschriften gefasste Ethik, nennt er lieber «Moral». Siehe Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (26:28 und 30:26) und in Ergänzend: 3.1. aus dem Buch Orientierung finden (2021), 67:
«Ja, so möchte ich leben, in der Freude völliger Zugehörigkeit aller zu allen! In diesem ‹Ja›, mit dem unser Wille sich auf Zugehörigkeit ausrichtet, liegt der Keim jeder Moral. Unter Moral verstehen wir hier die Form, in der die Ethik sich in einer bestimmten Kultur ausdrückt.»
[3] Ebenso korr.
[4] Ebenso korr.
[5] LEHRE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147:
«Lehre ist ‒ zusammen mit Moral und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Verstand und versucht, Einsichten allgemein menschlicher Religiosität in einer Sprache auszudrücken, die für die gegebene Kultur zur Zeit der Religionsgründung verständlich und überzeugend war. Wenn zu späteren Zeiten diese Sprache unverständlich wird, muss die gegebene Religion versuchen, sie in eine zeitgemäße Ausdrucksweise zu übersetzen, damit sie ihre Überzeugungskraft behält. Es ist von größter Wichtigkeit zu beachten, dass religiöse Einsichten nur in der Sprache der Dichtung annäherungsweise ausgedrückt werden können. Das ist ein Unterscheidungsmerkmal religiöser und wissenschaftlicher Aussagen.»
MORAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 151:
«Moral ist ‒ zusammen mit Lehre und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Willen (im Sinne unsrer Willigkeit) und versucht, Werte allgemein menschlicher Ethik so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zurzeit der Religionsgründung moralisch verpflichtend werden. Wenn sich zu späteren Zeiten die kulturellen Gegebenheiten ändern, wird die gegebene Religion versuchen müssen, neu entstandene ethische Probleme einzubeziehen, damit ihre Moral weiterhin als Leuchtturm für ethisches Verhalten dienen kann.»
RITUAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 152f.:
«Ritual ist ‒ zusammen mit Moral und Lehre ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Rituale wenden sich an das Gefühl und versuchen Erlebnisse allgemein menschlicher Erfahrung ‒ Begegnungen mit dem Geheimnis ‒ so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zur Zeit der Religionsgründung erlaubten, diese Erfahrungen als gegenwärtige Wirklichkeit zu feiern. Wenn zu späteren Zeiten die alten Rituale nicht mehr mit Begeisterung nachvollziehbar sind, muss die gegebene Religion versuchen, sie durch neue, zeitgemäße Formen zu ersetzen, damit sie ihre Begeisterungskraft beibehalten.»
[6] Ebenso korr.
[7] Nach einer unveröffentlichten Übersetzung ins Englische, mit freundlicher Erlaubnis von Coleman Barks und John Moyne, deren Band mit Übersetzung Rumis den Titel trägt «This Longing», Putney (Vermont) 1988.
[8] Film Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(43:06) Worum geht es im Leben letztlich? Die Antwort des Heldenmythos (43:35) Der Weg des Helden in drei Phasen: Ausgesondert werden – Verwandlung durch den Tod – Rückkehr als Lebensbringer für die Gemeinschaft
Ebenso Audio Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
Vortrag (44:04)
[9] Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 10 «Der mystische Kern der organisierten Religion», 135-146
[10] Siehe Anm. 2
[11] Im Buch: Orientierung finden (2021) «Das System ‒ die Macht, die Leben zerstört», 41:
«Das ‹System› kann nicht lächeln. Es kümmert sich um keinen Menschen. Ihm ist alles egal. Wir haben es ja mit einer völlig unpersönlichen Machtstruktur zu tun, obwohl sie wie von einem irrsinnigen Machthaber gesteuert erscheinen mag. In seinem Wesen ist das ‹System› uneingeschränkte Unpersönlichkeit ‒ Inbegriff eines leeren Nichts mit mörderischer Macht. Wo es eindringt, zerstört es das Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit und die Anerkennung persönlicher Einzigartigkeit ‒ die beiden Voraussetzungen von Menschenwürde. Sich gegen das ‹System› aufzulehnen, heißt also ‒ kurz und positiv auf eine Formel gebracht ‒ für Menschenwürde einzutreten. Menschenwürde entspringt letztlich der Ehrfurcht vor dem Geheimnis.»
[12] Siehe Anm. 1
Dunkelstunden
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Wie können wir über innere Erfahrung von innen her sprechen? Die Antwort lautet: durch Dichtung. Wie die Sufis ‒ Professor Nasr nannte sie «Leute, die durch Andeutung reden»[1] ‒, so müssen wir uns in den Bereich vorwagen, von dem Rilke sagt: Das ist der Bereich der Dichtung.
Die Dichtung verdichtet unser Erlebnis und zerredet es nicht.
Darum möchte ich mit Ihnen ein paar Gedichte lesen. Die meisten sind von Rilke. Oft sind es nur Stellen aus Gedichten, aus Gedichten, die Ihnen wahrscheinlich gut bekannt sind, die Sie vielleicht sogar auswendig können. Anhand dieser Gedichte können wir vielleicht etwas aussprechen, was die Sache nicht zerredet, sondern verdichtet.
Gedichte lassen unser Erleben zu Wort kommen.
Sie brechen das Schweigen nicht, sondern das Schweigen kommt zu Wort im Gedicht.
So möchte ich beginnen mit ein paar Zeilen aus Rilkes Stundenbuch.
Rilke ist Mystiker, obwohl er meistens nicht so verstanden wird, und er sagt:
«DU Dunkelheit, aus der ich stamme,
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.
Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich,
wie sie's errafft,
Menschen und Mächte ‒
Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.
Ich glaube an Nächte.»
So spricht der Mystiker. Nicht, dass wir Schweigen und Wort, Versenkung und Erhebung, Dunkel und Licht trennen könnten.
Aber wir müssen in der Dunkelheit verwurzelt sein.
Wir müssen in der Tiefe verwurzelt sein.
So sagt Rilke auch:
«Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.
Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.[2]
Die Weite, der Raum, die Leere ‒ diese Wirklichkeit erleben wir in unseren Dunkelstunden, die keineswegs verdunkelt sind, sondern die ein Leuchten hervorrufen, das unser ganzes Leben erhellt.
In unseren Dunkelstunden erfahren wir, dass wir ein zweites, zeitlos breites Leben haben. Aus diesen Stunden erwächst unsere Gotterfahrung. Ich verwende das Wort Gott hier zögernd.
Allzuoft ruft man damit Missverständnisse hervor. Ich möchte es aber erwähnen, damit alle jene, die sich mit dem Wort Gott wohlfühlen, wissen, worum es hier geht. Wir sprechen aber über ein Erlebnis, das auch all denen zugänglich ist, die sich mit dem Wort Gott nicht wohlfühlen. In unseren Dunkelstunden erleben wir das, was jene, die das Wort Gott richtig verwenden, Gott nennen. Unsere Dunkelstunden sind Stunden unserer eigenen mystischen Erfahrung
Ich wende mich hier jetzt an Ihre Erfahrung, an Ihre mystische Erfahrung, und niemand darf sagen, ich bin ja kein Mystiker.
Mystik heißt Erfahrung unserer letztlichen Zugehörigkeit.
Wer aber hat letzte Zugehörigkeit noch nie erfahren?
In Dunkelstunden, in wahren Herzstunden erleben wir diese tiefste Zugehörigkeit.
Und Gott, wenn das Wort richtig verwendet wird, ist der Bezugspunkt, der äußerste Bezugspunkt für unsere Zugehörigkeit.
Selbstverständlich ist das nur der kleinste gemeinsame Nenner. Von hier aus können wir den Gottraum erforschen, so wie man den Weltenraum erforscht. Ja, wir können in vielen verschiedenen Richtungen, von vielen verschiedenen Seiten her alle denselben Raum erforschen. Wir können auch Karten anfertigen aufgrund dieser Gottraum-Erforschungen. Karten sind nicht notwendigerweise ein Hindernis, im Gegenteil, sie sollen uns Hilfe sein auf unserer Gottraumfahrt. Wir dürfen nur die Karte nicht mit dem Abenteuer selbst verwechseln, und diese Gefahr besteht immer.
Darum sagt Rilke:
«Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.
Nur, dass ich mich aus seiner Wärme hebe,
mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige
tief unten ruhn und nur im Winde winken.»[3]
Das ist der Gott, den wir alle gemeinsam haben, von dem wir nicht mehr wissen, als dass tausend Wurzeln aus ihm trinken, aus ihr trinken und dass wir uns aus dieser Wärme heben.
Und damit sind wir schon bei der Arbeit, bei der Verbindung von Arbeit und Schweigen.
Denn die Tiefe, das Schweigen, das Mysterium, der Mythos, das Dunkel muss sich aussprechen in Wort, Logos, Erhebung, Licht, Auge.
Die beiden Bereiche gehören zusammen. Sie zusammenzubringen, das ist unsere eigentliche Arbeit.
Jede andere Arbeit ist unbedeutend, oberflächlich, aber hier ist unsere wahre Arbeit. In der biblischen Sprache heißt sie Schöpfung.
Rilke spricht davon, wenn er zu Gott betet:
«Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, ‒
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
dass du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.»[4]
[Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 290-292, 294]
«Was kann uns trösten?» ‒ in der Dunkelheit der Nacht, im Winter. Was tröstet uns?
Meine Antwort, das können Sie wahrscheinlich schon voraussehen, wenn Sie meine Bücher kennen, ist:
«Was uns tröstet, das ist die Dankbarkeit.»
Dankbarkeit ist immer die große Antwort, der große Trost.
Eichendorff betitelte eines seiner Gedichte «Dank».
Es ist ein Lebensabendgedicht. Er schreibt:
«Mein Gott, dir sag ich Dank,
Dass du die Jugend mir bis über alle Wipfel
In Morgenrot getaucht und Klang...
Und auf des Lebens Gipfel,
Bevor der Tag geendet,
Vom Herzen unbewacht
Den falschen Glanz gewendet,
Dass ich nicht taumle ruhmgeblendet,
Da nun herein die Nacht
Dunkelt in ernster Pracht.»
Die Dunkelheit der Nacht versöhnt.
Schon die Musik dieses Gedichtes ist unglaublich schön.
‹Da nun herein die Nacht dunkelt in ernster Pracht.›
In dem Rilke-Gedicht, das ich zu Anfang zum Morgen gelesen habe, heißt es:
«Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste.»[5]
Hier wird es erkannt: Dunkel und ernst kommt die Nacht, sie dunkelt in ernster Pracht.
Ich verstehe das Wort Dunkelheit in bewusstem Kontrast zu ‹Finsternis›.
Die Finsternis droht, die Dunkelheit aber versöhnt.
Die Finsternis ist etwas Bedrohliches, nicht aber die Dunkelheit.
Rilke im Stunden-Buch:
«DU Dunkelheit aus der ich stamme …
Aber die Dunkelheit hält alles an sich …
Ich glaube an Nächte.» ‒
Wenn wir uns auf diese große Nacht verlassen, die alles an sich hält, wenn wir vertrauend uns auf diese Nacht einlassen, dann finden wir darin Trost. Sehr tiefen Trost.
Aber zur Dunkelheit gehört beides: im Jetzt sein … alles umfassend … und still sein. Niemanden ausgrenzen und ganz still werden.
[Und ich mag mich nicht bewahren (2012), 33-36, Und ich mag mich nicht bewahren (Audio-CD) (2012) und Audio-Vortrag: Fragen, die uns bewegen[6] (2005)]
[Ergänzend:
1. Texte
1.1. Impulskontrolle finden (2022), zugleich Auszug aus: Orientierung finden (2021), 96-99:
«‹Ich sprach zu meiner Seele, sei still und warte›, sagt T. S. Eliot. Aber er weiß auch, dass Stille beängstigend werden kann, weil sie uns des Lärms beraubt, mit dem wir uns gern ablenken von der Dunkelheit, die in uns aufsteigt, wenn wir still werden. Fürchte dich nicht, sagt daher der Dichter, du kannst der inneren Stille und Dunkelheit vertrauen. Und er schließt mit den tröstlichen Worten: ‹Die Dunkelheit wird das Licht sein und die Stille das Tanzen.›»
1.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 10, 14-22, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 2: DU Dunkelheit, aus der ich stamme
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015):
Schweigen:
(52:10) Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden – DU Dunkelheit, aus der ich stamme – Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (Das Stunden-Buch)
2.2. Vertrauen in das Leben (2014):
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(27:09) Hineinhorchen in DU Dunkelheit, aus der ich stamme (Rilke)
2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen – Goldegger Dialoge (18.-20.06.1992):
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(15:19) Das Leben führt uns immer wieder in Krisen:
«Man kann das vielleicht auch so sehen, dass zu einer Krise immer drei Phasen gehören, drei Elemente und das erste ist das Erlebnis: So geht es nicht weiter!
Diese Phase drückt sich meistens auch in Dunkelheit aus, ‹des Lebens Dunkelstunden›, wie Rilke das nennt.»]
___________________
[1] Seyyed Hossein Nasr: «Mystik und Rationalität im Islam», in: Geist und Natur (1989), 232
[2] «Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[3] «Ich habe viele Brüder in Sutanen» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[4] «Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[5] «Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.»
(Rilke, Das Stunden-Buch)
[6] Fragen, die uns bewegen (2005):
(33:17) In der Lebensneige, in der Dunkelheit der Nacht, im Winter: Was tröstet uns?
Mein Gott, dir sag ich Dank (Eichendorff, Dank) ‒ DU Dunkelheit, aus der ich stamme ‒ Wenn es nur einmal so ganz stille wäre
(Rilke, Das Stundenbuch)]
Kontemplation im Handeln
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Copyright © - Barbara Krähmer
Alles, was ich mit Liebe zu tun vermag, kann zum Gebet des Tätigseins werden. Es ist zudem gar nicht notwendig, dass ich während der Arbeit oder beim Spielen an Gott denke. Zuweilen dürfte das sowieso kaum möglich sein.
Wenn ich zum Beispiel ein Manuskript korrigiere, ist es besser, ich konzentriere mich ganz auf den Text statt auf Gott. Wäre mein Geist zwischen beidem hin und her gerissen, so würden mir die Druckfehler wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz schlüpfen. Gott wird genau in der liebevollen Aufmerksamkeit anwesend sein, die ich der mir anvertrauten Arbeit zuwende.
Indem ich mich voll und liebevoll dieser Arbeit widme, gebe ich mich voll und ganz Gott hin. Das geschieht nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Spiel, etwa wenn ich Vögel beobachte oder einen guten Film ansehe. Wenn ich mich in Gott darüber freue, wird sich bestimmt auch Gott in mir darüber freuen. Macht nicht diese Kommunion, diese innige Verbindung das Wesen des Gebets aus? [Auf dem Weg der Stille (2016), 17f.]
Eine Lehrerin kommt beispielsweise nach einem Schulausflug in den Zoo völlig erschöpft nach Hause. «Und den ganzen Tag lang hatte ich keine Minute Zeit zum Beten», stöhnt sie.
Nun, möglicherweise hat sie aber den ganzen langen Tag nichts anderes getan, als zu beten. Ihr Herz war der Kontemplation im Handeln hingegeben, aber ihr Kopf hat es nicht einmal bemerkt.
Die Liebe, die sie voller Aufmerksamkeit für jedes einzelne Kind sorgen ließ, war die Liebe Gottes, die durch sie hindurchfloss. Indem sie sich innerlich dieser Liebe hingab, war sie den ganzen Tag mit Gott verbunden ‒ sozusagen ein Gebet ohne Ablenkung. Sie konnte es nicht riskieren, von ihrer Aufmerksamkeit für die Kinder abgelenkt zu werden.
Steckt aber ihr ganzes Herz darin, dann ist diese uneingeschränkte Aufmerksamkeit in diesem Fall ihre andächtige Aufmerksamkeit für Gott.
«Was aber, wenn ich nicht einmal an Gott denke?» könnte man fragen. «Kann das noch Gebet sein?»
Nun, atmest du noch, obwohl du nicht an die Luft denkst, die du einatmest?
Dein Handeln geht weiter, obwohl du nicht darüber nachdenkst. Und in contemplatio in actione wird Gott eben durch liebendes Handeln erfahren, nicht durch Nachdenken.
Es gibt unter uns echte Kontemplative, die gar nicht wissen, dass sie es sind.
Inmitten ihres geschäftigen Lebens praktizieren sie contemplatio in actione. Handeln.
Und doch sehnen sie sich nach Formen, die einer anderen Welt des Gebets angehören, statt sich immer mehr in der Welt zuhause zu fühlen, in der sie ohnehin leben.
Über Gott nachzudenken ist wichtig. Aber das Handeln in Gott führt zu tieferem Wissen. Liebende sind der Liebe näher als Gelehrte, die bloß über Liebe nachdenken. Wer denkt schon beim Küssen über das Küssen nach?
Während einer einfachen Tätigkeit wie Stricken ‒ einfach für meine Mutter, nicht für mich ‒ kann man über Gott nachsinnen und dennoch die Arbeit gut machen.
Wenn deine Arbeit im Maschineschreiben besteht, wird das schon schwieriger. Ein Gouverneur könnte sich als Gotterneur angeredet finden, aber abgesehen von Schreibfehlern kann wenig Schaden daraus entstehen.
Eine Lehrerin jedoch, die zweiundzwanzig Kinder in den Zoo führt, kann nichts hinzufügen, während sie das tut. Sie käme sonst vielleicht mit nur einundzwanzig Kindern zurück.
Sie kann nur zwischen Kontemplation im Handeln oder gar keiner Kontemplation wählen.
Und welch herrliche Überraschung ist die Entdeckung, dass sie Gott nicht nur während, sondern in ihrem liebenden Dienst finden kann.
Niemand wird durch äußere Umstände an einem kontemplativen Leben gehindert. Viele Menschen bemühen sich, ein äußerst aktives Leben andächtiger zu gestalten. Die Entdeckung der Kontemplation im Handeln könnte ihnen dies erleichtern und ihnen neuen Mut geben.
Aber auch hier ist eine Falle verborgen. Unsere Tätigkeiten entwickeln eine Art Zentrifugalkraft.
Sie haben die Tendenz, uns von unserer Mitte in Randbelange zu zerren. Und diese Zugkraft ist umso stärker, je schneller die Beschleunigungskraft unserer täglichen Tätigkeiten wirkt.
Dem müssen wir entgegenwirken, indem wir uns im stillen Zentrum unseres Herzens verankern.
«Meine Arbeit ist mein Gebet», sagt da jemand. Nun, umso besser! Schließlich sollen wir «allezeit beten». Arbeit sollte uns nicht vom Beten abhalten.
Wenn aber meine Arbeit zu meinem einzigen Gebet wird, dann wird sie nicht mehr lange Gebet sein. Ihr Gewicht wird mich aus meinem Zentrum ziehen. Es ist leicht zu hören, wenn sich ein Wäschetrockner ungleichmäßig dreht. Warum hören wir es nicht, wenn das Gleiche in unserem Leben geschieht? Vielleicht sollten wir anhalten und umladen. Vielleicht ist es Zeit für Nichts-als-beten, Zeit uns freizumachen, unsere Mitte zu finden und uns von unserem Herzen her neu auszurichten.
Wenn wir so wieder an unsere Arbeit herangehen, dann wird sie wirklich Gebet sein: contemplatio in actione.
Die Tradition der Shaker kennt ein Sprichwort, das die Idee der Kontemplation auf die einfachste Weise zusammenfasst:
«Die Herzen zu Gott und die Hände an die Arbeit.»
Und genauso lebten die Shaker. Als Beweis dafür, dass sie etwas von Kontemplation verstanden, müssen wir uns nur einen Shaker-Stuhl anschauen.
«Die Herzen zu Gott» bedeutet Aufmerksamkeit für die leitende Schau.
«Die Hände an die Arbeit» bedeutet, aus jener Schau Wirklichkeit zu machen.
Die unauflösliche Verwobenheit von Schau und Tat macht Kontemplation zu dem, was sie ist.
In der Gebetswelt der Liebe ist die Schau eine tiefe Bewusstheit des Zusammengehörens, während das Handeln jenes Zusammengehören folgerichtig in die Tat umsetzt.
Handelnde Liebe ist Ausdruck des Dankes für Einsichten der schauenden Liebe.
Im Lateinischen heißt das «gratias agere», nicht nur danken, sondern aus Dankbarkeit handeln.
Mit dem Herzen Gott zugewandt, erkennt die Liebe ihre Zugehörigkeit; mit den Händen der Arbeit zugewandt, handelt die Liebe dementsprechend. [FN 1) 152-154; 2-5) 156-158; 6) 155-157; siehe auch: Betet ohne Unterlass (1988)]
[Ergänzend:
Bruder David spricht von drei Innenwelten des Gebetes [Hyperlink zu Gebet ‒ drei Innenwelten]. In den ersten beiden ist die Stille oder das Wort zentral. In der dritten Innenwelt ‒ am Schnittpunkt von Stille und Wort ‒ das liebevolle Tun.
Der Fachausdruck für diese dritte Innenwelt des Gebetes ist: «Contemplatio in actione» ‒ «Kontemplation in Aktion»:
1. Auf dem Weg der Stille (2016), 36f.:
Das biblische Vorbild für Kontemplation ist Mose:
«In der biblischen Tradition wird die Kontemplation am Beispiel von Mose vorgestellt: Mose steigt auf den Berg, um dort oben vierzig Tage und vierzig Nächte in der Gegenwart Gottes zu verbringen. Dort wird ihm eine Vision des Tempels zuteil. Bei seinem Abstieg vom Berg bringt er nicht nur die Gesetzestafeln mit sich, also den Plan, gemäß dem das Volk zu einem Tempel aus lebendigen Steinen aufgebaut werden soll. Er trägt auch den Entwurf für den physischen Tempel, das Bundeszelt, das genau ‹nach dem Vorbild des Musters› angelegt werden sollte, das ihm auf dem Berg gezeigt worden war bei sich.
Diese beiden Phasen der Kontemplation gehören untrennbar zusammen: das Betrachten des Musters und die praktische Tat, nach dem Vorbild des Musters zu bauen.
Die Kontemplation in Aktion zeichnet der Umstand aus, dass dabei Betrachtung und Tat gleichzeitig stattfinden.
Eine Lehrerin, die einem Kind viel Liebe zukommen lässt, versteht Gott, der einfach dadurch liebt, dass er Liebe ist.
Die Schau Gottes wird ihr in ihrem Tun und durch dieses zuteil.
Wie verstehen wir denn jemals etwas anders als durch Tun?
Ein Sprichwort sagt: ‹Ich hörte und vergaß; ich sah und erinnerte mich; ich tat und verstand.›
Aus diesem Grund können wir die Kontemplation in Aktion ‹Gebet des Verstehens› nennen.»
2. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] im Kapitel: «Liebe: Ein ‹Ja› zur Zugehörigkeit»:
«Zur Liebe gehört eine Welt des Gebetes, die am Schnittpunkt von Wort und Stille steht.
Das Gebet der Liebe ist das Handeln.
Das Wort, im Glauben empfangen, fällt als Same in das stille Erdreich der Hoffnung und reift in der Liebe zur Ernte.
Im Handeln der Liebe gibt es keine Absicht, nur die Bereitschaft, Früchte zu tragen.
Und doch steht der aktive Aspekt hier so im Vordergrund, dass die Gebetswelt der Liebe den Namen ‹contemplatio in actione› trägt.
Das Handeln ist ein Grundbestandteil von Kontemplation, einer ihrer zwei Pole. Der andere Pol ist die Schau. Das ‹Kon› in Kontemplation schweißt Schau und Tat zusammen. Ohne durch die Tat verwirklicht zu werden, würde die Schau unfruchtbar bleiben. Das Gegenteil von Kontemplation im Handeln kann also unmöglich untätige Kontemplation sein. Das wäre ebenso ein Widerspruch wie blinde Kontemplation. Handeln gehört ebenso zur Kontemplation wie Schau.
Warum also diese Hervorhebung, wenn wir von ‹contemplatio in actione› sprechen? Hier ist eine Erklärung.
Im Gebet der Liebe ergibt sich nicht nur das Handeln aus kontemplativer Schau, sondern eben diese Schau entspringt ihrerseits kontemplativem Handeln.
Hier bietet sich eine Parallele aus unserer alltäglichen Erfahrung an. Manchmal möchtest du etwas tun, aber du sagst dir:
‹Ich sehe nicht ein, worum es da geht.› Dann versuchst du es doch, und im Tun siehst du, worum es geht. Siehst du? Dieses ‹Sehen› lässt uns wenigstens ahnen, dass Schau aus dem Handeln entspringen kann, letztlich selbst die Schau von Gottes Herrlichkeit.
Jede echte Form von Kontemplation bemüht sich darum, ihre Schau in die Tat umzusetzen.
Aber nicht immer entspringt die Schau unserem tätigen Einsatz.
Häufig verlangt unsere Suche nach Sinnschau, dass wir aus jeder zweckgebundenen Tätigkeit aussteigen.
Für die Gebetswelt der Liebe jedoch ist das Einsteigen in kontemplatives Handeln kennzeichnend.
Das soll nicht heißen, dass kontemplatives Aussteigen untätig sei oder der Liebe entbehrt. Ganz und gar nicht. Aber das ‹Ja› zum Zusammengehören macht die Liebe zu dem, was sie ist. Und dieses ‹Ja›