Text von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

Aber nur wenige Worte aus unserem Sprachgebrauch werden so sehr missverstanden wie das Wort Muße.

Das wird sofort deutlich, wenn wir von Arbeit und Muße als einem Gegensatzpaar sprechen. Heißen die beiden Pole aller Aktivität wirklich Arbeit und Muße? Wenn dem so wäre, wie könnten wir dann von einem Arbeiten in Muße sprechen? Das wäre ein offensichtlicher Widerspruch. Und doch wissen wir, dass es ganz und gar kein Widerspruch ist. Tatsächlich ist es so, dass jede befriedigende Arbeit mit Muße verrichtet werden will.

Was also ist nun das Gegenteil von Arbeit, wenn es nicht Muße ist? Es ist das Spiel. Arbeit und Spiel ‒ das sind die beiden Pole aller Aktivität. Und was wir über Zweck und Sinn gelernt haben, wird uns hier helfen, dies klarer zu erkennen.

Wann immer du arbeitest, dann tust du das, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Gäbe es diesen Zweck nicht, dann hättest du etwas besseres zu tun. Arbeit und Zweck sind so eng miteinander verknüpft, dass deine Arbeit endet, sobald dein Zweck erreicht ist. Oder willst du dein Auto weiter reparieren, wenn es bereits wieder läuft? Das mag weniger offensichtlich sein, wenn du den Boden fegst. Ist es nicht möglich, den Boden weiter zu fegen, selbst dann, wenn sich kein Staubkörnchen mehr findet? Nun, du kannst natürlich mit dem Besen weiterfegen, wenn es dir Spaß macht, aber dein Zweck ist längst erreicht, und damit endete die Arbeit als solche. Früher oder später wird dich sicherlich jemand fragen, warum du noch immer mit dem Besen herumspielst. Was einmal Zweck hatte und Arbeit war, ist jetzt eben zum Spiel geworden.

Beim Spiel liegt die gesamte Betonung auf dem Sinn der Aktivität. Sagst du deinen Freunden, dass es dir außerordentlich sinnvoll erscheint, an einem Freitagabend mit einem Besen herumzutanzen, dann mögen sie dich zwar verwundert anschauen, ernsthaft widersprechen können sie hingegen kaum. Spiel braucht kein Ziel. Darum kann das Spielen immer weitergehen, solange die Spieler es für sinnvoll halten. Schließlich tanzen wir ja nicht, um irgendwo hinzukommen. Wir tanzen im Kreis.

Eine Symphonie endet nicht, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Genau genommen hat sie keinen Zweck. Es ist spielerische Sinnentfaltung, die sich in jedem ihrer Rhythmen, in jedem Satz und jedem Thema offenbart: Sinn zu feiern, darum geht es.

Menzlers Kanon ist eine der großartigen Überflüssigkeiten des Lebens. Wann immer ich ihm zuhöre, erkenne ich aufs Neue, dass einige der überflüssigsten Dinge die notwendigsten für uns sind, weil sie unserem menschlichen Leben Sinn verleihen.

Wir sollten darauf achten, dass wir nicht Muße und Arbeit gegeneinander ausspielen. Muße ist die Ausgewogenheit von Arbeit und Spiel. Muße wird beiden gerecht.

Aber selbst das könnte missverstanden werden. Zu hastig könnte jemand sagen: «Jawohl, wenn Spiel, dann Spiel; wenn Arbeit, dann Arbeit. Jedes zu seiner Zeit. Eine perfekte Balance, nicht wahr?» Nicht besonders perfekt, wie mir scheint. Geht mir perfekte Arbeit nicht auch spielerisch von der Hand? Menschen, die ihre Arbeit mit nichts als ihrem Ziel vor Augen verbringen, wissen kaum mehr, was spielen heißt, wenn ihre Freizeit schließlich anfängt.[1]

(Film 34:54) «Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.

Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.»[2]

«Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.

«Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, ‹gute Arbeit› ist wie ein kosmisches Ballspiel, ‹wie ein heiliger Tanz.›»[3]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3]

[Ergänzend:

1. Schlüsselwort ‹Arbeit/Spiel›, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 165 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 166]:

«Menschliches Handeln ist von zweierlei Art: Arbeit und Spiel. Wir arbeiten, um einen nützlichen Zweck zu erfüllen. Aber wir spielen aus sinnvollem Vergnügen. Spiel ist in sich selbst sinnvoll. Wir können in unserer Arbeit dermaßen zweckorientiert werden, dass wir selbst nach der Arbeit nicht länger spielen können; bestenfalls können wir uns eine weitere Runde Arbeit verschaffen. Nützlichkeit verdrängt unser Vergnügen. Welch eine Zeitverschwendung! Aber wir können Arbeit davor schützen, zu bloßer Plackerei zu werden. Wir können lernen, spielerisch zu arbeiten. Das aber bedeutet, unsere Arbeit nicht nur im Blick auf ihre brauchbaren Resultate zu verrichten, sondern auch wegen des Vergnügens, das wir dabei empfinden, wenn wir sie aufmerksam und dankbar verrichten. Dankbare Arbeit ist spielerische, gelassene Arbeit. Nur gelassene Arbeit ist auf lange Sicht fruchtbar. Nur wenn wir spielerisch arbeiten, sind wir wirklich lebendig.»

2. Sterben lernen (2005); siehe auch Muße:

«Diese innere Einstellung, sich selbst hinzugeben, ein Gehenlassen von Augenblick zu Augenblick ist es, was uns so besonders schwer fällt, doch kann man es anwenden auf beinahe jedem Gebiet unserer Erfahrung.

Wir haben zum Beispiel die Zeit erwähnt. Da ist das ganze Problem der Freizeit, wie wir sie nennen, der Entspannung und Muße.

Wir denken uns als ein Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen (dieses ewige ‹Nehmen›!), während sie in Wirklichkeit überhaupt kein Privileg ist. Muße ist eine Tugend, und zwar eine, die jeder sich leisten kann. Es geht hier nicht darum, sich Zeit zu nehmen, sondern Zeit zu geben, ‹sich Zeit zu lassen›.

Muße ist die Tugend derjenigen, die sich Zeit nehmen für was immer es ist, das Zeit braucht ‒ dieser Angelegenheit so viel Zeit schenken, wie sie benötigt. Das ist der Grund, warum Muße für uns beinahe unerreichbar ist. Zu sehr sind wir ausgerichtet auf Nehmen, auf Aneignen. Und so gibt es mehr und mehr freie Zeit ‒ und immer weniger Muße. In früheren Jahrhunderten, als für alle viel weniger freie Zeit zur Verfügung stand und es keine ‹Ferien› gab, da entspannten sich die Leute während der Arbeit. Heute arbeiten sie hart, um sich zu entspannen.

Es gibt Leute, die arbeiten von morgens um neun bis abends um fünf mit der Einstellung: Lasst es uns erledigen, lasst uns die Sache an die Hand nehmen. Sie sind vollkommen zweckorientiert, und wenn es endlich fünf Uhr ist, sind sie so erschöpft, dass sie keine Zeit mehr haben für richtige Muße. Wer nicht entspannt arbeitet, kann auch nicht entspannt spielen. So kommt es zum Zusammenbruch, oder die Leute nehmen ihren Tennis- oder Golfschläger und fahren fort mit der Arbeit, die dann ‹Freizeittätigkeit› genannt wird.»

3. Der Mönch in uns (1978) [dieser Text findet sich, übersetzt von Bernard Schellenberger, weitgehend auch im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63]; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014): Kernsätze zum 9. und 10. Mai:

«Arbeit ist diese besondere Art von Aktivität, die auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist, und wenn dieser erreicht ist, hört die Arbeit auf.»

«Gewöhnlich denken wir, dass das Gegenteil von Arbeit Muße ist. Muße ist nicht das Gegenteil von Arbeit. Spiel ist das Gegenteil von Arbeit, wenn du einen Gegensatz haben willst. Und die Muße überbrückt die Lücke zwischen Arbeit und Spiel. Muße ist, seine Arbeit in der Haltung des Spielens zu tun.»

4. Im Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-14, geht Bruder David ausführlich ein auf den Zusammenhang von Sinn und Zweck, Arbeit Spiel und Muße, Kontrolle und Hingabe, Sinn und Feier, Sterben und Wandlung ein:

«Beachten Sie, dass wir Sinn und Zweck nicht gegeneinander ausspielen. Es geht uns nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-Als-auch. Wir müssen unterscheiden, aber wir dürfen nicht trennen. Das gilt auch von den Begriffen Arbeit und Spiel. Die beiden sind miteinander verbunden in dem Begriff von Muße. Muße ist freilich ein oft missverstandener Begriff. Verwechseln wir nicht allzuoft Muße mit Müßiggang? Muße ist aber keineswegs Untätigkeit. Wie könnten wir sonst mit Muße arbeiten? Und wir wissen doch, dass die beste Arbeit in Muße geleistet wird. Diese echte Muße ist aber die Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Spiel.

Nun missverstehen wir das oft so, dass wir meinen, man müsse zuerst arbeiten und nichts als arbeiten, um dann endlich zum Lohn spielen zu können. Wenn man aber nicht schon spielerisch arbeitet, dann kann man auch nachher nicht spielen. Kennen wir nicht Leute, die während der Arbeitszeit wie wild arbeiten und dann nachher entweder erschöpft zusammenbrechen oder während der Freizeit einfach weiterarbeiten, nur jetzt mit Spielzeug als Werkzeug? Sie kommen aus der Zwangsjacke der Zweckgerichtetheit einfach nicht heraus. Wenn man nicht schon mit Muße arbeitet, kann man auch nicht mit Muße seine Freizeit gestalten.

Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fallt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?»]

___________

[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 67-69 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 66f.

[2] Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription; siehe auch Tasten, berühren, behüten: Ergänzend: 1.

[3] Orientierung finden (2021): ‹Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens›, 108f.; siehe auch Fließweg



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

Die Hymne der Prim beginnt mit den Worten: «Die Sonne ist aufgegangen»[1]. Die ersten beiden Stunden waren eher besinnlich. Jetzt ist die Bühne bereit für die Handlung. Die Prim ist die Stunde der Arbeitsverteilung. Dabei richtet sich das Augenmerk auf einen angemessenen Beginn. Es ist wesentlich, dass die Anforderungen und Beschäftigungen des Tages aus ganzem Herzen und mit Begeisterung angefangen werden.

Der Ort der Prim ist der Kapitelsaal, wo die Mönche zusammenkommen, um die praktischen Fragen der Gemeinschaft zu besprechen. Die Arbeit wird gemeinschaftlich verteilt. Und auch wenn wir Mönche oft tagsüber lange Zeit allein arbeiten, so ist es dennoch eine gemeinsame Arbeit.

Robert Frost drückte dies sehr schön aus, als er sagte, dass Menschen immer zusammenarbeiten, «ob sie gemeinsam arbeiten oder getrennt».

Frost berichtet von einem Landarbeiter, der frühmorgens hinausgeht, um das Heu zu wenden. Der Mäher hatte seine Arbeit bereits viel früher am Morgen getan und war längst weggegangen. Und nun fühlt sich dieser Mann beim Heuwenden etwas verlassen und einsam und sagt sich: «Ich muss allein sein ‒ genauso wie der andere es war, wie alle es sein müssen», so sinniert er in seinem Herzen, «ob sie zusammenarbeiten oder getrennt.»

Dann aber wird seine Aufmerksamkeit von einem Schmetterling auf ein Blumenbüschel gelenkt, das der Mäher stehengelassen hat, weil es zu schön war, um abgemäht zu werden. Das gemeinsame Erlebnis der Schönheit dieser Blumen bewegt ihn, sich anders zu besinnen: «Und gleichsam träumend unterhielt ich mich brüderlich mit jemandem, den ich nicht einmal in Gedanken zu erreichen hoffte.»

«Menschen arbeiten gemeinsam», sagte ich ihm von Herzen, «ob sie zusammen arbeiten oder getrennt.»

Seine plötzliche Einsicht machte ihm klar, dass Arbeit immer Gemeinschaftsarbeit ist, ob wir das nun erkennen oder nicht. Alle Arbeit ist miteinander verflochten.[2]

Natürlich gibt es Arbeit, die sich eigentlich nicht lohnt. Aber selbst wenn es sich nur um Handgriffe an einem Fließband handelt, dürfen wir doch hoffen, dass sie Menschen irgendwo in der Welt helfen, mit denen wir in Gemeinschaft arbeiten, obwohl wir ihnen nie begegnen werden.

Auch dieser Gedanke ist wiederum mit dem Choral verknüpft: Man singt ja gemeinsam mit anderen, und gerade deshalb ist der Gesang so schön. Es ist nicht nur eine Stimme, die singt, sondern da singt eine Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft singt nicht einfach nur, sondern sie singt ganz bewusst mit der gesamten Schöpfung, mit den Vögeln, den Bäumen, dem Wasser und den Engeln, mit der sichtbaren und unsichtbaren Kreatur.

Die Arbeit frisst uns mit ihren Forderungen auf, wenn wir sie nicht bewusst angehen. Dann werden wir zu Sklaven, ganz egal, wie weit oben auf der Leiter wir stehen! Nur wenn wir lernen, bewusst zu beginnen mit Anhalten, Hinschauen und Vorangehen, kann uns die Arbeit nicht unterjochen. Mönche wenden sich bewusst der Arbeit zu, so wie der Augenblick es erfordert; und sie lassen alles stehen und liegen, wenn die Glocke erklingt. Sie beweisen damit, dass sie nicht dem Gesetz der Arbeit unterstehen, sondern frei sind, sie immer dann loszulassen, wenn die Zeit gekommen ist.

Gehen wir nicht absichtsvoll und achtsam mit unserer Arbeit um, werden wir zu ihrem Sklaven und fühlen uns schließlich entfremdet und leer. Sogar Arbeit, die wir nicht gerne verrichten und für sinnlos halten, kann Sinn gewinnen, wenn wir uns bewusst und oft daran erinnern, warum wir sie tun.

Solange wir unsere Arbeit aus Liebe tun für diejenigen, die uns etwas bedeuten, macht sie Sinn. Die Liebe ist der beste Grund für unsere Mühsal. Liebe verwandelt alles, was wir tun und erleiden, zu einer Musik, die sich erhebt und weit hinaufschwingt wie ein Lobgesang.[3]

Diese Erde ist uns gegeben worden, damit wir mit ihr arbeiten. Wenn wir sie bebauen, erlangen wir ein tieferes Verständnis der göttlichen Wirklichkeit, die jeden Teil der Schöpfung erfüllt.

Rilke sagt in einem seiner Gedichte an Gott: «Du wirst nur mit der Tat erfasst.» Das Wort «erfassen» beinhaltet sowohl, etwas in Händen zu halten, zu fassen, als auch mit der Hand in etwas hineinzugreifen, wie beispielsweise beim Formen von Ton. Nur auf diese Weise erfassen wir die göttliche Wirklichkeit.

Manche glauben, dass wir das Göttliche umso mehr erfassen, je weiter wir uns von der Materie entfernen. Der Schöpfungsgeist betont jedoch zu Recht, dass wir das Göttliche im Materiellen entdecken. So wie das Blumenbüschel der Punkt war, an dem der Mäher und der Mann, der das Heu wendete, miteinander in Berührung kamen, ist die Materie unser Berührungspunkt mit dem Göttlichen.

Im Kloster ist es wichtig, die Arbeit als Herausforderung anzunehmen und nicht nur als eine Haushaltspflicht. Es ist nie dieselbe Aufgabe wie gestern: Heute ist ein neuer Tag, eine neue Herausforderung und eine neue Gelegenheit.

Im Kloster lernen wir, unsere Arbeit zu genießen, während wir sie tun ‒ wir tun sie um ihrer selbst willen und nicht einfach, damit sie getan ist oder damit wir sie erledigt haben.

Wir müssen lernen, unserer Neigung zu widerstehen, uns in die Dinge zu stürzen und unsere Beschäftigungen im Eilzugstempo hinter uns zu bringen. Unsere Zivilisation lehrt uns: «Zeit ist Geld»; sie fasst Arbeit als ein notwendiges Übel auf, lediglich ein Mittel zum Zweck. Wir wollen sie hinter uns bringen. Wenn wir die Stunden zusammenzählen, die wir in unserem Leben damit verbracht haben, etwas hinter uns zu bringen, dann macht das wohl leicht die Hälfte unseres Lebens aus.

Die mönchische Haltung aber besteht darin, gezielt etwas anzugehen und alles, was wir tun, in einem bedächtigen, gemessenen Tempo und mit voller Aufmerksamkeit zu vollbringen. So arbeiten Handwerkmeister, Weber, erfahrene Bauern und andere verständige Arbeiter. So können auch schwierige Aufgaben gemächlich, freudig und um ihrer selbst willen gelöst werden. Und somit werden sie zu Lebensspendern.

Wenn während der Prim die Arbeit verteilt wird, heißt das zugleich die Arbeit zu segnen als auch sie zuzuweisen. Wir bitten darum, dass Gott unsere Handlungen lenken möge. Wenn wir unsere Arbeit so tun, wird alles zu einem Gebet. Das ist keineswegs eine engstirnige, fromme Anschauung. Um mit Rilke zu sprechen:

«Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
dass sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.»
[4]

Alles, was wir im Angesicht Gottes tun, ist Gebet. Auf diese Weise werden unsere Hände geheiligt und gesegnet. Sie können nichts schaffen, was nicht betet.

«Ob einer malte oder mähte», fährt der Dichter fort, «schon aus dem Ringen der Geräte entfaltete sich Frömmigkeit.» Wird etwas richtig begonnen und unsere Handlungen mit unseren besten Absichten in Einklang gebracht, dann ist alles, was wir tun, Gebet. Die Prim ist jene Stunde des Tages, in der wir nicht darum beten, etwas hinter uns zu bringen, sondern darum, dass alles, was wir tun, zum Gebet werde.

Alle Experten für Zeitmanagement raten uns, damit zu beginnen, den Tag zu planen. Wenn wir tatsächlich innehalten und uns Zeit nehmen, vorauszudenken und gezielt vorzugehen, dann werden wir die Prioritäten deutlich erkennen und können uns mit Erfolg einsetzen.

Die Prim ermöglicht uns, die Gelegenheit wahrzunehmen, im Voraus unser Gewissen zu erforschen und darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. Wir setzen die Prioritäten, so wie sie unseren innersten Gefühlen entsprechen. Wir können uns nochmals daran erinnern, was wir gestern Abend zur Komplet aus der Tagesrückschau gelernt haben und was wir besser machen wollten.[5]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f., 5]

[Ergänzend:

1. ‹Ora et labora›:

1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen (2011)
Spiritualität und Ökonomie:
(50:58) Würde der Arbeit und des Arbeiters: ‹Ora et labora› ‒ Fest für die Straßenarbeiter in Tassajara (Zen Mountain Center)

1.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019); siehe auch Sakramentales Leben:

«… Darum scheint mir manchmal, dass dankbar leben sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird ‒ und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).

Rainer Maria Rilke ist ganz im Einklang mit unserem Ordensvater, wo er diese Wahrheit dichterisch ausdrückt – und zwar so, dass sie nicht nur für Mönche gilt, sondern für alle Menschen:

‹Es gibt im Grunde nur Gebete.›

So wie das Tagewerk zum Gebet wird, so wird auch das Gebet zum Werk, zum ‹opus Dei›, wie der heilige Benedikt das Chorgebet nennt.»

2. «Du wirst nur mit der Tat erfasst» (Rilke: Das Stunden-Buch):

2.1. Lebendige Spiritualität (2015): Vier Gesprächsabende mit Texten von Rainer Maria Rilke
Verstehen durch Tun:
(06:54) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› – ‹Sprich mir aus überall› (‹Du wirst nur durch die Tat erfasst› – Das nackte Du
(13:56) ‹Es gibt im Grunde nur Gebete› (‹Alle, die ihre Hände regen›) … entfaltete sich Frömmigkeit: ‹Pietas› und Dankbares Leben / (17:57) Im Gespräch mit P. Johannes – ‹Contemplatio in actione›: Das göttliche Tun in unserem Tun

2.2. Das Gedicht in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 63-67

3. Den großen Tanz beten (1998) [siehe auch diesen Text, übersetzt von Bernardin Schellenberger, im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 1: ‹Lernen wie man in Stille betet›, 17f.]:

«Zu einer dritten inneren Welt [des Gebetes] ist das Tun der Schlüssel, liebevolles Tun. Sicher liegen Welten zwischen dem Gebet des Tuns und dem der Stille oder des Wortes. Hier bin ich mit Gott nicht übers Horchen und Antworten verbunden, auch nicht durch das Eintauchen in die Stille, sondern durch das Tun.

Was immer ich liebevoll tun kann, kann zu einem Gebet des Tuns werden.

Es ist auch nicht nötig, dass ich während dem Arbeiten oder Spielen unbedingt an Gott denke. Manchmal wäre das kaum möglich. Wenn ich ein Manuskript korrigiere, konzentriere ich mich wohl besser auf den Text als auf Gott. Wenn meine Gedanken zwischen beiden hin- und her gerissen sind, werden mir die Tippfehler entschlüpfen wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz.

Gott wird genau in dieser liebevollen Achtsamkeit anwesend sein, die ich der Arbeit entgegenbringe, welche mir anvertraut ist. Indem ich mich ganz und liebevoll dieser Arbeit hingebe, gebe ich mich ganz Gott hin. Dies geschieht nicht nur in der Arbeit, auch im Spiel, beim Reden, beim Beobachten von Vögeln oder beim Anschauen eines guten Films. Wenn es mich in Gott erfreut, muss sich Gott darüber in mir erfreuen. Ist nicht dieses Einssein das Wesen des Betens?»

3. Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 294-296, 300f.; siehe auch Kontemplation im Handeln: Ergänzend: 5.; Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:

«Gott vollendet sich nicht ohne unser Zutun. Gott vollendet sich aber auch trotz unseres Versagens. … Und Gott ist immer noch größer. Wir bauen an Gott, wir bauen am Bild Gottes, und dieses Bauen ist Kontemplation.»

«Das also ist Kontemplation im tiefen Sinne, diese Verbindung von schauen und bauen. Wenn wir das in jedem Bereich unseres Lebens durchführen, dann kann der Dichter sagen:

‹Es gibt im Grunde nur Gebete.›

Solange wir im Mysterium verwurzelt bleiben, solange unser Bauen im Schauen verwurzelt bleibt, im Mysterium, solange unser Handeln im Grunde der Kontemplation verwurzelt bleibt und unsere Arbeit in der Dunkelheit des Schweigens, aus der wir stammen, im Mystischen, so lange ist alles Gebet.

Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift.

Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:

‹Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.

Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift›

(Rilke, Das Stunden-Buch)»

4. Sterben lernen (2005); siehe auch Sterben und Wandlung

«Das Mönchsleben ist ein Weg, um sich radikal der Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. In einem solchen Leben kann man nicht im Zweck stecken bleiben: Zwar gibt es viele Zwecke, die Mönche verfolgen, aber sie sind alle zweitrangig. Als Mönch bist du vollkommen überflüssig, und darum kannst du der Frage nach dem Sinn nicht ausweichen.»

5. Der Mönch in uns (1978) [die folgenden Abschnitte sind im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63, übersetzt von Bernardin Schellenberger, nicht enthalten]:

«Ich möchte jetzt gerne ein paar Bemerkungen zum mönchischen Leben machen. Erstens ist das Klosterleben eine besondere Art von Leben. Das Kloster ist ein besonderer Ort und eine besondere Umgebung. Man könnte es eine professionelle Umgebung, eine kontrollierte, geregelte Umgebung, ein Labor, eine Werkstatt nennen. Und in der Tat nennt die ‹Regel des Heiligen Benedikt›, eines der Schlüsseldokumente unserer abendländischen Tradition des Mönchstums, das Kloster eine Werkstatt. Es ist ein Ort, an dem alles darauf ausgerichtet ist, jene kontemplative Dimension zu pflegen, von der wir gesprochen haben, jene mystische Einstellung zu pflegen, jenes Offensein für den Sinn, das wir alle in unseren Gipfelerfahrungen kennengelernt haben.

Wir alle sind also in unserem Leben in gewissem Sinne Amateure des mönchischen Lebens. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Mönchen besteht darin, dass die Mönche Fachleute sind. Aber gerade in unserer Zeit wissen wir, dass die Fachleute sehr oft in ihrem Fach weniger leisten als manche Amateure. Deshalb: je mehr Menschen entdecken, wie wichtig der Mönch in ihnen ist, und je mehr sie entdecken, wie wichtig das Offensein für den Sinn ist, umso wichtiger wird es, dass jeder, Amateur oder Fachmann, ab und zu Zugang zu dieser geregelten Umgebung bekommt, in der er die mönchische oder kontemplative Dimension seines Lebens fördern kann.»]

_______________

[1] «Iam lucis orto sidere
Deum precemur supplices
Ut in diurnis actibus
Nos servet a nocentibus.»

1. Strophe des Hymnus von Aurelius Ambrosius (339/40-397), übersetzt von Adalbert Schulte:

«Da sich nun das Tagesgestirn erhoben hat,
so wollen wir Gott flehentlich bitten,
dass er uns bei den Geschäften des Tages
vor schädlichen Dingen bewahre.»

[2] Musik der Stille (2023), 66f.

[3] Ebd. 74f.

[4] R. M. Rilke: ‹Alle, die ihre Hände regen› (Das Stunden-Buch)

[5] Musik der Stille (2023), 67-70



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

Im etwas nachlässigen alltäglichen Sprachgebrauch benutzen wir Zweck und Sinn manchmal so, als seien sie dasselbe. Wir sollten uns aber daran erinnern, wie wir einen gegebenen Zweck anstreben, und wie wir im Gegensatz dazu Sinn erfahren. Der Unterschied ist bemerkenswert.[1]

Um einen Zweck zu erreichen, müssen wir alles unter Kontrolle halten. Wir müssen sozusagen «die Zügel halten», «die Dinge in die Hand nehmen», die «Sache unter Kontrolle bringen» und die Umstände wie Hilfsmittel nutzen, um unsere Zwecke zu erreichen. Solche Redewendungen sind bezeichnend für eine zweckorientierte, nützliche Tätigkeit, und das ganze moderne Leben insgesamt neigt dazu, so zweckorientiert zu sein.

Die Dinge liegen jedoch anders, wenn wir es mit Sinn und Bedeutung zu tun haben. Hier geht es nicht darum, die Welt um uns zu gebrauchen, sondern darum, sie auszukosten.

Unsere Redewendungen, die sich auf Sinn beziehen, zeigen uns mehr passiv als aktiv: «Es ist mir etwas geschehen», «Es hat mich tief berührt», «Es hat mich bewegt». Natürlich möchte ich Zweck und Sinn nicht gegeneinander ausspielen, oder Aktivität gegen Passivität. Es geht eher darum, ein Gleichgewicht in unserer hyperaktiven, von Zweckmäßigkeit besessenen Gesellschaft zu finden. Wir unterscheiden hier Zweck und Sinn nicht, um die beiden zu trennen, sondern um sie zu verbinden. Unser Ziel ist es, Sinn in unsere zweckvollen Tätigkeiten einfließen zu lassen, indem wir Aktivität und Passivität in ihre ursprüngliche wechselseitige Beziehung bringen.[2]

Eine kreative Spannung aber aufrechtzuerhalten ist anstrengend. Es erfordert von uns eine Hingabe, die uns schwerfällt. Warum schwer? Weil sie Mut erfordert. Solange wir die Kontrolle haben, fühlen wir uns sicher. Lassen wir uns aber hinreißen, dann ist nicht zu sagen, wohin das führen wird. Wir wissen nur, dass das Leben abenteuerlich wird. Zum Abenteuer aber gehört Wagnis.

Manchmal macht uns das Wagnis so sehr Angst, dass wir lieber alles unter Kontrolle halten, selbst wenn das bedeutet, dass wir uns mit Langeweile zufrieden geben müssen.

Entsinne dich, wie das in persönlichen Beziehungen funktioniert. Du glaubst, dass dir jemand sicher ist: «Ich habe ihn im Sack» oder «Sie frisst mir aus der Hand». Hältst du aber eine Beziehung so unter Kontrolle, dann wird sie sehr schnell langweilig. So gibst du euch beiden also ein wenig Spielraum. Und schon wird es abenteuerlich, aber auch riskant. Du weißt nie, was als nächstes passiert, wenn du dich auf Abenteuer einlässt. Sobald es dir genügend Angst macht, verschließt du dich aber sofort wieder. Manchmal bewegen wir uns an einem einzigen Tag viele Male hin und her zwischen Geben und Zurücknehmen, zwischen Auf- und Zumachen. Leben aber ist Geben und Nehmen, nicht geben oder nehmen.[3]

Sollten wir nur nehmen oder nur geben, sind wir nicht lebendig. Wenn wir nur einatmen, dann ersticken wir, aber wenn wir nur ausatmen, ersticken wir ebenso. Das Herz saugt das Blut ein und pumpt es hinaus, und im Rhythmus von Geben und Nehmen leben wir. Tatsächlich ist aber das Gleichgewicht in unserem Leben oft gestört. Unser Schwerpunkt liegt viel zu sehr auf dem Zweck ‒ dem Nehmen, dem Machen, dem Wollen. Was das sinnvolle Leben angeht leben wir sozusagen in einem unterentwickelten Land. Weil wir nur eine Hälfte des Gebens und Nehmens entwickeln, sind wir nur halb lebendig.

Hier sind wieder die Redewendungen unserer Sprache symptomatisch für unsere Vorliebe für zweckmäßiges Nehmen und Wollen. Wir haben jede Menge Ausdrücke, die vom Machen und Nehmen reden, doch nur wenige sprechen von Hingabe:

Wir machen einen Spaziergang, wir machen einen Kurs, wir nehmen ein Bad, wir nehmen uns eine Pause, wir nehmen eine Mahlzeit ein. Wir nehmen uns fast alles, eingeschlossen sogar viele Dinge, die kein Mensch wirklich «nehmen» kann, zum Beispiel Zeit.

Wir sagen, dass wir uns «Zeit nehmen», doch wir leben nur wirklich, wenn wir Zeit geben, nämlich für etwas, das Zeit braucht und nimmt. Wenn du Platz nimmst, so sitzest du nur dann bequem, wenn du deinem Sessel erlaubst, dich aufzunehmen. Schlafen zu wollen ist der sicherste Weg zur Schlaflosigkeit, denn solange du auf dem Nehmen bestehst, wirst du den Schlaf nicht bekommen. In dem Moment jedoch, wo du dich hingibst, wirst du in den Schlaf fallen.

Vielleicht beginnen wir zu ahnen, dass unser einseitiges Bestehen auf dem Nehmen uns daran hindert, ausgeglichen und friedlich zu leben und auch daran, einen ausgeglichenen und friedlichen Tod zu sterben. Nach einem Leben, in dem wir genommen und genommen haben, stoßen wir zuletzt auf etwas, das wir nicht nehmen können. Der Tod nimmt uns. Das ist ernst. Einer kann durchs Leben gehen und immerfort nehmen, und zuletzt endet alles damit, dass er sich das Leben genommen hat, was in Wirklichkeit Suizid ist. Doch wir können lernen, uns selbst zu geben. Es fällt uns nicht leicht, weil wir uns davor fürchten, uns hinzugeben, aber es kann gelernt werden. Wenn wir lernen uns hinzugeben, lernen wir beides: zu leben und zu sterben ‒ nicht nur unseren letzten Tod zu sterben, sondern auch die vielen Tode des täglichen Lebens, durch die wir mehr und mehr lebendig werden können.[4]

Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fällt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?[5]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-5]

[Ergänzend:

1. Ich bin durch Dich so ich (2016): 5. Dialog, 1966-1976, 104f.:

Johannes Kaup: «Sie haben gesagt, Sie brauchen Ordnung, Stabilität und Wiederholung. Wie verträgt sich Ordnung, Stabilität und Wiederholung mit diesem Anfängergeist, der die Dinge immer wieder neu sehen, erleben und begreifen möchte, der sozusagen aus der Ursprünglichkeit heraus lebt?»

Bruder David: «Vielleicht ist mir gerade deshalb Wiederholung so lieb, sogenannte eintönige Arbeit. Manche Brüder finden es langweilig, wenn wir gemeinsam die Rundbriefe ausschicken. Aber jeder Briefumschlag, in den man etwas hineinsteckt, ist neu: Diesen einen habe ich noch nie in der Hand gehabt.»

2. Der Mönch in uns (1978) [die folgenden Abschnitte ab ‹Nun lautet die große Frage …› sind im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63, übersetzt von Bernardin Schellenberger, nicht enthalten]; siehe auch Sinn und Zweck: Ergänzend 3.; Geben und Nehmen: Ergänzend: 1.:

«Wenn wir eine strenge Arbeitsmentalität haben, dann sind wir nur halb lebendig. Wir sind dann wie Leute, die nur einatmen und dann ersticken. Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob man nur einatmet oder nur ausatmet: man wird auf jeden Fall ersticken.

Das zeigt sehr klar, dass wir hier nicht die Arbeit gegen das Spiel oder den Zweck gegen den Sinn ausspielen. Man muss beides miteinander verbinden. Wir müssen ein- und ausatmen, nur so bleiben wir am Leben. Das ist es schließlich, was wir alle anstreben, und worum es bei jeder Religion gehen sollte ‒ lebendig sein.

Nun lautet die große Frage: warum sind wir nicht lebendiger? Die Antwort findet sich in einem Wort: Furcht. AII das, was das Leben verzerrt oder zerstört, hat eine Wurzel und das ist die Furcht. Wir fürchten uns einfach davor zu leben. Warum fürchten wir uns davor zu leben? Weil ‹leben›, lebendig-sein bedeutet, sich selbst zu geben, und wenn wir uns wirklich geben, wissen wir nie, was mit uns geschehen wird.

Solange wir alles schön unter Kontrolle halten, alles zweckorientiert ist und wir alles im Griff haben, solange gibt es keine Gefahr ‒ aber auch kein Leben. Eine Welt, in der wir alles unter Kontrolle halten könnten, wäre so langweilig, dass wir alle tot wären. Wir würden sterben vor Langeweile. In gewisser Weise erfahren wir das jeden Tag ein bisschen. Wir bekommen Angst und halten die Dinge unter Kontrolle, aber sobald wir sie im Griff haben, langweilen wir uns. Denken Sie einmal an persönliche Beziehungen: ‹Ich habe sie im Griff; ich weiß, wie ich sie anpacken muss; ich weiß, wie ich ihn anpacken muss.›

Bis zu einem gewissen Grad ist das ganz gut, es ist sehr beruhigend. Aber dann geraten wir an einen Punkt, wo das entsetzlich langweilig wird, und dann sagen wir: ‹Lass uns ein kleines Abenteuer wagen.› Sobald wir aber ein Abenteuer wagen, ist Gefahr da, ist ein Risiko da. Ohne Risiko können wir kein Abenteuer erleben, also öffnen wir uns ein wenig.

Wir lockern unseren Griff ein bisschen, und sofort wird die Sache sehr interessant und abenteuerlich, aber auch furchterregend. Kaum haben wir uns versehen, da haben wir uns auch schon wieder eingeigelt und versuchen, die Dinge wieder in den Griff zu bekommen. So bewegen wir uns hin und her, hin und her, und das ist es, worum es im spirituellen Leben eigentlich geht. Das ist es, worum es bei der Religion eigentlich geht: die Überwindung der Furcht, uns selbst zu verlieren.»]

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[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Kontemplation und Muße›, 65 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 63f.]

[2] Sterben lernen (2005); siehe auch Sterben und Wandlung

[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Kontemplation und Muße›, 65f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 64f.]

[4] Sterben lernen (2005)

[5] Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 13. In diesem Vortrag geht Bruder David ausführlich ein auf den Zusammenhang von Sinn und Zweck, Arbeit, Spiel, Muße, Kontrolle und Hingabe, Sinn und Feier, Sterben und Wandlung

 


Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

Das erste Wort, das Gott im biblischen Bericht an Abraham beim Bundesschluss richtet, ist:

«Wandle vor mir und sei vollkommen!» (1 Mose 17,1)

In diesem Wort ist schon, wie in einem Samen, das ganze Wagnis der Heilsgeschichte beschlossen. Das Wagnis liegt einfach darin, vor Gott zu wandeln, sich dem Wort zu stellen.

Es heißt ja nicht: Wandle vor mir und nimm dich jetzt zusammen, wirklich vollkommen zu sein, denn ich werde dich beobachten!

Es heißt: wandle vor mir und sei vollkommen! In einem Parallelismus, in dem die zweite Hälfte dasselbe aussagt wie die erste: Wandle vor mir; das ist schon Vollkommenheit. Setze dich mir aus, darin liegt das Wagnis der Vollkommenheit.

Das Bibelwort ist zunächst gesprochenes Wort. Wenn es uns anspricht, stehen wir schon im Wagnis. Du wandle vor mir! Du selber.

Es gibt da eine schöne Geschichte, in der ein Rabbi betet: «Herr, mach mich wie Abraham!» Vielleicht hat er genau unsere Bibelstelle im Sinn. «Mach mich wie Abraham!»

Und eine Stimme kommt vom Himmel, die sagt: «Ich habe doch schon einen Abraham.»[1] ‒ Du selber musst vor mir wandeln. Niemand kann es für dich tun. Darin liegt dein Wagnis: Du selber zu sein vor mir.

Aber in dem «Vor mir» liegt ein weiterer Aspekt dieses Wagnisses, wirklich vor dem Antlitz Gottes zu wandeln und sich nicht hinter etwas zu verstecken.

Wir sollten uns angerufen fühlen wie Adam im Paradies:

«Wo bist du?»

Und nachdem es hier um den Sinn geht, dem wir uns aussetzen müssen, könnte dieses «Wo bist du?» fast so interpretiert werden: «Hinter welchem Zweck versteckst du dich heute?»

Hinter welchem Busch versteckt Adam sich? Die besten Büsche, hinter denen wir uns vor Gott verstecken können, sind natürlich die, die Gott am wohlgefälligsten sind, die besten Zwecke. Wir wissen ganz genau, wie oft wir uns hinter diesem oder jenem Zweck verstecken, wenn Gott ruft: «Wo bist du?»

Und es liegt noch ein weiteres Wagnis darin, und das ist vielleicht das wichtigste in diesem Spruch. Es heißt ja ausdrücklich: «Wandle!»

Nicht nur «du»; nicht nur «vor mir»; sondern: «Wandle!»

Wandeln setzt voraus, dass man einen Fuß aufhebt; und da hat man schon das Gleichgewicht verloren; dann muss man ihn niedersetzen und den nächsten aufheben, und dann hat man schon wieder das Gleichgewicht verloren.

Wandeln ist diese sonderbare Art der Fortbewegung, in der man ständig das Gleichgewicht verliert und wiederfindet. Und gerade diese Fortbewegungsart wird von uns erwartet als Ausdruck der Vollkommenheit: Wandle!

Sobald wir uns in das Bleibende verschließen, erstarren wir. Die Sicherheit des Bleibenden führt zur Erstarrung. Rilke sagt das sehr schön in den Sonetten an Orpheus:

«Was sich ins Bleiben verschließt, schon ist's das Erstarrte.»

Und dieses selbe Sonett beginnt mit den Worten:

«Wolle die Wandlung.»[2]

Gott will die Wandlung, wenn er das Wagnis des Wandelns zur Voraussetzung macht für Vollkommenheit. Und da trifft sich das Glückstreben des Menschen mit dem einzigen anderen Punkt, dessen wir sicher sein können, dem Punkt des Todes.

Im Punkt des Todes erreicht das Wagnis der Wandlung seinen Höhepunkt. Der Tod ist die entscheidende Wandlung und das entscheidende Wagnis. Und alles in unserem geistlichen Leben hängt einfach davon ab, ob wir im Laufe des Lebens, während wir uns immer wieder verschließen und öffnen, endlich lernen, uns dem Wort zu stellen.

Dann können wir uns auch diesem letzten Wort stellen, das Tod heißt, und können es wagen, Sinn zu finden, wo wir ergriffen werden, ohne begreifen zu können.[3]

«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
die Lust hat eignes Grauen,
und alles hat den Tod.»
[4]

Schon lange bevor es uns wirklich bewusst wird, dass allem, was unsere Sinne erfahren, Tod beigemischt ist, so wie bei Pfirsichen die Bitterkeit des Kerns das Fruchtfleisch durchzieht, rührt uns der Wandel der Dinge ganz eigen an.

«Es wandelt, was wir schauen», und nicht nur, was wir schauen. Alles, was unsere Sinne an dieser Welt wahrnehmen, «wandelt».

Seltsam lässt Eichendorff dieses Wort zwischen Bedeutungen schweben. Wandelt, was wir schauen, sich, oder wandelt es uns? Beides schwingt mit. Handel und Wandel der Welt ist Weiterbewegung ‒ voran oder im Kreis herum ‒, aber auch Veränderung. Was aber so wandelt und sich dabei verwandelt, das wandelt auch uns, die es schauen, indem es in unser Leben eingreift.

Wo wir es mit Lebendigem zu tun haben, ist nichts automatisch. Im Leben ist Wachstum organisch mit Sterben verbunden. Leben heißt, mit jedem Wimpernschlag für Altes sterben und für Neues geboren werden. Jeder Fortschritt im Leben ist ein Sterben in größere Lebendigkeit hinein. Wer dazu den Mut nicht hat, kann weder leben noch sterben. Lebensmut ist die Tapferkeit, die wir für jenes Immer-wieder-Sterben brauchen, das zum wachen Lebendigsein untrennbar dazugehört.

Auch im Bereich der Sinnlichkeit müssen wir immer wieder sterben, um so Sinn zu finden. Das ist ja die Bedeutung des memento mori, das wir als Mahnwort etwa an Sonnenuhren alter Klöster lesen.[5]

Aber das ist nur die Hälfte der Botschaft. Nicht selten steht dort stattdessen «memento vivere»«Denke daran, zu leben!»

Der Heilige Benedikt will, dass seine Mönche «den Tod allzeit vor Augen halten» mit dem Ziel, wach und bewusst zu leben. Nicht ein morbides Grübeln übers Sterben ist mit dem «memento mori» gemeint, sondern ein lebensbejahendes Wachsein in jedem Augenblick, auch in unserem letzten.[6]

Und doch ist es wahrhaftig ein Gewahrsein des Todes, denn der Tod ist letztlich der entscheidende «Punkt, wo sich Zeitloses schneidet mit Zeit».[7]

Aber die Sammlung des Mönchs ist keine morbide Vorwegnahme seiner Todesstunde, sie ist vielmehr ein bewusstes Erleben der Gegenwart, des Hier und Jetzt «Im Kreuzfeld der Zeit».[8]

Und in diesem Sinn ist die «Todesstunde jeder Augenblick».[9]

In jedem Augenblick, in dem wir wirklich gegenwärtig sind, kann durch diese innere Sammlung der Durchbruch durch die Zeitbarriere erfolgen.

Der Augenblick vollkommener Gegenwärtigkeit, durch innere Andacht erreicht, ist der «Augenblick in und außer der Zeit».[10]

So ist «Geschichte ein Gefüge aus zeitlosen Momenten».[11]

Durch ein Leben gesammelter Achtsamkeit wird der jeweils gegebene Augenblick ‒ was immer sein Inhalt sei ‒ zu einem «Symbol, einem Symbol vollendet im Tod».[12]

Wir können beschäftigt sein mit zweckvollen Tätigkeiten, mit der Erledigung von Aufträgen, mit dem Durchführen von Arbeiten ‒ und plötzlich kommt der Tod daher ‒ sei es unser endgültiger Tod oder einer der vielen Tode, durch die wir Tag für Tag gehen.

Der Tod konfrontiert uns mit der Tatsache, dass ein zweckerfülltes Leben nicht genug ist. Wir brauchen Sinn um wahrhaft zu leben. Wenn wir dem Tod nahe kommen und alles was auf Zweck abzielt, uns aus den Händen gleitet, wenn wir die Dinge nicht länger manipulieren und kontrollieren, um bestimmte Ziele zu erreichen ‒ kann dann unser Leben noch sinnvoll sein? Wir tendieren dazu, Zweck und Sinn gleichzusetzen, und wenn der Zweck wegfällt, stehen wir da ohne Sinn. Hier liegt also die Herausforderung: wie kann es, wenn alles Streben nach Zweck zu einem Ende kommt, doch noch Sinn geben?

Diese Frage kann erklären, warum wir im Kloster aufgefordert und herausgefordert werden, den Tod allzeit vor Augen zu haben. Denn das Mönchsleben ist ein Weg, um sich radikal der Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. In einem solchen Leben kann man nicht im Zweck stecken bleiben: Zwar gibt es viele Zwecke, die Mönche verfolgen, aber sie sind alle zweitrangig. Als Mönch bist du vollkommen überflüssig, und darum kannst du der Frage nach dem Sinn nicht ausweichen.

Unsere Redewendungen, die sich auf Sinn beziehen, zeigen uns mehr passiv als aktiv: «Es ist mir etwas geschehen», «Es hat mich tief berührt», «Es hat mich bewegt». Natürlich möchte ich Zweck und Sinn nicht gegeneinander ausspielen, oder Aktivität gegen Passivität. Es geht eher darum, ein Gleichgewicht in unserer hyperaktiven, von Zweckmäßigkeit besessenen Gesellschaft zu finden. Wir unterscheiden hier Zweck und Sinn nicht, um die beiden zu trennen, sondern um sie zu verbinden. Unser Ziel ist es, Sinn in unsere zweckvollen Tätigkeiten einfließen zu lassen, indem wir Aktivität und Passivität in ihre ursprüngliche wechselseitige Beziehung bringen.

Der Tod stellt diese Beziehung auf die äußerste Probe. Nur wenn unser Sterben unsere volle und letzte Antwort auf das Leben ist, stimmen Aktivität und Passivität zuletzt im Tod überein. Weil wir im Leben so einseitig aktiv sind, denken wir uns den Tod zu einseitig passiv. Natürlich sind wir im Tod offensichtlich passiv, das Sterben ist das am meisten Passive, das uns geschehen kann. Es ist die äußerste Passivität ‒ etwas, das uns unausweichlich widerfahren wird. Wir werden alle einmal getötet werden auf die eine oder andere Weise, sei es durch Krankheit oder Alter oder einen Unfall oder sonst auf eine andere Art. Wir alle sind uns darüber im Klaren, aber nicht viele Leute sind sich bewusst, dass der Tod auch höchste Aktivität von uns fordert.

Hier können uns wieder bezeichnende Redewendungen helfen, dies zu verdeutlichen: Es ist zum Beispiel aufschlussreich, dass der passivste Vorgang in unserer Erfahrung, nämlich das Sterben im Deutschen (und Englischen) nicht in einer Passiv-Form ausgedrückt werden kann. Es gibt keinen Passiv-Ausdruck für das Verb «sterben». Wir können getötet werden, aber wir können nicht «gestorben werden»; wir müssen sterben.

In unserer Sprache ist so die Erfahrung aufbewahrt, dass das Sterben nicht nur passiv ist, vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie passiv, sondern auch die höchste Aktivität.

Sterben ist etwas, das wir selbst tun müssen.

Vielleicht können wir getötet werden ohne zu sterben, was solche Gespenstergeschichten erklären würde, in denen ein Haus oder ein Zimmer verwunschen sind durch die andauernde Gegenwart einer Person, die getötet wurde, aber nicht wirklich gestorben ist.

Diese zwei Dinge müssen im Tod zusammenkommen: Wir tun etwas, und wir erleiden etwas. Mehr als das, wir müssen etwas erleiden, was wir tun, und wir tun etwas, das wir erleiden. Dieses Handeln im Erleiden, dieses Geben im Nehmen ‒ die gegenseitige Beziehung ‒, wird durch unsere Konfrontation mit dem Tod in den Brennpunkt gerückt. Es kennzeichnet das Leben in all seinen Aspekten.[13]

Sterben gehört ebenso zum Leben, wie Geborenwerden. Deshalb habe ich keine Angst vor dem Tod als solchem. Wenn der Apfel reif ist, fällt er ab vom Baum. Ausreifen zu dürfen ist ein großes Geschenk. Ich bin dankbar für die Gelegenheit, auch jetzt noch dazulernen zu dürfen im hohen Alter. Was mir Angst macht, ist das Drum und Dran beim Sterben – das Kranksein, das ja meist dazugehört, vielleicht Schmerzen und jedenfalls der zunehmende Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten, der schon jetzt beginnt. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass wir uns nicht fürchten müssen vor den Engpässen, durch die das Leben uns führt. Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt dadurch in der Enge stecken. Wenn wir aber unsere Angst zulassen und vertrauensvoll auf sie zugehen, dann führt das Leben uns hindurch, wie durch einen engen Geburtskanal. Wir können uns in diesem Vertrauen üben. Das ist eine gute Vorbereitung auf den Tod.

Wir erfahren es an entscheidenden Wendepunkten unseres Lebens immer wieder: beängstigende Augenblicke führen zu einer neuen Geburt auf einer höheren Ebene. Warum sollte das nicht auch in unserem letzten Augenblick so sein. Wir können uns freilich ein Jenseits ebenso wenig vorstellen, wie wir uns im Mutterleib die Welt vorstellen konnten, in die wir dann geboren wurden.[14]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 5f., 12-14]

[Ergänzend:

1. «Wolle die Wandlung» (Rilke):

Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Rilke, Sonette 2. Teil, XII)

Siehe auch das Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 151-155, und Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 94

2. «Es wandelt, was wir schauen» (Joseph von Eichendorff):

So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
(18:46) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) und ein Brauch im jüdischen Laubhüttenfest

Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen ‒ ‹Du bist’s, der, was wir bauen, mild über uns zerbricht› (Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen›): Die Hütten am Laubhüttenfest sind durchsichtig zu den Nachbarn und den Sternen

Siehe auch das Gedicht in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 93, und Fragen des Lebens

3. «Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten» (Rilke, Sonette Teil 1, XIX):

Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(08:59) Ellinor Jensen (Sprecherin): ‹Wandelt sich rasch auch die Welt in Wolkengestalten› (Rilke: Sonette 1. Teil, XIX)

Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX)

Siehe auch das Sonett in Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 98f., und in Altern: Ergänzend: 5.: ‹Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen›

4. «Sterben ‒ Teil eines Prozesses, der Leben und Tod zusammenhält»:

Hoffnung des Lebens (2024): Auszug aus dem Interview von Thomas Steininger mit Bruder David:

Bruder David: «Zunächst sollten wir klären, worüber wir genau sprechen. Sprechen wir über Leben und Sterben oder Leben und Tod? Das sind zwei verschiedene Fragestellungen.

Der Tod ist das Gegenteil von Leben.

Sterben ist ein Teil eines Prozesses, der Leben und Tod zusammenhält. Das Ende unseres Lebens ist nicht der Tod. Das Ende ist das Sterben.»

Thomas Steininger: «Das Sterben ist also ein integraler Bestandteil des Lebens. Jeder von uns kennt die Sorge, die aufbricht, wenn man mit dem Sterben konfrontiert ist, egal ob das ein kleines oder ein großes Sterben ist. Die Angst des Nichtwissens ist ein Teil dieser Erfahrung. Aber wenn das Sterben in einem Vertrauen dem Leben gegenüber gehalten ist, bekommt das Sterben sogar seine eigene Kraft. Denn dadurch ist es möglich, dass neues Leben entstehen kann, und das, was enden musste, enden darf.»

Bruder David: «Wunderschön ausgedrückt. Deshalb können wir im Verhältnis zu unserem eigenen endgültigen Tod von den vielen kleinen Sterbeerlebnissen unseres Lebens lernen, dass immer wieder eine Neugeburt daraus wird. Darum dürfen wir hoffen. Das ist eine kräftige Hoffnung. Nicht nur ein Wunsch, sondern eine tiefe Überzeugung, dass mit dem eigenen Tod auch eine neue Geburt Hand in Hand geht. Denn so haben wir das ja immer wieder erlebt ‒ auch wenn ich nicht weiß, wie diese Neugeburt aussehen könnte. Aber auch bei den kleineren Sterbeerlebnissen im Leben wussten wir nicht, was neuwerden kann.

Diese Erfahrung können wir auf die Sterbeprozesse übertragen, die wir um uns herum sehen. Daraus können wir Hoffnung schöpfen. In manchen Bereichen kann man noch darauf hoffen, dass etwas gerettet wird. Aber in anderen Bereichen sind wir schon zu weit über die Klippe gegangen, befinden uns im freien Fall, es lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Aber trotzdem dürfen wir hoffen, ohne dass wir uns vorstellen können, wie eine Neugeburt aussehen könnte. Aber die Hoffnung kommt aus der Erfahrung, dass in meinem Leben jedes Sterben zu einer Neugeburt geführt hat.»

«Die wirkliche Kraft der Hoffnung müssen wir nicht in uns zusammenkratzen, sondern sie kommt aus der Kraft des Lebens. Hoffnung ist Vertrauen auf das Leben, das Öffnen der Schleusen des Lebens, damit die Kraft des Lebens durchfließen kann. Das ist die größte Kraft, die es überhaupt gibt.»]

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[1] Martin Buber: Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, Heidelberg 81981: ‹II. Der besondere Weg›, 16:

«Der weise Rabbi Bunam sagte einmal im Alter, als er schon erblindet war: ‹Ich möchte nicht mit Vater Abraham tauschen. Was hätte Gott davon, wenn der Erzvater Abraham wie der blinde Bunam würde und der blinde Bunam wie Abraham?› Und mit noch größerer Eindringlichkeit ist dasselbe von Rabbi Sussja ausgesprochen worden, als er kurz vor dem Tode sagte: ‹In der kommenden Welt wird man nicht fragen: ‹Warum bist du nicht Mose gewesen?› Man wird mich fragen: ‹Warum bist du nicht Sussja gewesen?›»

[2] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XII

[3] Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 15f.

[4] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 4; siehe das Gedicht in Fragen des Lebens

[5] Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 80, 92

[6] Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David

Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Spiegel des Herzens›, 131:

«Klösterliche Aufmerksamkeit und innere Sammlung stehen, wie das Schweigen, in direktem Zusammenhang zum Gehorsam. Sie sind nicht das finstere ‹memento mori›, als welches sie manchmal erscheinen.»

[7] T. S. Eliot: Vier Quartette. Four Quartets. Englisch und deutsch; übertragen und mit einem Nachwort von versehen von Norbert Hummelt, Berlin, Suhrkamp Verlag 2015: ‹The Dry Salvages, V›, 60f.; siehe auch Stillehalten:

«But to apprehend
the point of intersection of the timeless
With time, is an occupation for the saint ‒
No occupation either, but something given
And taken, in a lifetime’s death in love,
Ardour and selflessness and self-surrender.
For most of us, there is only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but you are the music
Wile the music lasts. These are only hints and guesses,
Hints followed by guesses; and the rest
Is prayer, observance, discipline, thought and action.»

«Aber die Stelle zu erkennen,
Wo die Zeit das Zeitlose
Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒
Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird
Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens,
Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.
Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik so tief gehört
Dass sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt. Das sind nur erste Andeutungen,
Fingerzeige, Rätselraten; der Rest
Ist Gebet, Zucht, Innehalten, Denken, Handeln.»

[8] Ebd.

[9] T. S. Eliot: The Dry Salvages, III; siehe auch Doppelbereich Ich-Selbst; Augenblicke wach im Jetzt:

«Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.» ‒ «And the time of death is every moment.»

[10] T. S. Eliot in Anm. 7; siehe auch Stillehalten; Sterben und Angst; Jetzt im Doppelbereich

[11] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V:

«The moment of the rose and the moment of the yew-tree
Are of equal duration. A people without history
Is not redeemed from time, for history is a pattern
Of timeless moments. So, while the light fails
On a winter's afternoon, in a secluded chapel
History is now and England.»

«Der Augenblick der Rose und der Augenblick der Eibe
Sind von gleicher Dauer. Ein Volk ohne Geschichte
Ist nicht von der Zeit erlöst, weil Geschichte ein Muster ist
Aus zeitlosen Augenblicken. Jetzt, wo es dämmert,
Im Winter, nachmittags, in der entlegenen Kapelle
Ist die Geschichte jetzt und England.»

[12] Die Achtsamkeit des Herzens (2018): ‹Spiegel des Herzens›, 131f.

T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, III:

«Whatever we inherit from the fortunate
We have taken from the defeated
What they had to leave us ‒ a symbol:
A symbol perfected in death.»

«Was wir auch immer von den Siegreichen erben
Haben wir von den Besiegten genommen
Was sie uns geben konnten ‒ ein Zeichen:
Ein Zeichen, vollendet im Tod.»

[13] Sterben lernen (2005)

[14] Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David; siehe auch Fürchte dich nicht: Ergänzend: 1.

 


Quellenangaben

Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

(Film 27:53-30:18) «Für mich gilt immer noch, was auch für mich als junger Mensch und sicher auch für dich gilt: Wenn wir uns fragen, was sollen wir jetzt weiter machen, kommt immer zuerst die Frage:

Was würde mich wirklich freuen? Das ist das Wichtigste. Das mache ich immer noch. Was soll ich morgen machen? ‒

Was würde mich wirklich freuen?

Aber es ist halt schon mehr Gewohnheit geworden, ich brauche das nicht ausdrücklich zu fragen.

Das zweite ist:

Kann ich es?

Wir wünschen uns manchmal etwas, möchten etwas machen, das wir gar nicht können. Fallschirmspringen oder sonst irgendetwas.

Und die dritte Frage, und die ist die Wichtigste, ist:

Wozu bietet mir jetzt das Leben Gelegenheit,
auf das hinzugehen, was mich am meisten freut?

Und dieses Hinhören, dieses Hinhorchen ist ganz etwas Wichtiges.

Ich habe einmal eine Geschichte gelesen ‒ wenn sie nicht wahr ist, ist sie gut erfunden ‒, dass jemand gesagt hat: ‹Also, was ich mir am meisten wünschen würde, ist, am Meer zu sitzen, zu lesen und sonst nicht viel zu tun zu haben.›
Die Frage ist: Was bietet mir jetzt das Leben als nächste Gelegenheit, dorthin zu kommen? Nachdem er die Annoncen für Berufe in Zeitungen gelesen hat, ist er dann Leuchtturmwächter geworden.»

Olivia: «Ein kreativer Umgang mit den Wünschen.»

Bruder David: «Es sind die kleinen Dinge, die man beachten muss, so kleine Schritte auf das hin, was einen am meisten freut.»[1]

Junge Menschen zur Zeit ihrer Berufswahl fragen mich oft:

«Wie kann ich der Welt am besten dienen?»

Ihr hohes Streben macht mir Freude und ich möchte eine Antwort geben, die ihnen wirklich bei ihrer Entscheidung hilft. Da kann ich nichts Besseres tun, als eine Antwort zu wiederholen, die nicht von mir stammt. Als ein Student Howard Thurman (1899-1981) die dringende Frage stellte: «Was kann ich nur tun, um der Welt zu helfen?» Da antwortete dieser weise Meister: «Tu’, was dir am meisten Freude macht. Die Welt braucht nichts dringender als Menschen, die alles, was sie tun, mit Freude tun.»

Der große Interpret des Heldenmythos, Joseph Campbell (1904-1987), gibt auf seine Weise den gleichen Rat, wenn er sagt:

«Follow your bliss!»

was so viel bedeutet wie «Lass’ dich von deiner Begeisterung leiten.»

Dabei ist freilich Begeisterung mehr als Nervenkitzel. Was uns Freude schenkt, ist nicht einfach das, was uns Spaß macht. Unser echtes Begehren sitzt tiefer als unsre Begierden.

Um herauszufinden, was wirklich dein tiefstes Begehren ist, wirst du einen Ort brauchen, an dem du ungestört allein sein und dir Zeit lassen kannst, um ganz still zu werden. Um innere Klarheit zu finden, ist Stille notwendig ‒ in uns und um uns herum.

Ein oft gebrauchtes Bild dafür ist trübes, aufgewirbeltes Wasser im Teich. In Stille wird es von selber klar. Du musst nichts tun, als zu warten, bis der Schlamm sich senkt, dann kannst du bis tief auf den Grund sehen. Stille ist auch unerlässlich, um die zarte Stimme des Herzens zu hören ‒ die Stimme unsres tiefsten Begehrens. Sie wird immer wieder übertönt vom lauten Schreien unsrer Begierden, verstummt aber doch nie ganz.

Begierden kommen und gehen. Um das bleibende Begehren unsres Herzens kennenzulernen, können wir uns also fragen: Wonach würde ich immer noch begehren, wenn all meine Begierden gestillt wären?

Die Antwort darauf wird uns zugleich auch klarmachen, was uns bleibend begeistert. Begeisterung im Sinne Campbells führt uns auf den Pfad des Helden, von dem der Mythos berichtet, dass er durch Todesschrecken gehen muss, um das begeisternde Ziel seines Begehrens zu erreichen.

Nur was uns zum Äußersten bereit macht, ist unsre wahre Begeisterung; von ihr dürfen wir uns leiten lassen.

Die zweite Frage, die uns helfen kann, unsre Berufung zu erkennen, betrifft unsre Begabung.

Was hat das Leben mir gegeben, um es zielstrebig zu nutzen?

So nüchtern wie möglich sollten wir das erwägen. Es kann ja vorkommen, dass wir einem bewunderten Vorbild nachstreben, das ganz anders begabt ist als wir selber. Auf unsre eigene Begabung aber kommt es an; auch sie ist einzigartig. Es fällt uns vielleicht schwer, an unsre Einzigartigkeit zu glauben. Aber selbst unsre Fingerabdrücke haben nicht ihresgleichen unter all den Milliarden von Mitmenschen, wie viel mehr muss das gelten für das vielfältige Gemisch all dessen, was unsre Begabung ausmacht.

Dazu gehören auch Antrieb, Ausdauer und alles, was wir benötigen, um unsre Talente durch Übung zu verbessern. Ja, sogar unsre Mängel sind ein wichtiger Teil unsrer Begabung. Sie können zum Ansporn werden, sie auszugleichen oder zu überwinden, und diese Bemühung entwickelt in uns eine moralische Kraft, die andren fehlt, weil sie sich nie so anstrengen mussten.

Auch Körperbehinderungen können auf ähnliche Weise zum Ansporn werden, gehören also auch zu dem, womit wir vom Leben beschenkt ‒ begabt ‒ wurden. Wäre Helen Keller (1880-1968) nicht blind und taub gewesen, sie wäre wohl nie die große Schriftstellerin, Aktivistin und von Millionen dankbar bewunderte Ratgeberin geworden.

Ganz gleich wie begabt du bist, es wird Mühe und Ausdauer kosten, aus deinen Talenten etwas zu machen. Mit Fleiß und Geduld kannst du auch gering erscheinende Talente zum Blühen bringen, und sie werden eine reiche Ernte tragen ‒ für dich und für die ganze Welt. Im großen Chor ist jede Stimme unentbehrlich; im großen Tanz ist jede Tänzerin, jeder Tänzer unersetzlich.

Auf unsre dritte Frage können wir erst antworten, wenn wir die beiden ersten beantwortet haben. Wir ahnen dann zumindest die Richtung unsres bleibenden Begehrens, in die unsre tiefste Begeisterung uns führen will. Und wir kennen unsre Stärken und Schwächen, die uns auf dem Weg dahin helfen oder hindern können.

Das sind Voraussetzungen, um weiter zu fragen:

Welche Gelegenheiten bietet mir das Leben,
meinem Ziel näher zu kommen?

In groben Umrissen werden wir diese Gelegenheiten vielleicht voraussehen können, während wir uns in Stille Zeit nehmen zu planen und Überblick über unsre Lage zu gewinnen. Wichtiger aber wird es sein, diese Frage immer wieder neu zu stellen. Das Leben bietet uns jeden Tag und jede Stunde unzählige Gelegenheiten zur Auswahl an.

Da heißt es, unser Begehren und unsre Begabung im Auge zu behalten. Nur im Hinblick auf sie werden wir Gelegenheiten erspähen, die wir sonst vielleicht übersehen hätten, jetzt aber unter den gegebenen Möglichkeiten auswählen.

Alles kommt darauf an, auch unsre kleinsten Entscheidungen von unsrer großen Ausrichtung bestimmen zu lassen. Der Weg zum Ziel besteht ja wie bei einer Wanderung aus vielen kleinen Schritten.

Für die allgemeine Richtung dürfen wir die Kompasslesung nicht vergessen, unser nächster Schritt aber muss dem Terrain an genau dieser Stelle angepasst sein. Was das Leben uns bringt, entspricht dem Terrain ‒ jeden Augenblick ein wenig verändert. Das fordert Achtsamkeit.

Mit Hilfe dieser drei Fragen eine Berufslaufbahn wählen zu können, ist freilich nur einem kleinen Prozentsatz junger Menschen geschenkt. Während diese sich oft überwältigt fühlen von der Überfülle der ihnen gebotenen Auswahl, haben weltweit die meisten überhaupt keine Wahl und müssen froh sein, wenn sie irgendeine Arbeit zum Lebensunterhalt finden. Wir müssen alles daransetzen, eine ungerechte Gesellschaftsordnung zu ändern, die auf diese Weise gegen die Menschenwürde verstößt.

Und was können wir jungen Menschen sagen, die gar keine Chance der Berufswahl haben?

Wenn wir ihre Lage ernst nehmen, dann zeigt sich: Das Entscheidende an unsrer Berufung sind nicht die äußeren Umstände, sondern unsre innere Haltung.

Unsre eigentliche Berufung ist nicht, was wir tun. Darüber können wir nur in begrenztem Ausmaß entscheiden. Aber wie wir es tun, das steht uns frei. Nicht auf unsren Platz im Kreis der Tanzenden kommt es an, sondern darauf, wie wir tanzen ‒ auf Achtsamkeit und Respekt für alle andren, besonders für die neben uns Tanzenden.

Fernstenliebe ist so viel bequemer als Nächstenliebe. Sie verlangt ja nichts Konkretes von uns. Nur durch unsre Nächsten, unsre Nachbarn im Tanzkreis, die wir an den Händen fassen, sind wir mit allen andren verbunden.[2]

Dein Leben ist untrennbar verbunden mit dem Leben aller andren ‒ dem ganzen Universum. Das allumfassende Leben wird dir schon zeigen, was du mit deinem Anteil am Ganzen tun sollst. Darauf darfst du dich vertrauensvoll verlassen.[3]

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.

Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küsste,
die strahlend und als ob sie Alles wüsste
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.

Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.

Gott, du bist groß.
[4]

Sagen wir es noch einmal, denn es verdient oft wiederholt zu werden: Wir dürfen dem Leben vertrauen, dürfen uns dem Geheimnis, das uns darin «entgegenwartet»[5], anvertrauen.

Die Antwort auf jede Berufung wird einem Dreischritt folgen: still werden, sonst können wir nicht horchen; hinhorchen, sonst können wir nicht hören, wozu das Leben uns ruft; und antworten auf den gehörten Ruf ‒ innehalten, innewerden und tun. Das gilt für Berufung im Großen, will aber Augenblick für Augenblick im Kleinen geübt werden. Wir nennen diese Übung: Stop ‒ Look ‒ Go.[6]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3, 6]

[Ergänzend:

1. Weitere Auszüge aus ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern›!› im Buch Orientierung finden (2021), 90f., in Berufung ‒ Folge deinem Stern (2022); 100f. und 95f., in Treue; 97, in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.1.; 99-101, in Dem Leben vertrauen

2. Fünf Schritte, wie du zu deiner Berufung findest (2015)

3. Audios zu ‹Berufung ‒ dem Leben antworten›

Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
‹Drei Grundfragen … und Gespräch:
(45:00) Wissen und Weisheit ‒ Intuition, ein inneres Sehen ‒ Weise Menschen sind Herzmenschen / (52:29) Freiheit als Antwort auf die Frage, die das Leben mir in diesem Augenblick stellt / (58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen / (01:12:35) Das Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung in der Erziehung von Kindern
Tag 2 ‒ Nachmittag:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(38:11) Das Selbst spielt in jedem Ich eine einzigartige Rolle ‒ der Vergleich mit dem Kasperltheater ‒ Unsere Rollen sind uns weit mehr aufgegeben als wir meinen ‒ Mir ist eine Rolle aufgegeben: Wie kann ich sie gut spielen? ‒ Freiheit ist ein Wesenszug von allem, was es gibt / (42:00) Wir sind zu einem gewissen Grad frei, uns dem Leben hinzugeben oder uns gegen das Leben zu sträuben: Immer wieder ins Jetzt kommen und das Leben durch uns fließen lassen. Im Jetzt sein heißt, sich der Frage, der Aufgabe stellen, die das Leben uns jetzt stellt: ‹Es gibt nichts Gutes, außer man tut es› / (45:19) ‹To live in tune with the world› ‒ ‹Alles ist Schwingung, alles ist Klang›: Im Einklang mit dem Leben tanzen ‒ tanzend arbeiten]

________________

[1] Interview mit Bruder David im Film Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024)

[2] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern!›, 91-95

[3] Ebd. 100

[4] R. M. Rilke, Das Stunden-Buch, in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 73f.

[5] Sinne und Kind werden, Anm. 7:

Das Wort ‹entgegenwarten› stammt von Rilke: Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten. (R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)

[6] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern!›, 100f.



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Norbert Kopf

 


Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

augenblicke wach im jetzt titelCopyright © - Elisabeth Glücks

Genau der jetzige Augenblick kann der Beginn eines neuen Lebens sein. (1. Februar)[1]

Wenn du morgens den Bus nimmst oder dich ins Auto setzt, während es noch dunkel ist, dann beginn gar nicht erst damit, dir Sorgen über den kommenden Tag zu machen. Achte nur auf den Augenblick, wenn das Licht aus der Dunkelheit steigt: «Mir wird ein neuer Tag gegeben. (…) Welche Haltung sollte ich diesem Tag entgegenbringen? Wofür ist es Zeit? Zeit, sich zu erheben und zu leuchten.» (2. Februar)[2]

Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt. (6. Februar)[3]

Wir leben im Jetzt, indem wir uns auf den Ruf eines jeden Augenblicks einstimmen, indem wir hören, was jede Stunde und jede Situation von uns verlangt, und indem wir darauf antworten. (9. Februar)[4]

Unser wahres Glück, unser unverlierbares Glück besteht darin, im gegebenen Augenblick völlig da zu sein. «Zum Augenblicke möcht ich sagen, verweile doch, du bist so schön», so hat Goethe das im Faust formuliert, weil eben wahres Glück nur da ist, wenn wir im Augenblick sind. (13. Februar)[5]

Wenn wir nach innen schauen, sehen wir: Das Glück ist nicht irgendwo vor uns, es ist schon da. Dem Glück nachjagen, das ist so wie wenn jemand seinem eigenen Schatten nachjagen wollte. Im Augenblick, wo wir stehen bleiben, bleibt auch der Schatten stehen. Die Freude ist unser eigentliches Wesen. Sie ist immer da, nur wir sind nicht da. (14. Februar)[6]

Das Gegenteil von Freude ist nicht die Traurigkeit, sondern die Faulheit, welche die Mühe scheut, auf den geschenkten Augenblick voll und ganz zu antworten, und die Trübsinnigkeit, die der Faulheit entspringt. (17. Februar)[7]

Die meisten von uns leben sehr hastige, sehr unruhige und volle Tagesläufe. Wir müssen in diese Tagesläufe irgendwo kleine Augenblicke des Innehaltens einfügen. (10. Juli)[8]

Was in jedem Augenblick von uns verlangt wird, ist doch ganz einfach. Wir lernen es schon als Kinder beim Überqueren der Straße:

Anhalten ‒ schauen ‒ gehen!

Nur wer still hält, sieht, was zu tun ist ‒ hier und jetzt ‒ und nur wer klar sieht, kann hilfreich handeln. (24. Februar)[9]

In Augenblicken glühendster Lebendigkeit wird uns bewusst, dass wir inmitten allen Wandels etwas in uns kennen, das Bestand hat: Wir haben Anteil am Sein. In solchen Augenblicken wird uns klar, dass unser eigenes Sein am Einen, Schönen, Guten und Wahren Anteil hat und daher unzerstörbar ist, so wie diese höchsten Werte es sind. (10. März)[10]

Wenn wir uns bewusst sind, auf wie viele unzählige Arten und Weisen wir im Leben gesegnet sind, dann sind wir wie ein Vermögender, der großzügig ist, ohne Angst zu haben, dass ihm die Mittel je ausgehen werden.

Wenn wir, wenn auch nur einige Augenblicke lang, immer wieder üben, auf unseren Atem zu achten, dann können wir bewusst erleben: Jeder Atemzug fließt als Segen in uns hinein; jeder Atemzug fließt als ein Weitergeben dieses Segens wieder hinaus. (15. August)[11]

Einfach einige Augenblicke lang innehalten und sich der Macht der Liebe öffnen, die das Universum in Gang hält. Ihr Wesen ist still sein und segnen, innehalten und danken. Halte also ein und segne. Halte ein und danke. (11. April)[12]

Wahre Freude und Selbstvergessenheit gehen Hand in Hand. Das Glück kommt daher, dass wir uns nicht auf uns selbst verlassen, dass wir uns auf das uns in jedem Augenblick neu geschenkte Leben verlassen. Wir verlassen uns, da wir nicht völlig auf uns selber eingestellt sind, auf das Leben, auf die anderen, auf die Güte, nicht nur Gottes, sondern des Göttlichen, das uns durch alles zukommt. Wir verlassen uns auf das Leben. (5. Oktober)[13]

Die Quelle des Lebens ist letztlich das, was Menschen, die das Wort «Gott» richtig verwenden «Gott» nennen. Also das ES, das alles gibt, ist das unergründliche Geheimnis, aus dem jeden Augenblick Alles hervorkommt. (30. Juli)[14]

Das «Gekreuzigt» im Credo heißt, dass es nichts im Leben oder im Tod geben kann, in das wir nicht mit Gottvertrauen hineingehen können, kein Unrecht, kein Leid, keine Katastrophen, in denen wir Gott nicht finden können. Im Augenblick seiner äußersten augenscheinlichen Abwesenheit ist Gott gegenwärtig. (18. April)[15]

In Augenblicken, in denen uns unsere tiefste Zugehörigkeit ‒ und somit GOTT ‒ bewusst wird, quillt gläubiges Vertrauen ganz spontan auf. Abraham Maslow spricht da von Gipfelerlebnissen. (21. Juni)[16]

Gelegenheit macht kreativ. Und zwar kreativ in Beziehung. Das ist so ungeheuer wichtig, weil wir hinhorchen auf das Gegebene oder auf den Menschen, der uns da gegenüber steht ‒ jetzt, als gegeben in diesem Augenblick. Und dann werden wir kreativ in unseren Beziehungen zu den anderen Menschen. (14. September)[17]

Je älter man wird, umso mehr wird einem bewusst, wie vergänglich alles ist. Und wenn wir die Vergänglichkeit von jedem Augenblick ‒ von all dem, was uns in einem Augenblick geschenkt wird ‒ wahrnehmen, dann wird es umso wertvoller. (10. April)[18]

Wir beten: Jetzt und in der Stunde unseres Todes. T.S. Eliot, der große englische Dichter, sagt: Die Stunde des Todes ist jeder Augenblick.[19] Denn in jedem Augenblick kommt die Zeit zu Ende und das Jetzt bleibt. Wenn wir also im Jetzt dankbar leben, dann gibt uns das eine ungeheure Freiheit. (8. April)[20]

Wir befürchten, dass der Tod uns wie ein Dieb in der Nacht überfällt, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten zu leben. Diese Furcht ist dann am größten, wenn wir nicht im Augenblick leben. (2. November)[21]

Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon im Jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. (11. November)[22]

[Obige Texte sind dem Buch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014) entnommen, siehe die Quellenangaben in Anm. 1-22]

[Ergänzend:

1. Jetzt in diesem Augenblick

2. Audios

2.1. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(48:06) Schlusswort von P. Nathanael: Er dankt Bruder David und schließt mit den Zeilen des Gedichtes von Andreas Gryphius ‹Betrachtung der Zeit›:

‹Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.

Wenn wir das nicht jetzt erleben, kommt es auch in Zukunft nicht! Nur im Augenblick gelingt das Leben.›

2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Viertes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(02:05) Sei allem Abschied voran (Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) – Der Augenblick:

(14:37) Bruder David: «‹Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige, sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug:
Das Glas klingt und zerbricht.
In diesem Augenblick klingen und zu diesem Augenblick sterben, damit wir frei sind und lebendig sind für den nächsten Augenblick.»

(21:00) Teilnehmer: «Wer das Geheimnis des Augenblickes kennt, kennt das ganze Geheimnis des Lebens.»
Bruder David: «Weil das Leben aus Augenblicken besteht.»

(22:24) Bruder David: «Wir kommen mit dem Leben nicht aus, wenn wir nicht das Leben Augenblick zu Augenblick nehmen. Wenn wir immer die ganze Last der Vergangenheit und die die ganze Unsicherheit der Zukunft mittragen müssen.»

(22:59) Bruder David: «‹Zu diesen ‒ Vergangenheit und Zukunft ‒ ‹unsäglichen Summen zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl›: das ist der Augenblick.»

(24:05) Teilnehmer: «Ich habe das einmal erlebt, dass in einem Augenblick, vielleicht in zwei Sekunden, das ganze Leben abgelaufen ist in einer Gefahrensituation. Das ist für mich dieses intensive Erleben dieses Augenblickes, in dem dieser Lebensfilm abläuft.»
Bruder David: «… im Augenblick eben alles schon enthalten ist, zugleich da ist. Im Jetzt. Weil das Entscheidende an jedem Augenblick das Jetzt ist, das Überzeitlichkeit innerhalb der Zeit ist. Und wenn die Zeit dann wegfällt, bleibt nur dieses Überzeitliche für uns. Und so kann man vielleicht irgendwie auch dem näherkommen, dass es für uns möglich ist, in einem Augenblick so viel zu erleben.»]

____________________

[1] Musik der Stille (2023), 72

[2] Musik der Stille (2023), 62; siehe auch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Lächelnd den Tag aufhellen›, 47

[3] Musik der Stille (2023), 24

[4] Musik der Stille (2023), 19f.

[5] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS

[6] Ebd.

[7] Musik der Stille (2023), 102

[8] Wege zum Glücklichwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der Großen Universitätshalle, Salzburg

[9] Sommergrüsse (2012)

[10] Credo (2012), 213f.

[11] Musik der Stille (2023), 83; siehe auch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Unerschöpfliche Mittel›, 82

[12] Musik der Stille (2023), 89

[13] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS

[14] Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der
Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Vortrag:
(13:39) Nachdenken über den Satz ‹ES gibt mich›.

Siehe auch: Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
‹Was fördert gesundes spirituelles Wachstum›; siehe auch die
Mitschrift

[15] Credo (2012), 108

[16] Credo (2012), 27

[17] Wege zum Glücklichwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der Großen Universitätshalle, Salzburg

[18] Ebd.

[19] T. S. Eliot sagt in den Four Quartets: The Dry Salvages, III; siehe auch Doppelbereich Ich-Selbst:

‹Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.›‹And the time of death ist every moment.›

[20] Siehe Anm. 17

[21] Musik der Stille (2023), 108f.

[22] Credo (2012), 222


Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

achtsamkeitCopyright © - Elisabeth Glücks

Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzige passende Antwort. (3. Februar)[1]

Die rückhaltlose Aufgeschlossenheit für das Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks inspiriert uns zum Hinschauen und Überlegen, was wir tun können, so wenig es auch sein mag. Wenn genügend Menschen fragen: «Was können wir tun?», dann werden wir Lösungen für unsere dringendsten Probleme finden. (4. Februar)[2]

In jedem Augenblick wird alles, was es gibt, uns neu geschenkt, und wir können es in Dank verwandeln. Das Wesen göttlicher Schöpfung ist Geschenk, das Wesen menschlicher Schöpfung ist Dankbarkeit. Durch diesen Austausch nehmen wir teil am göttlichen Leben selbst. (5. Februar)[3]

Dankbares Leben ist ein Weg zum Heilwerden der Welt. Nicht nur wenn uns was Schönes wiederfährt, sondern wenn wir dankbar leben, jeden Augenblick. (23. April)[4]

Die Art von Glück, die davon abhängt, was uns glückt und was uns nicht glückt, was uns zustößt, ist etwas sehr Unbeständiges. Im Gegensatz zur Freude, die jenes Glück ist, das nicht davon abhängt, was uns widerfährt.

Und der Schlüssel, zu dieser Freude ist die Dankbarkeit, denn in dem Augenblick, wo wir dankbar sind, finden wir zurück zu der Freude, die immer in uns ist. (2. Juli)[5]

Es ist aufschlussreich, dass die Sprache vom gegebenen Augenblick spricht: Der Augenblick wird uns gegeben, er ist uns geschenkt. Und daher ist die einzig entsprechende Antwort auf dieses Gegebene: die Dankbarkeit. (8. Oktober)[6]

Als Weg zum Glücklichwerden kann das Dankbarsein nur dann dienen, wenn ich es übe, wenn ich daraus einen spirituellen Weg mache. Ein Augenblick, eine kurze Begegnung, ist noch kein Weg. (14. Oktober)[7]

Wenn ich dankbar dem Sein gegenüber bin, werde ich das auch im nächsten und übernächsten Augenblick sein können ‒ und dann auch im letzten Augenblick, wenn es darum geht, das Ich endgültig loszulassen im Sterben. (19. November)[8]

Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. (25. Dezember)[9]

Wie oft wir einfach genießen dürfen, was uns jetzt geschenkt ist, bemerken wir erst, wenn wir beginnen, aufzuwachen zu dankbarem Leben. Und je dankbarer wir leben, umso mehr Gelegenheit zur Dankbarkeit entdecken wir. Freilich, manchmal stößt uns etwas zu, wofür niemand dankbar sein kann. Wer kann dankbar sein für Verletzung, Untreue, oder Betrug; für Fremdenhass, Ausbeutung, Krieg?

Nein, wir können nicht für alles dankbar sein ‒ doch aber in jedem Augenblick.

Auch Widerwärtigkeiten geben uns Gelegenheit ‒ etwa die Gelegenheit Geduld zu lernen, Erfahrung zu sammeln, oder uns in tapferem Widerstand zu üben. Für diese Gelegenheiten können wir uns dankbar erweisen, indem wir sie wahrnehmen (was für ein schönes Wort!) und sie nutzen. (Bruder David im Vorwort zum Buch)[10]

Dankbarkeit, das war hier im Westen die Spiritualität, die unsere Vorfahren geübt haben, bevor sie überhaupt noch das Wort Spiritualität gekannt haben. Sie waren dankbare Menschen und durch ihre Dankbarkeit haben sie Freude gefunden.

Und diese Dankbarkeit taucht uns ein in dieses Geheimnis der Trinität. Denn es setzt voraus den Geber aller Gaben, diesen Urquell, aus dem alles hervorquillt, das Nichts, das alles gibt.

Es setzt voraus, uns selbst als Gabe zu empfangen: Wir haben uns nicht gekauft, wir sind uns gegeben, wir finden uns als gegeben vor, wir finden die Welt als gegeben vor.

Jeder Augenblick ist ein gegebener Augenblick, alles ist Gabe.

Und wir sind, weil wir in einer gegebenen Welt leben, aufgefordert dankbar zu sein und durch Danksagung alles zurückfließen zu lassen zum Ursprung. Und dadurch sind wir völlig eingebettet in das Wort, das aus dem Schweigen kommt und durch Verstehen, im dankbaren Verstehen zurückfließt zu seiner Quelle. (‹Wir sind uns gegeben›, 10f.)[11]

Alles in dieser gegebenen Welt ist Geschenk. Aber das Geschenk in jedem Geschenk ist Gelegenheit. Meistens bedeutet das die Gelegenheit zum Genießen. Manchmal bedeutet es die Gelegenheit, sich zu mühen, zu leiden, ja selbst zu sterben. Wenn wir nicht aufwachen zu den zahllosen Gelegenheiten, das Leben zu genießen, wie können wir da erwarten, wach zu sein, wenn die Gelegenheit, sich dem Leben dienlich zu erweisen, auftaucht? Jene, die erkennen, dass das Geschenk in jedem Geschenk die Gelegenheit ist, werden Dankbarkeit nicht passiv verstehen.

Dankbarkeit ist die Tapferkeit des Herzens, sich der Gelegenheit zu stellen, die ein gegebener Augenblick bietet. (‹Die Gelegenheit erkennen›, 17)[12]

Wir Menschen werden keinen Frieden finden, solange wir in unserem Leben keinen Sinn finden können. Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet. Sinn wird gefunden, nicht durch harte Arbeit erworben. Er wird einem immer als reines Geschenk zuteil. Und dennoch müssen wir unserem Leben Sinn geben. Wie ist das möglich? Durch Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die innere Haltung, durch die wir unserem Leben Sinn geben, indem wir das Leben als Geschenk empfangen.

Was jeden gegebenen Augenblick sinnvoll macht, ist, dass er gegeben ist. Dankbarkeit erkennt diesen Sinn, anerkennt und feiert ihn. (‹Dem Leben Sinn geben›, 18)[13]

Unsere Sinne führen uns hinaus in die Vielfältigkeit, weiter und weiter. Es ist ein wundervolles Abenteuer. Aber wir können uns in der Vielfalt verlieren, wenn wir nicht jene heilige Einfalt finden, die uns tiefer und tiefer führt und alles zusammenhält. Dazu verhilft uns die Dankbarkeit.

Die Einfalt der Dankbarkeit ist ganz und gar nicht einfältig, im Sinne von Beschränktheit. Sie ist mit Arglosigkeit verwandt, mit Ehrfurcht und mit Weisheit. Weil sie arglos ist, geht sie heil durch den Dornwald argwöhnischen Misstrauens. Arglos erkennt die Dankbarkeit jeden Augenblick mit allem, was er enthält, als Geschenk.

In Ehrfurcht anerkennt sie in (und zugleich jenseits von) allen Gaben den Geber. Preisend bekennt sie, dass alles Gnade ist.

Ergriffen von dieser Einsicht, führt die Dankbarkeit zu jener Weisheit, von der der Heilige Bernhard sagt: «Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.»

In Dankbarkeit können wir vom Erkennen der Gabe zum Anerkennen des Gebers und von da zum preisenden Bekennen der Gnade fortschreiten und so durch unsere Sinne Sinn finden. (‹Sinnfinden durch die Sinne›, 38f.)[14]

Dankbarkeit beginnt im Bereich der Sinne, mit jener staunenden Freude, die sich am Sinnlichen ganz von selbst entzündet. Wer das bezweifelt, braucht nur ein Fußbad zu nehmen. Da wird Dankbarkeit ganz spontan lebendig. Wenn Herz und Mund es nicht tun, so fangen wenigstens die Zehen an, auf ihre Art dankbar zu singen.

Tag und Nacht wird uns mit jedem Augenblick Unzähliges geschenkt. Wir brauchen nur darauf zu achten, und Dankbarkeit wird uns beinahe überwältigen. Aber achten wir darauf? Das ist die Frage. (...)

Seit Jahren schreibe ich zum Beispiel täglich in meinen Taschenkalender zumindest eine Sache, für die dankbar zu sein mir vorher noch nie in den Sinn kam. Meint vielleicht jemand, es sei schwer, jeden Tag einen neuen Grund zur Dankbarkeit zu finden? Es ist nicht schwer. Oft kommen mir vier oder fünf Gründe in den Sinn. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie alt ich werden müsste, um den Vorrat merklich zu vermindern.

Was wir bemerken, wenn unsere Aufmerksamkeit wächst, ist, dass uns in tausend Formen immer das Gleiche geschenkt wird, nämlich Gelegenheit. Gelegenheit ist das Geschenk, für das alle anderen Geschenke nur Verpackung sind. Und hier ist das Erstaunliche: In 99 von 100 Fällen wird uns schlicht und einfach Gelegenheit geschenkt, uns zu freuen.

Es fragt sich nur: Nehmen wir diese Gelegenheit überhaupt wahr?

Meistens wohl nicht. Ein Grund dafür ist dieser: An schwierigen Tagen stehen unsere Schwierigkeiten so im Vordergrund, dass wir alles andere übersehen. Der tiefere Grund ist aber, dass wir einfach nicht gewohnt sind, auf die uns geschenkten Gelegenheiten zu achten; auch an unseren fröhlichen Tagen nehmen wir alles ganz undankbar als selbstverständlich hin.

Dankbare Aufmerksamkeit lässt sich üben und erlernen. Wir können am Abend auf den vergangenen Tag zurückschauen und für etwas noch nie vorher Beachtetes zum ersten Mal dankbar sein. Wir können aber auch vorausplanen. Heute wird, sagen wir, dankbar auf Gerüche geachtet; morgen auf Farben und Formen; übermorgen auf Geräusche. In einem «Kurs», der jeden sechsten Tag wieder von vorne beginnt, können wir so durch dankbare Sinnlichkeit unsere freudige Lebendigkeit planmäßig fördern. Alles hängt davon ab, dass wir uns immer wieder erinnern. (‹Gründe genug›, 62-65)[15]

Welche Tätigkeiten lösen in dir regelmäßig spontane Andacht aus, so dass dein Herz ganz ohne Mühe dabei ist? Vielleicht ist es die erste Tasse Kaffee am Morgen, die Art und Weise, in der sie dich wärmt und wach macht, oder der Spaziergang mit deinem Hund, oder die Huckepack-Tour mit einem kleinen Kind.

Dein Herz ist voll dabei, und so findest du auch Sinn darin ‒ keinen Sinn, den du in Worte fassen könntest, sondern Sinnfülle, in der du Ruhe finden kannst. Das sind Momente gesammelter Andacht, auch wenn wir sie nie als Gebet betrachtet haben. Sie zeigen uns die enge Verbindung von Gebet und Spiel.

Diese Augenblicke, in denen unser Herz ‒ ganz gleich wie kurz ‒ in Gott Ruhe findet, sind Beispiele dafür, was Gebet eigentlich ist. Könnten wir diese innere Haltung aufrechterhalten, dann würde unser ganzes Leben zum Gebet werden.

Zugegeben, es ist keine leichte Aufgabe, die Sammlung, Dankbarkeit und Andacht jener Augenblicke, in denen das Herz voll ist, aufrechtzuerhalten.

Aber jetzt wissen wir wenigstens, worauf wir hinauswollen. Es ist, als wollten wir lernen, einen Bleistift auf einer Fingerspitze zu balancieren. Darüber zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Haben wir es aber ein einziges Mal geschafft, dann wissen wir wenigstens, dass wir es können und wie es gemacht wird. Der Rest ist eine Frage der Übung und des Immer-wieder-Probierens, bis es zur zweiten Natur geworden ist. (‹Momente der Andacht ausweiten›, 66-68)[16]

Die Dankbarkeit ist eine Form spiritueller Praxis, die den Vorzug hat, dass sie sehr schnell Resultate zeigt. Wenn wir uns am Morgen vornehmen, dankbar zu sein für alles, was uns an diesem Tag begegnet, werden wir am Abend bereits spürbar glücklicher sein.

Dankbarkeit heißt, den gegebenen Augenblick und jede gegebene Gelegenheit, einfach alles, was uns begegnet, als Gabe, als Geschenk wahrzunehmen.

Wenn wir alles, was uns begegnet, als Geschenk erkennen und nicht einfach als gegeben hinnehmen, wachen wir auf zu einer neuen Lebendigkeit. Das gibt uns tausend Gelegenheiten, uns zu freuen. (‹Neue Lebendigkeit›, 86)[17]

Was geschieht, wenn wir unsere Augen in Dankbarkeit für alles öffnen, was uns begegnet: Wir sehen göttliches Licht durch alles, was ist, hindurchleuchten.

Jemand mag dann etwa sagen: «Naja, aber wie kann ich für Völkermord dankbar sein? Wie kann ich für Terrorismus dankbar sein?» Und wie können wir für das Elend in den Straßen vor unserer eigenen Haustür dankbar sein? Oder für die Zerstörung unserer Umwelt? Oder für die Tierquälerei in Laboratorien und Legebatterien? Über diese Dinge an und für sich können wir uns keinesfalls freuen, doch dafür, dass sie uns Gelegenheit geben, etwas dagegen zu unternehmen, können wir dankbar sein.

Diese rückhaltlose Aufgeschlossenheit für das Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks ist eine außerordentlich schöpferische innere Haltung.

Sie inspiriert uns zum Hinschauen und Überlegen, was wir tun können, so wenig es auch sein mag. Zumindest können wir fragen, was wir dagegen tun können und die Gelegenheit nutzen. Wenn genügend Menschen fragen: «Was können wir tun?», dann werden wir schließlich Lösungen für unsere dringendsten Probleme finden.

Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren, und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten, Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. (‹Alte Schwierigkeiten neu anpacken›, 110-112)[18]

Auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. Im Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen. Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebensspendendes Wort?

Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.

Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt. Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit.

Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.

Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube. Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebens nicht offenbar ist, heißt den Weg zum Herzensfrieden finden. Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich. (‹Vertrauen in den Geber›, 118f.)[19]

Dankbarkeit beruht auf der Einsicht, dass mir etwas Gutes widerfahren ist, das von einem anderen Menschen ausging, dass es mir aus freien Stücken geschenkt wurde und als Gefälligkeit gedacht war. In dem Augenblick, wo ich dies erkenne, empfinde ich spontan Dankbarkeit: «Je suis reconaissant» ‒ Ich erkenne, ich anerkenne, ich bin dankbar; im Französischen umfasst dieser eine Ausdruck alle drei Bedeutungen. Ich erkenne die besondere Qualität dieser Freude der Dankbarkeit: es ist eine Freude, die mir aus freien Stücken als Gefälligkeit zugedacht wurde. Indem ich ein Geschenk, das mir nur ein anderer aus freien Stücken geben kann, aus freien Stücken akzeptiere, erkenne ich meine Abhängigkeit an. (‹Ich erkenne, ich anerkenne›, 132f.)[20]

Geber und Empfänger werden im Danksagen eins. Und das «Ja» zu ihrem Zusammengehören ist nichts anderes als das «Ja» der Liebe. Wir haben gesehen, wie schwer es in unserem täglichen Leben manchmal ist, das «Ja» der Dankbarkeit auszusprechen.

In Augenblicken jedoch, wenn unser Herz voller Lebendigkeit schlägt, erfahren wir die gegenseitige Abhängigkeit von allem mit allem als Freiheit, als Freude, als Erfüllung. (‹Einswerden›, 139)[21]

[Obige Kernsätze mit Angabe von Tag und Monat sind dem Buch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014) entnommen; ihnen folgen die längeren Kernsätze mit Überschrift und Seitenzahl aus dem Buch Einladung zur Dankbarkeit (2018); siehe den gesamten Text des Buches in Einladung zur Dankbarkeit und die Quellenangaben in Anm. 1-21]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023)
Teil 4: ‹Dankbar leben ‒ oder: ‹Wenn jeder Augenblick zum Geschenk wird›:
(12:12) ‹Das ganze Leben ist Dialog mit dem schenkenden Geheimnis, das mir Augenblick für Augenblick Gelegenheiten schenkt und will, dass ich etwas daraus mache›

1.2. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015): Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David
Vortrag ab (01:23:42), siehe auch:
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Audio: ‹Augenblick für Augenblick freudig dankbar›:

«Dankbarkeit ist ja Freude, ist nicht Danksagung. Das ist etwas anderes. Dankbarkeit ist die Freude, die ganz spontan in uns aufsteigt, wenn uns etwas Wertvolles geschenkt wird. Das springt einfach auf in uns. Und diese Freude können wir jeden Augenblick haben, wenn wir bedenken, dass das größte Geschenk und völlig unbezahlbare Geschenk der Augenblick ist, das Jetzt. Denn wenn wir den Augenblick nicht hätten, könnten wir sonst nichts machen. Das ist sozusagen das Gefäß, in dem alles uns geschenkt wird, und die Gelegenheit, die dieser Augenblick uns bietet. Und wenn wir uns dessen bewusst werden, dann leben wir wirklich erfülltes Leben, spirituelles Leben, denn dann sind wir Augenblick für Augenblick freudig dankbar für das Geschenk des Lebens und haben allen Grund dazu. Und auch in sehr schwierigen Lebenslagen sind wir dankbar für die Gelegenheit, die diese schwierigen Lagen uns bieten: Gelegenheit zu wachsen, Gelegenheit etwas zu lernen, sogar Gelegenheit zu protestieren: alles das ist Gelegenheit, die der Augenblick uns schenkt. Und lang genug innezuhalten, um nicht von dem Fluss der Zeit fortgerissen zu werden, sondern wirklich in diesem Jetzt zu sein, in dem Jetzt Ausschau zu halten, innehalten, innewerden der Gelegenheit, die sich uns jetzt hier und jetzt bietet, und dann etwas aus dieser Gelegenheit machen, das ist dankbares Leben. Und das ist wirklich im Zentrum jeder spirituellen Praxis. Und das ist zugleich die Quelle der Lebensfreude. Und wenn man so richtig freudige Menschen sieht, sieht man immer, das sind auch wirklich dankbare Menschen. Und manche Menschen haben alles, was man brauchen würde, um wirklich freudig zu sein, und die sind nicht freudig, weil sie nicht dankbar sind. Das ist der einzige Grund: die wollen etwas Anderes oder mehr vom selben. Aber wenn wir uns freuen an dem Geschenk dieses Augenblickes …»

1.3. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription des Vortrags:

(08:45) «Aber die ganz entscheidende Einsicht ist, dass uns in jedem Augenblick etwas geschenkt wird, was wir uns unter keinen Umständen selber erwerben, kaufen, eintauschen oder sonst irgendwie verdienen können: Und das ist das JETZT: dieser gegebene Augenblick mit allen den Gelegenheiten, die er uns bietet. Das ist das Entscheidende.»

2. Im Buch Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015): ‹Zeit für Dankbarkeit ‒ oder: Warum jeder Augenblick ein Geschenk ist›, 160f.:

«Dankbarkeit fängt immer dann an, wenn zwei Dinge zusammenkommen: Wir müssen etwas empfangen, was uns wertvoll ist. Und es muss uns als freies Geschenk gegeben werden. Wenn diese beiden Bedingungen zusammenkommen, dann steigt die Dankbarkeit spontan im Herzen jedes Menschen auf.

Der entscheidende Schritt von dieser Erfahrung auf ein dankbares Leben hin besteht darin, dass man sich bewusst wird, dass das wertvollste von allen möglichen Geschenken der gegebene Augenblick ist.

Würde uns dieser Augenblick nicht geschenkt, dann wäre auch sonst nichts da. Das Jetzt ist das größte Geschenk. Das Jetzt ist reines Geschenk.

Mit allem Geld und Gold der Welt kann man sich keinen einzigen Augenblick erkaufen.

Das sehen wir, wenn der Tod vor der Tür steht. Darum ist es hilfreich, uns den Tod allezeit vor Augen zu halten, wie es der heilige Benedikt anrät.

Das führt zu der Dankbarkeit, aus der die Lebensfreude aufblüht.

Jetzt, in diesem Augenblick, und jetzt, im nächsten Augenblick, fällt mir das größte Geschenk in den Schoß, eben das Jetzt mit all den Gelegenheiten, die es mir gibt.»

3. Weitere Links zu Dankbarkeit und dankbar leben:

Ein Leben für die Dankbarkeit (2023)

Dankbarkeit: eine spirituelle Praxis, die reich macht (2023)

Dankbarkeit als Lebenskunst (2023)

Wach –  bewusst –  achtsam (2001); siehe auch Die drei Schritte der Dankbarkeit (2020)

Dankbarkeit ‒ persönliche Gedanken von David Steindl-Rast (2018); siehe auch Stop ‒ Look ‒ Go

Dankbarkeit ist der Spitzenkandidat (2018)

Dankbarkeit als revolutionäre Kraft (2018)

DAS ABC-Spiel der Dankbarkeit (2016)

Dankbarkeit ist kein Gefühl (2014)

Glück aus Dankbarkeit (2013)

Ein Versprechen dankbar zu leben (2008): Gebet

Üben dankbar zu leben (2008)

Geber allen guten Gaben (2007): ein Tischgebet

Ein neuer Grund für Dankbarkeit (2002): Diese fünf Schritte sind klein, aber wirkungsvoll

Für all die kleinen (und grossen) Dinge im Leben danken (2002)]

________________________

[1] Musik der Stille (2023), 50

[2] Musik der Stille (2023), 52f.

[3] Credo (2012), 56

[4] Film Fragen zu gesundem Leben, die uns alle angehen (2011): Vortrag von Bruder David bei der Einherz-Gemeinschaft für Medizin mit Liebe

[5] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS

[6] Ebd.

[7] Wege zum Glücklichkwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der großen Universitätsaula, Salzburg

[8] Begegnungen ‒ Dankbarkeit (2011) und Dankbarkeit ‒ Alles ist Gelegenheit (2013): Interviews von Rudolf Walter mit Bruder David für das Buch Einfach leben ‒ wie geht das?, 193 [siehe den Auszug]; sowie im Buch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Vorbereitung auf den letzten Augenblick›, 37 [siehe den Auszug]

[9] Musik der Stille (2023), 49

[10] Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014): Vorwort von Bruder David: ‹Dankbar leben›, 9f.

[11] An welchen Gott können wir noch glauben? (2008)

[12] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Gelegenheit›, 172f. [bzw. Fülle und Nichts (2015): ‹Gelegenheit›, 173f.]

[13] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Sinn›, 183 [bzw. Fülle und Nichts (2015): ‹Sinn›, 184]

[14] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Die Dankbarkeit der fünf Sinne›, 53

[15] Ebd. 82-84

[16] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 47 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 45]

[17] Spiritualität und Verantwortung (2009): Interview von Christa Spannbauer mit Bruder David

[18] Musik der Stille (2023), 52f.

[19] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Mit dem Herzen horchen›, 16f.

[20] Ebd. ‹Eine tiefe Verbeugung›, 138

[21] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 150 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 150f.]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

gott barbara kraemer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Zugehören ist immer etwas Gegenseitiges. Das ist selbst dann wahr, wenn es um Dinge geht. Wir neigen leider dazu, unsere Beziehung zu den Dingen, die uns gehören als einseitiges Besitzverhältnis zu betrachten. Das färbt unsere Liebe zu Dingen. Es gibt ihr die falsche Farbe. Richtig aufgefasst ist auch die Liebe zu Dingen ein «Ja» zum gegenseitigen Zusammengehören, ganz gleich, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.

Du magst vielleicht denken, dass dein Auto dir lediglich so zugehört, dass du es besitzt, dass es deinen Bedürfnissen dient. Aber das Auto weiß es besser. Es wird dir nur solange dienen, wie du seinen Bedürfnissen dienst und es pflegst. Das beinhaltet Gegenseitigkeit: «Ich bringe dich dort hin, wenn du für meinen Ölverbrauch sorgst.» Wenn du dein Auto wirklich liebst, dann wirst du auf seine Bedürfnisse achten. Du wirst intuitiv erfassen, dass ihr zwei zusammengehört. Liebe nimmt dieses gegenseitige Dazugehören ernst. Liebe kümmert sich, selbst um Dinge.

Natürlich kennt dieses gegenseitige Zusammengehören verschiedene Grade von Tiefe und Nähe. Auf der Ebene der Gegenstände verlangt es uns am wenigsten ab. Die Bindung kann hier auch leicht wieder gelöst werden. Mein Schweizer Taschenmesser stellt nur wenige Anforderungen an mich, gemessen an den ausgezeichneten Diensten, das es mir leistet. Und sollte ich es verlieren, dann dürfte es jedem, der es findet, leichtfallen, sein glücklicher Besitzer zu werden.

Die Pflanzen, die ich aufgezogen habe, würden schon nicht so leicht mit jemand anders zurechtkommen. Und wenn es um deinen verlorenen Hund geht, dann erkennst du, dass wir es mit einer wesentlich tieferen Ebene gegenseitigen Zusammengehörens zu tun haben. Es dürfte schwer zu sagen sein, wer den Verlust tiefer empfindet, du oder der verlorene Hund. Meine kleine Nichte schickte ihrem Pudel eine Ansichtskarte aus den Ferien, die sie mit «Lisa, deine Besitzerin» unterschrieb. Der Pudel aber ließ nie einen Zweifel aufkommen, dass er sich als Lisas Besitzer empfindet, so wie das Schwein in Denise Levertovs herrlichem Gedicht, das die Familie als «meine Menschen» nennt.[1]

Unter Menschen kann gegenseitiges Zusammengehören offensichtlich eine Intensität erreichen, die weit über das hinausgeht, was wir mit Dingen, Pflanzen oder Tieren erleben. Und hier dürfte es auch am angemessensten sein, von Liebe zu reden.

Tatsächlich bestehen einige Leute darauf, dass das Wort «Liebe» auf unser Verhältnis zu Menschen und zu Gott beschränkt werden sollte. Aber ich habe eine Beobachtung gemacht. In meinem Bekanntenkreis haben gerade jene, die pedantisch zwischen Liebe und gernhaben unterscheiden, oft wenig Gespür dafür, dass Zusammengehören immer gegenseitig ist. Die gleichen Leute finden es schwierig, sich unsere Beziehung zu Gott als wirklich gegenseitig vorzustellen.

Ich muss zugeben, dass ich es selbst lange Zeit für irgendwie anmaßend hielt, Gott im Gebet als «mein» Gott anzusprechen. Damals war Besitz noch die einzige Bedeutung, die «mein» für mich hatte. Und Besitz bedeutete für mich Besitzrecht ohne irgendeinen Gedanken an die Pflichten, die damit untrennbar verbunden sind.

Langsam aber gelangte ich zu der Erkenntnis, dass ich selbst irgendwie zu allem gehöre, das mir gehört, dass Gehören ein Geben-und-Nehmen bedeutet.

Vielleicht kam mir diese Einsicht mit der Entdeckung, dass die Tomatenpflanzen in der Ecke meines Gartens verwelken würden, wenn ich vergessen sollte, ihnen Wasser zu geben; dass meine weiße Maus darauf bestand, gefüttert zu werden, da sie sonst an Dingen zu knabbern begann, die ich ihr nicht geben wollte; ja, dass selbst meine Rollschuhe eine gewisse Fürsorge von mir verlangten.

Und ich entdeckte noch etwas anderes: Dinge gehören mir umso mehr, als ich ihnen gehöre. Das kleine Wort «mein» bedeutet mehr, wenn es auf meine Taube bezogen ist, als wenn damit meine Schuhe gemeint sind, und noch mehr, wenn es sich auf die Gruppe von Freunden bezieht, zu denen ich gehöre.

Wenn ich Gott uneingeschränkt gehöre, dann folgt daraus, dass Gott mir auch uneingeschränkt gehört.

Auf alles andere bezogen, ist das «mein» eingeschränkt. Seitdem mir das klar geworden ist, hat «mein» für mich nur dann seinen vollen Klang, wenn ich «mein Gott» sage.

Dies sagt mir ein weiteres über das Wort «mein». Es zeigt mir, dass «mein» umso passender wird, je weniger es Ausschließlichkeit bedeutet. Ich möchte es anders ausdrücken: je mehr etwas wirklich mein ist, desto weniger ist es nur mein.

Wir erkennen das in jenen Augenblicken, in denen wir ganz besonders wach und lebendig sind, in Momenten, in denen wir Gott ahnen. Dann erleben wir totale Zugehörigkeit. Einen Augenblick lang wissen wir einfach, dass alles uns gehört, weil wir allem angehören.

Im Licht jener Erfahrung können wir aus ganzem Herzen sagen: «Alles ist mein.» Aber «mein» ist dann ganz und gar nicht ausschließlich gemeint. Es kommt aus dem Herzen, wo jedes mit allem eins ist. Das Herz sagt «Ja» zu diesem universellen Zusammengehören und weiß sofort, dass «Ja» ein Name Gottes ist.

Für mich wirft diese Einsicht neues Licht auf die Wahrheit: «Gott ist die Liebe» (1 Johannes 4,8).

Momente, in denen wir dies erleben, sind Schlüsselmomente für das Verständnis dessen, was Fülle des Lebens bedeutet. Darum müssen wir auch dann und wann auf sie zurückkommen.

Sie sind zugleich Momente überwältigender Dankbarkeit. Wir haben das schon früher erkannt, aber jetzt sind wir in einer besseren Lage zu verstehen, warum das so ist. Ganz am Anfang unserer Untersuchung von Dankbarkeit entdeckten wir schon, dass das «Ja» zur gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Geber und Empfänger der springende Punkt ist. Schenken und Danken dreht sich um den Angelpunkt dieses «Ja». Geber und Empfänger werden im Danksagen eins. Und das «Ja» zu ihrem Zusammengehören ist nichts anderes als das «Ja» der Liebe.

Wir haben gesehen, wie schwer es in unserem täglichen Leben manchmal ist, das «Ja» der Dankbarkeit auszusprechen.

In Augenblicken jedoch, wenn unser Herz voller Lebendigkeit schlägt, erfahren wir die gegenseitige Abhängigkeit von allem mit allem als Freiheit, als Freude, als Erfüllung. Unser Herz erhascht einen flüchtigen Blick unseres wahren Zuhause.

Zuhause aber nennen wir den Ort, wo jeder von jedem abhängt. Kein Wunder, wenn ein «Ja» aus unserem Herzen hervorbricht wie ein Stoßseufzer der Erleuchtung, der Befreiung, des Heimkommens. Das sagt auch D. H. Lawrence in einem Gedicht, das er «PAX» nennt, das lateinische Wort für «Frieden».

Lesen wir das Gedicht laut, dann besitzt es eine beschwörende Kraft. Seine Wiederholungen scheinen einen Zauber auf uns auszuüben ‒ kein Zauber, der uns bannt, sondern einer, der uns befreit.

«Eins … friedlich, in Frieden und eins … daheim, daheim … daheim.»

Diese Beschwörung lässt uns entspannen. Sie erlaubt, dass wir «eine tiefe Ruhe des Herzens» finden. Es ist wie ein Nachhausekommen in das «Haus des Lebens», in das «Haus der Lebendigen», in das «Haus des Gottes des Lebens», wohin wir gehören, wo unser wirkliches Zuhause ist.

Bei all ihrer Ruhe leben diese Zeilen von einer dynamischen Kraft. Sie haben Feuer in sich.

Selbst das Gähnen der Katze ist ein «Gähnen vor dem Feuer.» Das Gähnen einer jeden Katze, die auf sich hält, ist Teil eines ganzen Rituals aus dehnen und strecken, das voller Lebenskraft steckt.

Wenn wir nicht aus Langeweile oder Müdigkeit gähnen, sondern mit «eine(r) tiefen Ruhe im Herzen», dann heißt das

«gähnend (…) vor dem Feuer des Lebens.»

«Leben» ist ein Schlüsselwort in diesem Gedicht. Sechsmal wird «Leben» und «lebendig» wiederholt.

Die Ruhe wahren Friedens ist nicht totes Schweigen, sondern die lebendige Stille einer hell brennenden Flamme:

«Alles, worauf es ankommt, ist, eins zu sein mit dem
lebendigen Gott,
ein Geschöpf zu sein im Haus des Gottes des Lebens.
Wie eine Katze, die auf einem Stuhl eingeschlafen ist,
friedlich, in Frieden
und eins mit dem Herrn des Hauses, mit der Herrin,
daheim, daheim im Haus des Lebendigen,
schlafend am Herd und gähnend am Feuer.

Schlafend am Herd der lebendigen Welt,
gähnend daheim vor dem Feuer des Lebens
und die Gegenwart des lebendigen Gottes fühlend
wie eine unerschütterliche Gewissheit,
eine tiefe Ruhe im Herzen,
Gegenwart
des Herrn, der am Tisch sitzt
in seinem eigenen größeren Sein
im Hause des Lebens.»

«Alles, worauf es ankommt», absolut alles, «ist eins zu sein mit dem lebendigen Gott.»

Und «der Gott des Lebens» ist als «Feuer des Lebens» im «Hause des Lebens» gegenwärtig.

(Am Anfang, in der Mitte und am Ende des Gedichtes stehen diese Sätze und gewinnen so besondere Bedeutung.)

Feuer ist häufig ein Bild für Liebe. Hier aber ist es nicht das tobende und verzehrende Feuer der Leidenschaft. Hier ist es das ruhige, lebensspendende Feuer im Herd, das jeden im Hause willkommen heißt und zuhause fühlen lässt.

Wie also sollen wir «eins (...) sein mit dem lebendigen Gott», wenn das unser wahres Ziel ist?

Indem wir uns vom Herdfeuer durch und durch wärmen lassen; indem wir zulassen, dass uns die Wärme ein Gefühl von zuhause vermittelt; einfach dadurch, dass wir «daheim» sind, «daheim im Haus des Lebendigen.»

In einer von der Liebe erwärmten Welt gibt es keine Kluft zwischen Himmel und Erde. Das «Haus des Lebens» ist das «Haus des Gottes des Lebens.»

«Gottes Gegenwart im Haushalt der Erde ist Gegenwart
des Herrn, der am Tisch sitzt
in seinem eigenen größeren Sein
im Hause des Lebens.»

Das Bild des pater familias[2] gibt diesen Zeilen Bedeutung und beschützt sie zugleich davor, pantheistisch missverstanden zu werden.

Die Welt ist nicht mehr eins mit Gott, als der Haushalt eins ist «mit dem Herrn des Hauses, mit der Herrin.» Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist keine Frage des Einsseins, sondern des Zusammenseins, des Beieinanderseins durch jene Liebe, die nur die Vorstellung von pietas[3] uns zu vermitteln beginnt.

Und doch, mit welcher Ehrfurcht füllt uns das Bewusstsein dieser Zugehörigkeit.

Wenn wir uns den Erdhaushalt[4] als unseres himmlischen Vaters «eigenes größeres Sein» vorstellen, dann wird uns das jedes Steinchen, jeden Grashalm, jeden Käfer mit Ehrfurcht betrachten ‒ und entsprechend behandeln lassen.

Dann wird Liebe ihre Zu- und Abneigungen ebenso leicht nehmen, wie wahrer Glaube seine Überzeugungen und wirkliche Hoffnung ihre Hoffnungen.

Schließlich, welchen Unterschied machen Zu- und Abneigungen schon, wenn «alles, worauf es ankommt, ist, eins zu sein mit dem lebendigen Gott»?

Jene, die wir mögen und die, die wir nicht mögen, sind gleichermaßen «daheim im Haus des Lebendigen.» Wir gehören alle zusammen. Wir können alle zusammen in Frieden leben, sobald wir unserem tiefsten Sehnen folgen und zu unserem Herzen nach Hause kommen.

[Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 147-150, 159-162 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 148-151, 160-162]

[Ergänzend:

1. Film und Audios

1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie:
(32:11) Bruder David schließt mit seiner deutschen Übersetzung des
Gedichtes PAX  von D. H. Lawrence und Ausklang mit Musik von Hannelore und Bruder Thomas

1.2. Transkription Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1996) des Films Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992): [5]

(04:49) «Oder eine andere Situation: Wir sind in größter Not. Ein Kind ist schwer krank, ein lieber Mensch stirbt uns. Und wir sind außer uns vor Verzweiflung, vor Traurigkeit. Und wieder ‒ in dieser äußersten Not ‒ finden wir uns doch wieder echter, als wir es meistens sind, wenn wir an der Oberfläche dahinleben. Und auch in einem solchen Augenblick brechen wir wieder durch zu der Erfahrung, dass wir nicht verwaist sind. Dass wir uns auf irgendetwas verlassen können. Wir verlassen  u n s : Wir sind  a u ß e r  uns. Und wir verlassen uns auf etwas hin. Und das ist wieder diese geheimnisvolle Wirklichkeit, die jene Menschen, die das Wort ‹Gott› richtig verwenden, Gott nennen. Und in diesen Augenblicken rufen auch Menschen, die sonst gar nicht in irgendeiner Weise an Gott glauben, so etwas wie: ‹mein Gott›. Und dieser Ausruf auf Gott hin, ganz spontan in Augenblicken, in denen wir außer uns sind, das ist eigentlich das ursprünglichste Gebet.»

1.3. TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(14:30) Gottraumfahrten und Meilensteine im selben Gott-Raum – Zugehörigkeit ist immer gegenseitig angefangen bei Dingen über Pflanzen und Tiere bis zu: ‹Oh Gott, du bist mein Gott› (Psalm 63,2) ‒ Gott ist ‹persönlich›, aber nicht ‹Person›: ‹God isn’t sombody else› (Thomas Merton)

1.4. Transkription des Vortrags Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992); siehe auch Sterben und Tod:

(21:07) «Dann könnte man noch sehen, wenn wir den Tod so ernst nehmen, dann haben auch unsere Leiden, unsere Freuden, unsere Lebensumstände, die Wahlen die wir treffen, die Entscheidungen, die wir treffen, ganz eine andere Bedeutung, denn sonst stellen wir uns das nur so vor ‒ ein bisschen karikiert ‒, aber wir denken, das Leben ist so eine Art Wartezimmer, wo man so wartet, oder wenigstens so wie zu Weihnachten, wo die Kinder draußen warten müssen bis das Glöckerl leutet und dann die Tür aufgeht und da ist der Christbaum. So stellt man sich das häufig vor: wir warten so da herum und dann, wenn die Tür aufgeht, sehen alle den gleichen Christbaum. Aber um Gottes Willen, warum müssen wir dann so schreckliche Dinge durchmachen: ich so, du was ganz anderes, ein Dritter wieder ganz etwas anderes: Warum müssen wir so verschiedene Leben erleiden, wenn wir dann alle zu dem gleichen Christbaum gehen?

Wir schaffen sozusagen das Fenster,  d u r c h  das wir die Visio Beatifica haben werden. In Zusammenarbeit mit Gott schaffen wir jetzt  d e n  bestimmten Gesichtspunkt, in dem wir Gott sehen werden. Sonst ist es ja nur eine Quälerei dieses ganze Leben. Aber wenn mein Leben so sein muss, weil ich  d a n n  erst zu dem Menschen werde, der Gott so verstehen kann auf eine ganz einzigartige Weise, dann hat es Sinn und auch Sinn, dass wir sagen:

‹O Gott, du bist  m e i n  Gott› (Psalm 63,2) ganz persönlich.»

1.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‹Ich glaube an Gott›:
(32:27) Gott: eine noch inhaltslose Bezugsrichtung unserer tiefsten und allumfassendsten Zugehörigkeit wie auch Gräber in einer bestimmten Richtung ‒ Zugehörigkeit ist immer gegenseitig: von Gegenständen über Pflanzen, Tiere, Menschen bis zu Gott, von dem wir allein sagen können: ‹Gott, du bist mein Gott› (Psalm 63,2)
(40:00) Gott persönlich, aber nicht mit der Beschränkung einer Person: ‹God isn't somebody else› (Thomas Merton)

1.6. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(38:35) ‹Gott spricht›: Zugehörigkeit ist gegenseitig, von Dingen zu Pflanzen und Tieren bis zu ‹mein Gott›

2. Weitere Texte

2.1. Orientierung finden (2021), 54f.:

«Das Wort ‹Gott› entstand früh in der Geschichte unsrer Sprache und geht auf die indogermanische Wurzel ‹gheu› mit der Grundbedeutung ‹rufen› zurück. Unter ‹Gott› wurde also ursprünglich ‹Das Angerufene› verstanden, vielleicht auch ‹Das uns Anrufende›. Jedenfalls schwingt bei dem Wort ‹Gott› von Anfang an die Gegenseitigkeit einer Ich-Du-Beziehung mit. Gleichzeitig war das grammatische Geschlecht des Wortes ursprünglich sächlich und so wurde die Gefahr vermindert, Gott ‒ das große Geheimnis ‒ zu vermenschlichen. Noch heute gibt es Völker und Stämme, die religiöse Vorstellungen bewahrt haben, welche in prähistorischen Kulturen verbreitet waren. Anthropologische Feldforschung zeigt, dass sie häufig Personifikationen natürlicher Kräfte wie Sturm oder Blitz verehren und dennoch, diesen ‹Göttern› übergeordnet, eine höchste Kraft anerkennen, von der sie weniger bildhaft sprechen.

So zum Beispiel Chief Luther Standing Bear (1868-1,939), wenn er sagt: ‹Aus Wakan Tanka, oft als großes Geheimnis übersetzt, kam eine mächtige vereinigende Lebenskraft, die in und durch alle Dinge floss.›

Black Elk (1863-1950) sprach von unsrer Beziehung zu dieser Kraft und von dem großen inneren ‹Frieden, der in den Seelen der Menschen herrscht, wenn sie ihre Beziehung, ihre Einheit mit dem Universum und all seinen Kräften erkennen›.

Aber er ging noch einen Schritt weiter und sprach von dieser Beziehung zugleich als einer persönlichen. Er betonte den Frieden, den die Menschen erleben, ‹wenn sie erkennen, dass im Zentrum des Universums der große Geist wohnt; und ‒ da dieses Zentrum überall ist ‒ wohnt er auch in uns.› Die Einsicht, dass wir mit dieser Lebenskraft in persönlicher Beziehung stehen, entspricht der bedeutsamen Entdeckung, dass das große Geheimnis unser großes DU ist.»

2.2. Credo (2015): ‹Ich glaube an Gott›, 39:

«In den besten, lebendigsten Augenblicken unseres Lebens, in jenen Urerlebnissen, die Abraham Maslow ‹Peak Experiences› (Gipfel-Erlebnisse) nennt ‒ auf den Gipfeln wacher Lebendigkeit also erleben wir grenzenlose Zugehörigkeit. Wir können dem Wesen dieser Zugehörigkeit tiefer nachforschen. Dabei finden wir zunächst, dass Zugehörigkeit immer gegenseitig ist: Was uns gehört, dem gehören auch wir irgendwie an. Diese Gegenseitigkeit wird um so intensiver, je persönlicher die Beziehung ist. Selbst unsere Beziehung zu Dingen zeigt eine gewisse Gegenseitigkeit; sie verlangen etwas von uns: Pflege, Behutsamkeit, Geduld. Von da können wir zu Pflanzen, zu Tieren und zu Mitmenschen fortschreiten, um ein Ansteigen und eine Vertiefung von Gegenseitigkeit anschaulich zu machen. Um zu fühlen, wie gegenseitige Zugehörigkeit sich fortschreitend vertieft, brauchen wir nur aufmerksam der Reihe nach sagen: ‹mein Fahrrad›, ‹meine Hauspflanzen›, ‹mein Kind›. Schließlich weist dieser Anstieg in die Richtung, die wir Gott nennen. In dem Psalmvers

‹Gott, du bist  m e i n  Gott› (Psalm 63,2)[6]

hat das Fürwort ‹mein› mehr Gewicht und tiefere Bedeutung als in irgend einem anderen Zusammenhang. Schon bevor ich sonst noch etwas über Gott weiß, kann ich sagen, dass Gott im vollen Sinne  m e i n  ist, weil ich Gott völlig angehöre. In der menschlichen Beziehung zur göttlichen Quelle des Seins erreicht Gegenseitigkeit ihren Höhepunkt.»

2.3. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993); siehe auch Auf dem Weg der Stille (2023), 83f.:[7]

«Wenn Liebe echt ist, ist Zugehörigkeitsgefühl immer gegenseitig. Der Geliebte gehört zum Liebenden wie der Liebende zum Geliebten gehört. Ich gehöre zu diesem Universum und zu dem göttlichen Ja, aus dem es hervorging, und dieses Zueinander-Gehören ist ebenfalls gegenseitig. Deshalb kann ich sagen ‹mein Gott› – nicht im Sinne eines Besitzergreifens, sondern im Sinne liebevoller Verwandtschaft.

Wenn nun mein tiefstes Zugehören gegenseitig ist – könnte dann auch mein glühendstes Verlangen gegenseitig sein? Es muss so sein. So verblüffend der Gedanke anmuten mag: Was ich als meine Sehnsucht nach Gott erlebe, ist Gottes Sehnsucht nach mir. Man kann keine persönliche Beziehung mit einer unpersönlichen Kraft haben. Es ist wahr: ich darf die begrenzten Aspekte einer menschlichen Person nicht auf Gott projizieren ‒ und doch muss die göttliche Quelle alles Vollkommene der Personhaftigkeit besitzen. Woher sonst sollte ich sie erhalten haben?»[8]]

____________________

[1] Denise Levertov (1923-1997): ‹Her Judgement›, in: Denise Levertov: Collected Poems, New York, New Directions 2013: ‹Candles in Babylon›: II. ‹Pig dreams›, 626f.

[2] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 157f.:

«Die Römer hatten ein Wort für Liebe, das genau diese Haltung ausdrückt. Es ist das lateinische Wort ‹pietas›. Wir könnten es als ‹Familiensinn› übersetzen, eine Haltung, die dem Wissen um Zusammengehörigkeit entspringt und es entsprechend zum Ausdruck bringt. Pietas ist vor allem die Haltung des ‹pater familias›. Die Familie gehört zum Vater, von dem sie ihren Namen bezieht. ‹Pietas› gibt dem ‹pius pater› Rechte und Pflichten. Aber ‹pietas› ist eine Haltung, die von allen Mitgliedern des Haushalts geteilt wird und alle miteinander verbindet. Ehemann und Gattin lieben sich vielleicht auch mit Leidenschaft und Verlangen, das Band aber, das sie am stärksten und tiefsten zusammenhält, ist ‹pietas›. Das gleiche Band hält Brüder und Schwestern, Kinder und Eltern zusammen. Aber ‹pietas› bezieht auch Diener und Sklaven mit ein, jeden, der zum Haushalt gehört. Als Haushalt sind sie den Vorfahren der Familie und den Schutzgöttern, den ‹lares› verbunden durch die gleiche ‹pietas›, die selbst die Haustiere miteinbezieht, das Land, die Werkzeuge, den Hausrat und alles Ererbte. Unsere Sprache kennt keinen vergleichbaren Begriff.»

[3] Fortsetzung von Anm. 2:

«Könnten wir die Kraft des lateinischen Wortes ‹pietas› in unser Wort ‹Pietät› übertragen, das sich von ihm ableitet, dann würden unsere Vorstellungen von Mitgefühl und Hingabe sicherlich bereichert werden. Sie alle stehen im Zusammenhang mit der Vorstellung des Zusammengehörens. Ein Wort können wir nicht willkürlich wiederbeleben. Aber wir müssen das Gefühl des Zusammengehörens wiederentdecken, das das Wort ‹pietas› prägte.»

[4] ‹Erdhaushalt› ist eines der liebsten Begriffe von Bruder David, ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (*1930) geprägt hat. Die folgenden Zeilen in Hausverstand sind dem Text Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012) entnommen; siehe auch Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 2.1. und Erlösung ‒ Sünde und Heil: Haupttext und Anm. 8:

«So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.

Er ist eine vibrierende Lebendigkeit  zur Welt, in der Welt und für die Welt. Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit. Und er wird zu einer Grundlage für unser Tun und Handeln.

Im Geist zu handeln, heißt so zu handeln wie Menschen, die zusammengehören. Wir gehören alle zusammen in diesem ‹Erd-Haushalt› wie Gary Snyder es so schön nennt, und ein spirituelles Leben zu leben, bedeutet so zu handeln wie bei sich zuhause, wo man zusammengehört. Das und nur das ist moralisches Tun.»

[5] Die Transkription von Werner Binder † ist abgedruckt in: David Steindl-Rast: Staunen und Dankbarkeit: Der Weg zum spirituellen Erwachen, hrsg. von Werner Binder†, Freiburg/Basel/Wien, Herder 1996, S. 138-147, unter dem Titel: ‹Beten: Dankbares Leben›: ‹Teilnahme am göttlichen Leben›

[6] Im Buch steht (Ps 63, 1) wie in den englischsprachigen Bibelausgaben

[7] Quelle: Original-Textfahne (1993) von Bruder David; derselbe Text im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 5: ‹Gott durch die Sinne finden›, 83f., ist von Bernardin Schellenberger übersetzt aus der amerikanischen Originalausgabe The way of Silence (2016)

[8] Weiterführend Ein intimes Gespräch mit David Steindl-Rast in Argentinien (2023), der Film in Englisch (12:37-17:54): ‹Der persönliche und der unpersönliche Gott›

Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis im Buch Mystik ‒ Spiritualität der Zukunft (2005), 82:

«Die Erfahrung von Wort, Horchen und Antworten öffnet die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu dem ‹Mehr› ‒ zu Gott als persönlich mit uns verbunden (obwohl wir nicht in den Irrtum verfallen dürfen, Gott sei ‹eine Person›). Wir dürfen uns selbst als Wort Gottes verstehen, als Wort von Gott ausgesprochen und zugleich angesprochen (Ferdinand Ebner). Durch unsere Antwort werden wir erst zu dem Wort, als das wir gemeint sind. Das Selbstverständnis Jesu als eins mit dem ‹Vater› ist der Durchbruch auf eine neue Ebene menschlichen Selbstverständnisses und darf nicht auf Jesus beschränkt werden. Christliche Mystiker wussten dies und Thomas Merton fasste es zusammen, wenn er sagte: ‹Gott ist nicht jemand anders.›»


Quellenangaben

Film, Audio und Text von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

[Film 30:53] Isha Johanna Schury: «Jetzt hast du ja bestimmt auch viel mit Sterbenden schon in deinem Leben zu tun gehabt, mit Menschen, die am Ende ihres Lebensweges sind. Ich könnte mir vorstellen oder vielleicht kannst du uns sagen, was ist es denn, was diese Menschen am Ende unzufrieden macht, warum sie dann am Ende vielleicht doch irgendetwas bereuen. Was äußern sie, was sagen sie, was benennen sie?»

David Steindl-Rast: «Also ich muss zugeben, ich habe nicht sehr viel Erfahrung mit Sterbenden, Sterbehilfe oder so, das habe ich nicht gemacht. Ich war am Tod von Menschen dabei, aber alte Menschen, die sich irgendwie vor dem Tod fürchten, denen bin ich natürlich begegnet und dieses Gefühl, dass man etwas versäumt hat oder dass man etwas schlecht gemacht hat oder so, das ist schon oft ein Problem. Wie soll man damit umgehen?

Ich kann es mir nur so vorstellen, wie man mit Schuldgefühlen überhaupt im Laufe des Lebens umgehen kann, ganz gleich, wie nahe man dem Tod ist.

Und mein Rat ist immer, einerseits die Schuld anzuerkennen: Da war ich mir nicht selber treu, da war ich einem Andern nicht treu, da hab ich etwas versäumt, was ich tun hätte können, und es zunächst einmal eingestehen, dann mit festem Entschluss gleich aus diesem Gefühl, es ist ja ein ungutes Gefühl, eine Energie, diese Energie gleich verwenden, um zu sagen, nächstes Mal mache ich es besser, und von dem Augenblick an keinerlei Energie mehr in dieses Erlebnis einfließen zu lassen, denn das ist alles verschwendete Energie, über meine Fehler nachzudenken, sondern von da an nur vorwärts und alle Energie ‒ : Jetzt besser machen.

Das ist das Entscheidende. Und ganz gleich, wie nahe man dem letzten Augenblick steht, ich kenne keine andere Methode, damit umzugehen.

Wenn dann jemand sagen wird, ja, die Ärzte sagen mir, ich habe nur noch ein paar Tage oder ein paar Stunden zu leben, dann würde ich sagen, in den paar Stunden alles, Menschen und Tiere und Pflanzen dir vorzustellen und Ja zu sagen und dankbar zu sein dafür und das Leben zu rühmen und zu preisen und nicht auf meine kleinen Fehler überhaupt einzugehen.

Das Leben ist viel großzügiger als wir es sind.

Sogar in der christlichen Bibel, im Neuen Testament, das ja sonst sehr verrufen ist, diese Schuldgefühle immer wieder aufzubringen und den Menschen aufzuladen, sogar dort steht ganz ausdrücklich:

‹Wenn dein Herz dich anklagt, Gott ist größer als dein Herz.›

Die Vergebung Gottes ist immer größer. Darauf kann man sich sogar als Christ verlassen.»[1]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!

Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.
Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:
Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.
Ich bleibe dem Leben etwas schuldig:
mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.

Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.
Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒
an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.

Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[2]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Jeden Morgen erwache ich zum Geschenk eines neuen Tages,
aber auch zu allem Elend der Welt.
Unheil, das wir Menschen anrichten, ist entsetzlich genug.
Aber Erdbeben, Epidemien, Tsunamikatastrophen, wo kommen die her?
Ich will keine rosa Brille, will Dich nicht nach meinen Wunschträumen erfinden.
Ich möchte Dich kennenlernen, wie Du bist.
Lebensfülle und Vernichtung ‒ beides stammt von Dir, Du Unergründlicher. Mich schaudert.
Ich kann verzweifeln oder vertrauen. Ich wähle vertrauen.
Alles Böse ist das Noch-nicht-Gute.
Mit diesem Vertrauen will ich heute Schreckensnachrichten hören.
Amen.»[3]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.

1.2. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
Drei Grundfragen Warum? Was? Wie? (Bruder David):
(32:10) Unsere Aufgabe: ‹Rühmen, das ists› (Rilke: Sonette an Orpheus ‒ ‹Ich geh doch immer auf dich zu› (Rilke: ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst›) ‒ Kann man denn alles rühmen? ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) ‒ ‹Zwischen den Schlägen besteht unser Herz› (Rilke: Die Neunte Elegie) ‒ Die Dunkelheit, der Schatten des Geheimnisses und unser eigener Schatten gehören zum Ganzen dazu ‒ ‹Du Dunkelheit aus der ich stamme› (Rilke: Das Stunden-Buch)
(37:37) Das Böse, das noch nicht Vollendete ‒ Und so gehen wir aus dem Schweigen in das Wort und durch das Verstehen wieder ins Schweigen zurück auf einer andern Ebene ‒ In der liebenden Dunkelheit sind wir versöhnt mit dem Schweigen
(58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen

1.3. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
‹Das Böse mit den Augen einer Mutter anschauen›

1.4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
‹Was hindert gesundes spirituelles Wachstum›; siehe auch
Mitschrift:
(03:36) ‹Die Sünde ‒ ein sehr gefährliches Wort, aber ich verwende es in dem Sinne: Es bedeutet ‹die Absonderung›. ‹Sünde› und ‹sondern› gehören sprachlich zusammen: Die Sünde sondert uns ab von unserem eigenen wahren Selbst, von den Anderen, von dem MEHR. Sie wird nun juristisch verstanden. Denn wenn da so ein Machthaber oben sitzt, dann muss das juristisch interpretiert werden. So wird die Sünde zur Schuld und muss bestraft werden. Wir dürfen diese Sünde aber auch entwicklungsgeschichtlich verstehen, in unserer eigenen persönlichen Entwicklung als das noch nicht Geglückte. Und dann ‒ statt Strafe: lernen, nachlernen ‒ etwas ganz Anderes!›

1.5. «Wähle das Leben» (5 Mose 30,19) (1992)
Vortrag; siehe auch Sterben und Tod:
(03:59) Sich in Gottes Hände fallen lassen / (05:21) ‹Die Blätter fallen› (Rilke) / (07:14) ‹Gott ist grösser als unser Herz› (1 Joh 3,20)

2. Weitere Texte

2.1. Erwachende Worte (2023): ‹Rühmen›, 31; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben:

«‹Rühmen, das ist’s!›[4] Ja, alles, was ist, rühmt das Sein durch sein Dasein.
Einfach da zu sein ist Rühmung.
Dasein ist ein Ja-Sagen zum Sein.
Und dieses Ja fasst alles Rühmen in einem einzigen Wort zusammen.

Jedes Sein ist ein Ja ‒ ein ‹aus dem Nein aller Verneinung gehobenes› Ja:
Dasein ist Ja-Sein. Und dieses Ja-zum-Leben-Sagen heißt Rühmen.

Auch ich bin ‹ein zum Rühmen Bestellter›.[5]
Warum ist mein Ja zum Leben oft so zaghaft, so trüb, sogar oft widerwillig?
Aus Furcht, Ja zu sagen zum Ganzen.

‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze!›[6]

Das will ich mir zu Herzen nehmen ‒ vertrauensvoll trotz allem. Amen.»

2.2. Das Vaterunser (2022): ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern›, 76; siehe auch Erlösung ‒ Sünde und Heil:

«Meine Scham lässt mich fühlen, dass mein Versagen die zarte Vernetzung zerreißt, durch die alles mit allem verbunden ist ‒ verbunden auch mit dir. Das Wort ‹Sünde› kommt ursprünglich von ‹absondern›. Sünde meint einen Riss im Gewebe des Ganzen. Sie trennt, was zusammengehört, und das ist buchstäblich herzzerreißend. Denn das Herz ist ‒ wie Rilke das so wunderbar ausdrückt ‒

‹das ins Ganze Geborne.›[7]

Wenn wir aus unserm Herzen leben, dann gehören wir dem Ganzen, dann werden wir ganz, dann werden wir auch das, was uns am Ganzen so schwierig erscheint, in uns aufnehmen, dann werden wir mit dem Ganzen auskommen. Das Herz ist jener Bereich, wo wir am tiefsten und innigsten mit allem und allen und mit dem Göttlichen verbunden sind. Darum findet sich das Herz nicht ab mit der Trennung und es mahnt uns, die Trennung zu überwinden.

Aber auch dort, wo unser Herz uns anklagt, dürfen wir dir vertrauen, denn du bist ‹größer› als unser Herz und kennst uns durch und durch› (1 Joh 3,20). Auf dein grenzenloses Verzeihen lass mich vertrauen und es freigebig weiterschenken.»

2.3. Weihnachtsbotschaft 2022:

«Mutter und Kind sind das Urbild von Gemeinschaft und bleiben ihr Leitbild. Die Mutter sieht das Böse im Kind als das Noch-nicht-Gute. Wir können lernen, mit den Augen einer Mutter das Böse in der Welt – ohne es zu beschönigen – als das Noch-nicht-Gute zu sehen. Dann heißt es alles aufzubieten, um einfallsreich damit umzugehen. Was kann ich persönlich ganz konkret tun, um irgendwo eine gesellschaftliche Kluft zu überbrücken – ganz gleich was es mich kostet? Dazu bereit zu sein, ist unser unerlässlicher Beitrag, um das Versprechen der Weihnachtsengel Wirklichkeit werden zu lassen: ‹Friede den Menschen auf Erden!›»

2.4. Orientierung finden (2021), 59f.:

«Projizierte Gottesvorstellungen sind leider allzu häufig. Es gibt zwei Grundtypen: einen überdimensionierten kosmischen Weihnachtsmann und einen Superpolizisten mit den gleichen kolossalen Ausmaßen. Diese beiden können sogar miteinander verschmelzen. Die sich entwickelnde Beziehung eines Kindes zum großen Du kann durch diese beiden Projektionen irregeführt und verzerrt werden. Wenn das große Du die Maske des Superpolizisten trägt, wird das Kind möglicherweise sein Leben lang mit Schuldgefühlen und Angst zu kämpfen haben. Und wenn das Bild eines wunscherfüllenden Weihnachtsmanns den Platz des großen Du in der kindlichen Vorstellung einnimmt, wird eine bittere Erfahrung früher oder später den Schrei auslösen: ‹Wie kann ein liebender Gott solche Dinge tun›? In beiden Fällen wird eine echte Gottesbeziehung verlorengehen.

Dass ein Kind ein gesundes Verhältnis zum großen Du entwickelt, wird wohl weitgehend davon abhängen, wie sein Verhältnis zum maßgeblichen kleinen Du sich gestaltet. Für Eltern bedeutet das die schwierige Aufgabe, weder in die Rolle des Weihnachtsmannes zu verfallen noch in die des Superpolizisten. Vor allem aber wird es darum gehen, dem Kind die persönliche Beziehung zu Gott vorzuleben und so eine spontane Beziehung zu Gott ernst zu nehmen und zu fördern. Kinder aus ihrer Gotteserfahrung heraus auf eigene Weise zu Gott sprechen zu lassen, ist weit besser, als ihnen mit vorgegebenen Gottesbildern den freien Blick zu verstellen.»]

________________

[1] Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 10f.

[2] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹Schuld›, 23; siehe auch Erlösende Kraft

[3] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹Das Böse›, 12; siehe auch Sinne und Sinn

[4] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, VII

[5] Ebenda

[6] Für Bruder David eines der liebsten Worte des Kirchenvaters Aurelius Augustinus, die er immer wieder zitiert.

[7] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, II:

«Ach, der Erde, wer kennt die Verluste?
Nur, wer mit dennoch preisendem Laut
sänge das Herz, das ins Ganze geborne.»



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

«Was ich wollte, liegt zerschlagen,
Herr, ich lasse ja das Klagen,
Und das Herz ist still.
Nun aber gib auch Kraft, zu tragen,
Was ich nicht will!»

Joseph von Eichendorff: «Der Umkehrende»[1]

Im Vertrauen auf dieses große Du verlassen wir uns. Wir verlassen uns auf das große Du hin, dem wir gegenüberstehen, wenn wir im Augenblick stehen. In der Vergangenheit nicht, wenn wir uns mit der Vergangenheit identifizieren. Nicht, wenn wir uns mit der Zukunft identifizieren. Nur wenn wir im Augenblick stehen, dann sind wir mit diesem großen Du konfrontiert, das uns trägt.

Und darum sagt Eichendorff in einer weiteren Strophe aus dem Gedicht «Der Pilger»:[2]

«So lass herein nun brechen
Die Brandung, wie sie will,
Du darfst ein Wort nur sprechen,
So wird der Abgrund still;
Und bricht die letzte Brücke
Zu Dir, der treulich steht,
Hebt über Not und Glücke
Mich einsam das Gebet.»

Das ist das Gebet des Vertrauens. Es braucht gar kein gesprochenes Gebet zu sein. Es ist einfach das Vertrauen, das zum Gebet wird:

«So lass herein nun brechen
die Brandung, wie sie will,
du darfst ein Wort nur sprechen,
so wird der Abgrund still.»

Du ‒ das große Du ‒ steht in dem «Nunc stans»[3], in dem «Jetzt» treulich und verlässlich. Wann immer wir uns auf den Augenblick einlassen, steht dieses Du treulich und verlässlich uns gegenüber. Aber nicht nur «uns gegenüber».

Es steht mit uns, es trägt uns, es hebt über Not und Glücke. In diesem Gebet des Vertrauens. So scheint mir der Dichter die Frage zu beantworten: «Wie können wir überstehen?»

Und dann kommen wir gegen Abend, in der Lebensreife, im Herbst jeden Jahres immer wieder zu der Frage:

«Woran reifen wir?»

Es gibt nichts Traurigeres als ein unausgereiftes menschliches Leben. Und darum nichts Traurigeres als den Tod eines jungen Menschen. Ich muss an den Tod dieser unzähligen jungen Menschen denken, die jetzt im Krieg sterben. Da kann ich mich nur darüber hinwegtrösten, indem ich an ein Buch von Thornton Wilder denke, das vielleicht viele von Ihnen kennen, «The Bridge of San Luis Rey».

Es erzählt von einem Franziskaner, einem Missionar, der im 18. Jahrhundert in Peru zu einer Seilbrücke kommt, die schon Hunderte von Jahren gehalten hat. Doch gerade in dem Augenblick, wo er auf die Brücke gehen will, bricht sie zusammen und reißt fünf Menschen in den Abgrund. Und er stellt sich jetzt die Frage: «Warum gerade diese fünf?» Der Missionar geht dem Lebenslauf dieser fünf Menschen nach und kommt am Ende des Buches zu dem Schluss:

«Man stirbt nicht am Tod, man stirbt an der ausgereiften Liebe» (Otto Mauer).

Und die Liebe kann schon sehr früh ausreifen. Die Kirschen reifen schon im Juni, die Trauben erst im Oktober. Wir wissen es nicht. Von außen kann man es nicht sehen. Wenn junge Menschen sterben, dürfen wir hoffen, dass ihre Liebe ausgereift war. Ja, wir können dessen eigentlich sicher sein.

Aber für uns, die ein reiferes Alter erleben dürfen, stellt sich im Herbst die Abend-Frage: «Wie reifen wir?»

Rilke schreibt im Stundenbuch:

«Jetzt reifen schon die roten Berberitzen,
alternde Astern atmen schwach im Beet.
Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht,
wird immer warten, wird sich nie besitzen.

Wer jetzt nicht seine Augen schließen kann,
gewiss, dass eine Fülle von Gesichten
in ihm nur wartet bis die Nacht begann,
um sich in seinem Dunkel aufzurichten ‒
der ist vergangen wie ein alter Mann.

Dem kommt nichts mehr, dem stößt kein Tag mehr zu,
und alles lügt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du,
welcher ihn täglich in die Tiefe zieht.»

Wie kann das sein?

«… und alles lügt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott.»

Lügt Gott uns an? Ein falsches Gottesbild, das lügt uns an.

Aber der Stein, welcher uns täglich in die Tiefe zieht, das ist der Gott unserer Sehnsucht, das ist der Gott, der in uns reift.

Und unser eigentliches Reifen ist das Reifen Gottes in uns.

«Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift»,

schreibt Rainer Maria Rilke.

Doch was macht uns reifen?

Ein anderes Gedicht von Rilke legt nahe, dass es die Begegnung mit der Wirklichkeit ist, die uns reifen lässt.

Auch die Begegnung mit allem Widersprüchlichen, einfach mit allem, was es gibt, macht uns reif, wenn wir uns ihm aussetzen.

Und so schreibt Rilke:

«Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.»

Wenn wir unseres Lebens viele Widersinne versöhnen und dankbar in ein Sinnbild fassen: Was kann dieses Sinnbild sein?

Clemens Brentano nennt in einem wunderschönen Gedicht das Feldkreuz als dieses Sinnbild. Er hat dieses Gedicht an das Ende seines Buches gestellt und damit eigentlich an das Ende von allem, was er geschrieben hat.[4]

Im Kreuz steht die Gegenwart, das Jetzt, senkrecht auf dem Fluss der Zeit: der gegebene Augenblick. Brentano findet ans Feldkreuz angeschrieben diese Worte. Und er findet den Gekreuzigten, der ihm zum Sinnbild wird.

«Oh Stern und Blume
Geist und Kleid
Lieb, Leid und
Zeit und Ewigkeit!»

In allem, was es gibt, drückt sich das Grenzenlose, Unbegrenzte und Unendliche aus. Es drückt sich in allen Formen aus. Der Stern etwa zeigt sich in der Blume. Kinder zeichnen das gerne, den Stern. Oder die Sonne oben und drunter die Sonnenblume, oder den Stern und die Sternblume.

«Oh Stern» ‒ das Unendliche ‒ und die Blume ‒ das ganz Kleine.

«Geist und Kleid»: Alles, was wir sehen, ist Kleid des Geistes. Alles, was es gibt, ist Gabe dieses unbegrenzten Es, das uns alles gibt.

Auch «Lieb und Leid». Im Leid drückt sich die Liebe völlig aus. Das Unbegrenzte ist die Liebe, das Leid ist die begrenzte Form, in der wir hier in diesem Leben die Liebe am tiefsten erfahren. Dieses Sinnbild ist am Feldkreuz angeschrieben.

Und schließlich: «Zeit und Ewigkeit.»

Am Feldkreuz wird es umgedreht: «Ewigkeit und Zeit». Die Ewigkeit drückt sich in der Zeit aus, in dem Augenblick. So wie der Stern in der Blume, wie der Geist in seinen vielen Kleidern, wie die Liebe sich im Leid ausdrückt. Zeit und Ewigkeit.

Das ist das Sinnbild, scheint mir, in dem wir die vielen Widersinne unseres Lebens versöhnen und dankbar zusammenfassen ‒ das Kreuz.

«Was kann uns da trösten?»

in der Dunkelheit der Nacht, im Winter. Was tröstet uns? Meine Antwort, das können Sie wahrscheinlich schon voraussehen, wenn Sie meine Bücher kennen, ist:

«Was uns tröstet, das ist die Dankbarkeit.»

Dankbarkeit ist immer die große Antwort, der große Trost.

Eichendorff betitelte eines seiner Gedichte «Dank».

Es ist ein Lebensabendgedicht. Er schreibt:

«Mein Gott, dir sag ich Dank,
Dass du die Jugend mir bis über alle Wipfel
In Morgenrot getaucht und Klang ...
Und auf des Lebens Gipfel,
bevor der Tag geendet,
Vom Herzen unbewacht
Den falschen Glanz gewendet,
Dass ich nicht taumle ruhmgeblendet,
Da nun herein die Nacht
Dunkelt in ernster Pracht.»

Schon die Musik dieses Gedichtes ist unglaublich schön.

«Da nun herein die Nacht dunkelt in ernster Pracht.»

Dunkel und ernst kommt die Nacht, sie «dunkelt in ernster Pracht».

Ich verstehe das Wort Dunkelheit in bewusstem Kontrast zu «Finsternis».

Die Finsternis droht, die Dunkelheit aber versöhnt.

Die Finsternis ist etwas Bedrohliches, nicht aber die Dunkelheit.

«Du Dunkelheit, aus der ich stamme,
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich,
wie sie's errafft,
Menschen und Mächte ‒
Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.

Ich glaube an Nächte.»

Wenn wir uns auf diese große Nacht verlassen, die alles an sich hält, wenn wir vertrauend uns auf diese Nacht einlassen, dann finden wir darin Trost. Sehr tiefen Trost.

Aber zur Nacht gehört beides: Dunkelheit und Stille.

Und auch zur Dankbarkeit gehört beides: im Jetzt sein ... alles umfassend ... und still sein.

Niemanden ausgrenzen und ganz still werden.

Auch das letzte Gedicht von Rilke, das ich wiedergeben möchte, ist aus dem Stundenbuch:

«Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒ :

Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.»
[5]

Das ist der Segen, die Gnade. Das ist die Gnade, die durch unser Leben fließt, die in uns ständig einfließt, in jedem Augenblick: jetzt ... jetzt ... jetzt. Und die erst ganz völlig zu sich kommt, wenn wir sie verschenken «wie einen Dank».

Nach einer Reise ins Heilige Land erinnert man sich nachher ganz besonders an den See Genezareth, der voller Fische ist, umgeben von wunderbaren Bäumen und Gärten. Alles blüht, alles ist lebendig. Der Fluss Jordan kommt vom Libanon herunter und er füllt diesen See und alles, was darum ist, mit Leben an. Das ist der Fluss der Gnade sozusagen. Der Jordan fließt dann weiter in das Tote Meer. Nun ist rundherum alles Wüste, es gibt keine Fische mehr, alles ist tot. Und man fragt sich: Es ist doch dasselbe Wasser. Was macht den Unterschied?

Der Unterschied ist, dass der See Genezareth das lebende Wasser aufnimmt und weitergibt. Im Toten Meer aber bleibt es. Wenn wir die Gnade aufnehmen und weiterschenken, wenn wir «sie besitzen nur ein Lächeln lang», um sie dann «an alles Leben zu verschenken wie einen Dank», dann leben wir wirklich. Wenn wir das, was uns geschenkt ist, halten, dann verdirbt es und versauert es.

Mit all dieser Betonung auf das Jetzt ‒ es gibt keine Zufälle ‒ habe ich gestern Abend hier eine Uhr als Geschenk bekommen. Der große Künstler, der diese Uhr entworfen hat, gestaltete drei Modelle.

Beim ersten Modell ist das Ziffernblatt weiß, da steht nichts drauf als «jetzt». Also ich glaube, diese Uhr macht nicht Tick-Tack, sondern die macht

«Jetzt ‒ Jetzt ‒ Jetzt ‒ Jetzt.»

So eine Uhr brauchen wir.[6]

Das zweite Modell sagt es auf Englisch: «now». Und dieses Modell hier sagt: «Lukas 17,21». Das ist die Stelle, in der Jesus sagt:

«Das Reich Gottes ist jetzt schon unter euch.»

Das Jetzt ist es, welches die großen Fragen beantwortet, die uns bewegen. Und wenn wir uns auf dieses Jetzt einlassen, dann ist das Reich Gottes jetzt unter uns.

[Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 22-38; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (20:48-42:38)]

[Ergänzend:

1. Obiger Text und Vortrag ist die Fortsetzung des Textes / Vortrags in Fragen des Lebens

2. «Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe.» (Otto Mauer):

Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 8; Sterben und Tod: Ergänzung: 1:

«Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.

Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒ die Liebe ist das Entscheidende.

Ein großer Denker ‒ Otto Mauer ‒, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:

‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.

Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.»

Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016):
Tag 4 ‒ Nachmittag:
‹Memento mori› ‒ ‹Memento vivere›:
(16:02) ‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe› wie Otto Mauer Thornton Wilders Roman ‹Die Brücke von San Luis Rey› zusammenfasst
(45:48) Gespräch: Was, wenn die Liebe nicht ausgereift ist? Reinkarnation und Fegefeuer

3. Das Reifen Gottes in uns:

Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 294f., 300f.; siehe auch Kontemplation im Handeln: Ergänzend: 5.:

«Gott vollendet sich nicht ohne unser Zutun. Gott vollendet sich aber auch trotz unseres Versagens. … Und Gott ist immer noch größer. Wir bauen an Gott, wir bauen am Bild Gottes, und dieses Bauen ist Kontemplation.»

Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift.

Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:

Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.

Auch wenn wir nicht wollen:
G o t t  r e i f t.›

(Rilke, Das Stunden-Buch)»

4. Die Begegnung mit der Wirklichkeit:

Musik der Stille (2023), 27; siehe auch: Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 2. ‹Die Tagzeiten›; Altern: Ergänzend: 3.: ‹Wirklich werden›:

«Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›[7]. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:

‹Tut Wirklichwerden weh?›

Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:

‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»

5. Die Begegnung mit allem Widersprüchlichen:

Kreuz ‒ Sinnbild und Sinnorgan Herz

6. Gnade ‒ Segen ‒ Blessing ‒ Blutstrom:

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der
Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(05:29) Gnade im Bild des Flusses Jordan / (07:18) Gnade – Segen – Blutstrom / (08:24) Empfangen – weiterschenken – die Stille / (09:13) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› (Rilke)

7. Das Reich Gottes ist jetzt unter uns:

Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition:

«Das Bild des Messias strahlte in einer anderen solchen Gnadenstunde auf, als sich Vertreter vieler Religionen 1972 auf Mount Saviour[8] trafen. … Ich weiß nicht mehr, ob es Reb Shlomo Carlebach war oder Reb Zalman Schachter, der bei unserem letzten gemeinsamen Abendessen eine chassidische Geschichte erzählte, die uns zu Herzen ging, weil sie von dem sprach, was unter uns Wirklichkeit geworden war: ‹Der gelehrte Rabbiner und seine Schüler waren beisammen und so glühend war die Liebe unter ihnen, dass der Meister einen von ihnen zum Fenster schickte: ‹Schnell, schau hinaus, ob der Messias nicht gekommen ist!› Enttäuscht kam die Antwort: ‹Alles da draußen wie eh und je.› ‹Aber Rabbi›, fragte ein anderer Schüler, ‹müssten wir hinausschauen, wenn der Messias gekommen wäre? Würden wir es nicht hier herinnen gleich wissen?› ‹Ja! Aber hier›, sagte der Meister strahlend, ‹hier ist der Messias ja gekommen!›»[9]]

_________________________

[1] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 3.

[2] Bruder David bezieht sich auf die erste Strophe des Gedichtes ‹Der Pilger› in Fragen des Lebens

[3] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8

[4] Mit diesem Gedicht enden die ‹Blätter aus dem Tagebuch der Ahnfrau›, die Fortsetzung des Märchens ‹Gockel, Hinkel und Gackeleia›. In den heutigen Ausgaben trägt das Gedicht die Überschrift ‹Eingang›; das Gedicht in Kreuz ‒ Sinnbild und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 121-123

[5] R. M. Rilke: ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (Das Stunden-Buch) ‒ Siehe auch Stille leben und Stop ‒ Look ‒ Go

[6] «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›» [Der Zen-Christ: David Steindl-Rast im Portrait (2012)]; siehe auch Jetzt in diesem Augenblick: Ergänzend: 2.1.

[7] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106, und Erlösende Kraft, Anm. 4:

«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, erschienen 1922, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»

[8] Bruder David trat 1953 in das kurz zuvor neu gegründete Benediktinerkloster Mount Saviour in Elmira, NY, ein.

[9] Ich bin durch Dich so ich (2016), 98; siehe auch Reich Gottes: Ergänzend: 1.2. und Reich Gottes ‒ ‹auferstanden›: Ergänzend: 2.



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Barbara Krähmer

Es gibt viele Fragen. Doch nicht alle Fragen bewegen uns. Viele Fragen beunruhigen uns vielmehr. Und die Fragen, die uns beunruhigen, die lassen uns zum Stillstand kommen. Wir sind fast eingefroren von Fragen, die uns beunruhigen. Und die Furcht macht uns erstarren.

Die Fragen, die uns beunruhigen, haben meist mit der Vergangenheit zu tun oder mit der Zukunft. Das sind Fragen wie «Wie konnte so etwas nur geschehen?», «Wie konnte ich nur das tun?» «Wie konnte man mir das nur antun?»

Oder Fragen über die Zukunft, «Was kommt da noch alles auf uns zu?» ‒ Angstfragen sind es, die machen uns starr.

Aber dann gibt es auch Fragen, die uns bewegen. Fragen, die uns in Bewegung setzen. Und das sind Fragen in der Gegenwart. Fragen, die wir nur in der Gegenwart stellen können. Nur in diesem Augenblick. Nur in dem Jetzt, auf das alles ankommt.

Denn dieses Jetzt ist der Schnittpunkt der Zeit mit der Ewigkeit.[1] Die Ewigkeit ist ja keine lange, lange Zeit, die Ewigkeit ist, wie Augustinus das definiert, das «Nunc stans»[2] ‒ Das Jetzt, das nicht vergeht.

Dieses Jetzt ist uns in jedem Augenblick geschenkt. Und in diesem Jetzt ist uns die Begegnung mit unserem großen und ewigen Du geschenkt. Wir aber sind meistens beschäftigt mit der Vergangenheit und mit der Zukunft. Wir sind abgelenkt durch die Zeit vom Jetzt. Das Jetzt aber ragt über die Zeit heraus, denn das Jetzt ist nicht eigentlich in der Zeit.[3]

Und diese großen Fragen, die uns da beschäftigen, die uns wirklich bewegen und die uns heute beschäftigen sollen, die stehen auf diesem Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit, die stehen im Jetzt. Das sind Fragen, die wir im Jetzt stellen und nur im Jetzt stellen können.

Und dieses Jetzt geht mit uns durch den Tag, durch das Leben. So wie auf einer Wanderschaft der Mond mit uns zu gehen scheint. Oder wenn der Mond auf einen See scheint: Immer zielt die Bahn des Lichtes auf uns, wohin wir auch gehen. Dieses Jetzt geht mit uns durchs Leben, durch den Tag.

Die vier Fragen:

Und so möchte ich nun vier von diesen Fragen herausgreifen: Fragen, die uns im Jetzt bewegen. Zunächst eine Frage, die mit unserer Jugend zu tun hat, damit, wie wir durchs Leben gehen, mit dem Morgen.

Und das ist eine Frage, die sich jeden Morgen neu stellt. Oder sich jedes Jahr mit dem Frühling erneuert. Diese Frage am Morgen heißt: «Wonach sehnen wir uns?» Wonach sehnen wir uns eigentlich?

Die Frage, die sich uns dann in der Lebensmitte stellt, am Mittag, im Sommer unseres Lebens, das ist die Frage: «Wie können wir überstehen?» ‒ Wenn alles auf uns hereinbricht, wenn alles unter uns zusammenbricht: Wie können wir überstehen?

Und dann eine dritte Frage, die Frage der Lebensreife, des Herbstes, des Abends: «Woran reifen wir?» ‒ Nicht in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit, sondern jetzt, im gegenwärtigen Augenblick: Was macht uns jetzt reifen?

Und schließlich für die Lebensneige, für den Winter, für die Nacht die Frage: «Was tröstet uns?»

Wonach sehnen wir uns?

Um uns solche Fragen ganz persönlich nahezubringen, dafür gibt es kaum einen besseren Weg als die Dichtung. So möchte ich hauptsächlich Gedichte mit Ihnen teilen, und zwar von zwei Lieblingsdichtern von mir: von Rainer Maria Rilke und von Joseph von Eichendorff. Ich hoffe, dass wir diese Liebe zu diesen beiden Dichtern ‒ Eichendorff aus dem 19. Jahrhundert, Rilke aus dem 20. Jahrhundert ‒ auch wirklich teilen.

Und so möchte ich zunächst zu der Frage «Wonach sehnen wir uns?» mit Eichendorff beginnen, aus dem Gedicht «Der Pilger»:

«Man setzt uns auf die Schwelle,
Wir wissen nicht, woher?
Da glüht der Morgen helle,
Hinaus verlangt uns sehr.
Der Erde Klang und Bilder,
tiefblaue Frühlingslust,
Verlockend wild und, wilder,
Bewegen da die Brust.
Bald wird es rings so schwüle,
Die Welt eratmet kaum,
Berg’, Schloss und Wälder kühle
Stehn lautlos wie im Traum,
Und ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn:
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?»

Das ist der Lebensanfang.

«Man setzt uns auf die Schwelle, wir wissen nicht, woher?»

Das ist zugleich die Schwelle in das Leben und von woher. Und wir wissen nicht, von woher wir in dieses Leben kommen. Es ist nicht nur die Schwelle, über die hinaus wir jetzt ins Leben gehen. Es ist auch die Schwelle, über die wir in das Leben hereinkommen. Und wir wissen nicht, woher.

Da ist das große Verlangen: die Sehnsucht. Es verlockt uns etwas, hinaus verlangt uns sehr. Aber dann kommt ein geheimes Grausen!

Kennen wir dieses geheime Grausen, wenn wir uns fragen:

«Wonach sehnen wir uns denn eigentlich?»

Im Gedicht reimt es sich hier nicht ganz genau. Und das ist immer sehr bezeichnend, wenn ein Dichter ungenaue Reime verwendet. Nicht, weil er es nicht besser kann, sondern weil er eben diese Ungenauigkeit will: Ein «geheimes Grausen» reimt sich auf «Wir sehnen uns nach Hause».

Das Haus, nach dem wir uns sehnen, das nimmt das Grausen weg:

«Und. ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn :
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?»

Auch Rainer Maria Rilke spricht in einem Gedicht aus dem Stundenbuch von dem, was vor der Schwelle geschieht, auf die man uns setzt. Und er stellt sich das so vor:

«Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:

Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.

Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.

Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.

Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.

Gieb mir die Hand.»

«Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand!»

Das, wovon Eichendorff als «verlockend, wild und wilder» spricht, das ist die Schönheit, die uns anzieht.

«Lass dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken»,

heißt es bei Rilke.

Und der Schrecken ist dieses geheime Grausen, das auch zum Leben gehört.

«Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.»

Lass dich von mir nicht trennen ‒ das heißt, in der Zeit, in die du jetzt hinausgehst, sei immer bei mir, gib mir die Hand ‒ jetzt!

Jetzt, an diesem Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.

Jetzt noch ein Gedicht von Eichendorff zu dieser Frage:

«Wonach sehne ich mich?»

Und das ist ein Jugendgedicht von ihm, ein frühes. Es heißt «Frische Fahrt»:

«Laue Luft kommt blau geflossen,
Frühling, Frühling soll es sein!
Waldwärts Hörnerklang geschossen,
Mut’ger Augen lichter Schein;
Und das Wirren bunt und bunter
Wird ein magisch wilder Fluss,
In die schöne Welt hinunter
Lockt dich dieses Stromes Gruß.

Und ich mag mich nicht bewahren!
Weit von euch treibt mich der Wind,
Auf dem Strome will ich fahren,
Von dem Glanze selig blind!
Tausend Stimmen lockend schlagen,
Hoch Aurora flammend weht,
Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
Wo die Fahrt zu Ende geht!»

So gehen wir dann in die Welt hinein, in das Wirren, in den wilden Fluss, in den Strom. Wir lassen uns treiben vom Wind

«... selig blind ...»

Und wir wollen nicht fragen, wo die Fahrt hinführt. Wir wollen nicht fragen. Das ist unsere Verwirrung, das ist der Übergang von der Jugend zur Lebensmitte.

Doch lange bevor die Fahrt zu Ende geht, kommen wir an eine Stelle, an der wir uns fragen müssen:

«Wie kann ich das überstehen?»

Weil wir uns eben «selig blind» auf den Lauf der Zeit eingelassen haben, «selig blind» der Zeit verfallen sind und das Jetzt vergessen, können wir mit dem Wandel nicht umgehen.

Und so schreibt Eichendorff:[4]

«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.

Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.

Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!

Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»

Alles, was wir schauen, wandelt sich, ständig. Vielleicht erinnern Sie sich, wie uns das auf der Lebensmitte bewusst wird. Vielleicht gerade mitten im Getriebe. Irgendwann in einem Augenblick, wenn wir uns wirklich einmal aus der Zeit herausraffen, wird es uns bewusst:

«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.»

Dieses eigene Grauen ist das Grausen, von dem Eichendorff schon vorher gesprochen hat im Gedicht «der Pilger»:

«Und ein geheimes Grausen
beschleichet unsern Sinn.»

Dieses Grausen, das wir fühlen. Und jetzt geht das Gedicht weiter:

«Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.

Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!»

Und das ist nun das Haus, in dem wir zuhause sind. Jetzt plötzlich beginnt die Frage zu dämmern: «Wie können wir überstehen?»

Die letzte Strophe lautet:

«Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»

Wie können wir überstehen?

Hier und jetzt im Vertrauen. Nicht im Bedauern über die Vergangenheit, nicht in der Furcht vor der Zukunft, sondern durch Vertrauen im Jetzt. Das scheint mir die Antwort zu sein, die der Dichter hier auf diese Frage gibt.

Wenn unsere jüdischen Schwestern und Brüder das Laubhüttenfest feiern, einmal im Jahr, dann bauen sie sich kleine Laubhütten, um sich an den Weg durch die Wüste zu erinnern. Die Laubhütten erinnern an die Zeit, als das Volk Israel in der Wüste lebte. Das ist ein sehr freudiges Fest und es dauert eine ganze Woche. Die gesamte Familie sitzt zusammen in diesen Laubhütten, morgens und abends, und singt und isst und trinkt und feiert. Die Baubestimmungen für diese Laubhütte sagen:

«Baue die Wände so dünn, dass du die Nachbarn sehen kannst. Und baue das Dach so dünn, dass du die Sterne sehen kannst.»

Wenn wir so fest bauen, wie wir das gewohnt sind zu tun, dann muss Gott milde über uns zerbrechen, dass wir den Himmel schauen.

[Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 5-21; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (00:22-20:48)]

[Ergänzend:

1. Siehe die Fortsetzung des Textes / Vortrags mit der Frage: «Woran reifen wir?» in Reifen

2. ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke: Das Stunden-Buch):

Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 ‒ Nachmittag:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(02:32) ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke, Das Stunden-Buch)

Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
1. Vortrag in thematische Brennpunkte aufgeteilt:
‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke)

Musik der Stille (2023): Laudes ‒ TAGESANBRUCH: 48f.; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 31-35:

«Die klösterliche Stunde der Laudes führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.

In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte. Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht:

‹Von deinen Sinnen hinausgesandt›, weist er uns an,
‹geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand›.

Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.

Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:

‹Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken
… Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.›

Und zum Abschied sagt er uns:

‹Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.

Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.

Gieb mir die Hand.›

Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: Sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.»

3. ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff):

So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(18:46) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) und ein Brauch im jüdischen Laubhüttenfest

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat:
(30:39) Es wandelt, was wir schauen (Joseph von Eichendorff)

Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen — ‹Du bist’s, der, was wir bauen, mild über uns zerbricht› (Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen›): Die Hütten am Laubhüttenfest sind durchsichtig zu den Nachbarn und den Sternen

Erwachende Worte (2023): ‹Leiden›, 25:

«Leiden macht mir Angst, Du Quell der Seligkeit. Wo kommt es her? Doch nicht von Dir?

‹Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.›

Soll ich dann  n i c h t  lieben, um nicht leiden zu müssen am Scheiden?

Nein, ich will lernen, so zu lieben, dass meine Liebe furchtlos das Scheiden vorausnimmt, mit-liebt und so das Leiden ‹aufhebt› ‒ schultert, aber erlöst, hinaufgehoben zu Dir.

‹Du bist’s, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.›

Alles Schwere am Leid aus Liebe zu anderen mitzutragen, ist wohl jener Himmel. Ihn zeig mir. Amen.»]

_____________________

[1] Jetzt und ewiges Leben: Ergänzend 3.3.

[2] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8

[3] Siehe Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3. und 3.1.

[4] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 4.



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi Steinberger

Rilke sagt in dichterischer Sprache etwas aus, dessen wir uns alle irgendwie bewusst sind, wenn er zu Gott spricht:

«Du sagtest  l e b e n  laut und  s t e r b e n  leise
und wiederholtest immer wieder:  S e i n!»
[1]

In Augenblicken glühendster Lebendigkeit wird uns bewusst, dass wir inmitten allen Wandels etwas in uns kennen, das Bestand hat: Wir haben Anteil am Sein. In solchen Augenblicken wird uns klar, dass unser eigenes Sein am Einen Schönen, Guten und Wahren Anteil hat und daher unzerstörbar ist, so wie diese höchsten Werte es sind.

Wir wissen darum auch, dass dieses Heilsein unser ganzes Wesen umfasst, nicht nur unseren Geist, sondern auch unsere ganze leibliche Wirklichkeit, trotz ihrer Vergänglichkeit.

Aus dieser Perspektive können wir also doch etwas über «Auferstehung der Toten» wissen, obwohl der Inhalt dieses Glaubenssatzes auf den ersten Blick entschieden jenseits des Horizontes unserer jetzigen Erfahrung zu liegen scheint.[2]

Die innere Erfahrung unzerstörbaren Seins ist grundsätzlich jedem Menschen zugänglich. Wie aber könnten wir daran Anteil haben, ohne selbst unzerstörbar zu sein?

Unser innerstes Sein ist unverwelklich, obzwar wir uns nicht vorstellen können, was das für uns bedeuten wird, wenn unsere zeitgebundene Form sich auflöst. Das Bild vom Aufstehen (wie vom Schlaf) das hinter «Auferstehung der Toten» steht, soll uns nicht irreführen; es gehört der Zeit an. Wenn es um überzeitliche Aussagen geht, dann lässt uns unsere Vorstellungskraft im Stich. Aber unsere Zugehörigkeit zum unvernichtbaren Sein wiegt schwer, auch wenn wir uns nicht vorstellen können, wie sie sich am Ende auswirken wird.[3]

Das Credo verpflichtet uns zu keiner bestimmten Vorstellung vom Leben nach dem Tode. Wenn ich sterben muss, weil für mich die Zeit um ist ‒ wie die Weisheit der Sprache es so treffend ausdrückt ‒, was soll dann «n a c h  dem Tod» überhaupt bedeuten?

Das «Ewige Leben» kommt nicht nach dem Tod, sondern ist ein Leben, dem der Tod nichts anhaben kann.

Diese Sicht leugnet natürlich nicht, was im landläufigen Sinn mit «Leben nach dem Tod» gemeint ist, berichtigt es aber am entscheidenden Punkt und darf es umso nachdrücklicher behaupten, weil es das «nach» leugnet.

Selbst wenn wir uns das noch nicht voll bewusst gemacht haben, so sehnen wir uns ja vor allem nach einem Leben, das über den Tod hinausgeht ‒ nicht der Zeit nach, sondern essentiell, seinem Wesen nach.

Auf dieses Leben brauchen wir nicht bis zu unserer Todesstunde zu warten. Heute schon können wir über die Zeit ‒ und so über den Tod ‒ hinausgehen, in dem Ausmaß, in dem wir im Jetzt leben.[4]

Unsere Sterblichkeit widerspricht dem nicht. Sie zeigt nur an, dass Sterben zum Leben dazugehört. Wir wissen ja aus Erfahrung, dass wir nur dann wirklich leben, wenn wir jeden Augenblick sterben.

«Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.»
[5]

Goethe wusste: Wir müssen den jetzigen Augenblick loslassen und so für das Alte sterben, um für das Neue, das uns entgegenkommt, empfänglich zu sein. Unsere vielen kleinen Tode bereiten uns für den letzten, großen vor.

In gläubigem Vertrauen auf die innerste Dynamik der Lebendigkeit ‒ im Glauben an den Heiligen Geist also ‒ dürfen wir sicher sein, dass auch im letzten Augenblick unseres Lebens, so wie in jedem vorhergehenden, das Loslassen des Alten Voraussetzung sein wird für den Empfang des Neuen ‒ dann des unvorstellbar Neuen.[6]

Verlangt das nicht Mut von uns? Großen Mut? Sollten wir nicht erwarten, dass «Ewiges Leben» höchsten Lebensmut von uns verlangt? Und nicht später einmal, sondern jetzt.

Wie anders sieht das doch aus, als die landläufige Vorstellung vom «Ewigen Leben» als Fortleben nach dem Tod.

Der indische Mystiker Kabir (1440-1518) sagt dazu:[7]

«Wenn du deine Fesseln nicht als Lebender sprengst,
meinst du,
Geister werden es später tun?
Seliges Entzücken der Seele,
nur weil der Leib verwest,
ist reine Phantasterei.
Was du jetzt findest, wirst du dann finden.
Wenn du jetzt nichts findest,
wirst du eben eine Wohnung
in der Stadt der Toten erben.
Wenn du dich jetzt auf göttliches Liebesspiel einlässt,
werden dann deine Züge befriedigte Lust spiegeln.»

Im Jetzt leben bedeutet nicht weniger, als sich auf ein Liebesspiel einzulassen mit der göttlichen Wirklichkeit, die uns mit jedem Atemzug neu begegnet.

Scheint es nicht so, als ob dieses letzte Wort im Credo uns «Das Ewige Leben» als größtes Versprechen vor Augen halte und zugleich als höchste Herausforderung für unser Leben hier und jetzt?[8]

[Audio Teil 4 (03:05-06:16)] Bruder David im Gespräch mit Pater Anselm Grün: «Unser Selbst ist nicht in Raum und Zeit, wir erleben es im Jetzt, das über Raum und Zeit erhaben ist. Unser Ich dagegen ist in Raum und Zeit. Und wir leben in diesem Doppelbereich. Das ist die Ehre und zugleich die Schwierigkeit ‒ die Aufgabe unseres Lebens in diesem Doppelbereich zu leben.

Ich und Selbst durchlaufen dabei, obwohl vereint, zwei unterschiedliche Prozesse:

Meine Lebensspanne von meiner Empfängnis bis zu meinem Tod gehört einem großen zyklischen Ereignis an, in dem Leben und Sterben ‒ ich unterscheide Tod und Sterben ‒ zusammengehören in unserer Lebendigkeit: Wir müssen viele Male sterben in dem vollen Sinne: loslassen und ganz was Neues kommt ‒ das gehört zum Leben dazu, das ist so eine Wellenbewegung oder eine Kreisbewegung, wie wir das ausdrücken wollen.

Zum Selbst gehört das Ausreifen. Also Ich-Selbst, dieser eine Ausdruck des Selbst, der ich bin, der gehört einerseits diesem Leben und Sterben an, das ist der Anteil in Raum und Zeit, aber in dem überzeitlichen Anteil geht es um Ausreifen.

Unter diesem Begriff verstehe ich, was der Dichter Rilke sagt:

‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren und unablässig ‒ éperdument ‒heimsen wir den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren ein.›

Das Selbst wird durch alles, was wir an Freude und Leid erleben, irgendwie bereichert. Und in diesem Doppelbereich stehen wir auf den beiden Beinen einerseits in Zeit und Raum und anderseits im Jetzt ‒ über die Zeit erhaben im Selbst ‒, und ich sehe auch meine Aufgabe gerade jetzt in meinem hohen Alter darin, mehr und mehr das Selbst zu meinem Standbein zu machen, damit das Ich mehr das Spielbein wird. Und wenn dann das Ich stirbt, also nicht mehr da ist ‒ genau so wenig, wie es vorher da war, bevor ich da war und mich niemand vermisst hat ‒, dann bleibt noch das Selbst. Ich kann mir das freilich nicht bildlich vorstellen. Auch ein Embryo kann sich ja nicht vorstellen, wie man außerhalb des Mutterschoßes leben könnte. Ebenso kann sich eine Raupe nicht vorstellen, wie es sein könnte, als Schmetterling zu fliegen.

(06:34) «… Ich glaube als Christ an die Auferstehung des Fleisches. Darum bemühe ich mich zu verstehen, was das heißen kann, dieses Anreichern und ‹Einheimsen in die große goldene Honigwabe›. Ich kenne viele Menschen, die sagen: Ich lebe ein volles Leben und wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Die leben auch nicht schlecht …»

(08:38) Weil wir eben in unserem ganzen Wesen auf ein Du bezogen sind, das über Zeit und Raum erhaben ist, kann sich das nicht ändern, wenn unsere Zeit zu Ende ist. Diese Beziehung bleibt. Sie hat ewigen Bestand. Beweisen lässt es sich wohl kaum, dass uns das physisch Erlebte auch über den Tod hinaus bewusst bleibt. Aber ich habe ein Argument dafür: Nachdem das unvergängliche Göttliche jetzt schon in unserem Erleben jeder Kastanienblüte, jeder-Wimper eines geliebten Menschen, jedes leisesten Seufzers gegenwärtig ist, wie sollte das Erlebte durch den Tod plötzlich verschwinden?

Ich freue mich also auf die Wiederbegegnung mit meiner Mutter, meiner Großmutter und mit Freunden, die schon gestorben sind. Aber ich möchte auch Menschen sehen, die ich nie persönlich kennenlernen konnte. Joseph von Eichendorff zum Beispiel möchte ich sehr gerne kennenlernen. Skifahren möchte ich mit Eichendorff, denn der ist in seinem Leben nie Ski gefahren. Ihm würde das sicher sehr gefallen. Ich kann mir das gut ausmalen ‒ und habe ich nicht ein Recht, mir das auszumalen?

‹Das, was war›, sagt T. S. Eliot, ‹und das, was hätte sein können, weisen auf das gleiche Ziel, und das ist immer jetzt.›»[9]

[Audio Tag 4 ‒ Nachmittag (30:49)] «‹Alles ist immer jetzt› (T. S. Eliot).[10]

Und wenn wir im Jetzt leben, ist es und ist und ist: Es hat Anteil an der Zeit ‒ wir erleben es in der Zeit ‒, aber alles, was ist, ist zugleich in diesem Doppelbereich, zugleich in der Zeit und über die Zeit hinaus, weil ‹Alles ist immer  j e t z t›, alles! Und das ist nicht nur der Mensch, der immer ist

Also ‹im Ewigen› ist zugleich in Zeit und Ewigkeit. Es ist die menschliche Einsicht oder Erfahrung, die hinter der christlichen Formulierung von der ‹Auferstehung des Fleisches› steht.

Das ist ja ein ganz früher Glaubenssatz im Credo, im apostolischen Glaubensbekenntnis:

‹Ich glaube an den Heiligen Geist,
die heilige Katholische Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden,
Auferstehung der Toten (im Urtext: ‹Auferstehung des Fleisches›)
und das ewige Leben.
Amen.›

‹Ich glaube an den Hl. Geist›‹Geist› ist ‹Leben›:

‹Ich glaube an den Hl. Geist› heißt ‹Ich glaube, dass das Leben göttlich ist›, ich glaube, dass das Wesen des Lebens diesem großen Geheimnis angehört. Das ist sehr christlich ausgedrückt, das muss ja jeder Mensch sagen können: Das Leben ist göttlich, ist total geheimnisvoll. Und wir leben es ja, sind drin:

‹In ihm leben wir, weben wir und sind› (Apg 17,28).

Und dann folgt im Credo die Kirche, die Gemeinschaft, denn der Geist drückt sich ja in Beziehung aus, ‹Vergebung der Sünden›: keine Trennung mehr ‒ Sünde ist Absonderung ‒, alles vereint, und ‹Auferstehung des Fleisches› und ‹das ewige Leben›.

Und ‹Fleisch› ist alles, was vergänglich ist.

Und Auferstehung heißt ja nicht ‹zurück-kommen›, das ist so ein populäres Missverständnis: Jesus ist gestorben und dann ist er wieder auferstanden, wieder zurückgekommen. Nein, die Auferstehung geht in einer Richtung weiter.

Die älteste und beste Fassung von Auferstehung ist: ‹Sein Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3), in dem großen Geheimnis. Aber es ist sein Leben.

Das ist ganz etwas anderes wie: er ist gestorben und damit ist es aus.

Nein, er ist gestorben und auferstanden in dem Sinn, dass sein Leben jetzt verborgen ist ‒ das große Geheimnis ist uns ja verborgen ‒ in Gott.

Und so ist auch die ‹Auferstehung des Fleisches› die Auferstehung von allem, was vergänglich ist: der Mandi und der Anton oder alle unsere Schweine ‒ die gehören ja dazu, die sind ja auch sterblich ‒, alles, was vergänglich ist: unsere Katzen, unsere Hunde, darum sagen die Kinder: ‹Ich möchte gar nicht in den Himmel, wenn mein Kanarienvogel nicht dort ist›. Selbstverständlich! Er muss ja dort sein. Das ist alles vergänglich, aber es lebt alles im Jetzt. Und das heißt: Es lebt zugleich in der Ewigkeit.

Ein wunderschönes Gedicht von Johann Gottfried Herder:[11]

‹Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
Auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
Und schwinden wir

Und messen unsre trägen Tritte
Nach Raum und Zeit;
Und sind (und wissen’s nicht) in Mitte
Der Ewigkeit.›

Das Jetzt, dieser Augenblick ist unvergänglich, ist ja ewig.

Und da braucht nichts wiederholt zu werden, zurückkommen: Es ist einfach.

Und irgendwie scheint es, hofft man und glaubt man, dass dann im Tod, im Sterben, wenn die Zeit um ist, diese große goldene Honigwabe uns zugänglich wird, wo alles drin ist.»[12]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4, 6, 8f., 12

[Ergänzend:

1. Jetzt und ewiges Leben:

1.1. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3:
(31:33) Tod und Jenseits: die traditionelle Lehre und die Sprache von Bruder David /
(35:33) Das Jenseits beginnt hier ‒ Ein Wort von Kabir / (38:06) Gegenwart Gottes im Herzen, das ‹Jetzt, das nicht vergeht› (‹Nunc stans›)[13] und die Schau Gottes / (40:25) Der Schmerz, wenn wir mit Geisteskranken an Grenzen stoßen / (42:47) Das beherzte Schlusswort einer Teilnehmerin

1.2. Jetzt im Doppelbereich:

Johannes Kaup: «Vom Leiden hoffen wir, dass es ebenfalls verwandelt wird. Deswegen frage ich noch einmal anders: Wird auch die Vergänglichkeit verwandelt?»

Bruder David: «Sie wird schon jetzt verwandelt. Jetzt oder nie.

Der mystische Dichter Kabir fragt: ‹Wenn du als Lebender nicht deine Ketten sprengst, sollen Geister es tun, wenn du tot bist?›

Er meint, ewige Seligkeit, nur weil die Würmer dich fressen, sei ein Wunschtraum. Was du jetzt findest, wirst du dann gefunden haben, was du jetzt versäumst, wirst du dann versäumt haben. Schon jetzt musst du den großen Gast empfangen und umarmen.»

2. Auferstehung des Fleisches:

2.1. Audio Credo (2023): Teil 2: Urkraft Hl Geist:
(15:05) ‹Die Auferstehung der Toten›, im Urtext heißt es ‹die Auferstehung des Fleisches›

2.2. Vertrauen in das Leben (2014); siehe auch Kreuz und Auferstehung: Ergänzend: 2.2.
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde›: Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke)
– ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)

2.3. Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 217f. und 210:

«Wenn ich an persönliche Erlebnisse zurückdenke, bei denen mir die Wirklichkeit bewusst wurde, die im Credo ‹Auferstehung des Fleisches› heißt, dann spüre ich, wie schade es ist, dass diese wörtliche Übersetzung in ‹Auferstehung der Toten› umgewandelt wurde.

‹Fleisch› ist  a l l e s  Vergängliche, und wir dürfen gläubig vertrauen, dass es im Unvergänglichen liebend aufgehoben ist.

Die Einengung auf die Toten ist zugleich Verlust und Verzerrung. Verlust, weil so vieles ausgeblendet wird; Verzerrung, weil der Blick vom ganzen vergänglichen Kosmos abgelenkt, sich auf das menschliche Privatinteresse am Los der Toten beschränkt. Es geht hier um weit mehr. Ja, es geht gar nicht um Tod, sondern um Leben ‒ ewiges Leben. Es geht hier nicht um ein Ereignis ‹nach dem Tod›, sondern um etwas, das hier und jetzt stattfinden kann und soll.

Die ‹Auferstehung des Fleisches› ist nicht Umkehrung des Totseins, sondern Überhöhung des Lebendigseins.

So ruft auch in meiner Erinnerung ‹Auferstehung des Fleisches› Augenblicke wach, in denen meine Lebendigkeit so intensiv wurde, dass sie plötzlich Zeit und Vergänglichkeit überragte und im ewigen Jetzt ‒ wenn auch nur flüchtig ‒ an Unvergänglichkeit streifte.»

«Durch unseren Körper sind wir ja untrennbar mit allen anderen Lebewesen und darüber hinaus mit dem ganzen Universum verwoben. Jedes Atom in uns war einmal in einer Super-Nova.

Die Übersetzung ‹Auferstehung der Toten› engt die Aussage dieses Glaubenssatzes zu sehr ein. In meiner Jugend hieß es noch ‹Auferstehung des Fleisches›, und das trifft das lateinische ‹resurrectionem carnis› genauer.

Das Credo spricht hier nicht nur von Menschen, sondern von  a l l e m  Vergänglichen. Alle Formen, die in der Zeit erscheinen und vergehen, sind hier im Glauben an Auferstehung mit eingeschlossen ‒ das ganze Universum.»

2.4. Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 189f.:

«Bevor wir darüber sprechen, ist es wichtig zu wissen, was wir mit Auferstehung überhaupt meinen. Die meisten Leute denken dabei an ein wieder Auferstehen, also ein Wiederkommen von etwas, das gestorben und zerfallen ist. Aber im richtigen Verständnis von Auferstehung gibt es kein ‹wieder›. Auferstehung geht nicht wieder zurück in Raum und Zeit, sondern vorwärts in das große Geheimnis hinein. In einem Roman von C. S. Lewis[14], ‹Die große Scheidung oder Zwischen Himmel und Hölle›, ist dieses ‹Vorwärts› schön beschrieben. Die Seligen im Himmel reiten dem ewigen Sonnenaufgang entgegen und rufen einander zu: ‹Höher hinauf und tiefer hinein!› Diese Vorstellung ist in der christlichen Tradition fest verankert. Sie geht ‒ vielleicht sogar im Bewusstsein von C. S. Lewis ‒ zurück auf die kappadokischen Kirchenväter[15], die das Auferstehungsleben als eine dynamische Entdeckungsfahrt in das Geheimnis Gottes hinein gedacht haben. Auferstehung heißt, in das Geheimnis hineingenommen zu werden. In diesem Zusammenhang müssen wir die Auferstehung des Fleisches sehen. Sie ist eine Wirklichkeit, mit der wir jetzt schon in Berührung sind. Unser ganzes Leben ist eine Auseinandersetzung in Raum und Zeit dem Großen Geheimnis, das über Raum und Zeit hinausgeht. Schon jetzt nimmt jedes Erlebnis im Doppelbereich an diesen beiden Aspekten teil. Wenn also Raum und Zeit wegfallen, ist das, was ich erlebt habe, damit nicht ausgelöscht. Das zeigt uns schon jetzt unsere Erinnerung, die Tatsache, dass wir uns überhaupt an etwas erinnern können.»

3. Entwicklung als zyklischer Entfaltungsprozess im Unterschied zu Entwicklung als allmähliche Anreicherung, Bereicherung, Ausreifen[16]:

3.1. Film Heilsame Spiritualität (12. April 2013): Teil 1 «Lebenslanges Lernen»:
(16:05-27:12) Entwicklung auf der natürlichen Ebene: Same ‒ Keim ‒ Blüte ‒ Frucht ‒ Same und Entwicklung im Sinn von Erfahrungen sammeln, zielgerichtet nicht vorauszusehen, indem wir im Jetzt sind / (22:38) im Jetzt ist der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit, ‹der Augenblick innerhalb und außerhalb der Zeit› (T. S. Eliot)  / (23:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) ‒ den Nektar ‹einheimsen› und Wort des Kirchenvaters Ignatius von Antiochien: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater›[17]

3.2 Audio Lebensorientierung (2015)
4. Tag, 13. Februar, Freitagvormittag mit 7. Impulsvortrag (Bruder David), siehe
Transkription S. 2, 17f. und 28:
Entwicklung auf zwei Ebenen, was passiert im Tod?

3.3. Audio Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Mitschrift, 7-9, und Sterben:
(33:58) «Im Bereich des Geistes geht es um etwas ganz anderes. Da geht es nicht um Entwicklung, sondern um etwas, was man Anreicherung nennen könnte.»

3.4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107:

«Und das ist unsere Lebensgeschichte als Selbst: Bereicherung, ganz was anderes wie Entwicklung. Bereicherung geht in einer Linie, Entwicklung ist kreisförmig.»[18]]

_______________

[1] Bruder David spricht das Gedicht von Rilke aus dem Stundenbuch ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(04:33) ‹Der Tod ist groß›: Sterben in jedem Augenblick ‒ der Tod, die Frucht des Lebens ‒ den eigenen Tod sterben: Bruder David liest Gedichte und Verse aus dem Stundenbuch von R. M. Rilke

[2] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 213f.

[3] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 214

[4] Credo (2015): Ewiges Leben›, 222

[5] J. W. Goethe: ‹Selige Sehnsucht›

[6] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 215

[7] Robert Bly (Hrsg.): Kabir: Ecstatic Poems, 2004

[8] Credo (2015): Ewiges Leben›, 228

[9] Gespräch von Bruder David mit P. Anselm Grün im Audio
Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Teil 4:
‹Dankbar leben – oder: Wenn jeder Augenblick zum Geschenk wird›; abgedruckt im Buch Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015), 91-97 und 105f. (leicht überarbeitet):
(03:05) Ich-Selbst in zwei sich unterscheidenden Aspekten von Entwicklung: einerseits als zyklischer Entfaltungsprozess und anderseits als allmähliche Bereicherung
(06:18) Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches, die unsere Einzigartigkeit einschließt

T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten (Anm. 6)

[10] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten

[11] Siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 91

[12] Sinngemäße Wiedergabe des Vortrags von Bruder David im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(31:31-35:27); zugleich die Fortsetzung dieses Vortrags (21:24-30:49) in Doppelbereich Ich-Selbst

[13] Der Ausdruck ‹nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben, Anm. 8.

[14] Clive Staples Lewis (1898-1963): irischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, verfasste neben Werken der Literaturkritik auch bekannte christliche apologetische Schriften wie ‹Mere Christianity›, ‹The Abolition of Man› und Romane wie ‹The Great Divorce› und ‹The Chronicles of Narnia›.

[15] Kappadokien ist ein großes Gebiet in Kleinasien. Im 4. Jahrhundert n. Chr. prägten die kappadokischen Kirchenväter Basilius der Große, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz die Geschichte der künftigen christlichen Kirche. Sie bildeten das kappadokische Dreigestirn im Kampf für trinitarischen Glauben an die Dreifaltigkeit Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger Geist.

[16] Siehe auch ENTWICKLUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, 132f. im Buch Orientierung finden (2021) mit Blick auf drei verschiedene Aspekte unserer persönlichen Geschichte, 52f.:

«Zunächst weist Entwicklung auf den Entfaltungsprozess hin, der uns und allen andren Lebewesen gemein ist ‒ wie etwa die in der Knospenhülle eingewickelten Blütenblätter sich entwickeln und entfalten. Entwicklung kann aber auch eine allmähliche Bereicherung bedeuten, beispielsweise, wenn wir unseren Wortschatz oder unsren Freundeskreis in sozialen Netzwerken entwickeln.»

[17] Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(32:15) ‹Heim zum Vater› (das Wort von Ignatius von Antiochien)

[18] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107. Bruder David sagt dort ‹Bereicherung›, meint aber dasselbe wie ‹Anreicherung› im Unterschied zu Entwicklung.



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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Mein Staunen kennt keine Grenzen: Der Krieg ist vorbei und ich bin am Leben! Nur langsam dämmert es mir auf, aber dann steht mir plötzlich klar vor Augen: Ein ganzes Leben liegt jetzt vor mir!

Beglückt und erschreckt zugleich bin ich von dieser Einsicht ‒ erschreckt, weil ich ahne, dass diese große Gabe mir eine ebenso große Aufgabe stellt. Was soll ich aus meinem Leben machen?

Wenn ich eine der unzähligen Möglichkeiten ergreife, so bedeutet das, dass ich alle anderen loslassen muss. Was ist mir also am wichtigsten?

Vorausblickend denke ich darüber nach und fühle, dass es mir weniger wichtig sein wird, was ich tue, als dass ich es mir Freude tue.

Auf die Kriegszeit zurückblickend sehe ich, dass mir gerade in den schwersten, unglücklichsten Zeiten jene innere Freude, um die es geht, Auftrieb gab, eine Freude, die von Glück oder Unglück gar nicht abhängt. Aber wovon hängt sie dann ab? Darüber grüble ich nach.

Da kommt mir plötzlich aus heiterem Himmel der Satz in den Sinn:

«Den Tod allzeit vor Augen halten.»

Ja, wirklich «aus heiterem Himmel» ‒ aus heiterstem!

Es ist ein strahlender August in Salzburg. Ich bin hierher eingeladen worden von Freunden, darunter ein entzückendes Mädchen, in das ich verliebt bin. Die Stadt ist voller Musik; überall flattern Klänge im Sommerwind auf Straßen und Plätzen, unter Arkaden und aus offenen Fenstern. Zum ersten Mal finden dieses Jahr die Salzburger Musikfestwochen wieder in einem freien Österreich statt. Für eine Packung amerikanischer Zigaretten findet ein Platzanweiser im Festspielhaus wie selbstverständlich zwei freie Parterresitze und wir können Mozarts «Don Giovanni» miterleben.

Don Giovannis Ende bringt es mir wieder in den Sinn:

«Den Tod allzeit vor Augen halten.»

Dieser Satz geht mir im Kopf herum. Er stammt aus der Regel des heiligen Benedikt, einem fast 1500 Jahre alten Büchlein, das ich als Student gelesen habe, weil wir aus Trotz alles lasen, was dem totalitären Regime gegen den Strich ging. Ausgerechnet diese wenigen Worte haben sich mir eingeprägt und jetzt dämmert mir auch, warum:

In all den vergangenen Jahren hatten wir junge Menschen den Tod zum Greifen nahe vor Augen. Es scheint mir jetzt, dass mehr meiner Freunde an den Fronten umgekommen sind, als übrig blieben. Und auch zu Hause hatten Bomben täglich Zerstörung und Tod gebracht. Ein einziges unvorsichtig geflüstertes Wort konnte die Todesstrafe nach sich ziehen; einer unserer Kapläne wurde verhaftet und hingerichtet.[1] Aber trotzdem muss ich jetzt sagen: Diese schrecklichen Kriegsjahre waren für mich und meine Freunde Jahre echter Freude, jener Freude, dich ich nie einbüßen möchte. Darum die Frage: Wovon hing denn noch bis vor Kurzem diese Freude ab?

Darauf steht nun plötzlich die überraschende Antwort vor mir: Wir haben so freudig gelebt, weil wir gar nicht anders konnten, als den Tod allzeit vor Augen zu haben. Das zwang uns, im Augenblick zu leben ‒ ganz im Jetzt ‒, und darin lag das Geheimnis unserer Lebensfreude.

Um diesen Zündfunken freudigen Lebendigseins nicht zu verlieren, müsste ich also auch in Zukunft

«den Tod allzeit vor Augen halten.»

Diesen Leitsatz hatte ich aber in der Benediktsregel gefunden. Sollte das also von mir verlangen, Benediktinermönch zu werden? Bei diesem Gedanken wird mir unbehaglich und so gehe ich lieber Polka tanzen; niemand tanzt die Krebspolka mit so viel Feier wie meine Elisabeth.

Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David:

«Die Kriegsjahre, in denen so viele Freunde und Kameraden an der Front oder durch Bombentreffer in Wien ihr Leben lassen mussten, haben Sie einmal in einem früheren Gespräch als ‹Jahre höchsten Lebendigseins› geschildert. Wie ist das zu verstehen, denn Sie hätten bei jedem Schicksalsschlag verzweifeln und resignieren können? Woher trotzdem Lebendigkeit und Lebensmut?»

Bruder David: «Ich glaube, viele Menschen erleben das auch heute noch, wenn sie in Lebensgefahr geraten, dass die Lebendigkeit umso mehr aufflammt. Der Grund scheint mir zu sein, dass man dann ganz in der Gegenwart leben muss. Der Grad unserer Lebendigkeit misst sich am Ausmaß, in dem wir nicht an der Vergangenheit hängen oder auf die Zukunft schauen, sondern wirklich im Jetzt sind. Dazu waren wir damals gezwungen, und darum waren wir so lebendig und freudig, trotz allem.»

Johannes Kaup: «Weil Sie den Tod vor Augen hatten?»

Bruder David: «Weil wir den Tod ständig vor Augen hatten, waren wir gezwungen, diesen möglicherweise letzten Augenblick des Lebens voll zu genießen.»

Johannes Kaup: «Also: Lebe deinen Tag so, als ob es dein letzter wäre.»

Bruder David: «Ganz in diesem Sinn.»

Johannes Kaup: «Du weißt nicht, ob du morgen noch aufwachst.»

Bruder David: «Wir mussten als Kinder in den Kriegsjahren praktisch jede Nacht in den Luftschutzkeller.»

Johannes Kaup: «Bei einem dieser Angriffe haben Sie es einmal nicht geschafft.»

Bruder David: «Das war in unserem Haus im Kaasgraben. Unser Hausherr hatte selbst einen Luftschutzkeller gebaut, weil er kleine Kinder hatte, und wir durften dann auch immer in diesen Keller flüchten. Einmal konnten wir diese schwere Tür nicht mehr zuziehen, weil der Luftdruck von den fallenden Bomben schon so stark war und sie immer wieder aufriss. Zu dieser Zeit haben wir unsere Kleidung abends immer genauso legen müssen, dass wir sie schnell finden und anziehen können, auch im Finsteren; viel Licht durfte man nicht machen. Es war Verdunkelung in Wien befohlen. Beim Fliegeralarm in der Nacht mussten wir also im Dunkeln alles schnell finden und anziehen und dann in den Luftschutzkeller. Heute noch lege ich beim Ausziehen alles so hin, dass ich es auch im Finstern finden könnte. Das ist mir zur Gewohnheit geworden.»

Johannes Kaup: «Das war schon eine unglaublich aufregende Zeit, zwischen Leben und Tod hin und her zu pendeln und alle Emotionen zu erleben.»

Bruder David: «Es war sicher prägend, aber wir haben es nicht anders erlebt als: Jetzt muss das getan werden. Augenblick für Augenblick. Man hatte gar keine Zeit, um darüber nachzudenken. Das muss jetzt erledigt werden; so muss jetzt geholfen werden, mehr dachten wir nicht. Sich darüber Gedanken zu machen, wie schrecklich alles ist, wäre uns gar nicht in den Sinn gekommen.»

[Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹3 Entscheidung, 1946-1956›, 50f. und ‹2 Christ werden: Meine frühe Jugend zwischen Menschenwürde und Verdemütigung, 1936 und 1946› ‒ 2. Dialog›, 44f. und 47]

[Ergänzend:

‹Den Tod allezeit vor Augen› (Regula Benedicti RB 4,47):

1. Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 13f.:

Isha Johanna Schury: «Ich hätte Dich jetzt gefragt, ob sich aus Dir noch etwas mitteilen möchte, abschließend für unser Gespräch, wo Du das Gefühl hast, das möchte noch hinaus?»

David Steindl-Rast: «Vielleicht den Gedanken, den Tod allzeit vor Augen zu haben.

Das ist ein Satz aus der Regel des hl. Benedikt, der mich schon bevor ich Benediktiner geworden bin, sehr berührt hat, und ich habe erkannt ‒ damals war ich so ungefähr 19 oder 20 Jahre, höchstens ‒, dann habe ich erkannt, dass unser ganzes Leben bis dahin dadurch geprägt war, dass wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Das war ja mitten im Krieg und unsere Freunde sind immer wieder gefallen an der Front, die Bomben sind gefallen links und rechts, also, wir hatten den Tod allezeit vor Augen.

Und rückblickend, damals habe ich gesehen: ‹Ah, darum waren wir so glücklich!

Darum waren wir so freudig! Weil wir ‒ damals hätte ich das nie so ausdrücken können ‒, weil wir im Jetzt leben mussten.

Wenn man den Tod vor Augen hat, muss man im Jetzt leben.

Warum ich dann Mönch geworden bin und Benediktiner, hat viel damit zu tun, dass ich wirklich den Tod täglich vor Augen halten wollte. Und ich muss sagen, wenn ich auch sonst Vieles besser machen hätte können. Aber das ist mir jedenfalls gelungen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es keinen Tag in meinem Leben gegeben hat, an dem ich nicht viele Male den Tod vor Augen hatte.

Und darum muss ich sagen, ich hatte wirklich ein sehr freudiges Leben. Dafür bin ich auch sehr dankbar.»

2. Film Dem Geheimnis auf der Spur (2016):

(01:22) «Was ist das Kostbarste, das man sich vorstellen kann? Der nächste Augenblick. Wenn du den nicht bekommst, ist alles andere, was du dir wünschst, nicht da. Der geschenkte Augenblick. Dieser wird dir einfach gegeben. Du kannst nichts machen, nicht einmal, wenn du dir einen weiteren kaufen willst. Ein reines Geschenk! Das größte Geschenk ist jeder Augenblick, der dir gegeben wird ‒ jetzt und jetzt und jetzt. Und sich dieses Geschenkes bewusst zu werden, das ist ‹dankbar leben›

Und dieser Viktor Springer:[2] Ich bete für ihn und bin dankbar: mein ganzes Leben, das hat er mir geschenkt sozusagen, und darum auch diese ganze Idee von Dankbarkeit: Werde dir bewusst, dass du jetzt einen einzigartigen Augenblick vor dir hast!

Das Mönch werden war eigentlich, weil ich die Idee von ‹den Tod allezeit vor Augen haben› damit verbunden habe, Benediktiner zu werden, weil dieser Satz in der Benediktiner Regel steht: ‹den Tod allezeit vor Augen haben›, und mir bewusst geworden ist, ‒ nach dem Krieg ‒, dass wir das eigentlich verwirklicht haben und darum so glücklich waren. Wir waren darum so glücklich, denn das heißt ja: im Augenblick leben.»

3. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(49:25) Leiden als Hebel zur Praxis: ‹den Tod allezeit vor Augen haben›

4. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 92:

«Wo wir es mit Lebendigem zu tun haben, ist nichts automatisch. Im Leben ist Wachstum organisch mit Sterben verbunden. Leben heißt, mit jedem Wimpernschlag für Altes sterben und für Neues geboren werden. Jeder Fortschritt im Leben ist ein Sterben in größere Lebendigkeit hinein. Wer dazu den Mut nicht hat, kann weder leben noch sterben. Lebensmut ist die Tapferkeit, die wir für jenes Immer-wieder-Sterben brauchen, das zum wachen Lebendigsein untrennbar dazugehört. Auch im Bereich der Sinnlichkeit müssen wir immer wieder sterben, um so Sinn zu finden.

Das ist ja die Bedeutung des ‹memento mori›, das wir als Mahnwort etwa an Sonnenuhren alter Köster lesen. Wenn es uns auch dem Wortlaut nach auffordert, daran zu denken, dass wir sterben müssen ‒ und nicht später irgendwann, sondern hier und jetzt ‒, so ist diese Mahnung gerade deshalb Aufruf, bewusster zu leben. Darum lautet die Aufschrift auch manchmal ‹memento vivere›, ohne dass die Bedeutung sich ändert.»

5. Die christlich-buddhistische Begegnung, 1-3: Transkription der DVD: ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Benediktushof Edition (2006):

«Und da ist mir plötzlich klar geworden in dieser herrlichsten Zeit meiner Jugend, dass wir deshalb so glücklich waren. ‒ Wir waren ungeheuer glücklich: Die ganze Verwüstung geschehen, aber inmitten von dem allem, und besonders in den vorhergehenden Jahren, waren wir die glücklichsten jungen Leute, die ich mir vorstellen kann. Es war wunderbar trotz all dem. ‒ Und jetzt hab ich dann plötzlich gesehen, das war deshalb so, weil wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Dadurch sind wir so lebendig geworden.»]

______________

[1] P. Heinrich Maier (1908-1945) war ein österreichischer römisch-katholischer Priester, Pädagoge, Philosoph sowie Widerstandskämpfer gegen Hitler.

[2] (00:45) «Da oben ‒ hinter diesem Fenster oben, war die Geschichte, wo die Russen uns gedroht haben, uns zu erschießen, wenn wir diese Nadja nicht herausgeben. Und wir haben natürlich keine Ahnung gehabt, wo diese Nadja ist, und dann haben sie so in die Luft geschossen und da ist der Viktor Springer, der unten in der nächsten Villa wohnt, gekommen und hat uns retten wollen und hat an der Gartentüre gerüttelt und da haben sie dann ihn erschossen. Der hat mein Leben gerettet.»



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren» (R. M. Rilke)

Haben Sie schon einmal mit angesehen, wie eine Honigbiene in den seidigen Abgründen einer Pfingstrosenblüte herumtorkelt und taumelt? Dann wird Ihnen ein Bild gefallen, das Rilke gebraucht, um von unserer Aufgabe zu sprechen, die Sinneserfahrung in eine über unsere Sinne hinausgehende Erfahrung umzusetzen. Beobachten Sie die Biene, wie sie im Duft unzähliger purpurner und weißer und rosa Blütenblätter schwelgt, bis sie schließlich, mit goldenen Pollen bestäubt, die im Herzen der Blume verborgene Quelle des Nektars findet. Sehen Sie mit an, wie die Biene mit totaler Hingabe aller ihrer Sinne an dieser Pfingstblütenwelt vorführt, was ihre Lebensaufgabe und zugleich ein ekstatisches Spiel für sie ist. Und dann lesen Sie, wie der Dichter unsere eigene Aufgabe in dieser Menschenwelt versteht:

Rilke schreibt in seinem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz, 13. November 1925:

«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden.

Verwandelt?

Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht.

Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.

Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible: Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenkorb des Unsichtbaren anzuhäufen.»

Vom Bienenkorb zur blühenden Wiese und dann wieder heim fliegen unsere Herzen ihren Weg, vom Unsichtbaren durch das Sichtbare und dann ‒ ernteschwer wie Bienen mit vollen Pollenhöschen und von Nektar prallen Bäuchen ‒ wieder heim in den «großen goldenen Bienenkorb des Unsichtbaren». Das ist das Grundmuster der vielen Reisen unseres Herzens durchs Leben und der Suche, auf der wir unser Leben lang sind.

Kennen wir nicht dieses selbstvergessene Blütensaftsaugen aus der tiefsten Erfahrung unseres eigenen Lebens? So verwandelt unser Herz das Sinnliche unseres wachsten Erlebens und birgt es in seiner großen, goldenen Honigwabe als Sinn. Darum wird beim Altwerden jedes Weihnachtsfest reicher, gewichtiger, schwerer und süßer, weil Freude und Traurigkeit aller vergangenen Weihnachtsfeste von frühester Kindheit an im Erleben mitschwingt; weil in der Erinnerung Altes und Neues einander bereichern.[1]

«Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit ‒,
will tiefe, tiefe Ewigkeit!»

F. W. Nietzsche: ‹Das trunkene Lied›

Unser Herz stimmt dieser Einsicht Nietzsches zu. Alles in uns sehnt sich nach Sinn.

Sinn hebt das Sinnliche auf; hebt es auf in allen drei Bedeutungen des Wortes:

Aufheben heißt ungültig erklären, wie eine Haltestelle, die schon lange niemand mehr benutzt.
Aufheben heißt erhöhen und überhöhen.
Aufheben heißt aber auch aufbewahren und bergen.[2]

So wird aller Wandel im Bleibenden ungültig erklärt, überhöht und doch für immer vor dem Verlorengehen bewahrt.

«W a s  haben Augen einst ins umrußte
lange Verglühn der Kamine geschaut:
Blicke des Lebens, für immer verlorene.

Ach, der Erde, wer kennt die Verluste?
Nur, wer mit dennoch preisendem Laut
sänge das Herz, das ins Ganze geborne.»

Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, II (Sextett)

Selbst Galgenhumor kann unversehens zur Rühmung werden, Rühmung, die umso reiner klingt, weil sie sich des Rühmens selbst kaum bewusst ist.

Angesichts der Aufhebung unserer Sinnlichkeit ist Humor deshalb trotzdem noch möglich, weil

«nichts vergänglich ist, als die Vergänglichkeit.»
Trunken von Beständigkeit,

stößt Werner Bergengruen mit dieser Einsicht tief in den Sinn des Sinnlichen vor.[3]

Damit stehen wir aber schon völlig «im Raum der Rühmung», wie Rilke ihn nennt.

Rühmend hebt der Dichter das Sinnliche auf, indem er es erhöht, überhöht, übertrifft.

«RÜHMEN, das ist's! Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor wie das Erz aus des Steins
Schweigen. Sein Herz, o vergänglicher Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.

Nie versagt ihm die Stimme am Staube,
wenn ihn das göttliche Beispiel ergreift.
Alles wird Weinberg, alles wird Traube,
in seinem fühlenden Süden gereift.

Nicht in den Grüften der Könige Moder
straft ihn die Rühmung Lügen, oder
dass von den Göttern ein Schatten fällt.

Er ist einer der bleibenden Boten,
der noch weit in die Türen der Toten
Schalen mit rühmlichen Früchten hält.»

Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX

Das ist der Dichter, der das Sinnliche aufhebt und über den Wandel hinaushebt, indem er es zu Sinn verdichtet.

Wir dürfen aber den Begriff Dichter nicht zu eng fassen.

Es gibt den Dichter in jedem von uns.

Wir alle sind dazu berufen, das, was wir durch unsere Sinne empfangen, im Herzen aufzuheben.

Menschliche Berufung ist es, das Nur-Sinnliche ungültig zu machen, indem wir es rühmend über sich hinausheben, es aber zugleich in seiner ganzen vergänglichen Einmaligkeit im immer Bleibenden geborgen halten und verwahren.[4]

«‹Rühmen, das ist’s!» Ja, alles, was ist, rühmt das Sein durch sein Dasein. Einfach da zu sein ist Rühmung. Dasein ist ein Ja-Sagen zum Sein. Und dieses Ja fasst alles Rühmen in einem einzigen Wort zusammen.

Jedes Sein ist ein Ja ‒ ein ‹aus dem Nein aller Verneinung gehobenes› Ja: Dasein ist Ja-Sein. Und dieses Ja-zum-Leben-Sagen heißt Rühmen.

Auch ich bin ‹ein zum Rühmen Bestellter›. Warum ist mein Ja zum Leben oft so zaghaft, so trüb, sogar oft widerwillige? Aus Furcht, Ja zu sagen zum Ganzen.

‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze!›[5]

Das will ich mir zu Herzen nehmen ‒ vertrauensvoll trotz allem. Amen.»[6]

Erinnerung ist es, die diese Aufgabe letztlich vollendet. Das Sinnliche, das im Humor gärt, klärt sich in der Dichtung und gewinnt seine volle Süße im Erinnern.

Wir müssen dem Wort «Erinnerung» hier seine volle Bedeutung zurückgeben. Er-innerung ist Ver-innelichung, Sinnernte unserer Sinnlichkeit ‒ Einbringung, Verwandlung.[7]

«Erinnern bedeutet mir so viel mehr als mir etwas zu merken. Nicht meinem Gedächtnis prägt das Erinnern ja Erlebnisse ein, sondern meinem Innersten, meinem Herzen. Mein Herz aber ist jene Mitte, in der ich vor Dir stehe, jener Ort, der Begegnung, an dem Du mir gegenwärtig bist.

Von dem vielen, das mir zufließt, fließt das meiste, kaum bemerkt, wieder ab von mir. Nur weniges erlebe ich wirklich ‒ das nämlich, was ich Dir erzähle. Im Erzählen bringe ich es in Dein Licht, halte es Dir hin, und es wird zur Erinnerung. Nicht im Gehirn ist Erinnertes aufbewahrt, sondern in Dir; weil ich Dir nicht gleichgültig bin, hälst Du es fürsorglich behütet. Auch wenn mir einmal alles aus dem Gedächtnis entschwindet, lass es in deiner verzeihenden Liebe aufgehoben sein. Amen.»[8]

Im Doppelbereich des Jetzt sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.

«Alles ist immer jetzt», sagt wieder T.S. Eliot, «All is always now»[9] ‒ und spricht damit eine Wahrheit aus, die sich nicht leugnen lässt, denn was nicht jetzt ist, ist nicht, es hat nur eine Schattenwirklichkeit in Vergangenheit oder Zukunft.

Im Jetzt aber kann es nicht verloren gehen, da ist es in einem dreifachen Sinn «aufgehoben»:

Es besteht nicht länger (wie etwa ein Gesetz, das aufgehoben wird),
es wird aber auf eine höhere Ebene hinaufgehoben
und bleibt dort bewahrt (wie ein Goldreif in einer Schatzkammer gut aufgehoben ist).[10]

In diesem Sinn verstehe ich, warum Rilke im Aufheben unsere Lebensaufgabe sieht:

«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Leidenschaftlich heimsen wir den Nektar des Sichtbaren ein in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»

Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup: «Schon jetzt nimmt jedes Erlebnis im Doppelbereich an diesen beiden Aspekten teil. Wenn also Raum und Zeit wegfallen, ist das, was ich erlebt habe, damit nicht ausgelöscht. Das zeigt uns schon jetzt unsere Erinnerung, die Tatsache, dass wir uns überhaupt an etwas erinnern können.»

Johannes Kaup: «Aber Erinnern ist ein zeitliches Phänomen.»

Bruder David: «Erinnerung ist ein Phänomen in der Zeit, aber dass Erinnerung nur in der Zeit ist, ist eine sehr reduktionistische Vorstellung. Ja, es gibt etwas wie neuronale Konstellationen oder Engramme, Aufzeichnungen irgendeiner Art, die dann wieder aufgerufen werden. Da ist etwas dran, aber das ist nicht das Wesentliche von Erinnerung.

Erinnerung ist nicht Wiederbringung von Vergangenem, sondern ‹Er-inner‒ung›:

Etwas ist ins Innerste eingegangen und gehört nicht nur meinem persönlichen Innersten an, sondern dem Weltinnenraum.

Rilke fasst das in die dichterische Vorstellung, dass wir Menschen die ‹Bienen des Unsichtbaren› sind.

Unser ganzes Leben besteht darin, jeden Augenblick, jede Erfahrung in die ‹große goldene Honigwabe› des Weltinnenraums einzuheimsen.

Nichts kann dort je wieder verloren gehen. Was ich einheimse in diese große goldene Honigwabe, ist mein einzigartiger Beitrag.

Wir sind so verschieden voneinander, dass es wohl nie zwei Menschen gegeben hat, die, sagen wir, eine Rose angeschaut und dasselbe gesehen haben.

Mit meiner einzigartigen Sensibilität reichere ich den Weltinnenraum an.

Ich bereichere ihn mein Leben lang, nicht nur durch alles Angenehme, was ich erlebe, sondern auch durch jedes Leiden. Alles hat Wert und Bestand. Nichts geht verloren.»[11]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4, 6-8,11]

[Ergänzend:

1. Film

Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.

2. Audios

2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(21:24) Leben im Doppelbereich Leben-Sterben heißt Rühmen auch unter Schatten: ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus), ‹Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XX), ‹Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten› (Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, IX) / (26:32) Leben im Doppelbereich Ich-Selbst heißt im Augenblick leben ‒ Warum das Ich? ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke): Nichts geht verloren: ‹All is always now› (T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V)

2.2. Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur – ‹Rühmen, das ists› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII) – Gott verherrlichen / ‹O trotz Schicksal: die herrlichen Überflüsse› (Die Sonette 2. Teil, XXII) – Wir sind die Treibenden (Die Sonette 1. Teil, XXII) / (31:05) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst› (Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (hl. Augustinus) / (35:04) Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn (Die Sonette 1. Teil, VIII) – Zwischen den Hämmern besteht unser Herz (Die neunte Elegie) / (39:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Brief an Witold Hulewicz, 13. Nov. 1925) – ‹Preise dem Engel die Welt› – ‹Aber weil Hiersein viel ist› (Die neunte Elegie)

2.3. Audio Fülle und Nichts (1996)
Vortrag:
(30:42) In der Erinnerung verinnerlichen wir uns, was wir mit den Sinnen nicht mehr erreichen können – Beispiel einer blinden, 83jährigen, Frau / (32:04) ‹Wir Menschen sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke)

2.4. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat Vortrag; siehe dazu auch Tagungsband
Schmerz ‒ Stachel des Lebens, 22f.:
(22:47) Verleiblichen des Geistigen und Vergeistigen des Leiblichen: Durch die Sinne Sinn finden – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) – Das Fronleichnamsfest ist das Fest der Verleiblichung des Göttlichen und der Vergöttlichung des Leiblichen

2.5. Audio Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
2.1 ‹Der Weg zu Fülle und Nichts› ‒ Vortrag und Kanon:
(00:00) Was Dichtung vermag und Einstimmung mit den ersten Zeilen aus Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII: ‹Sei allem Abschied voran› / (22:35) Singender steige …› ‒ der ‹reine Bezug› ‒ unter ‹Schwindenden› endlich Klang werden / (26:31) Bruder David liest und deutet das Sonett
‒ ‹Lebe doch, sagt der Tod, ich komme› (‹Das tanzende Mädchen›)
(33:30) ‹Wo ist dann unsere Verantwortung?› Darin, es zu feiern: Bruder David liest und deutet von Rilke: ‹Rühmen, das ists!› und die Schlussverse des Sonetts ‹Sei allem Abschied voran›

3. Weitere Texte

3.1. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 64, in Riechen, Düfte, Erinnerung:

«Woher kommt es eigentlich, dass unser Geruchsinn uns leicht zum Lachen reizt? Vielleicht hat es damit zu tun, dass im Bereich des Riechens Kindheitserinnerungen überall die Etikette der Erwachsenen durchbrechen. Gerüche zu erwähnen, gehört ja nicht zum guten Ton. Ich denke, dieses Lachen ist ein befreiendes Lachen. Das Kind in uns wird einen Augenblick lang frei und lacht; lacht uns vielleicht sogar aus.»

3.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):

«Angesichts von Leid und Schrecken, sind ‹wir gerecht nur, wo wir dennoch preisen.›[12] Dieser Einsicht entspringt ein Motto des Benediktinerordens, das ich zum Abschluss erwähnen möchte. Geschichtlich ist es vielleicht das älteste. Es kennt Erschütterungen und Zerstörung, preist aber dennoch das Grünen:

‹succisa virescit› – ‹abgehauen grünt sie wieder.›

Das dazugehörige Sinnbild ist der Strunk eines uralten Baumes, aus dem ein neuer Schössling aufsprießt. Die Lebensfülle, die dem Gehorsam und der Dankbarkeit entspringt, wird – so wie das immer wieder neu erbaute Kloster Monte Cassino – nach jedem Niedergang wieder neu aufblühen. Gerade heute kann uns dies Mut machen.»

3.3. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 45-48:

«Es heißt immer, dass in der Erinnerung besonders Düfte sehr heftig Erinnerungen auslösen: Wer kennt nicht viele, viele Kindheitserinnerungen, die mit Düften zu tun haben. Die Lade [Schublade] der Großmutter und die vielen Speisen zu besonderen Festzeiten. Das heißt doch, dass die Erinnerung zusammenhängt mit dem Geruchssinn.»

3.4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014): ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke), 105f.; ‹Rühmen›, 132-134:

«Das Thema der Elegien ist die Vergänglichkeit der Welt und die Köstlichkeit der Welt, weil sie ebenso vergänglich ist, und unsere Aufgabe als Menschen, sie zu rühmen.»]

 _____________

[1] Komposition mit Abschnitten in Auf dem Weg der Stille (2023), 95-97 und Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 97f.

[2] «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare)

[3] Werner Bergengruen: ‹Nichts Vergängliches vergeht› und ‹Magische Nacht›, in Die den Kurs begleitenden Gedichte, 37f. und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 110f.

[4] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 90, 93, 96f.

[5] Für Bruder David eines der liebsten Worte von Augustinus, die er immer wieder zitiert.

[6] Erwachende Worte (2023): ‹Rühmen› 31

[7] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 97

[8] Erwachende Worte (2023): ‹Erinnern›, 57

[9] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten

[10] Siehe Anm. 2

[11] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich, 2006-2016›, 184f. ‒ ‹9. Dialog, 190; siehe auch Jetzt im Doppelbereich

[12] ‹Wir, gerecht nur, wo wir dennoch preisen,
weil wir, ach, der Ast sind und das Eisen
und das Süße reifender Gefahr.›

Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIII



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

«Tod und Leben gehören untrennbar zusammen. So heißt es, ich weiß. Aber ich würde es lieber klarer ausdrücken und sagen:

Leben und Sterben gehören zusammen: der Tod aber widerspricht beiden.

Mit dem Sterben bin ich vertraut. Ich muss ja alles, was mir das Leben schenkt, wieder loslassen, bevor ich Neues empfangen kann. Dieses Loslassen aber ist das Entscheidende am Sterben. Starres Festhalten ist Tod ‒ ‹rigor mortis›.[1]

Ich will dabei das Loslassen nicht beschönigen, nicht verharmlosen. Allzu oft ist es bedrohlich und beängstigend, entsagen zu müssen.

Das Leben schenkt uns viel, nimmt uns aber auch erschreckend viel Liebes und bedrohlich vieles, das uns unersetzlich nötig erscheint.

Lass mich täglich zarter loslassen und unbefangener sterben lernen und rette mich vor dem Tod. Amen»[2]

«Es ist doch alles nur aus Liebe schön! Es ist doch alles nur aus Liebe gut!» (Will Vesper).[3]

Was aber, wenn das Selbst ‒ um im Bild zu bleiben ‒ die Handpuppe abstreift oder wenn die Maske in Staub zerfällt? Ist dann alles aus, alles zu Ende?

Zu Ende wohl, würde ich sagen, aber nicht aus. Ich will nicht von einem Leben nach dem Tod reden. Wenn sterben bedeutet, dass für mich die Zeit um ist, dann macht es keinen Sinn, von «nachher» zu sprechen.

Aber alles, was ich erlebe, hat ja schon jetzt eine Dimension, die über Zeit und Raum erhaben ist. T. S. Eliot nennt das Jetzt «the moment in and out of time»[4] ‒ es gehört der Zeit an und doch auch nicht.

Im Doppelbereich des Jetzt  sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.

«Alles ist immer jetzt», sagt wieder T.S. Eliot, «All is always now»[5] ‒ und spricht damit eine Wahrheit aus, die sich nicht leugnen lässt, denn was nicht jetzt ist, ist nicht, es hat nur eine Schattenwirklichkeit in Vergangenheit oder Zukunft.

Im Jetzt aber kann es nicht verloren gehen, da ist es in einem dreifachen Sinn «aufgehoben»:

Es besteht nicht länger (wie etwa ein Gesetz, das aufgehoben wird), es wird aber auf eine höhere Ebene hinaufgehoben und bleibt dort bewahrt (wie ein Goldreif in einer Schatzkammer gut aufgehoben ist).[6]

In diesem Sinn verstehe ich, warum Rilke im Aufheben unsere Lebensaufgabe sieht: «Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Leidenschaftlich heimsen wir den Nektar des Sichtbaren ein in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[7]

Kann ich dann überhaupt noch Angst haben vor dem Sterben? Ja, ich habe Angst. Ich gebe es zu, aber fürchten will ich mich nicht. Furcht und Angst, das ist ja zweierlei. Angst und Enge sind im Deutschen wurzelverwandte Wörter, und sicher nicht zufällig; unser menschliches Urerlebnis von Angst ist die Enge des Geburtskanals. Durch diesen ersten Engpass gehen wir noch mit instinktivem Vertrauen hindurch; erst später müssen wir mühsam lernen, uns auch auf jede Angst so furchtlos einzulassen, wie uns das bei unserer Geburt spontan gelang.

Furcht und Vertrauen, diese beiden Haltungen sind einander diametral entgegengesetzt. Letztlich sind es Lebenshaltungen.

Angst ist im Leben unvermeidlich; zwischen Furcht und Mut aber können wir wählen: Furcht  sträubt sich gegen die Angst und bleibt so in der Enge stecken; Mut lässt sich voll Vertrauen auf die Angst ein und findet so den Weg ins Weite.

Mut nimmt dabei die Angst nicht weg; im Gegenteil: Wer keine Angst hat, braucht keinen Mut. Wer aber mitten in der Angst aufs Leben vertraut, den führt das Leben durch jede Angst zu einer neuen Geburt. Ich beweise mir das selbst.

Ich blicke zurück auf die Engpässe meines Lebens und sehe ganz klar: Je drückender die Beängstigung war, umso strahlender das überraschend Neue, das daraus hervorging. Mich immer wieder daran zu erinnern, gibt mir Lebensvertrauen und Sterbensmut.

Was mir auch hilft, ist das Vorbild von Menschen, deren Tod ich miterleben durfte. Zwei Mitbrüder aus Mount Saviour fallen mir da ein:

Bruder Christopher war damals für Arbeiten am Klosterbau zuständig. Er war erst 40, aber schwer herzleidend. An diesem Tag war er Vorleser beim Mittagessen. Als Tischdiener stand ich neben ihm, als er die Lesung begann:

«In jener Nacht erging das Wort des Herrn an Natan: Geh und sage zu meinem Diener, zu David: So spricht der Herr: Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne?»

Sechs Verse später kam er zu der Stelle: «So spricht der Herr: Ich werde  d i r  ein Haus bauen.»

Da legte er still seinen Kopf auf das Buch und war tot.

Und unser P. James Kelly (wir mussten seinen Nachnamen verwenden, weil wir zwei Brüder mit dem Namen James hatten) kam am Karsamstagabend noch einmal in die Kapelle, die schon für Ostern geschmückt war, und flüsterte mit für ihn typischer Begeisterung: «Ich kann ja gar nicht warten auf morgen!» Dann ging er schlafen. Am Morgen sollte er das Exultet singen, aber er hatte wirklich nicht warten können und sang nun wohl schon im Himmel.

Knapp eine Woche vor dem Tod meiner Mutter ‒ sie ist schon recht schwach ‒ kommt Vanja Palmers, der ihr lieb ist wie ein Sohn, zu Besuch aus der Schweiz. Er erzählt, dass heute, am St. Martinstag, die Kinder in Sursee sich beim «Chäszänne» mit einer möglichst verrückten Grimasse ein Stück Käse verdienen können. Wir setzen zwar keinen Käse als Preis aus, versuchen aber, einander im Gesichterschneiden zu übertreffen. Mutti auf ihrem Sterbebett überflügelt uns alle.[8]

Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup: «Was mir persönlich Angst macht, wenn ich an den Tod denke, ist zweierlei. Einerseits die Tatsache, dass wir nicht wissen, was im Tod auf uns zukommt. Wir wissen es einfach nicht. Wir gehen auf etwas zu, das uns nicht nur unbekannt ist, sondern ganz und gar unvorstellbar. Wie sollte sich eine Raupe im Puppenstadium vorstellen können, dass sie als Schmetterling von Blume zu Blume fliegt? Auch wir gehen auf etwas ganz Neues zu. Neues und Unbekanntes macht uns jedoch Angst.

Und das Zweite ist, dass wir wissen, dass es um den Tod herum sehr häufig Krankheiten, Leiden und Schmerzen gibt. Das allein genügt, mir Angst zu machen, wenn ich es mir ausmale. Hinzu kommt, dass man heutzutage früher oder später nur mehr ein Fall oder eine Nummer wird in einem Krankenhaus. Diese Entpersönlichung macht mir ebenfalls Angst. Aber das Leben macht uns, abgesehen von Alter und Sterben, immer wieder auf die eine oder andere Weise Angst. Wir brauchen Mut.»

Johannes Kaup: «Was macht Ihnen in diesem Zusammenhang Mut?»

Bruder David: «Mit einem Wort: Lebensvertrauen. Wenn ich auf dem Lebensweg in die Enge gerate und Angst bekomme, wird Lebensvertrauen entscheidend. Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt darin stecken. Vertrauen lässt sich durchschleusen und vertraut sich dem Auftrieb des Lebens an wie beim Schwimmen.»

Johannes Kaup: «Sie sagen, dass Sie nicht von einem Leben nach dem Tod sprechen wollen. Ist das so missverständlich?»

Bruder David: «Leider ist die Ausdrucksweise missverständlich, weil es so klingt, als ob mit dem Tod alles aus sei. Das will ich keineswegs behaupten. Es dreht sich hier mehr darum, dass mit dem Tod meine Zeit abgelaufen ist. Wenn meine Zeit um ist, dann hat das Wörtchen ‹nach› nicht viel Sinn. Ich sterbe, wenn für mich die Zeit um ist. Wie soll ich da von einem Nachher sprechen? Die Zeit ist mit dem Tod vorbei. Auf der Ebene von Zeit und Raum ist mein Leben zu Ende. Das möchte ich nicht verharmlosen oder beschönigen. Ich möchte es ganz ehrlich konfrontieren: Mit meinem Tod geht die Raumzeit für mich zu Ende. Das heißt aber nicht, dass alles aus ist. Keineswegs! Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit ‒ in der Erfahrung des Jetzt ‒ eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht.

Freilich komme ich dabei um eine Schwierigkeit nicht herum: Jemand könnte sagen: Nur durch meine Sinne, die in Raum und Zeit sind, kann ich das erfahren, und nur mit meinem Gehirn kann ich es denken; wenn aber mein Gehirn zu Staub zerfällt, was dann?

Ich kann nur antworten: Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum. Und dieser Dimension meines Daseins ‒ dem Bleibenden ‒ gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre. Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe.

Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit. Im Jetzt rühre ich an das Bleibende. Darauf muss ich mich einlassen, muss mich einfühlen ins Jetzt und dort heimisch werden. Im Getriebe der Zeit geht dieses Bewusstsein allzu leicht verloren.»[9]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2 und 8f.]

[Ergänzend:

1. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(54:39) Bei schweren Prüfungen sehen wir erst nachher, dass wir sie gebraucht haben. Wir alle haben Angst vor dem Leben: Das Leben ist ein ununterbrochenes Sterben in größeres Leben hinein. Sterben ist etwas, was wir tun müssen: Ein sich hingeben – Loslassen üben

2. Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)
Gespräch Teil 1
(02:18) Sich ans Leben klammern – sich hingeben, leichter sterben (Angst vor dem Tod, und noch mehr Angst vor dem Leben) / (05:35) Wir müssen mitsterben ‒ ‹Das wird jetzt meine letzte Tasse Tee sein›!

3. Der Anspruch von Engeln und Tieren (1994)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze:
(02:57) Bruder Christopher stirbt beim Vorlesen]

________________

[1] ‹rigor mortis› = ‹Totenstarre›

[2] Erwachende Worte (2023): ‹Tod›, 83

[3] Aus dem gleichnamigen Gedicht von Will Vesper (1882-1962), einem deutschen Schriftsteller und Literaturkritiker

[4] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe auch Stillehalten

[5] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten

[6] Siehe auch die Bedeutung des Wortes ‹aufheben› in Rühmen, Er-innern, Aufheben  im Text und in Anm. 2

Bruder David erwähnt den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1830) im Zusammenhang mit ‹Fragen aufheben› in der Einleitung zu seinem Vortrag in Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 1 ‒ Vormittag

[7] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: ‹Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’dor de l’Invisible.›; ausführlicher in Rühmen, Er-innern, Aufheben

[8] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 184-186

[9] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 188f.


Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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[Audio Tag 4 ‒ Nachmittag (21:24)] «Wie können wir leben und sterben lernen? Und da hat Rilke einen Begriff eingeführt, einen bildlichen Begriff: den Doppelbereich.

Das ist für ihn etwas ganz Wichtiges, dieses Wort der Doppelbereich. Das heißt: Zwei Bereiche sind eins, nicht ein Doppelbereich in dem Sinn, dass die nebeneinanderstehen, sondern sie sind eins, und doch zwei.

In einem der Sonette an Orpheus (1. Teil, IX) erwähnt Rilke den Ausdruck ‹Doppelbereich› im Zusammenhang mit ‹rühmen›:

‹Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.›

Was ist unsere Lebensaufgabe? Die große Aufgabe des Menschen ist für Rilke mit einem Wort: Rühmen. Und mit dem Zitat von Augustinus wird klarer, was damit gemeint ist:

‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus).

Jedes Detail ist nur ein kleiner Teil. Rilke spricht in einem seiner Sonette (2. Teil, XXI) von einem gewobenen Teppich:

‹Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.
Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, dass der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.›

Nur wer rühmen kann ‹auch unter Schatten›, kann das unendliche ‒ nicht das endliche ‒ Lob ahnend erstatten. Und dann kommen Bilder, die einfach heißen: Nur wer den Tod integriert, ‹wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren›:

‹Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,

darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.

Nur wer mit Toten vom Mohn
aß, von dem ihren,
wird nicht den leisesten Ton
wieder verlieren.

Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
W i s s e  d a s  B i l d
.

Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.›

Mild im Sinn von ‹compassion›‹mifühlen›: Also Weisheit und Mitgefühl bekommen erst Raum, wenn man im Doppelbereich lebt.

Und dieser Doppelbereich ist offensichtlich für Rilke das Leben und das Sterben. Die gehören ebenso zusammen, dass es eins ist. Wer wirklich lebt, lebt voll im jetzigen Augenblick und ist schon gestorben für die Vergangenheit.

Und dieses Einüben Schritt für Schritt: im Augenblick, im Jetzt leben, und so lernen loszulassen, das ist Sterben lernen.

T. S. Eliot sagt in den Four Quartets:

‹Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.›‹And the time of death ist every moment.›[1]

Dieser Doppelbereich ist nicht einfach Einheit, aber auch nicht Zweiheit[2] ‒ das ist immer die Gefahr, wenn man sagt ‹Doppelbereich›, es sind zwei Seiten einer Münze ‒ viel mehr noch wie zwei Seiten ‒, ganz eng verbunden. Aber man kann sie doch unterscheiden ‒ sie sind untrennbar ‒, aber unterscheidbar.

(26:32) Ich-Selbst ist ebenso ein Doppelbereich, solange wir leben. Und ganz eng verbunden mit dem Doppelaspekt von Leben und Sterben, denn das Selbst lebt, das kann nicht sterben. Es ist nicht in der Zeit.

Und das Sterben kann definiert werden: ‹Wenn meine Zeit um ist›. Das ist eine ganz gute Definition: Ich sterbe, wenn meine Zeit um ist. Meine Zeit beginnt zu einem gewissen Punkt und ist dann zu einem gewissen Punkt um.

Und Zeit und Raum hängen so eng zusammen, dass mein Leib stirbt, wenn meine Zeit um ist, aber was davon gar nicht berührt wird, ist mein Selbst.

Wir vergessen halt das Selbst immer, aber je mehr wir lernen im Ich-Selbst zu leben ‒ und das heißt im Augenblick zu leben: wir brauchen uns gar nicht um das Selbst zu kümmern, wir brauchen gar nicht an das Selbst zu denken, dann leben wir schon im Selbst.

Und je mehr wir lernen, das zu tun, umso mehr wird dann der letzte Augenblick der Augenblick sein, in dem das Ich stirbt, aber das Selbst bleibt: ewig, über der Zeit erhaben.

Es kommt für Rilke noch etwas sehr Wichtiges: Warum denn nicht gleich das Selbst? Warum dieser ganze Umweg über das Ich?

Und da hat er in einem Brief dieses wunderschöne Bild geprägt:

‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.›

Das Sichtbare ist alles, was mit dem Ich zu tun hat in Raum und Zeit, das Unsichtbare ist das Selbst. Und wir sind die Bienen des Unsichtbaren, die Honigbienen und eifrig ‒ ‹éperdument› ‒, er schreibt das in Französisch[3]: ganz hingegeben sammeln wir den Nektar des Sichtbaren ‒ also alles, was wir mit den Sinnen erfassen ‒, in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.

Das ist unsere Lebensaufgabe. Und das heißt, dass nichts verlorengeht.

Es kann nicht verloren gehen, denn ‹Alles ist immer jetzt› (T. S. Eliot).[4]

Und wenn wir im Jetzt leben, ist es und ist und ist: Es hat Anteil an der Zeit ‒ wir erleben es in der Zeit ‒, aber alles, was ist, ist zugleich in diesem Doppelbereich, zugleich in der Zeit und über die Zeit hinaus, weil ‹Alles ist immer jetzt› ist, alles! Und das ist nicht nur der Mensch, der immer ist[5]

«Doppelbereich nennt Rilke die Einheit von Diesseits und Jenseits und sagt:

‹Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten.›[6]

Nur wenn ich mich bewusst in diesem Doppelbereich von Vergänglichem und Bleibendem bewege, kann ich in allem Vergänglichen das Bleibende miterfahren und in allem Bleibenden Dich, Du Ursprung bleibenden Seins.

Erweitere Du die Reichweite meiner Sinne; öffne sie für das Übersinnliche im Sinnlichen. Lass mich ‹die Spiegelung im Teich› als ein Ganzes sehen und dieses Bild niemals vergessen. Lass mich jetzt schon das vertrauliche Nahsein der uns Vorangegangenen erfahren. Und wenn meine Zeit kommt, heimzugehen, dann schenk mir einen sanften Übergang. Amen.»[7]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5 und 7]

[Ergänzend:

1. ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› und unsere Aufgabe: Rühmen, Er-innern, Aufheben

2. Den einen Pol im andern sehen:

Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 190f.; siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild

Johannes Kaup: «Das Geistige und das Emotionale, das Leibliche und Seelische, das Profane und das Heilige, das Zeitliche und das Ewige: Wie hängen diese Doppelbereiche zusammen bzw. wie existieren Sie in diesen Doppelbereichen so, dass Sie nicht an einer Gespaltenheit leiden?»

Bruder David: «Diese Gegensätze begegnen uns überall, und die wichtige Einsicht ist, dass wir sie zwar unterscheiden können, aber nicht trennen dürfen. Sie bleiben Gegensätze, gehören aber innig zueinander und bedingen einander. Sie polarisieren nicht das Leben, sondern sind Pole einer unteilbaren Einheit.

Clemens Brentano weist an einer wichtigen Stelle seiner Dichtung auf Pole jeder vollen Lebendigkeit hin:

‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.›

Rilke hat dafür den schönen Begriff Doppelbereich geprägt.

Wir können Polarisierung dadurch vermeiden, dass wir den einen Pol anschauen und in diesem Pol schon den anderen sehen. Ich schaue z. B. auf die Zeit und erfahre in der Zeit die Ewigkeit, eben das Jetzt, das über die Zeit hinausgeht. Oder ich schaue auf das Leid und sehe darin das irdische Antlitz der Liebe. Ich schaue auf den Stern und sehe darin die Blume oder ich schau die Blume und sehe darin den Stern. Der ganze Kosmos ist ein Doppelbereich.»]

 ________________

[1] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III

[2] A-DWAITA, in: Das ABC der Schlüsselworte, 128: ‹A-Dwaita ist ein zentral wichtiges Wort im Hinduismus und bedeutet wörtlich Nicht-Zweiheit›; siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 3.1.

[3] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: ‹Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’dor de l’Invisible.›

[4] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten

[5] Sinngemäße Wiedergabe des Vortrags von Bruder David in Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere› (21:24-31:31)

[6] Rilke, aus der Ersten Duineser Elegie

[7] Erwachende Worte (2023): ‹Doppelbereich›, 35



Quellenangaben

Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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«Altern war mein Schicksal, jetzt ist es Aufgabe ‒ ein gesegnetes Schicksal und eine nicht ganz leichte Aufgabe. Unter den Gaben des Altwerdens bin ich vor allem für meine Gesundheit dankbar ‒ ein unermessliches Geschenk. Dann für die unzähligen Begegnungen in all diesen Jahren ‒ die erinnerten und die vergessenen; sie alle haben mich geformt. Und wenn ich an die Erlebnisse denke, zu denen diese vielen Jahre mir Zeit schenkten, dann bin ich überwältigt von Dankbarkeit.

Jetzt gilt es, die Erinnerungen zu sichten. Schenk ihnen, ich bitte Dich, noch sonnige Herbsttage, in denen sie zur vollen Süße ausreifen können.[1] Lass mich alles, was mich drückt, vertrauensvoll Deiner Vergebung übergeben, alles Schöne noch einmal lange und dankbar betrachten und dann loslassen. Von allem Beschwerlichen des Alterns lass mich die Augen aufheben zum ‹Morgenglanz der Ewigkeit›. Amen».[2]

Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David: «Bruder David, ich habe noch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man neunzig Jahre alt ist. Da kommt sicher einiges auf mich zu. Doch nicht nur ich bewundere, dass Sie in Ihrem Alter noch so wach, so neugierig und lebendig sind. Was ist das, was Sie heute im vielleicht letzten Lebensjahrzehnt beschäftigt, umtreibt, bewegt?»

Bruder David: «Es kristallisiert sich für mich immer klarer heraus, dass meine große Aufgabe darin besteht, im Jetzt zu leben und das immer wieder zu üben.

Das sehe ich als meine Hauptaufgabe an, und zugleich ist es ein großes Geschenk, das so viele Jahrzehnte lang üben zu dürfen.

Vielleicht wird uns das Leben nur verlängert, weil wir noch nicht gelernt haben, wirklich im Jetzt zu leben.»

Johannes Kaup: «Woran haben Sie heute noch besondere Freude? Worüber können Sie nach wie vor staunen und was macht Ihr Herz ganz weit?»

Bruder David: «Um das zu beantworten, müsste ich alles aufzählen, was mir im Lauf des Tages begegnet. Alles macht mich staunend, mehr als je zuvor. Schon wenn ich am Morgen die Augen aufschlage. Dass mir noch einmal ein Tag geschenkt wird, ist das nicht eine große Überraschung?

Johannes Kaup: «Ich bin auch noch da ...»

Bruder David: «Aha! Es gibt mich noch. Alles, alles wird immer staunenswerter.»

Johannes Kaup: «Das heißt staunenswerter, je älter Sie werden ‒ wie das? Sie könnten ja auch sagen: ‹Ich bin schon abgebrüht, ich kenne das schon.›»

Bruder David: Wie Augustinus sagt:

«Alles ist Gabe, alles ist Gnade, alles ist Geschenk.»[3]

Als junger Mann wanderte ich bei einem meiner ersten Besuche in New York City eines Abends die 5th Avenue aufwärts und schlenderte an der 59th Straße in den kleinen Zoo hinein, den es damals an dieser südöstlichsten Ecke des Central Parks gab. Den Zoo besuchten vor allem Kinder und um diese Zeit war ich alleine hier. Doch plötzlich fühlte ich eine mächtige Gegenwart, blickte auf und sah einen Gorilla auf dem Dach seines Häuschens sitzen. Der massige Klotz schien sich in der Dämmerung riesig aufzutürmen und doch saß er gebeugt und wie trauernd da. Beim Näherkommen konnte ich in seine Augen schauen, aber es schien mir, dass er mich kaum wahrnahm und seine Gedanken weit weg irgendwo wanderten. Er war alt, vielleicht sehr alt. Ich kann nicht sagen, wie lange wir so Auge in Auge verweilten, aber ich weiß, es war eine ganze Zeit lang. Lange genug, um mir etwas mitzuteilen über das Altwerden, eine Ahnung, so tief, dass ich sie immer noch nicht völlig ausgelotet habe, auch nicht in diesem bisher letzten Jahrzehnt meines Lebens ‒ ich sage «bisher», denn ich habe gelernt, mit Überraschungen zu rechnen, und weil es eben noch Geheimnisse gibt, die aufs Ausloten warten.

In diesem Lebensabschnitt gerät das Senklot meines ahnenden Nachdenkens immer wieder in Tiefen, in denen ich ein Schlüsselwort Rilkes hilfreich finde; der Dichter spricht vom Doppelbereich:

«Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
W i s s e  d a s  B i l d.

Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.»
[4]

Auf vieles lässt sich dieses Bild anwenden, und dabei erscheint es mir besonders wichtig, nicht zu vergessen, dass der Doppelbereich eine untrennbare Einheit ist, auch wenn mein Denken seine beiden Aspekte immer wieder auseinanderreißen möchte. Unterscheiden ‒ ja; trennen ‒ nein!

Aufs Ganze zu schauen, es so umfassend wie möglich zu sehen und nicht zu erlauben, dass es in meiner Vorstellung auseinanderfällt ‒ das sehe ich als meine große Aufgabe beim Altwerden.

T. S. Eliot weist auf die Schwierigkeit hin:

«Ich will dir zeigen, was das Alter bringt ...
Da Leib und Seele auseinanderfallen.»
[5]

An manchen Tagen scheint es wirklich, als ob alles im Begriff wäre, auseinanderzufallen: Das Dinkelweckerl fällt mir in den vollen Suppenteller und bespritzt die weiße Kutte von oben bis unten mit Kürbissuppe und Kernöl ‒ schwarz und gelb in den kaiserlichen Farben.

Ist das meine «zweite Kindheit»? Aus meiner ersten weiß ich, weil meine Mutter es mir lachend erzählte: Als ich zum ersten Mal einen Teller voll Spinatsuppe vor mir auf dem Tisch sah, war ich so begeistert vom Grün, dass ich beide Hände in die Suppe tauchte und mich von oben bis unten damit anmalte. Auch jetzt lachen die Brüder verständnisvoll bei meinem kleinen Unfall im Refektorium und schlagen vor: «Vielleicht darf man das ‹Aktionskunst› nennen.» Das ist jedenfalls eine positivere Interpretation, als vom Auseinanderfallen zu sprechen.

Warum liegt denn überhaupt der Gedanke nahe, dass beim Altwerden und Sterben Leib und Seele auseinanderfallen?

Weil ich mir einerseits bewusst bin, dass meine Seele, mein Selbst, im Jetzt lebt, also nicht in der Zeit gefangen ist, andererseits aber mein Leib einen Anfang hatte bei meiner Empfängnis und seinem Ende zugeht, das täglich näher kommt.

Durch meinen Leib bin ich also an die Zeit gebunden und mein Ich ist vergänglich, mein Selbst aber hat Bestand.

Und doch erlebe ich mich als Einheit, als ich selbst ‒ nicht als ich und selbst. Dieses Einssein ist mir jedoch nur bewusst, solange ich im Jetzt lebe, im Augenblick, im Doppelbereich von Zeit und Ewigkeit.

Sobald ich an Vergangenem hängen bleibe oder mich in Zukunftsfantasien verstricke, bin ich mir nur mehr des Zeitablaufs bewusst, und es bedrückt mich, dass meine Zeit rasch abläuft und ausläuft.

«Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt,»
[6]

sagt der Dichter. Ich sehe es jetzt mehr noch als in früheren Lebensabschnitten als meine große Aufgabe an, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren und zu erkennen, dass ich nicht in einem Nebeneinander von Zeit und Ewigkeit lebe, sondern in ihrem Ineinander, in der dynamischen Spannung des einen Doppelbereichs.[7]

«Doppelbereich nennt Rilke die Einheit von Diesseits und Jenseits und sagt:

‹Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten.›[8]

Nur wenn ich mich bewusst in diesem Doppelbereich von Vergänglichem und Bleibendem bewege, kann ich in allem Vergänglichen das Bleibende miterfahren und in allem Bleibenden Dich, Du Ursprung bleibenden Seins.

Erweitere Du die Reichweite meiner Sinne; öffne sie für das Übersinnliche im Sinnlichen. Lass mich ‹die Spiegelung im Teich› als ein Ganzes sehen und dieses Bild niemals vergessen. Lass mich jetzt schon das vertrauliche Nahsein der uns Vorangegangenen erfahren. Und wenn meine Zeit kommt, heimzugehen, dann schenk mir einen sanften Übergang. Amen.»[9]

In seinem berühmten Gedicht «Sailing to Byzantinum»[10] sagt Butler Yeats, ein alter Mann sei eine jämmerliche Vogelscheuche,

«… wenn nicht die Seele klatscht und singt und lauter singt
für jeden Riss im sterblichen Gewand.»

Das versuche ich zu tun, so oft wieder etwas in Fetzen geht am «sterblichen Gewand», und klatsche dankbar allen Körperteilen und Organen Beifall, die noch funktionieren. So wird das, wofür ich dankbar sein kann, täglich mehr.

«Mein Becher fließt über» (Psalm 23,5).

Es wird mir immer klarer bewusst: Dankbarkeit ist Feste feiernde Liebe.

Wie Liebe das gelebte Ja freudiger Zugehörigkeit ist, so feiert Dankbarkeit das Leben durch ein freudiges Ja an jedem Knoten des großen Netzwerks, in dem alles mit allem zusammenhängt.

Je überzeugter wir dieses Ja leben, desto sommerlicher reift die Liebe in uns und um uns.[11]

Ein großer Denker ‒ Otto Mauer ‒, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:

‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.[12]

Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.»[13]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f., 7, 9, 11, 13]

[Ergänzend:

1. Film Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 13:

Isha Johanna Schury: «Ja, diese Energie des Lernen Wollens, das ist auch ein Geschenk, ich trage das ganz stark. Deswegen hatte ich auch den Impuls für diesen ÄLTESTENRAT-Kongress, weil ich es wunderschön finde, von dieser Weisheit und von dieser Erfahrung lernen zu dürfen. Da wohnt so viel ‒ großes Geschenk für mich drin. Viele von uns haben so das Gefühl, sie müssen nichts mehr lernen, sie wissen schon alles, aber lernen ist doch eine große Freude und trägt mich schon ein ganzes Stück weiter.»

David Steindl-Rast: «Ich war noch ein recht junger Mann, als ich eines Abends in New York City in einen kleinen Zoo hineingewandert bin ‒ damals hat es den Zoo noch gegeben, den gibt es heute nicht mehr, das muss eine Art Kinderzoo gewesen sein im Central Park. Da war kein Mensch drinnen, es war eben Abend, kurz vor dem Absperren ‒ stell ich mir vor. Da ist auf dem Dach seiner Hütte ein Orang-Utan gesessen. Der ist nur so dort gesessen und ich bin lange Zeit vor dem gestanden. Der hat mir eine Weisheit übermittelt, die mir für das ganze Leben wichtig war. Ich kann es natürlich nicht in Worte fassen, aber das war ein weises altes Lebewesen. Dafür bin ich immer noch dankbar. Das ist mindestens schon … 60 oder 65 Jahre her.»

Isha Johanna Schury: «Wunderschön, wunderschön. Diese Weisheit strahlt einfach, die so ein älteres, gelebtes, erfahrenes Wesen in sich trägt. Und so Vieles kann man nicht mit Worten ausdrücken, was einfach die Worte übersteigt.»

2. Widersprüche in ein Sinnbild fassen:

Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (28:48) und Text in Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 29-32, siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild:

«Wenn wir unseres Lebens viele Widersinne versöhnen und dankbar in ein Sinnbild fassen: Was kann dieses Sinnbild sein?»

3. Wirklich werden:

Musik der Stille (2023), 27; siehe auch: Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 2. ‹Die Tagzeiten›:

«Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›[14]. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:

‹Tut Wirklichwerden weh?›

Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:

‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»

4. Sich erinnern:

Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›,97f.; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben:

«Wir müssen dem Wort ‹Erinnerung› hier seine volle Bedeutung zurückgeben. Er-innerung ist Ver-innerlichung, Sinnernte unserer Sinnlichkeit ‒ Einbringung, Verwandlung.

Rilke schreibt in seinem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz, 13. November 1925:

‹So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden.

Verwandelt?

Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht.

Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.

Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible: Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenkorb des Unsichtbaren anzuhäufen.›

Kennen wir nicht dieses selbstvergessene Blütensaftsaugen aus der tiefsten Erfahrung unseres eigenen Lebens? So verwandelt unser Herz das Sinnliche unseres wachsten Erlebens und birgt es in seiner großen, goldenen Honigwabe als Sinn. Darum wird beim Altwerden jedes Weihnachtsfest reicher, gewichtiger, schwerer und süßer, weil Freude und Traurigkeit aller vergangenen Weihnachtsfeste von frühester Kindheit an im Erleben mitschwingt; weil in der Erinnerung Altes und Neues einander bereichern.

5. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen:

So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual …
(36:58) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX)

Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›,98f.:

«Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.

Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.

Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,

ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.»

R. M. Rilke: Sonette an Orpheus Teil 1, XIX

«In diesem ‹Lied überm Land› liegt der bleibende Sinn, in den das horchende Herz allen Wandel führt. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen, das heißt durch die Sinne Sinn finden[15]]

___________________

[1] ‹Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiel den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.›

R. M. Rilke: ‹Herbsttag›

[2] Erwachende Worte (2023): ‹Altern›, 99

‹Morgenglanz der Ewigkeit
Licht vom unerschaffnen Lichte,
schick uns diese Morgen-Zeit
deine Strahlen zu Gesichte,
Und vertreib’ durch deine Macht
unsre Nacht.›

Erste Strophe aus dem Kirchenlied von Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689) im heutigen Sprachgebrauch

[3] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich ‒ ‹9. Dialog, 193; siehe auch Jetzt im Doppelbereich

[4] Rilke: Sonette an Orpeus 1. Teil, IX

[5] ‹Let me disclose the gifts reserved for age
To set a crown upon your lifetimes’s effort.
First, the cold friction of expiring sense
Without enchantment, offering no promise

But bitter tastelessness of shadow fruit
As body and soul begin to fall asunder.›

T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, II

[6] Siehe auch Jetzt im Doppelbereich, Anm. 1 und Audio zu Beginn von Kreuz ‒ Sinnbild:

‹Stimme eines jungen Bruders

Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.

Ich möchte sterben. Laß mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.›

R. M. Rilke, Das Stunden-Buch

[7] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 180-182

[8] Rilke, aus der Ersten Duineser Elegie

[9] Erwachende Worte (2023): ‹Doppelbereich›, 35; siehe auch dieses Gebet am Ende des Haupttextes in Doppelbereich Ich-Selbst

[10] ‹An aged man is but a paltry thing,
A tattered coat upon a stick, unless
Soul clap ists hand an sing, and louder sing
For every tatter in tis mortal dress …›

W. B. Yeats: Sailing to Byzantium

[11] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 186

[12] Siehe auch Sterben und Tod: Ergänzend: 1.

[13] Film Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 8

[14] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106, und Erlösende Kraft, Anm. 4:

«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, erschienen 1922, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»

[15] Siehe auch dieses Sonett im Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975)
(08:59)
vorgetragen von Ellinor Jensen; siehe auch Transkription



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © -Arijana Somolanji Kurbanović

[Audio Vortrag(03:58-9:53)] «Ich möchte mit ein paar Zeilen eines Gedichtes aus Rilkes Stundenbuch beginnen, die unsere Situation recht gut kennzeichnen, die Situation aus der vielleicht viele von euch heute Abend hierhergekommen sind:

Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.›

Dieses Verrinnen, dieses sich Verlieren ist genau das Gegenteil von der Sammlung, die uns zu unserer Herzmitte führt.

Darum auch nicht nur die Beschreibung dieser Situation, die wir so gut aus unserer eigenen Erfahrung kennen, aus dem täglichen Leben:

‹Ich verrinne, ich verrinne›: ich verliere mich, ‹ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt›
,

sondern ich fühle den Schmerz dieses Verrinnens am meisten mitten im Herzen, am meisten dort, wo ich gesammelt sein sollte, aber nicht gesammelt bin.

‹Ich habe auf einmal so viele Sinne›: die Sinne, die einander widersprechen, die Sinne, die uns hinausziehen und uns hinauslocken, weil wir sie nicht zusammenbringen können in einen Sinn.

Die Frage des Sinnlichen ist ungeheuer wichtig im Zusammenhang mit dem Herzen: Es ist nur durch die Sinne, dass wir Sinn finden können. Aber unsere Sinne können einander widersprechen, wie das eben hier so schön heißt:

‹Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.›

Anstatt dankbar empfangend zu sein, sind sie durstig und widersprechen einander. Und die große Aufgabe, wenn wir das Herz finden wollen, ist, diese Sinne in unserer Sinnlichkeit zu sammeln und die Sinne in ein Sinnbild zu sammeln.

Und daher ein paar andere Zeilen auch aus dem Stundenbuch Rilkes:

‹Wer seines Lebens viele Widersinne (die einander widersprechenden Sinne)
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.

Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.›

Ein Gebet an Gott gerichtet:

‹Du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt›,

wenn es ihm gelingt, seines Lebens viele Widersinne zu versöhnen und dankbar in ein Sinnbild zu fassen.

Darum geht es uns und darum ist es auch so hilfreich, Bilder aus der Dichtersprache dazu zu verwenden, die uns helfen, unser eigenes Erleben zu fassen und in ein Sinnbild zu fassen.

Wir können Sinn letztlich nur durch die Sinne finden. Wie sollten wir ihn anders finden? Thomas von Aquin sagt schon, dass nichts in unserem Intellekt ist, was nicht durch die Sinne hereingekommen ist.

Wir wären leer ohne die Sinne. Die Sinne können auch einander widersprechen, können durstig uns zerreißen, wenn wir sie nicht zusammenführen und es ist das Sinnbild, durch das wir sie zusammenführen und in dem wir dann Sinn finden.

Sinn bedeutet in diesem Zusammenhang das, worin wir Ruhe finden. Das worin wir ausruhen können. Das womit wir das Leben feiern können.

Darum sagt Rilke auch: Wem dies gelingt, der ‹wird  a n d e r s  festlich›, anders festlich als unsere weltlichen Feste sind: Der hat die Mitte gefunden, für den wird das Göttliche zum ‹Zweiten seiner Einsamkeit›,

‹die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.›

Wir alle kennen ‒ und hier richte ich mich an ihr eigenes Erleben ‒, es kommt ja sehr viel darauf an, dass wir nicht Abstraktionen herumwerfen, sondern, dass wir vom Erlebten zum Erlebnis sprechen, dass wir in der Erinnerung unsere eigenen Erlebnisse hier hereinbringen:

Ich glaube, Sie erinnern sich alle an Augenblicke, in denen uns das Leben plötzlich in ein Sinnbild gefasst wird. Manchmal ist es ein visuelles Sinnbild, manchmal ist es Musik, manchmal ist es eine Begegnung: auf viele verschiedene Arten kann sich plötzlich alles für uns in ein Bild sammeln, in ein Wort sammeln.»[1]

Wenn wir unseres Lebens viele Widersinne versöhnen und dankbar in ein Sinnbild fassen: Was kann dieses Sinnbild sein?

Clemens Brentano nennt in einem wunderschönen Gedicht das Feldkreuz als dieses Sinnbild. Er hat dieses Gedicht an das Ende seines Buches gestellt und damit eigentlich an das Ende von allem, was er geschrieben hat.[2]

«Was reif in diesen Zeilen steht,
Was lächelnd winkt und sinnend fleht,
Das soll kein Kind betrüben,
Die Einfalt hat es ausgesäet,
Die Schwermut hat hindurchgeweht,
Die Sehnsucht hat's getrieben;
Und ist das Feld einst abgemäht,
Die Armut durch die Stoppeln geht,
Sucht Ähren, die geblieben,
Sucht Lieb', die für sie untergeht,
Sucht Lieb', die mit ihr aufersteht,
Sucht Lieb', die sie kann lieben,
Und hat sie einsam und verschmäht,
Die Nacht durch dankend in Gebet,
Die Körner ausgerieben,
Liest sie, als früh der Hahn gekräht,
Was Lieb' erhielt, was Leid verweht,
Ans Feldkreuz angeschrieben,
O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!»

Im Kreuz steht die Gegenwart, das Jetzt, senkrecht auf dem Fluss der Zeit: der gegebene Augenblick. Brentano findet ans Feldkreuz angeschrieben diese Worte. Und er findet den Gekreuzigten, der ihm zum Sinnbild wird.

«Oh Stern und Blume
Geist und Kleid
Lieb, Leid und
Zeit und Ewigkeit!»

In allem, was es gibt, drückt sich das Grenzenlose, Unbegrenzte und Unendliche aus. Es drückt sich in allen Formen aus. Der Stern etwa zeigt sich in der Blume. Kinder zeichnen das gerne, den Stern. Oder die Sonne oben und drunter die Sonnenblume, oder den Stern und die Sternblume.

«Oh Stern» ‒ das Unendliche ‒ und die Blume ‒ das ganz Kleine.

«Geist und Kleid»: Alles, was wir sehen, ist Kleid des Geistes. Alles, was es gibt, ist Gabe dieses unbegrenzten Es, das uns alles gibt.

Auch «Lieb und Leid». Im Leid drückt sich die Liebe völlig aus. Das Unbegrenzte ist die Liebe, das Leid ist die begrenzte Form, in der wir hier in diesem Leben die Liebe am tiefsten erfahren. Dieses Sinnbild ist am Feldkreuz angeschrieben.

Und schließlich: «Zeit und Ewigkeit». Am Feldkreuz wird es umgedreht: «Ewigkeit und Zeit». Die Ewigkeit drückt sich in der Zeit aus, in dem Augenblick. So wie der Stern in der Blume, wie der Geist in seinen vielen Kleidern, wie die Liebe sich im Leid ausdrückt. Zeit und Ewigkeit. Das ist das Sinnbild, scheint mir, in dem wir die vielen Widersinne unseres Lebens versöhnen und dankbar zusammenfassen ‒ das Kreuz.[3]

Johannes Kaup: «Das Geistige und das Emotionale, das Leibliche und Seelische, das Profane und das Heilige, das Zeitliche und das Ewige: Wie hängen diese Doppelbereiche zusammen bzw. wie existieren Sie in diesen Doppelbereichen so, dass Sie nicht an einer Gespaltenheit leiden?»

Bruder David: «Diese Gegensätze begegnen uns überall, und die wichtige Einsicht ist, dass wir sie zwar unterscheiden können, aber nicht trennen dürfen. Sie bleiben Gegensätze, gehören aber innig zueinander und bedingen einander. Sie polarisieren nicht das Leben, sondern sind Pole einer unteilbaren Einheit.

Clemens Brentano weist an einer wichtigen Stelle seiner Dichtung auf Pole jeder vollen Lebendigkeit hin:

‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.›

Rilke hat dafür den schönen Begriff Doppelbereich geprägt.

Wir können Polarisierung dadurch vermeiden, dass wir den einen Pol anschauen und in diesem Pol schon den anderen sehen. Ich schaue z. B. auf die Zeit und erfahre in der Zeit die Ewigkeit, eben das Jetzt, das über die Zeit hinausgeht. Oder ich schaue auf das Leid und sehe darin das irdische Antlitz der Liebe. Ich schaue auf den Stern und sehe darin die Blume oder ich schau die Blume und sehe darin den Stern. Der ganze Kosmos ist ein Doppelbereich.»[4]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1, 3f.]

[Ergänzend:

1. Die Crux gemmata:

Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
Gespräch:
(01:08:24) Die Crux gemmata, das mit Edelstein geschmückte kosmische Kreuz im Vergleich zum Isenheimer Altar

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut

2. Prophetischer Gehorsam im Sinnbild des Kreuzes:

Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 298; siehe auch Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›: Ergänzend: 2.:

«Das Ideal des Gehorsams ist der prophetische Gehorsam, das heißt, ein Gehorsam, der so tief horcht, dass er etwas hört, was die vorherrschende Meinung nicht hören will, und nicht umhin kann, es klar herauszusagen.

So wie der Prophet Jeremias, der es ja gar nicht sagen will. Er schreit: ‹Ich will meinen Mund verschließen, weil es mich in solche Unannehmlichkeiten bringt, aber es verbrennt mich von innen. Ich kann nicht anders, es stößt mir von innen den Mund auf› (Jer 20, 7-18).

Wenn wir sagen, denen geb ich es jetzt einmal, ich weiß schon, was Gott von denen will, dann sind wir höchstwahrscheinlich nicht gerade prophetisch. Wenn wir uns winden und wenden, aber nicht umhin können, es doch zu sagen, dann besteht eine gewisse Möglichkeit, Prophetisches zu äußern.

Aber es gehört noch etwas dazu. Das freie und tapfere Aussprechen genügt nicht, obwohl das schon schwer genug ist. Wenn wir es jetzt sagen und dann schnell hinausgehen, schnell verschwinden, dann sind wir nur noch Kritiker von außen, aber der Prophet ist kein Kritiker von außen. Der Prophet steht drinnen, mitten in der Gemeinschaft. ‹Kein Prophet kann außerhalb Jerusalems sterben› (Lk 13,33),[5] sagt Jesus, das heißt, er muss dort sein, wo es ums Wesentliche geht.

So müssen auch wir mitten drinstehen. Dieses Drinstehen in einer Gemeinschaft ist so schwierig, dass man glauben sollte, es genüge schon. Drinnen zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen, ist schwer genug. Darin, dass beides von uns verlangt wird, in der Gemeinschaft zu stehen  u n d  sie zugleich herausfordern, da liegt das Kreuz des Propheten.

Das Drinnenstehen ist der senkrechte Balken und das Herausfordern ist der horizontale Balken.

So endet jeder Prophet früher oder später am Kreuz. Versuchen Sie nur einmal bei irgendeiner Gelegenheit, wirklich aus dem tiefsten inneren Horchen, aus dem Herzen zu sprechen, besonders dann, wenn sich das, was Sie sagen wollen, mit der vorherrschenden Meinung nicht ganz verträgt. Sie werden auf die eine oder die andere Weise gekreuzigt werden.»]

_______________

[1] Transkription des Vortrags (03:58-09:53) Mit dem Herzen horchen (1988):
(03:58) ‹Ich verrinne, ich verrinne›
/ (06:32) ‹Wer seines Lebens viele Widersinne (R. M. Rilke aus dem Stundenbuch) / (07:56) Die Sinne im Sinnbild zusammenführen, Sinn finden: Das worin wir Ruhe finden ‒ Augenblicke, in denen uns das Leben plötzlich in ein Sinnbild gefasst wird

[2] Mit diesem Gedicht enden die ‹Blätter aus dem Tagebuch der Ahnfrau›, die Fortsetzung des Märchens ‹Gockel, Hinkel und Gackeleia›. In den heutigen Ausgaben trägt das Gedicht die Überschrift ‹Eingang›.

[3] Fragen, die uns bewegen (2005):
(28:48)
‹Wer seines Lebens viele Widersinne› (Rilke, Das Stundenbuch) ‒ ‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit› (Clemens Brentano, ‹Eingang›); der Text dazu in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 121-123, und der Vortrag Fragen, die uns bewegen (2005), abgedruckt im kleinen Buch Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 29-32

[4] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 190f.; siehe auch Doppelbereich: Ergänzend: 2.

[5] Audio in Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt: Ergänzend: 3.2.



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

 [Vortrag (05:21-30:56)]

«Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh die andre an: Es ist in allen.

Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.»

Rainer Maria Rilke: Herbst

«Es sind viele, viele Anklänge in dem Gedicht, nicht nur, dass jetzt gerade so Frühherbst ist und die Blätter fangen schon an zu fallen und

‹sie fallen mit verneinender Gebärde.›

Aber dieses Nein ist doch auch schließlich ein Ja oder fällt in das unendliche Ja Gottes.

‹Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh die andre an: Es ist in allen.

Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.›

Und mir klingt das fast wie ein Echo des Satzes im Johannesbrief:

‹Wenn dein Herz dich anklagt, Gott ist größer als dein Herz› (1 Joh 3,20).

Dieses Fallen ist auch ein Anklagen unseres Herzens und ich stell mir vor, dass besonders die, die mit Theresia viel zusammen waren, sich auch ständig immer fragen ‒ so ist das ja in solchen Gelegenheiten: ‹Hab ich das Rechte gesagt, hab ich das Rechte getan, was hätte ich sonst noch tun können. Wo war ich noch nicht, wie sie mich gebraucht hat?›

‹Wenn unser Herz uns anklagt, Gott ist größer als unser Herz› (1 Joh 3,20).

Sein sind diese Hände, in die wir da fallen, die allgemeine Fallkraft uns zieht ‒, die Schwerkraft, die zieht uns auf diesen Schwerpunkt hin. Das müssen wir schon ernst nehmen. Und überhaupt, ich glaube, dass der Trost, den wir finden können, immer daraus entspringt, dass wir den Tod ernst nehmen.

Wenn wir den Tod nicht ernst nehmen, nehmen wir auch das Leben nicht ernst und finden auch nicht den Trost, den wir finden können.

Aber wenn wir den Tod ernst nehmen, dann sehen wir zunächst, dass wir alle unsern Tod wählen.

Wenn es so dramatisch und mitten im Leben ist, wenn die Umstände so ungewöhnlich sind, dann ist es offensichtlicher.

Aber jeder, der mit Sterbenden war und der irgendetwas vom Sterben weiß und den Tod ernst nimmt, weiß auch, dass wir nicht sterben können, solange wir nicht unsern Tod willentlich wählen.

Natürlich ist es meistens für uns eine Krankheit oder einfach Altersschwäche, die uns umbringt, aber umgebracht werden ist ja noch nicht sterben.

Sterben ist etwas, was wir freiwillig tun müssen.

Sterben hat kein Passiv in der deutschen Sprache und in keiner der andern Sprachen, die ich kenne. Man kann nicht sagen: ‹Ich werde gestorben›

‹I c h  s t e r b e.›

Und darin drückt die Sprache eine tiefe Einsicht aus, dass es sich hier um etwas handelt, was uns tatkräftigen Mut abverlangt. Wir müssen etwas tun.

Und die Schwierigkeit ist nun, dass wir gerade in den Situationen, in denen wir gewöhnlich sterben müssen, nicht sehr tatkräftig sind, dass wir schwach sind, alt sind, krank sind, unter schrecklichen Schmerzen stehen, leiden, gepresst sind, gedrängt sind.

Und da entspringt auch wieder ein zweiter Punkt aus dem Ernstnehmen des Todes:

Erstens, dass wir willentlich sterben müssen: alle ‒ dass man nur willentlich sterben kann, aber:

Zweitens, Dass die meisten von uns das nicht im letzten Augenblick können. Das ist nicht anzunehmen, daher weiß man nicht, wann wir wirklich sterben.

Wenn wir den Tod ernst nehmen, sehen wir mehr und mehr, dass es wichtigere Todespunkte in unserem Leben gibt als die letzte Minute ‒, dass nicht anzunehmen ist, dass die meisten Menschen in ihrer letzten Minute sterben. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Menschen irgendwann in der Mitte ihres Lebens sterben. Wir wissen ja auch nicht ‒ und das ist die andere Seite ‒, wann Menschen wirklich zum Leben kommen.

Und zwar brauchen wir da gar nicht erst hinausschauen und uns fragen, ob das embryonale Leben bei der Befruchtung des Eis beginnt, oder beim Herzklopfen oder im dritten Monat oder im sechsten Monat: Das ist ja alles äußerlich gesehen. Wir brauchen uns nur selber zu fragen: Wann bin ich wirklich völlig lebendig geworden?

Sicher nicht bei der Geburt, sicher nicht wie ich sieben Jahre war, denn wie ich zehn Jahre war, war ich mehr lebendig, als wie ich sieben Jahre war, war mehr Leben da.

Wann bin ich der geworden, der ich eigentlich bin oder sein sollte oder werden sollte?

Wir wissen gar nicht, ob wir nicht schon den Gipfelpunkt erreicht haben in unserem Leben ‒, in gewisser Hinsicht sicher nicht, in gewisser Hinsicht schon. Wir wissen es nicht, es ist völlig verborgen.

Das zum Leben kommen ist völlig verborgen, warum soll denn das Sterben nicht völlig verborgen sein?

Wir wissen nicht, wann ein Mensch völlig lebendig wird und wir wissen nicht, wann der Mensch stirbt. Und meine persönliche Ansicht ‒ ich würde fast schon sagen: Überzeugung ‒ ist, dass wir genau an dem Punkt sterben, wo wir völlig lebendig werden.

(13:02) Das ist irgendwo ein ganz versteckter Punkt in unserem Leben ‒ wir wissen‘s vielleicht selber nicht ‒, aber, wenn wir einmal wirklich lebendig geworden sind, von da an ist nichts mehr übrig, als dass das Äußerliche sich dann zur Ruhe legt irgendwie. Und das ist mit allen von uns so.

Daher kann man auch von einem Leben, das so dramatisch und so plötzlich endet, nicht sagen, dass dieser letzte Sprung oder dieser letzte Tag oder diese letzte Woche das Ende dieses Lebens waren. Das kann irgendwann zur Fülle gekommen sein und schon zum Tod vor Jahren! Das wissen wir nicht, das ist völlig verborgen.

Und dann ‒ das ist auch nur so eine Anregung, einfach mein Denken und mein Fühlen und meine Überzeugung, aber keineswegs irgendwie dogmatisch ‒, können wir uns wieder fragen, wenn wir den Tod ernst nehmen:

(14:04) Wie ist das überhaupt mit der Zeit und dem nach dem Tode?

Was ist nach dem Tode? Und ich würde vorschlagen, dass wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, wie wir ihn ernst nehmen sollten ‒ schon als Christen sollten wir den Tod sehr ernst nehmen, denn Tod und Auferstehung hängen innigst zusammen, und wenn man den Tod nicht ernst nimmt, kann man die Auferstehung nicht ernst nehmen. ‒

Ich würde sagen, wir sollten sehr vorsichtig sein, von irgendetwas nach dem Tod zu sprechen. Denn, wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, so kommt der Tod dann, wenn meine Zeit um ist. Und wenn meine Zeit um ist, dann ist irgendeine andere Zeit für mich uninteressant. Das geht mich weiter nichts mehr an.

Und wenn meine Zeit um ist ‒ wenn sie wirklich um ist, das hängt damit zusammen, den Tod ernst nehmen ‒, dann ist nach dem Tod nichts. Das heißt natürlich nicht, dass ich einfach sage: Mit dem Tod ist alles aus.

Ich glaube, dass viele Menschen heute nur dann ernstlich über das sprechen können, was über den Tod hinausgeht, wenn sie es auch ernst nehmen, dass nach dem Tod ‒ und ich betone das Wort nach, das mit der Zeit zu tun hat ‒, dass nach dem Tod nichts mehr ist, weil nach dem Tod keine Zeit mehr ist.

Was kann dann nach dem Tod sein? Nichts nach dem Tod, für mich gilt nicht ‹nach dem Tod›, aber wir drücken uns halt so ungeschickt aus, weil wir betonen wollen, dass wir ein Leben kennen, das über den Tod hinausgeht. Nicht zeitlich nachher, sondern über den Tod hinausgeht. Und das kann nur ewiges Leben  sein, das kann nur Ewigkeit sein.

Das Einzige, das über Zeit hinausgeht, ist Ewigkeit.

Darum betone ich das so, denn wenn wir da nicht vorsichtig sind, wird plötzlich aus der Ewigkeit eine lange, lange, lange Zeit. Wir müssen da schon ehrlich mit uns selber sein: Wer von uns würde nach dem Tod eine lange, lange, lange Zeit weiterleben wollen? Noch so glücklich irgendwo. Es ist ein untragbarer Gedanke, dass die Zeit ewig weitergeht, ununterbrochen weiter, es ist den meisten Menschen ein völlig unerträglicher Gedanke. Und es ist eine große Erleichterung, wenn man sich sagen kann:

‹Meine Zeit wird einmal um sein.›

Und dann kann man erst überhaupt anfangen, wirklich aufzuatmen und das Leben zu leben, das gar nicht von der Zeit gefangen ist. Denn eine Zeit, die auch nach dem Tod nur so in ein Tunnel hineingeht und auf der andern Seite wieder herauskommt und die Minuten reihen sich weiter an für Millionen Jahre und Milliarden Jahre und dann noch Milliarden Jahre, so wie man sich Ewigkeit vorstellt, wäre ja unerträglich, menschlich gesprochen.

Aber wenn wir sehen: Die Zeit ist aus! Gott sei Dank! Besonders, wenn es uns schlecht geht, kann das ein sehr hilfreicher Gedanke sein, und wenn es uns gut geht auch. Das wird auch vergehen. Dann kosten wir es erst so richtig aus. Und dann stoßen wir vor in den Bereich, in den wir als Menschen eigentlich vorstoßen sollten, und das ist der Bereich der Ewigkeit.

(17:43) Und Ewigkeit ‒ das haben wir immer schon gewusst und hätten es schon immer wissen sollen aus unserem Religionsunterricht ‒, ist nicht eine lange, lange Zeit, sondern die Seinsweise Gottes, oder wie der hl. Augustinus es sagt: Das ‹Nunc stans›:[1] das Jetzt, das nicht vergeht, das Jetzt, das stehen bleibt, das besteht. Und wir kennen dieses Jetzt, wir kennen diese Ewigkeit jetzt schon. Das steht hinter Goethes «Faust»,

‹zum Augenblicke möchte ich sagen:
Verweile doch du bist so schön.›
[2]

Wir brauchen das dem Augenblick gar nicht sagen, denn Augenblick, der wirklich dieser Augenblick ist, der so schön ist, in dem erleben wir schon etwas, was einfach über die Zeit hinausgeht. Und wir wissen das alle, ich appelliere da nur an Euer eigenes Erleben: Wir haben alle Augenblicke erlebt, die vielleicht nur Bruchteile von Sekunden waren und uns vorgekommen sind wie Stunden oder Tage oder Jahre, und wir haben lange Zeitstriche erlebt vielleicht, unter Umständen Stunden sogar, die wie ein Augenblick vorbeigegangen sind. In diesen Momenten stehen wir über der Zeit, hat Zeit keine Bedeutung mehr. In diesen Augenblicken wissen wir auch zugleich, dass der Tod uns überhaupt nichts anhaben kann, wir sind über den Tod erhaben, sind völlig ausgesöhnt mit dem Tod. Wir denken manchmal, hier in einer solchen Situation sollte man sterben, so jetzt wäre ich bereit zu sterben, denken wir in dieser Lage.

Aber wenn wir in diesem Jetzt, das nicht vergeht, in das wir hineinreichen als Menschen, wenn wir in der Zeit stehen, aber wir sind nicht in der Zeit: wir gehen nicht in der Zeit auf. Wenn wir in dieses Jetzt hineinreichen und hineinwachsen, immer mehr uns darin zu Hause fühlen: Immer wieder beten die Kirchengebete ‒ wenn man das römische Missale anschaut ‒, immer wieder erinnern sie daran, dass wir in der Ewigkeit verankert sein sollen, dass wir dort unsere wahren Freuden haben, sie sollen uns nicht vergehen. Das ist dieser Bereich, das ist nicht später ‒ so eine Art geistliches Sparbuch, in das man so Einlagen macht und dann, wenn man stirbt, kriegt man sie wieder heraus. Dass wir jetzt hier und jetzt schon dort verankert sind, wo die ewigen Freuden sind.

Und wenn wir so leben, dann werden wir viel lebendiger. Dann macht der Tod uns lebendig. Und das steht ja auch hinter dem ‹Memento mori›, das man auf den Sonnenuhren sieht, und manchmal steht dort auch: ‹Memento vivere›, ganz das gleiche: An den Tod sollen wir uns nur deswegen erinnern, weil uns das viel lebendiger macht und weil es uns endlich zeigt, weil es uns endlich dazu aufweckt, so zu leben, wie wir wirklich leben wollen, wenn wir nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung haben. Und wir haben eine begrenzte Zeit zur Verfügung.

Dann könnte man noch sehen, wenn wir den Tod so ernst nehmen, dann haben auch unsere Leiden, unsere Freuden, unsere Lebensumstände, die Wahlen die wir treffen, die Entscheidungen, die wir treffen, ganz eine andere Bedeutung, denn sonst stellen wir uns das nur so vor ‒ ein bisschen karikiert ‒, aber wir denken, das Leben ist so eine Art Wartezimmer, wo man so wartet, oder wenigstens so wie zu Weihnachten, wo die Kinder draußen warten müssen bis das Glöckerl leutet und dann die Tür aufgeht und da ist der Christbaum. So stellt man sich das häufig vor: wir warten so da herum und dann, wenn die Tür aufgeht, sehen alle den gleichen Christbaum. Aber um Gottes Willen, warum müssen wir dann so schreckliche Dinge durchmachen: ich so, du was ganz anderes, ein Dritter wieder ganz etwas anderes: Warum müssen wir so verschiedene Leben erleiden, wenn wir dann alle zu dem gleichen Christbaum gehen?

Wir schaffen sozusagen das Fenster, durch das wir die Visio Beatifica haben werden. In Zusammenarbeit mit Gott schaffen wir jetzt den bestimmten Gesichtspunkt, in dem wir Gott sehen werden. Sonst ist es ja nur eine Quälerei dieses ganze Leben. Aber wenn mein Leben so sein muss, weil ich dann erst zu dem Menschen werde, der Gott so verstehen kann auf eine ganz einzigartige Weise, dann hat es Sinn und auch Sinn, dass wir sagen:

‹O Gott, du bist  m e i n  Gott› (Psalm 63,2) ganz persönlich.

(23:00) Vielleicht noch einmal zusammenfassend:

Also wenn wir den Tod wirklich ernst nehmen, wird uns zunächst bewusst, dass wir wirklich den Tod wählen und wir erkennen sogar, wenn wir aufmerksam sind, dass unser ganzes Leben sich eigentlich, schon lange vor dem endgültigen Tod, immer wieder durch ein Sterben in größeres Leben verwandelt. Wir kommen immer wieder zu einem Engpass, wo wir sagen müssen, so geht’s nicht weiter, das bringt mich noch um, sagen wir. Es bringt einen auch um. Wir kommen öfters in Gelegenheiten, die einen wirklich umbringen. Und wenn wir dann sterben: in demselben Augenblick, in dem uns etwas umbringt, sehen wir, dass wir auf der anderen Seite herauskommen, viel lebendiger.

Aber auch: Ich fürchte viele von uns sind manchmal durch Situationen hindurchgegangen, wo uns etwas umgebracht hat, und wir sind nicht gestorben. Und da haben wir noch so in unserer Vergangenheit diese nur toten und nicht wieder lebendig gewordenen, nicht auferstandenen Teile von unserem Leben, und solang wir noch in dieser Zeit sind, haben wir die Gelegenheit, durch Erinnerung diese toten Teile unseres Lebens in die Gegenwart zu bringen und jetzt zu sterben. Damals konnten wir nicht. Jetzt sterbe ich dafür. Das heißt:

‹Ich gebe mich völlig dem hin.›

Und auf einmal wird auch der Teil wieder lebendig. Und das kann manchmal nach zwanzig oder dreißig oder noch mehr Jahren sein. Dass plötzlich etwas, was vorher nur tot war, wieder lebendig werden kann in unserem Leben.

Also wir dürfen es ernst nehmen, dass wir unsern Tod wählen. Und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder willentlich sterben, das heißt willentlich uns dem Leben hingeben, denn das Leben zielt immer wieder durch das Sterben auf größeres Leben hin.

Wir sehen dann, dass unsere Zeit begrenzt ist, und das kann auch wirklich eine Erleichterung sein, und zugleich kann es uns in eine ganz andere Dimension hineinführen, nämlich in die Dimension der Ewigkeit, die jetzt mitten in der Zeit anbricht:

Wenn wir mitten im Leben im Tod sind, dann sind wir auch mitten im Leben in der Ewigkeit.

Und dann: dass die Erinnerung an den Tod uns eben wirklich völlig lebendig macht, und dass wir durch unser Leben das Fenster oder die Linse, den Spiegel schaffen, in dem wir dann Gottes Antlitz sehen.

Denn jetzt leben wir in der Zeit, in der die Zukunft ununterbrochen die Vergangenheit auffrisst. Und was wir Gegenwart nennen, ist kaum ein dünner Saum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und solange es noch die kleinste Strecke von Zeit ist, kann man es immer noch in die Hälfte teilen, und die Hälfte davon ist nicht, weil sie nicht mehr ist, ist schon vergangen; die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist, in der Zukunft: diese Zukunft frisst ständig die Vergangenheit auf. Wo ist die Gegenwart?[3]

Die Gegenwart ist das Jetzt, für uns Menschen das Jetzt ‒ man kann sich fragen, ob Tiere überhaupt eine Gegenwart haben: das wissen wir nicht ‒, aber für unser menschliches Bewusstsein ist die Gegenwart das Jetzt, das nicht in der Zeit ist. Es ragt aus der Zeit heraus ‒ in der Zeit ist nur Vergangenheit und Zukunft. Aber wir kennen die Gegenwart: Wir kennen sie als das Jetzt, das ist Ewigkeit, das ist Gottes Leben: Das, was für uns Zeit ist, ist für Gott Ewigkeit:

‹das Jetzt, das nicht vergeht›.

(27:21) Und jedes Jetzt unseres Lebens ist uns gleich nahe. Wenn wir an ein Jetzt denken vor fünfzehn, zwanzig Jahren und an ein Jetzt von Gestern: die sind uns nur in Hinblick auf die Zeit, irgendwie geschichtlich weiter entfernt, aber in unserem Erleben ‒, wenn wir uns an ein Kindheitserlebnis erinnern, ist es ganz frisch da, wie wenn es jetzt wäre ‒, es ist auch jetzt: Alles, was wir wirklich in unserer Erinnerung haben, ist jetzt, und daher kann man sagen, dass in dem Augenblick, wo für mich die Zeit zu Ende ist ‒ so definiere ich den Tod: die Zeit ist um ‒, wenn meine Zeit um ist, in dem Augenblick brauche ich mich um Zeit nicht mehr zu kümmern, und alles, was ich habe, ist Ewigkeit: Jedes Jetzt meines Lebens ist gegenwärtig.

Und da brauche ich dann nicht den Kopf zu zerbrechen: Werde ich dann in der Ewigkeit alt sein oder jung oder mittelalterlich oder wann wars am besten oder was suchen wir da aus und so: Alles auf einmal! Das Jetzt, das ganze Leben jetzt. Und in diesem Leben sehen wir die Gegenwart Gottes. Denn das macht ja unser Jetzt immer wieder aus.

Und in diesem Jetzt haben wir dann alle die andern, die in irgendeiner Weise zu unserem Leben gehört haben. Selbstverständlich nicht nur die andern Menschen! Da kommt diese ganze Frage: Werden wir unsere Hunde im Himmel wieder sehen oder unsere Katzen usw.? Wenn man das so anpackt, wie das bisher angepackt wurde: Ja, haben die eine unsterbliche Seele, haben die keine unsterbliche Seele? ‒ Das ist mein Hund und  i c h  habe eine unsterbliche Seele: Wenn ich in den Himmel komme und der Hund nicht dort ist, dann gehe ich wieder! Der Hund ist dort ‒ selbstverständlich ‒, er ist ja ein Teil meines Lebens.

Und alle andern Menschen, denen ich je begegnet bin, und so Menschen, die man nur einmal, so episodenhaft gesehen hat … und da kann man sich dann ausdenken: Was wäre gewesen, wenn wir uns besser kennengelernt hätten? Das ist jetzt alles möglich, und nachdem alles mit allem zusammenhängt ‒ das wissen wir auch in diesem Leben schon ‒, reicht unsere Ewigkeit in jeder Richtung auf das Ganze. In diesem Ganzen sind wir ein kleiner Punkt, der sozusagen das Ganze beinhaltet, und jeder kleine Punkt beinhaltet das Ganze und in dieser unglaublichen Facette spiegelt sich die Gegenwart Gottes.

Und so hängen wir dann auch wieder mit Theresia zusammen und jeder von uns auf ganz verschiedene Weise dadurch, dass wir sie auf ganz verschiedene Weise gekannt haben, aber sie gehört zu unserem Leben. Und zu unserer Ewigkeit.

Also jedenfalls, das sind so ein paar Punkte …, aber wenn ihr etwas von ihr erzählen wollt, vielleicht auch Begegnungen oder so oder irgendwelche Fragen, die durch meine Vorschläge angeregt wurden, wäre es eure Gelegenheit, das weiterzuspinnen.

[Transkription des Vortrags Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)]

[Ergänzend:

1. «Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe» (Otto Mauer):

Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription, 8 und Reifen: Ergänzend 2.:

«Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.

Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒, die Liebe ist das Entscheidende.

Ein großer Denker ‒ Otto Mauer ‒, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:

‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.

Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.»

Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag:
‹Memento mori› ‒ ‹Memento vivere›:
(16:02) ‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›, wie Otto Mauer Thornton Wilders Roman ‹Die Brücke von San Luis Rey› zusammenfasst
(45:48) Gespräch: Was, wenn die Liebe nicht ausgereift ist? Reinkarnation und Fegefeuer

Audio Fragen, die uns bewegen (2005), abgedruckt im kleinen Buch Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 25f.:

«Und dann kommen wir gegen Abend, in der Lebensreife, im Herbst jeden Jahres immer wieder zu der Frage: ‹Woran reifen wir?› Es gibt nichts Traurigeres als ein unausgereiftes menschliches Leben. Und darum nichts Traurigeres als den Tod eines jungen Menschen. Ich muss an den Tod dieser unzähligen jungen Menschen denken, die jetzt im Krieg sterben. Da kann ich mich nur darüber hinwegtrösten, indem ich an ein Buch von Thornton Wilder denke, das vielleicht viele von Ihnen kennen, ‹The Bridge of San Luis Rey›.

Es erzählt von einem Franziskaner, einem Missionar, der im 18.Jahrhundert in Peru zu einer Seilbrücke kommt, die schon Hunderte von Jahren gehalten hat. Doch gerade in dem Augenblick, wo er auf die Brücke gehen will, bricht sie zusammen und reißt fünf Menschen in den Abgrund. Und er stellt sich jetzt die Frage: ‹Warum gerade diese fünf?› Der Missionar geht dem Lebenslauf dieser fünf Menschen nach und kommt am Ende des Buches zu dem Schluss:

‹Man stirbt nicht am Tod, man stirbt an der ausgereiften Liebe.›

Und die Liebe kann schon sehr früh ausreifen. Die Kirschen reifen schon im Juni, die Trauben erst im Oktober. Wir wissen es nicht. Von außen kann man es nicht sehen. Wenn junge Menschen sterben, dürfen wir hoffen, dass ihre Liebe ausgereift war. Ja, wir können dessen eigentlich sicher sein.»

2. Den Tod ernst nehmen und umdenken:

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe:

(27:21) «Wir sind mit Ewigkeit als Menschen ebenso vertraut wie mit Zeit. Denn wir wissen, was ‹Sein› heißt und was ‹Ist› heißt, in dem Rilke Gedicht:

«Du sagtest  l e b e n  laut und  s t e r b e n  leise
und wiederholtest immer wieder:  S e i n!»
[4]

Wir wissen, was ‹Sein› heißt. Aber ‹Sein› findet man nicht in der Zeit. In der Zeit ist immer nur ‹war› und ‹wird sein›. Und was war, ist nicht, denn es ist nicht mehr, und was sein wird, ist nicht, denn es ist noch nicht. Und was ist, muss im Jetzt sein: Jetzt, hier, aber dieses Jetzt lässt sich immer noch in die Hälfte teilen, und die Hälfte von Jetzt ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist. ‒ Solange es noch eine Strecke von Zeit ist, lässt es sich teilen: Das Jetzt ist nicht in der Zeit. In der Zeit frisst die Vergangenheit nahtlos die Zukunft auf, und wir wissen, was Jetzt ist, weil wir aus der Zeit herausragen. Wir ‹ex-istieren›, das heißt, wir ragen heraus aus der Zeit in das Jetzt, das  i s t.[5]

Und Augustinus definiert die Ewigkeit ‒ soweit man das Definition nennen kann ‒, in wunderbarem Latein, zwei Wörter nur: ‹Nunc stans›: das Jetzt, das steht, das Jetzt, das nicht vergeht.[6] Das ist die Ewigkeit: Das Jetzt, das  i s t  ohne zu vergehen. Das ist Gottes Ewigkeit.

(29:30) Wir ragen also als Menschen aus der Zeit in Gottes Ewigkeit hinein. Wir kennen beides. Und darum leben wir schon jetzt ewiges Leben. Besonders in den Augenblicken, in denen wir völlig lebendig sind, ragen wir in diese zeitlose Ewigkeit hinein. Und wenn wir wirklich gegenwärtig sind, wenn wir nicht so halb schon uns selbst voraus sind und halb hinten nachhängen, weil wir uns an etwas klammern, was nicht mehr besteht und halb uns hinausstrecken: Wenn wir wirklich gegenwärtig sind, dann ragen wir in dieses Jetzt hinein, das Bestand hat und nicht vergehen kann.

Und das ist jetzt einfach meine Vorstellung ‒ Vorstellung ist vielleicht auch schon zu viel gesagt ‒, aber meine Annäherung an was ewiges Leben und Auferstehung von den Toten bedeuten kann, wenn es nicht ein Herauskriechen aus dem Grab ist, und dann geht alles wieder so weiter wie vorher. Das kann man heute nicht mehr so denken. … Wir müssen das irgendwie umdenken. Und ein Weg das umzudenken ist folgender:

(30:56) Ich weiß, was  i s t  heißt, ich weiß, was  s e i n  heißt, finde es aber eigentlich nicht in der Zeit. In der Zeit findet man nur immer ‹wird sein› und ‹war›. Aber ich kenne es doch, weil ich aus der Zeit herausrage. Und wirklich mich im Sein zu verwurzeln wird mir dadurch verhindert, dass ich in der Zeit stehe. Ich kenne das Sein, ich kenne das Ist, ich kenne das Unvergängliche, aber ich bin auch in die Zeit eingetaucht wie in einen Strom, es fließt immer, ich habe keine feste Stelle in der Zeit.

Aber ich weiß, dass früher oder später meine Zeit um sein wird. In diesem Sinn ist es notwendig, dass wir das Sterben, den Tod wirklich ernst nehmen:

Wenn ich sterben muss, ist meine Zeit um. Daher hat es keinen Sinn, von dem zu sprechen, was ‹nach› dem Tod kommt. Wenn es wirklich Tod heißt, kommt nichts nachher. Denn wenn der Tod das Ende der Zeit ist, dann kann nachher nichts mehr kommen.

Es braucht aber gar nichts nachher zu kommen. Denn, was  i s t, ist immer schon da. Und das kann eine ungeheure Befreiung sein! Ich weiß nicht, ob ihr es nachvollziehen könnt, für mich ist es eine ungeheure Befreiung.

Denn wenn ich mir vorstellen müsste, dass die Zeit immer weiter geht, immer, immer weiter, immer weiter, immer weiter, das wäre Hölle, das Entsetzlichste, was man sich vorstellen kann.

Wir sind jetzt glücklich, wenn wir  s i n d, nicht, wenn wir immer gehetzt werden zwischen ‹wird sein› und ‹war›. In unsern glücklichsten, besten Augenblicken, wo wir wirklich lebendig sind, da  s i n d  wir.

(32:57) Und jetzt stelle ich mir das so vor, dass in dem Augenblick, in dem ich endlich weiß: Jetzt ist meine Zeit um, alles, was übrig bleibt, ist mein ganzes Leben, alles von meinem Leben, das  i s t. Das ist jetzt alles gegenwärtig. Denn wir wissen ja schon jetzt, dass ‒ wenn wir uns an etwas erinnern, was 20 Jahre zurückliegt, 30, 40, 50 Jahre zurückliegt ‒, solang wir uns erinnern können ‒ wenn es ein wirklich lebendiger Augenblick war, in dem wir voll gegenwärtig waren ‒, so ist uns das heute genauso nah, wie es morgen sein wird und gestern war: Wir haben diesen Zugang zu dem, was  i s t.

Das Einzige, was uns daran hindert, in dem Bereich wirklich zu leben, ganz da zu sein, ist, dass jetzt schon wieder ein nächster Augenblick kommt und ein nächster Augenblick. Wenn jetzt diese Augenblicke aufhören ‒ die Zeit ist vorbei für mich ‒, dann bin ich da, mit einem Seufzer der Erleichterung  b i n  ich.

(34:02) Wenn wir es uns so vorstellen können ‒ ich möchte es niemandem aufdrängen ‒, aber wenn wir das so sehen, dann schließt das andere Einsichten ein: Zum Beispiel so viele, viele Fragen, die die Kinder haben ‒ die Kinder haben immer die besten Fragen über Tod und Leben, weil sie sich noch trauen und diese existentiellen Fragen haben, so Fragen wie: Werden wir dann alle wieder beisammen sein? Das ist überhaupt keine Frage.

Natürlich werden wir alle wieder beisammen sein, das ist ja mein Leben. Mein Leben ist das Zusammensein, ich werde alle die Menschen sehen.

Frage: Werden die Tiere auferstehen? Dann kommt man mit der Seele der Tiere, die haben keine unsterbliche Seele. Das hat ja damit überhaupt nichts zu tun. Wenn das mein Tier war und ich lebe, dann lebt dieses Tier. Selbstverständlich ist der Himmel voll mit Haustieren und allen übrigen Tieren, die wir kennen. Die gehören ja zu unserem Leben. Wir brauchen ja gar nicht zu fragen, ob diese Katze das dann weiß, dass sie lebt. Das muss man Gott überlassen und der Katze. Für mich wäre das ja gar kein Himmel ohne die Katze und die Kinder wissen das vollkommen. Aber man muss vorstellungsmäßig dem gerecht werden.»

(35:53) «Wenn wir umdenken, dann ‹haben› wir plötzlich die Visio beatifica, die Schau Gottes, d u r c h  unser Leben.

Und man kann sich wieder fragen: Warum hat jeder so ein verschiedenes Leben, um alle dann den gleichen Himmel zu haben?

Wir haben ‒ jeder ‒ ein verschiedenes Leben, um den gleichen Himmel durch so viele verschiedene Weisen zu sehen. Wir sehen den Himmel durch das Fenster, das unser Leben ist. Wir sehen die Ewigkeit ‒ Gottes Gegenwart, die wir auch schon hier beginnen sollen zu erleben ‒, sehen wir dann dort, wenn die Zeit uns nicht mehr ablenkt, völlig gegenwärtig.»]

________________

[1] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben, Anm. 8, und Fragen des Lebens, Anm. 2

[2] Faust zu Mephistoteles in Goethes ‹Faust. Der Tragödie erster Teil›:

‹Und Schlag auf Schlag!
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!›

[3] Siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3. und Jetzt und ewiges Leben: 3.3.

[4] Bruder David spricht das Gedicht von Rilke aus dem Stundenbuch ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› im Audio
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 4 ‒ Nachmittag:
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
(04:33) ‹Der Tod ist groß›: Sterben in jedem Augenblick ‒ der Tod, die Frucht des Lebens ‒ den eigenen Tod sterben: Bruder David liest Gedichte und Verse aus dem Stundenbuch von R. M. Rilke

[5] Siehe auch Anm. 3

[6] Siehe auch Anm. 1


Quellenangaben

Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Barbara Krähmer

Morgens, mittags und abends erinnert das Angelusläuten vom Kirchturm die Gläubigen an die Botschaft, die der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria brachte, und an ihre Antwort, wie wir sie im Evangelium nach Lukas (1,26-38) lesen.

«Angelus» heißt (nach seinem ersten Wort im lateinischen Text) dieses täglich dreimal wiederholte Gebet. Es stellt gewissermaßen die christliche Parallele dar zu den durch Gebet geheiligten Zeiten im Islam und in anderen Traditionen.

An den drei Wendezeiten des Tages ‒ wenn die Nacht dem Tag weicht, wenn die Sonne sich am Mittag vom Aufstieg zum Abstieg wendet, und wenn der Tag sich abends neigt ‒ feiert das Angelusgebet den Einbruch des ewigen Jetzt in die Zeit und erinnert uns daran, in diesem Jetzt zu leben.

Die traditionelle Form dieses Gebetes ist einfach. Eine Abfolge der gleichen drei Verse zu jeder Tagzeit bildet sein Herzstück.

«Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geist.»

Dieser erste Vers bietet ‒ vorausschauend ‒ eine Zusammenfassung dessen, worum es geht. Der zweite zitiert aus dem Evangelium (Lk 1,38), wie um uns einzuladen, selber mit Maria zu sprechen:

«Siehe, ich bin eine Magd des Herrn, mir geschehe nach Deinem Wort.»

Und der dritte Vers ‒ er stammt aus dem Prolog zum Johannesevangelium (Joh 1,14) ‒ will anzeigen, was sich damals ereignete und immer noch ereignet, wenn wir selber wie Maria das Wort Gottes mit offenem Herzen empfangen:

«Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt»

hat (richtiger) «unter uns Wohnung genommen», wohnt also heute wie damals unter uns.

Diese drei Verse sind miteinander verwoben durch ein dreimal wiederholtes Ave Maria, ein kurzes Gebet, das auch zum Großteil aus Worten des Verkündigungsengels an Maria besteht.

Von Kindheit auf habe ich den Angelus gebetet und kann bezeugen, dass er Kraft hat, dem Tagesablauf Form und Halt zu geben. Dreimal am Tag ruft uns dieses Gebet, inmitten aller Eile und Geschäftigkeit der Zeit, zurück ins zeitlose Jetzt.

Wann sollte denn das Wort Fleisch werden, wenn nicht jetzt?

Wie sollte das geschehen, wenn nicht dadurch, dass ich mich empfänglich öffne für den Heiligen Geist?

Was aber könnte mein Leben mächtiger verändern und dadurch auch meine Umwelt? Beim Angelus-Glockenläuten fließt der Mythos der Jungfrauengeburt[1] durch das Ritual des Angelus-Gebetes als lebensspendende Kraft in unser tägliches Leben ein.

Zu beten, nicht nur wenn es uns danach zumute ist, sondern wenn es Zeit ist ‒ und die Glocken  erinnern uns daran ‒, das hilft uns, unser Leben auf den großen kosmischen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten einzustimmen. Es «erdet» und verankert uns sozusagen in jener größeren kosmischen Wirklichkeit, die unsere verschwindend kleine Existenz hält und trägt.

Und Du? Nimmst Du Dir manchmal Zeit, zu unterbrechen, was immer Du tust und tief zu atmen? Die Welt braucht unser bewusstes Bemühen, immer wieder aus der Zeit ins Jetzt zurück zu kommen und uns in jungfräulicher Empfänglichkeit dem Heiligen Geist zu öffnen.[2]

Durch den Glauben sind wir selber mitten in der Zeit dennoch in dem Jetzt verankert das über die Zeit hinausragt. Das gibt uns festen Halt im Auf und Ab unseres Bemühens, für Gottes Liebe Zeugnis abzulegen.[3]

Wenn Gott den Spatzen nicht vergisst, dann kann sein kurzes Zwitscherleben niemals verlorengehen. Nur in der Zeit kann etwas enden. Wenn aber die Zeit selbst längst nicht mehr ist, bleibt alles, was aus der Zeitperspektive so flüchtig erschien ‒ jedes Spatzentschilpen ‒, taufrisch aufgehoben in Gottes ewigem Jetzt.

Das Jetzt ist über die Zeit erhaben, wir erleben es aber in der Zeit ‒ Augenblick um Augenblick ‒ sozusagen «gebrochen», wie das farblose Licht, wenn es uns ‒ Farbe um Farbe ‒ aufleuchtet.

Darin liegt viel Trost für alle, die über einen Todesfall trauern, denn im ewigen Jetzt dürfen wir ja unsere Freunde, unsere Verwandten und unsere lieben Tiere wiederfinden ‒ allerdings auch alle, mit denen wir uns jetzt in der Zeit streiten; es ist also keine schlechte Idee, uns jetzt schon auszusöhnen.[4]

So ruft auch in meiner Erinnerung Auferstehung des Fleisches Augenblicke wach, in denen meine Lebendigkeit so intensiv wurde, dass sie plötzlich Zeit und Vergänglichkeit überragte und im ewigen Jetzt ‒ wenn auch nur flüchtig ‒ an Unvergänglichkeit streifte.

Ich schließe meine Augen und öffne sie innerlich. Jetzt grünt um mich ein Sommermorgen in den Ost-Tiroler Alpen. Von der blühenden Bergwiese, zu der mich ein Fußpfad heraufführte, geht es fast senkrecht hinunter zum Sommerheim der Wiener Sängerknaben, bei denen ich Präfekt bin. Mit offenen Augen ist das «damals in meinen Studententagen», in der Erinnerung aber ist es jetzt.

Auch damals war es ja jetzt; und jetzt ist immer jetzt.

Das Jetzt lässt sich nicht vervielfachen; es ragt über die Zeit hinaus.

Nur wir verfangen uns immer wieder in der Illusion von Zeit.

Manchmal aber scheint es uns, dass die Zeit still steht, weil wir einen Augenblick lang ganz im Jetzt sind ‒ und so in der Ewigkeit, dem ‹Jetzt, das nicht vergeht›.

(In meiner Erinnerung ist das so ein Augenblick:) Tief unter mir probt der Chor, und durch die große Stille steigt Ton um Ton silberklar zu mir empor ‒ da Vittorias (c 1548-1611) Motette «Duo Seraphim».

Wovon der Text spricht, wird jetzt hier Wirklichkeit: Von Anbetung hingerissen, rufen zwei flammen-geflügelte Engel einander zu: «Heilig, heilig heilig!»

Das ist zugleich meine eigene innerlichste Stimme, die da singt; und nichts sonst ist von Bedeutung, als dieses unerschöpfliche «Heilig, heilig, heilig!» im ewigen Jetzt.

Ein zweites solches Erlebnis fällt mir ein, weil es auch mit Musik verbunden ist, und auch auf die Auferstehung des Fleisches Licht wirft. In der Zeit spielt es sich ein paar Jahre später ab, in der bleibenden Wirklichkeit aber ist es jetzt.

Wieder bin ich Präfekt bei einem Knabenchor, diesmal in Florida. Es ist der Abend vor den langen Ferien. Die meisten der jungen Sänger sind schon auf der Heimreise. Einer steht noch beim Klavier und singt Händels Arie «O hätt’ ich Jubals Harf’ und Miriams süßen Ton» ‒ wohl zum letzten Mal, denn er steht kurz vor dem Stimmbruch und wird nicht zum Chor zurückkehren.

Selbst unter all diesen ausgewählten Knabenstimmen ist sein Alt von einzigartiger Schönheit. Wie bernsteinfarbener Honig fließt das Abendlicht schräg durch die hohen Bogenfenster des halbdunklen Raumes und scheint in dieser Altstimme Klang zu werden.

Jetzt muss ich eine blitzschnelle Entscheidung treffen. Neben mir steht das Gerät, das mir erlaubt, diese Stimme auf einem Tonband zu «verewigen». Soll ich die Taste drücken? Fast schon strecke ich die Hand aus, aber etwas in mir sagt ein klares «Nein!» Dieser Augenblick ist  ja schon ewig.

Erinnerungen verblassen und verlöschen. Wenn aber meine Zeit um ist, wird das Jetzt jenes Tiroler Sommermorgens, das Jetzt jenes Abends in Florida, wird jedes Jetzt meines Lebens lebendige Gegenwart sein.

Nichts geht verloren, so flüchtig es erscheinen mag, denn «Alles ist immer jetzt».[5]

Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches und das schließt natürlich auch die Toten ein ‒ weil alles Vergängliche unvergänglich aufgehoben ist im Jetzt, das nicht vergeht.

Es muss nicht wiedergebracht werden aus dem Staub, wie die Leiber der Verstorbenen auf mittelalterlichen Bildern vom jüngsten Gericht. Es ist ja mit dem auferstandenen Christus «in Gott verborgen» (Kol 3,3), gegenwärtig.

Darum vertraue ich, dass wir unsere Lieben mit jeder Sommersprosse und mit jedem Grübchen in der uns so lieben Wange «wiedersehen» werden, wenn wir «Gott schauen». «Gib mir Liebende», sagt Augustinus, «denn die wissen, was ich meine». Das kann auch ich hier sagen.

Vielleicht bist Du schon alt genug, um Fotos von Verwandten und Freunden zu besitzen, die Du von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod kanntest.

Dann schließt Deine Liebe doch das Nackerpatzerl (liebevolle österreichische Ausdrucksweise für kleines nacktes Kind) in der Badewanne ebenso ein wie den zahnlückigen Volksschüler, den ruppigen Buben auf dem Fahrrad, den zum Abschluss-Ball geschniegelten Maturanten, das junge Ehepaar, und so Bild um Bild bis zum letzten matten Lächeln.

In welchem der Bilder siehst Du den von Dir geliebten Menschen? Nicht doch in jedem? Musst Du wählen?

Dieses Jetzt des Lebens ist gegenwärtig im «Jetzt, das nicht vergeht», das heißt in der Ewigkeit.

«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren», schrieb Rilke.

«Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»

(«Inständig sammeln wir den Honig des Sichtbaren, um ihn anzuhäufen in der großen goldenen Wabe des Unsichtbaren.»[6])

Unsichtbar heißt hier: dem Bereich der Sinne entzogen. Sommermorgen und Winterabend, das «Heilig, heilig, heilig!» der Seraphim und «Miriams süßer Ton» sind nicht nur physiologisch gespeichert in meinem zur Verwesung bestimmten Gehirn.

Sie sind meinem über Zeit und Raum erhabenen Selbst mit der Glut des Geistes eingebrannt. Wenn einst der Wassertropfen meines Lebens ins Meer zurückkehrt, wird er nach dieser Musik schmecken, und das Meer wird diesen Geschmack unverlierbar enthalten.[7]

Manchmal in unserem Leben, und gerade wenn wir bis in die tiefsten Schichten unseres Seins wach und lebendig sind, können wir eine Art Zeitlosigkeit erfahren.

Minuten oder sogar Stunden können uns in diesem Bewusstseinszustand wie ein einziger Augenblick erscheinen.

Die Uhren ticken weiter, aber für uns steht die Zeit still.

Solche Augenblicke liefern den Erfahrungsinhalt für den Begriff von Ewigkeit.

In elegantem Latein definiert Augustinus Ewigkeit als «nunc stans»: Das «Jetzt», das nicht vergeht, weil es jenseits aller Zeit «steht».[8]

Ewigkeit hebt die Zeit auf. Danach sehnt sich das menschliche Herz.

Wie Goethes Faust wollen wir alle zum Augenblick sagen: «Verweile doch, du bist so schön!» Oder wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) es ausdrückte: «… alle Lust will Ewigkeit ‒, will tiefe, tiefe Ewigkeit!»

Unser ganzes Wesen sehnt sich nach Befreiung von einer Zeit, die alles Gegenwärtige ununterbrochen zur Vergangenheit abbaut, so wie das Meer die Sandburgen, die wir als Kinder bauten, am nächsten Morgen immer wieder eingeebnet hatte. Mit unserem ganzen Leben geht es uns so:

«Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfäIlt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.»
[9]

Der Gegenpol zu solchem Zerfall ist aber nicht einfach Bestand; damit blieben wir ja immer noch im Bereich von Zeit.

Was wir als Ewigkeit erahnen, ist nicht statisch, sondern im höchsten Grad dynamisch. Es ist jene von Zeit befreite Lebendigkeit, nach der sich alles in uns sehnt ‒ Ewiges Leben also.

Weil die uns hie und da flüchtig geschenkte Erfahrung davon weit über unsere jetzige Begrenztheit hinausgeht, schreiben wir sie dem göttlichen Leben zu, dem Heiligen Geist.

Je besser wir lernen im Jetzt zu leben, umso lebendiger werden wir. Das kann jeder Mensch durch eigene Erfahrung überprüfen. Auf Grund dieser Erfahrung vertrauen wir im Glauben, dass wir, wenn unser zeitliches Leben um ist, in Gottes ewiges Leben eingehen werden mit jener Lebendigkeit, die jetzt schon unsere eigentliche ist.

Tief innerlich verstehen wir, was Rilke meint, wenn er sagt:

«Mit kleinen Schritten gehen die Uhren neben unserem eigentlichen Tag.»[10]

Wer bekennt: Ich glaube an das ewige Leben, der verlegt das Schwergewicht seines Lebens auf das Jetzt, in dem die Zeit aufgehoben ist.

Von dieser Mitte her können wir «in Fülle» leben, weil Zeit für uns auf eine höhere Ebene hinaufgehoben ist. Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. Das Jetzt in der Zeit gibt uns ja Zugang zum Jetzt, das über Zeit erhaben ist.

Wir dürfen darauf vertrauen, dass alles, was schön und gut und echt ist an der Zeit, aufgehoben und geborgen ist im ewigen Jetzt; mit jeder für uns bedeutsamen Einzelheit ist es liebend aufbewahrt dort, wo wir letztlich zuhause sind ‒ in Gott.

Weil wir an das ewige Leben glauben, dürfen wir das Leben hier ‒ wo immer wir sind ‒ im großen Jetzt, das die Zeit aufhebt, feiern.[11]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4, 7, 10f.)

[Ergänzend:

1. Filme

1.1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
(08:35) «Das JETZT ist nicht ein kleiner Teil der Zeit, sondern richtig verstanden ist das JETZT die Ewigkeit, also Nicht-Zeit ‒ das Gegenteil von Zeit, denn es geht über die Zeit hinaus. Es ist falsch zu sagen, das JETZT ist in der Zeit. Es ist richtiger zu sagen, die Zeit ist im JETZT»

1.2. Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.›

2. Audios

2.1. Vertrauen in das Leben (2014)
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde› – Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)

2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Gespräch:

(06:23) Ein bayerischer Biergarten im Himmel: Das Jetzt ist nicht in der Zeit ‒ die Zeit ist im Jetzt

2.3. Die Weisheit, die alle verbindet (2010)
Gespräch:
(11:56) Im Jetzt leben ‒ ‹All is always now› (T. S. Eliot)‚ ‹Nunc stans›: das Jetzt, das nicht vergeht (Augustinus) / (14:04) Warum gib es überhaupt Zeit? Bruder David zu Zeit und die Gelegenheit, Jetzt und Sterben, Tod / (15:44) Wie viele Gelegenheiten hast du verpasst in deinem Leben? ‹Was immer wir wählen, wird uns geschenkt, und was wir zurückweisen, wird uns am Ende auch geschenkt› (Tania Blixen [Isak Dinesen]: ‹Babettes Fest›)

2.4. Wähle das Leben (1992)
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(17:35) ‹Nunc stans› – Ankommen in der Ewigkeit

(26:02) Wenn jedes Jetzt meines Lebens gegenwärtig ist / (28:44) Nicht ohne meinen Hund

2.5. «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 61f.; siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3.:

(11:07) «Im tiefsten fragt unser Herz das, von Anfang an:  W e r  b i n  i c h? ‒ Was bedeutet aber diese Frage? Die Betonung müsste da auf dem ‹b i n› liegen.
Ich muss mit dieser Spannung leben, dass ich der bin der dieses ‹bin› nie in der Zeit findet und es doch in der Zeit verwirklichen muss.»

2.6. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(39:47) Im Jetzt leben: Deshalb das Desinteresse der jüdischen Propheten an Themen, die in den Religionen ihrer Nachbarvölker einen zentralen Platz einnehmen. ‒ «Von einem einzigen Punkt aus, wenn ich wirklich da bin, habe ich zu allem Zugang»: Br. David ermutigt zum wissenden Nichtwissen

3. Weitere Texte

3.1. Zeit der großen Glocken

3.2. Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 1.3. Audio und 2. Sext ‒ INBRUNST UND HINGABE, 94f.

3.3. Orientierung finden (2021): ‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.:

«Wir stellen uns typisch die Zeit als eine Linie vor, auf der das Jetzt der kurze Abschnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. Aber wie kurz dieser Abschnitt auch sein mag, wir können ihn in die Hälfte teilen. Dann ist die eine Hälfte  n i c h t, weil sie vergangen, also nicht mehr ist; die andre Hälfte ist auch  n i c h t, weil sie zukünftig, also noch nicht ist. Wir können diesen Teilungsprozess ad infinitum fortsetzen. Es zeigt sich also, dass dieses Jetzt, mit dem wir doch so vertraut sind, gar nicht in der Zeit ist. Im Gegenteil, wir sind berechtigt zu sagen: Die Zeit ist im Jetzt.

Alle Vergangenheit war ja einmal jetzt, und wenn die Zukunft kommt, wird sie jetzt sein.

‹Alles ist immer jetzt›, sagt T. S. Eliot ‒ ‹all is always now›.

Nur was jetzt ist, ist, sonst war es oder es wird erst sein, ist also nicht.

Wie erstaunlich: Mitten in der Vergänglichkeit erleben wir etwas, das Dauer hat ‒ das Jetzt. Johann Gottfried Herder (I744-1803) schrieb:

Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
und schwinden wir,
und messen unsre trägen Tritte
nach Raum und Zeit;
und sind (und wissen's nicht) in Mitte
der Ewigkeit.

Das Jetzt ist ‹der Schnittpunkt des Zeitlosen mit der Zeit› (T. S. Eliot) ‒ der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.

Ewigkeit ist ja nicht eine endlos lange Zeit, sondern der Gegenpol zu Zeit, ‹das beständige Jetzt›, das ‹nunc stans›, wie Augustinus Ewigkeit definiert. Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit.

Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.

Außen stehst du mitten in der Zeit; innen in dir aber ist die ‹Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst›, wie Rilke in der ‹Elegie an Marina› schreibt.

Und für T. S. Eliot ist das Jetzt ‹der Augenblick in und außerhalb der Zeit› ‒ die Ewigkeit inmitten der Zeit.

Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit. Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt leben. Nur dann bin ich ‹Ich-Selbst

3.4. Credo (2015): ‹gestorben›, 128f.:

«Meine Generation im Wien jener Zeit wuchs in Todesnähe heran. Über unseren Teenager-Jahren hingen die Gewitterwolken des Zweiten Weltkriegs, und täglich schlugen Blitze ein. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen ist mir meine Jugend als eine Zeit strahlender Lebensfreude in Erinnerung. Bombenangriffe töteten täglich Unzählige; unsere etwas älteren Freunde fielen einer nach dem andern, an der Front; wir selber konnten an keine Zukunft denken. ‒

Dann war der Krieg plötzlich zu Ende, und ich wurde mir bewusst, dass ein Leben vor mir lag. Das kam wie ein Schock.

Da erinnerte ich mich an eine Mahnung aus der Regel des hl. Benedikt ‹Den Tod allzeit vor Augen haben!› und es war mir auf einmal klar: Mit diesem Bewusstsein sind wir ja aufgewachsen!

Zugleich sah ich aber ein, dass wir gerade deshalb so intensiv gelebt hatten. Wir mussten immer im Augenblick leben, und das ist ja der Schlüssel zur Lebensfreude. Es ist auch der springende Punkt im Mönchsleben.

Die Mönche der verschiedensten Religionen ‒ das sollte ich später erfahren ‒ sind sich darin einig dass alles darauf ankommt, im Jetzt zu leben.

Um die Lebensfreude, mit der ich aufgewachsen war, nicht versickern zu lassen, wurde ich schließlich selber Mönch. Und ich muss gestehen ich würde es wieder tun.

Auch das Mahnwort ‹memento mori› ‒ ‹Denk an das Sterben› ‒, das oft auf klösterlichen Sonnenuhren zu lesen ist, zielt auf das Im-Jetzt-leben ab.

Darum findet man nicht selten auch die Version ‹vergiss nicht zu leben!› Dies ist ja gemeint mit dem ‹Vergiss das Sterben nicht›. Also: ‹Carpe diem!› Nütze jeden Augenblick! Ein ‹guter Tod› ist ja die Frucht eines vollen Lebens. Diese Frucht reift mit jedem Atemzug; wenn wir rückhaltlos leben, dürfen hoffen, dass sie mit unserem letzten Atemzug ausgereift sein wird.»

3.5. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 89-91:

«Das Jetzt ist ein ganz geheimnisvolles Geschenk.

Wir meinen, das Jetzt sei diese kleine und kleinste Strecke auf dieser Linie der Zeit, die aus der Vergangenheit kommt und in die Zukunft geht: Links ist die Vergangenheit, die ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und rechts ist die Zukunft, die ist noch nicht, also auch nicht.

T.S. Eliot: ‹All is always now›im Jetzt,

und das ist nicht diese winzig kleine Strecke dazwischen.

Solange es eine Strecke ist, können wir sie in die Hälfte teilen und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist, und wenn jemand sagt: ‚Das ist Haarspalterei!‘ Stimmt! Aber solange es ein Haar ist, kann man es spalten. (Gelächter). ‒

Und wir kommen zu der Einsicht, dass das Jetzt gar nicht in der Zeit ist, im Gegenteil: Die Zeit ist im Jetzt.

Wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern, sind wir im Jetzt in der Vergangenheit.

Wir können uns nicht an die Vergangenheit erinnern und in der Vergangenheit sein.

Die ganze Vergangenheit ist eingeheimst in das Jetzt.

Und wenn wir an die Zukunft denken, ist sie auch Jetzt und wenn die Zukunft kommt, wird sie Jetzt sein:

‹All is always now› — ‹Alles ist immer Jetzt›.

Und die Zeit ist einfach eine Ausdrucksweise dieses übervollen Jetzt, das uns nicht nur diese eine Gelegenheit geben will, sondern die vielen Gelegenheiten.

E s  teilt aus, es schenkt und schenkt und schenkt eine Gelegenheit nach der andern: Das ist das Jetzt.

Das Jetzt ist das Geheimnis, das Jetzt ist auch die Ewigkeit.

Das ist ja die Definition von Ewigkeit in der westlichen Tradition: ‹Nunc stans›, ‹Stehendes Jetzt›: Sehr elegant auf Lateinisch, nur zwei Wörter: nunc heißt jetzt und stans: es bleibt stehen.

Das Jetzt, das nicht vergeht.

Das ist die Ewigkeit, Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit.

Dieses Jetzt ist nicht nur das Jetzt des sich Freuens, sondern auch das Jetzt des Ringens, des Sturmes, – nicht nur das Bauen, sondern auch das Ringen ist das Tun.»]

 ___________________

[1] Credo (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 94:

«Die dichterische Vorstellungskraft der frühen Christen sah im Jungfrauenschoß, aus dem der neue Adam geboren wird, ein Spiegelbild der jungfräulichen Erde, aus welcher der alte Adam im Paradies geformt wurde. In beiden Bildern bedeutet Jungfräulichkeit einen taufrischen Neubeginn. So wie ein Skifahrer durch ‹jungfräulichen› Pulverschnee die erste Spur zieht, so bahnt Jesus einen ganz neuen Weg zu Gott. Das ist die entscheidende Aussage dieses Glaubenssatzes.»

[2] Credo (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 99f. und 101

[3] Credo (2015): ‹Am dritten Tage auferstanden von den Toten›, 155

[4] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 212

[5] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Ergänzend: 3.3. und in Stillehalten

[6] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105f.

[7] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 217-220; siehe auch Seele

[8] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›.

[9] R. M. Rilke, 8. Duineser Elegie

[10] Credo (2015): ‹Das ewige Leben›, 223f.; R. M. Rilke: ‹Heil dem Geist, der uns verbinden mag›,
das vollständige Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 96f.

[11] Credo (2015): ‹Das ewige Leben›, 222f.



Quellenangaben

Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Barbara Krähmer

Ego ist das lateinische Wort für «lch», aber wir werden es mit einer negativen Bedeutung verwenden, weil wir ein Wort brauchen für eine Fehlform des Ich. Auch im oft gebrauchten Wort «egoistisch» ist Ego negativ belastet. Das «lch» wird zum Ego durch einen Prozess des Vergessens. Je mehr ich mein Selbst vergesse, das mich mit allen andren verbindet, desto einsamer und ganz auf mich allein gestellt muss ich mich fühlen. Mein «Ich-Selbst» schrumpft mehr und mehr zum Ego zusammen, bis ich mein Selbst fast völlig vergessen habe. Ganz vergessen können wir es nie.

Im Europakloster spielen wir Mönche einmal im Monat nach dem Sonntagsgottesdienst für die Kinder Kasperltheater. Da kann es vorkommen, dass einer der Brüder mit einer Hand das Krokodil spielt, mit der andren die vom Krokodil bedrohte Prinzessin. Wenn wir uns in die Prinzessin hineindenken, wird es uns gewiss Zuversicht schenken, das zu wissen. Wir werden zwar Angst haben vor dem Krokodil, werden aber dem Puppenspieler vertrauen, der uns beide spielt. Aber eine Puppe, die den Puppenspieler vergisst, muss sich als eine leere Haut fühlen, umgeben von unzähligen andren, von denen einige alles andre als freundlich zu sein scheinen. Sie wird also Angst bekommen. Wenn wir vergessen, dass das eine Selbst uns innerlich verbindet, ist Angst fast unvermeidlich. Das Ego sträubt sich voller Furcht gegen diese Angst. Furcht aber ist die Ursache für alles, was im Welttheater schiefgeht.

Furcht macht das Ego aggressiv. Dann sucht es Sicherheit, indem es Macht über andre zu erlangen sucht; danach strebt, sich über alle andren hochzuarbeiten, andre zu unterdrücken und sie auszunutzen. Auch wird das Ego ein Gefühl des Mangels nicht los. Aus Furcht, dass nicht genug für alle da ist, wird das Ego gierig, geizig und neidisch. Es hat seine Einbettung in ein größeres Ganzes verloren und ist zum Mittelpunkt geworden, um den sich nun all sein Denken und Streben dreht. Es verstrickt sich immer mehr in eine von Furcht getriebene Gesellschaft, in der Ego auf Ego prallt, eine Gesellschaft ‒ leider unsre eigene! ‒ gekennzeichnet durch Machthunger, Gewalttätigkeit, Gier und Ausbeutung, und all das aus Furcht!

Wie kann das Ego aus dieser Verirrung und Verstrickung heimfinden in die rechte Beziehung zum Selbst? Die Antwort liegt auf der Hand: Aus Vergesslichkeit und Furcht hat es sich verirrt, durch das Gegenteil ‒ also durch Achtsamkeit und Vertrauen ‒ kann es den Heimweg finden.

Auch das zum Ego gewordene Ich kann ja das Selbst nie ganz vergessen. Es kann also umkehren und heimkehren. Im innersten Herzen des Egos schläft sie nur, die Erinnerung an das Selbst.

Wir können zusammenfassen: Das Ego ist nichts andres als das Ich, aber ein krankes Ich, zusammengeschrumpft, weil es sein weites, allumfassendes Selbst aus dem Bewusstsein verloren hat. Daher hat es auch seine Verbundenheit mit allen andren vergessen und alle echten Beziehungen verloren. Nur durch Beziehungen aber finden wir Sinn und Orientierung im Leben. Und alle Beziehungen beginnen mit der Beziehung zum Du.

[Orientierung finden (2021): ‹Das Ego ‒ wenn das Ich das Selbst vergisst›, 24f.]

[Ergänzend:

1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:

(20:10) «Wie schaut die Welt des Selbst aus?

(23:29) Wir leben in einer Gesellschaft, die eben durch das Ego geprägt ist, und die daher eine Art Pyramide ist. Der Stärkste ‒ zugleich auch wahrscheinlich der, der am meisten Furcht hat, das macht ihn so aggressiv ‒, ich sage ihn, das ist eine sehr männliche Haltung, aber es kann auch Frauen passieren:

Wer am meisten Angst hat, der kommt am höchsten hinauf, weil er die Andern am stärksten tritt. Und da baut sich diese Pyramide auf und jeder ‒ auf jeder Schicht ‒, buckelt nach oben und tritt nach unten, wie ein Radfahrer. So baut sich diese Machtpyramide auf. Das Gegenteil ist eine Welt, nicht der Pyramide, sondern der Vernetzung.

(26:47) «An dem Beispiel der Flüchtlinge und der Flüchtlingskrise, in der wir leben, zeigt sich eigentlich recht schön, wie das im Praktischen ausschaut:

Es heißt noch nicht: ‹Ich weiß schon, was man da machen muss ‒, ich habe schon alles ausgedacht› ‒ ‹Keine Ahnung, ich habe sogar Angst, dass mir gar nichts einfallen wird. Aber ich vertraue, ich sträube mich nicht. Diese Situation ist gegeben. Ich baue keine Zäune, das ist das Sträuben. Ich setze mich damit auseinander und gemeinsam werden wir irgendeine Lösung finden.›

Man braucht noch nicht das Rezept zu haben, man muss nur die Haltung haben, aus der sich früher oder später die Lösung entwickelt. Vielleicht ganz ohne Rezept sich einfach entwickelt, weil man gewisse Grundsätze, zum Beispiel Ehrfurcht vor dem Andern: Das ist ja nicht nur Nummer 50364 von den Flüchtlingen, das ist ein Mensch mit einem ganz eigenen Schicksal ‒, dem trete ich ehrfürchtig entgegen und versuche gemeinsam:

‹Was können wir da machen›? Und wenn genügend Leute fragen: ‹Was können wir da machen?› ‒ das ist schon ein Weg auf eine Lösung hin, wenn genügend Leute fragen.

… Aber das Gegenteil ist, zu sagen: ‹Abschließen, Mauern, Zäune, niemanden mehr hereinlassen› …

Das ist ganz ein anderer Ansatz. Und dieser kreative Ansatz entspringt dem Bewusstsein: Wir sind ein Selbst, das viele, viele verschiedene Rollen spielt, aber es ist das eine Selbst und es wird schon etwas herauskommen, wenn wir unsere Rolle gut spielen: Der Flüchtling spielt die Flüchtlingsrolle, der Helfer spielt die Helferrolle. Der Zuschauer spielt die Zuschauerrolle. Wir müssen unsere Rollen gut spielen.»

2. Audios

2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 3 Vormittag:
‹Das Ego ‒ die Fehlform des Ich› (Bruder David)

2.2. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe
Transkription S. 16 und 28:
(28:55) Das Ego: wenn das Ich sich fürchtet und gewalttätig wird
(42:53) Gespräch: Warum fallen wir immer wieder ins Ego?

2.3. Das glauben wir ‒ Spiritualität in unserer Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Ich ‒ Selbst ‒ Liebe ‒ Ego

2.4. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription:

(26:44) Warum ist das Ego aber schlecht, was ist das Problem, wenn man vergisst, dass wir alle eins sind? Darum geht’s ja: Wenn man das Selbst vergisst, hat man vergessen, dass wir alle eins sind. Warum ist das so problematisch?

2.5. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Gespräch:
(03:16) Wenn das Ich das Selbst vergisst

3. Weitere Texte

3.1. Machtpyramide und Netzwerke; Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität

3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 112-115:

«Wenn das ICH jetzt plötzlich das SELBST vergisst, wird es zum EGO.

Das ICH schrumpft ein, es schrumpft zusammen und fürchtet sich. Das ist das Erste. Wenn wir uns fürchten, werden wir aggressiv. Aggression, Gewalttätigkeit kommt immer von Furcht.

Das nächste ist: Wir wollen weiter hinaufkommen: kompetitiv, Wettbewerb um jeden Preis, höherkommen wie die anderen, es sind ja so viele, vielleicht steigen die auf mich drauf, da steig ich lieber auf sie drauf. Und dann der Gedanke, da ist ja nicht genug für uns alle: Wir werden neidisch und geizig, wollen mehr und mehr.

Und das sind alles die Charakteristiken, die unsere Welt, Kulturwelt, die wir geschaffen haben, charakterisieren: Gewalttätigkeit, Wettbewerb und Geiz und Neid und in allen spirituellen Traditionen aus der Erfahrung aus dem SELBST heraus wird eine Welt vorgestellt und erhofft, wo Frieden ist, nicht Gewalttätigkeit, nicht Aggression, Zusammenarbeit statt Wettbewerb und Teilen.»]


Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Georg Stahl

Jeder von uns weiß es aus eigener Erfahrung, kann es zumindest selbst nachprüfen. «Erkenne dich selbst!» stand über dem Eingang des Apollotempels in Delphi, aber nicht nur die alten Griechen sahen darin den Schlüssel zur tiefsten Einsicht. Sobald ein Mensch zu Selbstbewusstsein erwacht, steht er vor der Herausforderung zur Selbsterkenntnis.

Und schon bei den ersten Schritten auf dem Weg der Selbst-Erkundung stoßen wir auf den Unterschied zwischen dem Bewusstsein, das wir beobachten, und dem höheren, größeren Bewusstsein, das beobachtet.

Ein Nach-innen-Schauen kann uns zeigen, wie sehr wir uns meist mit dem Ego identifizieren, das wir beobachten können; es ist uns aber auch möglich zu lernen, mehr und mehr daheim zu sein im Beobachter selbst, in unserem wahren Selbst.

In dem Ausmaß, in dem uns das gelingt, wird das Ego aufgehoben ‒ aufgehoben in der dreifachen Bedeutung dieses Wortes:

Unser Selbst-Verständnis wird auf eine höhere Ebene des Bewusstseins hinaufgehoben; unsere Selbst-Identifizierung mit dem Ego, unserer äußeren «Maske», wird für ungültig erklärt, aber das, worum es uns eigentlich geht, unsere Selbst-Wertschätzung, wird unverlierbar bewahrt.

Wir können es auch so sagen: Selbstbeobachtung / Selbstreflexion, Selbsterkenntnis zeigt uns, wie sehr wir im Ego verstrickt sind. Wir sind nicht einmal imstande, dem Sturzbach unserer Gedanken Einhalt zu gebieten. Nur selten denken wir; meist denkt es uns. Nur selten gebrauchen wir unser Denken als Werkzeug, das uns gehorcht; meist werden wir einfach mitgerissen vom Strudel der Gedanken und Geschichtchen, durch die unser Ego die Illusion seiner Eigenständigkeit aufrechterhält.

Wir können aber lernen, dem ein Ende zu machen, indem wir im Jetzt leben; die Gedanken sind nämlich immer mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigt.

Wer im Jetzt des Augenblicks lebt, findet da den Beobachter der Gedanken, sein wahres Selbst.

Klassische Statuen haben typischerweise ein Standbein und ein Spielbein. Rufen wir uns zum Beispiel Michelangelos David in Erinnerung. Sein rechtes Bein trägt ihn, sein linkes schwingt fast tänzerisch aus. Anfänger in der Selbsterkenntnis stehen mit ihrem Standbein fest im Ego. Die Aufgabe besteht darin, unser Schwergewicht zu verlagern, bis unser Schwerpunkt im großen Selbst liegt ‒ in unserer Buddha-Natur würden Buddhisten sagen.

Andere Traditionen drücken das Heimfinden zum wahren Selbst anders aus.

Christen werden etwa mit Paulus sagen:

«Ich lebe, doch jetzt nicht ich, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20) ‒ was Paulus da meint, ist das eine, uns allen eigene Selbst, das uns zu Menschen macht.

Dieses unser wahres Selbst kann lächeln über die Kniffe, durch die das Ego sich zu verewigen sucht; es ist ja eins mit allen; was soll es da fürchten?[1]

Es hat grenzenloses Vertrauen; das heißt, es glaubt, im tiefsten Sinn des Wortes.

Darum heißt es [im Glaubensbekenntnis] auch nicht «wir glauben», sondern ‒ die Verwirklichung vorwegnehmend ‒ «ich»: der Mensch schlechthin, das eine allumfassende Selbst, ‒ «Purusha» in der Hindu-Mythologie, oder etwa «I’itoi» in der Mythologie der Tohono O’Odham in Arizona; der kosmische Christus, der hier im Christen das erste Wort des Glaubensbekenntnisses spricht, das Wort, in dem alles Weitere zusammengefasst und schon vorweggenommen ist.

Welchen Namen wir ihm auch geben wollen, dieses von Natur aus gläubige Selbst in uns zu finden, ist uns möglich, ja, es ist das Ziel aller spirituellen Übungen.[2]

Das Jetzt ist «der Schnittpunkt des Zeitlosen mit der Zeit» (T. S. Eliot) ‒ der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.[3] Ewigkeit ist ja nicht eine endlos lange Zeit, sondern der Gegenpol zu Zeit, «das beständige Jetzt», das «nunc stans», wie Augustinus Ewigkeit definiert.[4]

Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit. Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.

Außen stehst du mitten in der Zeit; innen in dir aber ist die «Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst», wie Rilke in der «Elegie an Marina» schreibt.[5]

Und für T. S. Eliot ist das Jetzt «der Augenblick in und ausserhalb der Zeit» ‒ die Ewigkeit inmitten der Zeit.[6]

Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit.

Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt zu leben. Nur dann bin ich «Ich-Selbst».

Dann werde ich aus einem Ego, das sich in Vergangenheit und Zukunft verstrickt hat, wieder zum «Ich-Selbst».

Darum ist es so wichtig zu lernen, bewusst in diesem Doppelbereich zuhause zu sein.

Schon «Erkenne dich selbst!» ist eine Aufgabe, die wir nur im Jetzt lösen können. Und die Herausforderung «Werde, wer du bist!» verlangt, dass wir ein Leben lang lernen, im Jetzt zu leben.[7]

Nun spielt sich das aber nicht so schlagartig ab, sondern es ist wie eine Skala, eine lange fließende Skala, und auf der einen Seite wird’s mehr und mehr Ego und auf der anderen Seite wird’s mehr und mehr «Selbst». Und wenn wir uns unsere Bekannten und Verwandten anschauen, dann sehen wir, dass manche mehr auf der Ego-Seite sind und andere mehr auf der Selbst-Seite sind und gewöhnlich die Menschen, die wir besonders bewundern, die sind so durchleuchtend für das Selbst, dass das Ich schon fast verschwindet, es wird so ganz durchscheinend. Und beim Ego ist das Ich recht handfest.[8]

Öfter als früher denke ich über meine Ahnen nach, versuche sie mir vorzustellen, weit zurück. Meine rechte Handfläche zeigt eine Kontraktur der Bindegewebe,[9] die mich nicht stört, aber daran erinnert, dass ich sie vielleicht von Wikinger-Vorfahren geerbt habe. Welche Raubüberfälle da in meiner Vorgeschichte liegen könnten oder welche Pogrome, bei denen vielleicht meine aristokratischen Vorfahren in Polen meine chassidisch-jüdischen niedermetzelten. Wie kam es dazu, dass sie dann doch zusammenflossen in meiner Person? [10]

Das Wort «Person» kommt aus dem Bühnenwortschatz der Römer und bedeutete die «Rolle», die «Maske», welche die Stimme des Schauspielers durchtönen lässt (per = durch, sonat = tönt).

Welche Zufälle mögen mitgespielt haben, damit mir die Rolle zufiel, die ich jetzt spiele? Ja, im Bild des Rollenspiels kann ich mir die Beziehung zwischen meinem Ich im Fluss der Zeit und meinem überzeitlichen Selbst vorstellen.

Die ganze unabsehbare Vergangenheit hat die Rolle bestimmt, die mir jetzt aufgegeben ist. Wie vieles war schon bei meiner Geburt festgelegt ‒ mein Geschlecht, meine Hautfarbe, die Familie und Kultur, in die ich hineingeboren wurde, Tausende andere unabänderliche Gegebenheiten.

Am 1. Sonntag im Monat spielen im Europakloster die Brüder nach dem Kindergottesdienst Kasperltheater. Ein und derselbe Bruder kann da etwa mit der rechten Hand den Seppl spielen und mit der linken das Krokodil. So spielt auch das eine große Selbst unzählige Rollen. So spielt mein eigenes Selbst, das daheim ist im großen Selbst, die Rolle, die mir zugefallen ist.

Selbst und Ich sind eins im Spielen; ich kann sie unterscheiden, aber nicht trennen.

Was heißt es, frage ich mich, meine Rolle «gut» zu spielen? Die Antwort muss wohl lauten: gut zu spielen heißt, mit Liebe zu spielen ‒ ein Ja zu grenzenloser Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen. Wenn das Ich dieses Ja verweigert, gibt ihm das Selbst trotzdem Kraft zu spielen, aber dann spielt das Ich «schlecht».[11]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 7f., 11)

[Ergänzend: Wir im Spannungsfeld von ‹Ich glaube› und Ego

1. Anfangs- und Schlussakkord und des Buches Credo (2015): ‹Ich glaube›, 18f. und ‹Amen›, 229; siehe auch Glaube:

«‹Ich glaube›: Was heißt das eigentlich?

Nur in der Zusammensetzung ‹Ich glaube› enthüllt jedes dieser beiden Wörter seine volle Bedeutung: Glauben ist für das Ich, um das es hier geht, unendlich mehr als ein Für-wahr-halten; und nur das Ich, das in diesem Vollsinn glaubt, ist unser wahres menschliches Selbst.

Das kleine Ich ‒ unser Ego, das letztlich aus einer Täuschung entspringt ‒ kann bestenfalls etwas als tatsächlich anerkennen; glauben kann es nicht.

Und warum nicht? Weil der Glaube nicht eine Ansammlung von Behauptungen ist, die ein gläubiger Mensch für wahr hält; der Glaube ist vielmehr tiefstes, wagemutiges Vertrauen.

Sein Gegenteil ist nicht Zweifel, sondern Furchtsamkeit.

Angst und Furchtsamkeit aber sind das Lebenselement des Ego, das der Selbsttäuschung des Abgetrenntseins vom Ganzen sein Scheindasein verdankt. Kein Wunder, dass es in seiner Vereinzelung den Rest der Welt als drohend und beängstigend erlebt.

Unser wahres Ich ist im Ganzen des Seins eingebettet ‒ wovor soll es da Angst haben?

Wenn wir also sagen ‹Ich glaube› und beiden Wörtern ihre volle Bedeutung geben, treten wir damit in die Größe und Tiefe wahren Menschseins ein.

Wir können das zur Verdeutlichung etwas dramatisch ausmalen:

Da tritt ein Menschlein in ein Kirchlein ‒ alles recht zahm und alltäglich, bis es zum Credo kommt und zum ‹ich glaube›.

Für Augen, die sehen könnten, was sich da in Wirklichkeit ereignet, flögen plötzlich Dach und Kirchturm davon, die Mauern würden zerstieben, Raum und Zeit wären nicht mehr. Es betet jetzt das eine, allumfassende menschliche Ich im ewigen Jetzt.

Das Ich, das sagen kann ‹ich glaube› und es im Vollsinn sagen kann, ist unser wahres Ich, das eine echte, allen Menschen gemeinsam eigene Selbst.»

«AMEN zu sagen heißt, sich auf Gottes Verlässlichkeit zu verlassen.[12] So fasst das AMEN am Schluss des Glaubensbekenntnisses noch einmal zusammen, was glauben heißt: Unser Herz vertrauensvoll auf Gott zu setzen und dementsprechend zu leben. Nicht, als ob Gottes Vertrauenswürdigkeit überhaupt in Frage gestellt werden könnte. Nur das, was uns so verlässlich erscheint, dass wir uns vorbehaltslos darauf verlassen können, verdient ja Gott zu heißen. In dem Ausdruck ‹uns verlassen› schwingt die Vorstellung mit, dass wir unser kleines Selbst zurücklassen und uns vertrauend auf etwas Größeres hinbewegen. Diese innere Bewegung haben wir schon mit dem ersten Wort des Glaubensbekenntnisses begonnen. ‹Ich glaube› heißt genau das gleiche wie ‹ich verlasse mich›. Und mit AMEN schließt sich nun der Kreis.»

2. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch› (Bruder David)
:
(08:17) Es war noch nie jemand da wie du, um einen Ton der Rühmung zu singen / (10:52) Das Selbst ist über Raum und Zeit erhaben ‒ Die Balance Ich und Selbst in spirituellen Übungen und Gipfelerlebnissen / (13:57) Ganz im Jetzt sein / (18:15) Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch ‒ Immer wieder ins Jetzt kommen: das Kernanliegen aller spirituellen Wege
(27:54) Sich auf das große Geheimnis verlassen heißt glauben
(38:11) Das Selbst spielt in jedem Ich eine einzigartige Rolle ‒ der Vergleich mit dem Kasperltheater

3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(00:00) Glaube ‒ sich verlassen auf die Verlässlichkeit Gottes

4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 109-115:

«Und das Ego vergisst eben, dass es ja nur ein Spiel ist. Alles was wir hier aufführen ist ein Spiel.

Ein Spiel dieses Selbst.

Es kann auch eine Tragödie sein, es kann auch sehr schön sein.

Wir sind Schauspieler sozusagen.

Uns ist ein Drehbuch mitgegeben bei der Empfängnis.

Und wir haben keine Ahnung für gewöhnlich, wenn wir nicht beginnen darüber nachzudenken, wie detailliert dieses Drehbuch ist: Dass wir überhaupt hier geboren sind, zu dieser Zeit, von diesen Eltern, mit diesen Begabungen, mit diesen Krankheiten oder was immer: Fehlern.

Das ist schon so ein Drehbuch und wie kann man das gut spielen?

Indem man diese Rolle gut spielt.

Und gut spielt man sie, solange man sich erinnert: Das ist mir aufgegeben! Das ist meine Aufgabe. Ich selbst spiele das.

Wenn ich das Selbst vergesse, glaube ich, ich bin die Rolle. Ich verwechsle mich mit der Rolle.

Und eine Schauspielerin, die sich mit der Rolle verwechselt, spielt nicht gut.

Sie spielt nur gut, solange sie sich wirklich, sich völlig hineinlebt, aber immer noch weiß, wer sie ist. Dass sie nachher sich wieder abschminkt und nach Hause geht und sich duscht und dann in der Küche sich etwas richtet.

Aber wenn sie das vergisst, wenn sie glaubt, ich bin jetzt die Minna von Barnhelm, ist sie verrückt geworden. Und wir leben meistens verrückt! (Lachen im Saal). ‒

Wir identifizieren uns so mit unserer Rolle, dass wir gar nicht wissen, dass es nur eine Rolle ist.

Wenn wir sie gut gespielt haben, wenn es fertig ist: Wie ein Puppenspieler spielt das Selbst mit allen diesen Puppen, hat viele Hände ‒, nimmst dann die Puppe ab, legst sie weg, das Selbst bleibt.

Was wirklich innerhalb von mir gespielt hat, das war ja das Selbst.

Meine Rolle ist ja nur diese Puppe, die ich da anziehe.»]

________________________

[1] Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen … Reinkarnation:
(26:08) Wortwörtlich nehmen klammert sich ans kleine Ich entgegen der Intention des Buddhismus wie auch des Christentums: ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20)

[2] Credo (2015): ‹Ich glaube›, 19f.

[3] T. S. Eliot: ‹ But to apprehend the point of intersection of the timeless / With time …› (Four Quartets: The Dry Salvages, V);

siehe auch Stillehalten und Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription, 5:

(25:01) «T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.»

[4] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8

[5] R. M. Rilke: ‹Von der Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron); siehe auch Audio (39:16) ‹Schweigen› in Lebendige Spiritualität (2015)

[6] T. S. Eliot: ‹The moment in and out of time› (Four Quartets: The Dry Salvages, V); siehe auch Stillehalten

[7] Orientierung finden (2021): ‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.

[8] Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription

[9] Dupuytrensche Kontraktur. Das Hauptverbreitungsgebiet ist Haithabu, die Hauptstadt der Wikinger.

[10] Bruder David spricht über seine Vorfahren in ihrem Schloss in Maria Rast am Stein im Film Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab 04’:50.

[11] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich, 2006-2016›, 183f.

[12] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]; siehe auch Sinne und Kind werden, Anm. 8


Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Erich Baumgartner

In den persönlichen Erwägungen zum Glauben an «Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn» in seinem Buch Credo bezieht sich Bruder David auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889) in der Übertragung von Andreas Koziol.

Gerard Manley Hopkins (*28. Juli 1844 in Stratford bei London; † 8. Juni 1889 in Dublin) war ein britischer Lyriker und Jesuit, dessen Gedichte vor allem wegen der Lebendigkeit ihres Ausdrucks bewundert werden.[1]

In diesem Gedicht prägt der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache ‒ «to selve›, was man Deutsch mit «selbsten» wiedergeben kann. Etwas «selbstet», indem es durch sein Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede langezupfte Saite «selbstet» so durch ihren ganz eigenen Ton.[2]

«Wie Eis-Vögel entbrennen, Libellen-Flug sich anfacht;
Wie ein vom Brunnenrand gestürzter Stein erklingt;
Wie jede Saite, die man anschlägt, ihre Sage singt;
Wie jeder Glocke Zunge deren Erz bekanntmacht;
Tut jedes Ding, das sterblich, dieses eine einfach:
Es weist das Wesen, welches in ihm Wohnung nimmt
Als Selbst ‒ ‹ich selbst ward› spricht es vor sich hin;
Ruft: ‹Bin, was ich hier tu, und hierzu hergebracht›.

Ich sage mehr: dem Menschen ist Recht verbürgt,
Der Huld erhält: hält Huld sein Tun und Lassen;
Er führt vor Gott das auf, was Gott in ihm bewirkt ‒
Christus ‒ Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
Den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.»

«As kingfishers catch fire, dragonflies dráw fláme;
As tumbled over rim in roundy wells
Stones ring; like each tucked string tells, each hung bell's
Bow swung finds tongue to fling out broad its name;
Each mortal thing does one thing and the same:
Deals out that being indoors each one dwells;
Selves ‒ goes itself; myself it speaks and spells,
Crying Whát I do is me: for that I came.

I say móre: the just man justices;
Kéeps gráce: thát keeps all his goings graces;
Acts in God's eye what in God's eye he is ‒
Chríst ‒ for Christ plays in ten thousand places,
Lovely in limbs, and lovely in eyes not his
To the Father through the features of men‘s faces.»

(Eis-Vogel-Sonett von Gerard Manley Hopkins, 1844-1889)[3]

Die ersten drei Wörter ‒ «I c h  sage mehr» ‒ sind der Wendepunkt dieses Sonetts. Sie fassen alles zusammen, was seine ersten acht Zeilen über das Selbst sagten, und weisen auf das Wesentliche der abschließenden Zeilen hin:

Wo bisher Selbst im Mittelpunkt stand, tritt nun Recht an seine Stelle ‒ nicht aber in dem Sinne, den das Gerichtswesen dem Recht gibt, sondern in dem viel tiefer liegenden Sinn einer inneren Ausrichtung auf Gerechtigkeit.

Recht will hier nicht statisch, sondern dynamisch verstanden werden. Darum prägt der Dichter auch hier ein neues Wort ‒ «justicing» ‒, das zu «selbsten» die gesellschaftspolitische Parallele darstellt und soviel wie «Gerechtigkeit schaffen» bedeutet.

Um das Bewirken echter Gemeinschaft von innen her geht es hier. In gerechter Gemeinschaft besteht das «Mehr», das ich als Mensch sagen kann. Dadurch reicht mein Selbst über das aller anderen Daseinsstufen hinaus.

Jedes sterbliche Ding tut

… dieses einfach:
Es weist das Wesen, welches in ihm Wohnung nimmt
Als Selbst. …

«Ich aber» ‒ als Mensch ‒ «sage mehr: wer gerecht ist, wirkt Gerechtigkeit»,

wie eine wörtliche Wiedergabe der englischen Vorlage lautet.

Sam Keen, ein vielgelesener nordamerikanischer Autor, der sich vorbildlich für eine friedliche, gerechte Gesellschaft einsetzt, sagt mit Nachdruck:

«Ob es uns lieb ist oder nicht, wir gehören alle zu einer Gerechtigkeitsgemeinschaft im Werden.»

Klingt das nicht fast wie ein Kommentar zu Hopkins’ «Ich sage mehr»?

«Selbsten» zeitigt klare Selbst-Aussage jedes Einzelnen. Aber erst wenn wir die uns allen gemeinsame Christuswirklichkeit als unser eigentliches Selbst erkennen, entsteht Gerechtigkeitsgemeinschaft.

Als Glied dieser Gemeinschaft wird ein lebendiges Wesen mehr sagen als: «Ich selbst ward». Was hier ward, ist, «was Gott in ihm bewirkt ‒ Christus» ‒ der kosmische Christus, die innerste Wirklichkeit von allem, was es gibt.

Wo der Dichter hier «Christus» sagt, könnte er unmöglich Jesus  sagen. Selbst «Jesus Christus» würde nicht passen.

Es geht um die Christus-Wirklichkeit, an der jedes Selbst Anteil hat, und die darum als innerstes Aufbaugesetz wirkt für die ganze Gemeinschaft des Seins.

In Jesus, wie ‒ potentiell in jedem Menschen, hat Offenheit für das Christus-Selbst sein Ich unendlich erweitert. Das Selbst Jesu Christi fand Ausdruck in seinem Leben und Sterben für eine alles-einschließende Gerechtigkeitsgemeinschaft.[4]

Im Innersten weiß ich ‒ und das Leben zeigt es mir jeden Augenblick neu: Das Geheimnis «will etwas» ‒ es hat eine «Neigung».

«Der Bogen des moralischen Universums ist weit, aber er neigt sich Richtung Gerechtigkeit»,

sagte Martin Luther King, der bewundernswerte Blutzeuge für diese Gerechtigkeit. Meine tiefste Beziehung zum Geheimnis sagt mir, dass ich in dieses moralische Universum hineingestellt bin, um meinen Beitrag zu leisten ‒ um Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Dynamik des Seins zielt auf Gerechtigkeit ab. Diese Gerechtigkeit in unsren Beziehungen zur Mitwelt und zur Umwelt zu verwirklichen, das ist eine außerordentlich schwierige Herausforderung für uns Menschen. Sie erfordert, dass wir uns immer wieder von neuem am Leben in der Komplexität seiner Einzelheiten ausrichten. Bei dieser Aufgabe ist es hilfreich, wenigstens eine klare Orientierung zu haben ‒ Gerechtigkeit als das Ziel zu erkennen und zu wissen, dass das Geheimnis, das uns zuinnerst miteinander verbindet, uns dieses Ziel setzt. Inwiefern wir dieses Ziel erreichen, ist weniger wichtig, als dass wir mit brennendem Verlangen ununterbrochen danach streben.» [5]

Wie kannst Du, als Leser, das Sonett von G. M. Hopkins verbinden mit Deinem Ich-Bewusstsein, Deinem Selbst-Bewusstsein und Deinem Bewusstsein vom «Christus» in Dir selbst?

«Dem Menschen ist Recht verbürgt», sagt der Dichter. Was bedeutet für Dich persönlich diese tiefste innere Ausgerichtetheit des menschlichen Herzens auf Gerechtigkeit?

Wie siehst Du in diesem Licht das Recht aller auf Würdigung ihrer Person und Gleichberechtigung in der menschlichen Gesellschaft?

Wie setzt sich das um in Dein politisches Handeln? (Nicht handeln bedeutet hier auch handeln, denn es stützt den Status Quo.)

Für Jesus Christus war dies so wichtig, dass er schließlich für seinen gewaltfreien politischen Einsatz mit seinem Leben bezahlen musste.

Auf diese Art sagte Jesus «mehr» und führte vor Gott auf der Bühne dieser Welt das auf, was Gott in ihm bewirkte (und in uns allen bewirken will) ‒ «Christus».[6]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-6)

[Ergänzend:

1. Christus verschmilzt mit ‹Sophia›, der göttlichen Weisheit:

Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74f.:

«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.

Mit dem Bild, dass Christus ‹spielt›, greift Hopkins eine Vorstellung auf, die schon im Neuen Testament anklingt, wo Paulus und besonders Johannes Christus und  S o p h i a , die personifizierte göttliche Weisheit, ineinander verschmelzen. Sie greifen da auf eine der entzückendsten Bibelstellen zurück, in der Gottes Weisheit von sich spricht:

‹Die Ewige› schuf mich zu Beginn ihrer Wege,
als Erstes all ihrer Werke von jeher.
Gewoben wurde ich in der Vorzeit;
zu Urbeginn, vor dem Anfang der Welt.
Bevor es das Urmeer gab, wurde ich geboren.
Bevor die Quellen waren, von Wasser schwer.
Bevor die Berge verankert wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren.
Noch hatte sie weder Erde noch Felder erschaffen
oder den ersten Staub des Festlands.
Als sie den Himmel ausspannte, war ich dabei,
als sie den Erdkreis auf dem Urmeer absteckte,
als sie die Wolken oben befestigte,
als die Quellen des Urmeers kräftig waren,
als sie das Meer begrenzte, damit das Wasser ihren Befehl nicht überträte,
als sie die Fundamente der Erde einsenkte:
Da war ich der Liebling an ihrer Seite.
Die Freude war ich Tag für Tag und spielte die ganze Zeit vor ihr.
Ich spielte auf ihrer Erde und hatte meine Freude an den Menschen.»

(Buch der Sprüche 8,22-31, Bibel in gerechter Sprache, 2006)[7]

Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Audio Spiritualität und Ökologie; siehe auch im Buch
Erkenntnis (2023): Kapitel vier: Natur und Seele, 82-106, das auf dieser Gesprächsreihe basiert:

«Gott ist Weisheit. Weisheit ist Gott. Das eröffnet uns völlig neue Perspektiven. Wir können uns fragen, wohin es uns führt, wenn wir sie im Kosmos entdecken und betrachten, die heilige Weisheit namens sophia.

Für den heiligen Johannes war logos die richtige Übersetzung von sophia. Er bezieht sich dabei mehr auf die Weisheit Gottes im Alten Testament als auf Platons Logos-Philosophie beziehungsweise die griechische Philosophie im Allgemeinen, für die nur das Erklärbare Teil des Wissens sein kann.»

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(35:01) Zwei Blickrichtungen auf Jesus Christus: Er ist einer von uns, die Pointe seiner Gleichnisse, kein Prophet im eigentlichen Sinn und die spätere Deutung in der Logos-Sophia-Theologie (Joh 1)
(38:49) Jesus: Ganz der Vater (Joh 1,18; 10,30) ‒ ‹Die Weisheit hat ihr Haus gebaut› (Spr 8) ‒ ‹Und all denen, die an seinen Namen glauben, gab er Kraft, das zu werden, was er ist› (Joh 1,12)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen … Reinkarnation:
(26:08) Wortwörtlich nehmen klammert sich ans kleine Ich entgegen der Intention des Buddhismus wie auch des Christentums: ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20)

2. Christus-in-uns: unser ureigenstes gott-menschliches Selbst:

Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 75f. und 71:

«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.

Hopkins bereichert den Sinngehalt dieser Bilder noch, indem er betont, dass Christus/Sophia lieblich sei an Aug und Gliedern, die aber ‹nicht seine eigenen› seien ‒ der englische Text sagt ausdrücklich: ‹not his own› ‒ sondern dass diese Augen zu Gesichtern gehören, ‹die ihn menschlich fassen›, wie es in Koziols Übersetzung heißt. So wird Christus sichtbar ‹in Tausenden von Straßen›. Wo immer es Frauen, Männer und Kinder gibt, spielt der eine Christus in allen und jedem, als ob es nur einen einzigen Schauspieler gäbe, der so viele verschiedene Rollen spielt.»

«Gott liebt jeden Menschen so, als ob es nur diesen einen Menschen gäbe. Darin besteht das Herzstück der Lehre Jesu, und dazu bekennen wir uns in gläubigem Vertrauen, wenn wir Jesus Christus Gottes eingeborenen Sohn nennen. Er ist Repräsentant der ganzen Menschheit. Wer auf Gottes väterliche Liebe vertraut, glaubt an sich selbst als ‹einzig geliebtes› Gotteskind.

Aber ist das Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus nicht doch einmalig? Sicher. Aber das gilt für jeden Menschen. Die Beziehung jedes Menschen zu Gott ist einmalig und unauswechselbar, eine immer neue Abwandlung der Christuswirklichkeit, ähnlich wie sich auch Stern von Stern an Glanz unterscheidet. ‹Allen, die ihn aufnahmen› ‒ d.h. allen, die aus der Christuswirklichkeit in ihrem Herzen leben, ob sie Jesus kennen oder nicht ‒ ‹gab er Vollmacht Gottes Kinder zu werden› (Joh 1,12). Oder wie es im ersten Johannesbrief heißt: ‹Sehet, welch eine Liebe uns der Vater geschenkt hat, dass wir Kinder Gottes genannt werden ‒ und sind› (1 Joh 3,1).»

Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Demut ‒ der Weg zum Gipfel
Fragerunde:
(01:22:09) In, durch und mit dem Selbst und dieses Selbst nennen wir als Christen ‹Christus›: Und dieses Selbst war auch in Jesus, geht aber über Jesus hinaus und verwirklicht sich auch in uns. Und das war schon dem Paulus ganz klar: Denn er hat nicht nur gesagt: Christus lebt in mir (Gal 2,20) ‒ er hat nicht gesagt: Jesus lebt in mir: Christus lebt in Jesus, Christus lebt in mir, Christus lebt in uns allen ‒, er hat auch gesagt: Wir müssen in unseren Leiden vollenden, was noch am Leiden Christi unvollendet ist (Kol 1,24). Also die Christuswirklichkeit verwirklicht sich in uns allen. Und so beten wir auch ‹In Christus, durch Ihn und mit Ihm›. Das kann alles missverstanden werden, aber so würde ich es verstehen.

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Kath. Akademie Bayern, Kardinal Wendel Haus, München (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(20:55) Christus in uns ‒ Panentheismus

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der
Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(13:39) Der dreifaltige Gott – ein Kreislauf von Beziehungen: das Christus-Selbst

Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(18:52) Das Wesentliche am Christentum ausdrücken mit Mythos, Ethos und Ritus /
(20:05) Das Reich Gottes: Wir sind alle eine große Familie im Gotteshaushalt, der vom göttlichen Geist belebt ist, dem Hausfrieden Gottes / (21:52) Das Gebot der Gottesliebe und ‹liebe deinen Nächsten als dich selbst› ‒ ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20) / (24:08) Die Feier der Tischgemeinschaft: Die ganze Welt ist eine Tischgemeinschaft, Gott Gastgeber und Speise zugleich, wir ernähren einander, das ist schon in der Natur vorgegeben

TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(06:38) Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir (Gal 2,20) – Den dreifaltigen Gott von innen her verstehen (1 Kor 2,10-16) – Die panentheistische Sicht im Vergleich zum Pantheismus: Wer bin ich denn, dass ich es Gott verweigern sollte, dass Gott ich sein will?

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: Audio 1.2.
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(50:22) Gerade Johannes sagt an der zentralen Stelle im Prolog: ‹Und allen jenen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden› (Joh 1,12), das heißt, genau das zu werden, was er nach dem Johannesevangelium ist: Sohn Gottes.

3. «Ich und der Vater sind eins» ‒ «Atman ist Brahman und Brahman ist Atman»:

Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 76:

«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.

Wo der Originaltext sagt, er spiele  v o r  dem Vater ‒ ‹to the Father›, eigentlich ‹auf den Vater zu› ‒ sagt Koziol hier, er spiele  d e n  Vater, dadurch wie ‹er lebt und stirbt›. Auch das ist theologisch haltbar. In Jesus Christus manifestiert sich ja der un-manifeste Gott, den wir ‹Vater› nennen. Darum sagt Jesus bei Johannes: ‹Philipp, wer mich sieht, der sieht den Vater› (Joh 14,9).»

Religionen ‒ drei Innenwelten:

«Es sei an das erinnert, was hier schon über das Verstehen gesagt wurde: Es ist der Prozess, in dessen Verlauf das Schweigen ins Wort findet und das Wort ins Schweigen heimfindet.

Das liefert uns den Schlüssel zur zentralen Intuition des Hinduismus: Atman ist Brahman ‒ der manifeste Gott (das Wort) ist der nichtmanifeste Gott (das Schweigen) ‒ und Brahman ist Atman ‒ das göttliche nicht Manifeste (das Schweigen) ist das manifeste Göttliche (das Wort).»

An welchen Gott können wir noch glauben (2008):

«Wir finden uns in der Unruhe unseres Herzens von einem unauslotbaren Geheimnis umgeben. Wir wissen nicht, woher wir letztlich kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir sind rundum von Geheimnis umgeben. Und je tiefer wir versuchen, dieses Geheimnis zu erfahren, umso mehr kommen wir in Geheimnisse hinein. Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist NICHTS. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.

Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das NICHTS, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar. Dieses MEHR und immer MEHR, das das Göttliche bedeutet, ist in uns selbst.

Das ist die manifestierte Wirklichkeit, wie die Hindus das nennen, im Gegensatz zu der unmanifestierten. Und beide sind unauslotbar, beide Begegnungen mit dem Göttlichen.»

Jesus als Wort Gottes (Salzburger Hochschulwochen 1972), 50f.:

«‹Gott spricht›, dieses ganz prägnante Wort, ist der Schlüssel, der uns das Verständnis aufschließt für die ganze biblische Tradition. ‹Ich habe das Schweigen gehört›, dieses Paradox kann uns als Schlüssel dienen für das Verständnis buddhistischen Sinnerlebens. Ähnlich können wir als Schlüssel (freilich nur als Schlüssel) die immer wiederholte, zentrale Feststellung des Hinduismus betrachten: ‹Atman ist Brahman, und Brahman ist Atman›; oder, wie man sagen könnte: Gott, der sich offenbart, bleibt der verborgene Gott, und Gott als der Verborgene ist wahrlich offenbar; oder: Das Wort ist Schweigen, das zu Wort gekommen ist, und das Schweigen ist Wort, das im Schweigen aufgehoben ist. Indem Gott seine Verborgenheit offenbart, verbirgt er sich in seiner Offenbarung. Das einzusehen heißt verstehen.»

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast im Kardinal König Haus, Wien (AT)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(09:29) ‹Verstehen› im Hinduismus mit Blick auf ‹Ich und der Vater sind eins› (Joh 10,30) und einfache Übung mit einer Blume

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der
Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(10:46) Begegnung mit Gott, dem
Mehr und immer mehr (Dorothee Sölle)[8] in drei Grunderlebnissen: Die Begegnung mit dem unergründlichen Urgrund von allem ‒ mit dem Unmanifesten, wie die Hindus das nennen ‒, mit der unbegreiflichen Fülle allen Seins ‒ dem manifesten Universum ‒, und mit der Dynamik des unerschöpflichen Lebens, der Lebendigkeit, die das ganze durchpulst: in diesen drei Bereichen, die im Christentum in der Trinitätslehre sich ausdrücken, da tritt diese Gottesbeziehung ein, wird uns ermöglicht: Wenn wir uns bewusst bleiben, dass es sich um eine Beziehung handelt, um eine dynamische Auseinandersetzung mit diesen Bereichen, nicht um ‹jemanden›, dann wird uns unsere Beziehung zu dem Göttlichen und zu Gott, viel leichter:

Bruder David im buddhistischen Bergkloster Tassajara, siehe im Buch Ich bin durch dich so ich (2016), 94f.:

«Immer wieder steigt in diesen Sommerwochen die Frage in mir auf, warum ich mich als Mönch hier so zu Hause fühle. Ja, der Tagesablauf ist sehr ähnlich wie auf Mount Saviour, aber statt des Chorgebetes sitzen wir auf unseren Kissen im Meditationsraum und versenken uns in was wir Christen das Gebet der Stille nennen. Wir lassen uns in das abgründige Schweigen des Großen Geheimnisses hinunter. Schweigen verbindet: Sehr schnell sind wir hier zu einer echten Gemeinschaft geworden. So wie auf Mount Saviour unser Chorgebet die gemeinschaftsbildende Mitte ist, so ist es hier die schweigende Meditation. Dort rühmt in uns ‒ christlich ausgedrückt ‒ der Heilige Geist durch das ewige Wort den Vater, hier dagegen kehrt das Wort ins Schweigen zurück, also Christus zum Vater. Hier wie dort führt uns die innere Bewegung hinein in ein und dasselbe unergründliche Geheimnis. Ein begriffliches Brückenbauen wird mich noch jahrelange Gedankenarbeit kosten, aber jetzt schon erlebe ich diese Gemeinsamkeit und das fasziniert mich. Was Thich Nhat Hanh in Vietnam erlebte, wird mir in Tassajara bewusst: dass wir durch unser Mönchsein zutiefst verbunden sind ‒ über alle äußeren Unterschiede hinweg. Und diese Gemeinsamkeit ist ein tragender Grund ‒ überzeugender als alle scheinbaren Widersprüche.»

Die Weisheit, die alle verbindet (2010):
(04:29) ‹Wir können uns im Schweigen in den Abgrund Gottes hinunterlassen ohne Ende, nie wird ein Echo zurückkommen› (T. S. Lewis) ‒ jede Tradition kennt das Selbst, das uns alle verbindet, die göttliche Wirklichkeit tief in uns: das Christus-Selbst, die Buddha-Natur, Purusha, I’itoi

4. Christus als Choryphaeos, als Anführer des Reigentanzes:

Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 76:

«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.

Der Originaltext sagt, er spiele  v o r  dem Vater ‒ ‹to the Father›, eigentlich ‹auf den Vater zu› …

Der kosmische Christus spielt und tanzt  i n  und  d u r c h  uns vor dem Vater. Dieses Bild sollten wir tief in uns aufnehmen und mit geschlossenen Augen auf uns einwirken lassen. Was es uns sagen will, ist klar: Der Glaube an Jesus Christus als Gottes eingeborenen Sohn schließt niemanden aus, sondern bezieht uns in diese einzigartige Liebe des Vaters zu seinen Kindern ein.

Auf dem Weg der Stille (2023), 20f., siehe den Text von Eve Landis übersetzt in Den großen Tanz beten (1998), siehe auch Dreifaltigkeit: Ergänzend: 2.4.:

«Während einer Predigt unseres Dominikaner-Studentenpfarrers Father Diego hob ich einmal geradezu ab. Mich erfasste ekstatisch die Wahrnehmung, dass wir Gott als den Dreieinen genau deshalb erkennen können, weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Heiligem Geist mit hineingezogen werden. Für Studenten in Wien ist es nicht albern, von Gott zu sagen, dass er tanze. Tanzen ist etwas Ernsthaftes ‒ natürlich nichts Todernstes, aber etwas Lebenswichtiges. Viel später lernte ich den Hymnus über Christus als ‹Lord of the Dance› ‒ ‹Tanzmeister› ‒ kennen, der auf eine alte Shaker-Melodie gesungen wurde.[9]

Ich erfuhr auch, dass der heilige Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert die Beziehung der drei göttlichen Personen zueinander als eine Art Kreistanz beschrieben hatte: Der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns im Heiligen Geist zusammen mit der ganzen Schöpfung zum Vater zurück.

Wir können von diesem Großen Tanz auch mit den Begriffen Wort, Schweigen und Handeln sprechen: Der Logos, das Wort Gottes, kommt aus dem unergründlichen Schweigen Gottes hervor und kehrt wieder zu Gott zurück, schwer beladen mit der Ernte des zum liebevollen Handeln inspirierenden Geistes. Diese trinitarische Sicht hilft mir auf immer neue Weisen die ‹Kommunikation mit Gott› zu verstehen, die wir als Beten bezeichnen ‒ nicht als eine Art Ferngespräch bis zum Himmel, sondern als das Geschenk, dank der Teilhabe an Gottes Leben immer mehr von Leben erfüllt und lebendiger zu werden.»

Credo (2015): ‹Amen›, 237f.; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.3. und Dreifaltigkeit:

«Hier beim Parlament der Weltreligionen zeigte sich mir aber etwas Wichtiges:

Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn.

Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam.

Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes drängte sich mir dabei auf, und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.

Schon im 4. Jahrhundert verwendeten die griechischen Kirchenväter das Bild des Reigens oder Rundtanzes ‒ so wie Kinder ihn tanzen, einander bei den Händen haltend und ‹Ringa ringa reia› singend ‒, um tiefe theologische Einsichten über Gottes Dreieinigkeit auszusprechen:

Der Sohn ‒ Christus als ‹Choryphaeos›, als Anführer des Tanzes ‒ kommt aus der Verborgenheit des Vaters hervor und kehrt im Schwung des Heiligen Geistes zum Vater zurück.

Wenn mein christlicher Glaube an Gott als dreieinig ‒ nicht eins und nicht drei, sondern eins in drei und drei in eins ‒ wirklich Ausdruck des Ur-Glaubens ist, dann musste selbst eine so spezifische Lehre wie die von Gottes Dreifaltigkeit keimhaft in dem Glauben enthalten sein, den ich mit allen Menschen gemein habe.»

An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):

«Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen. Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht. Wort, Schweigen und Verstehen. Das Wort, das haben schon die griechischen Väter so gesehen, das Wort kommt aus dem Schweigen und geht durch das Verstehen ins Schweigen zurück. Sie haben das den großen ‹Reigentanz der Trinität› genannt. Und wir sind in diesem Reigen und können teilnehmen an diesem Tanz. Das Wort ist der Anführer des Tanzes, der Koryphaios in diesem trinitarischen Tanz.»

Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2
Nachmittag:
(57:38) Der Reigentanz der Trinität und Christus, der Logos: das WORT ist der Choryphaeos, der Anführer im Tanz

Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(51:31) Der Reigentanz der Trinität gespiegelt in den Weltreligionen]

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[1] Gerard Manley Hopkins (Wikipedia)

[2] Siehe Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 66; im Buch Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 44, übersetzt Bruder David:

«Jedes vergänglich’ Ding tut eins nur und dasselbe:
stellt, was zutiefst ihm innewohnt, zur Schau:
es selbstet ‒ nennt sich, drückt sich selber aus,
es ruft, ich bin ich selbst: Nur dazu bin ich da.»

«Auf unsre Frage ‹Was?› ruft uns jedes Ding sozusagen seinen einzigartigen Namen zu und wartet nicht darauf, dass wir ihm einen geben. ‹Es selbstet.› Hopkins musste ein neues Wort prägen, um dies auszudrücken. Die Dinge ‹buchstabieren› ihr Selbst, wie er sagt, sie rufen es uns zu mit ihrem ganzen Sein, aber wir können das Wort, das jedes Ding im Innersten ist, nicht begreifen. Es entzieht sich dem Zugriff jeglichen Begriffes. Nur wenn wir uns davon ergreifen lassen, können wir es verstehen. So führt uns also auch die Frage ‹Was?› tief ins Geheimnis.»

Siehe auch Geheimnis: Erg. 3.1. und Anm. 12.

[3] Credo (2015): ‹… und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 76f.

[4] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 67-69

[5] Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 48f.

[6] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 69

[7] Im Buch Credo  ist der Text aus der Lutherbibel 1554 abgedruckt

[8] Siehe auch die Audios Wie das Göttliche in uns wächst (2005)

[9] Anmerkung von Bernard Schellenberger: Die Shaker («Schüttler») waren eine im 18. Jahrhundert aus den Quäkern hervorgegangene Freikirche in den USA, in der man ekstatische Schütteltänze pflegte.



Quellenangaben

Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

jesus d christus titelCopyright © - Barbara Krähmer

(Film 13:35) «Die Lage von der Treppe stimmt vollkommen … Und da hab ich geträumt ‒ da war ich noch ziemlich klein, ich muss sechs oder so gewesen sein ‒, hab ich geträumt, dass ich die Treppe heruntergekommen bin und Jesus, wie ich ihn halt von Bildern gekannt habe, Jesus ist heraufgekommen über die Treppe und wir sind so verschmolzen, wir sind nicht aneinander vorbeigegangen, sondern ineinander hineingegangen, sozusagen.

Dieses Erlebnis hat mich begleitet, mein Christusverständnis auch geformt. Geschichtlich sind sowohl Gautama wie Jesus geschichtliche Personen, die man auch geschichtlich fassen und behandeln kann. Buddha ist Gautama als der Erleuchtete und Christus ist Jesus als der Auferstandene: die beiden kann man auch wieder auf dieser Ebene vergleichen von Ich und Selbst und dieses Selbst ist, was wir Christen die Christuswirklichkeit in uns nennen und was die Buddhisten die Buddha-Natur nennen. Das ist dieses große Selbst, das ist ein und dieselbe Wirklichkeit.»[1]

Ganz früh schon sagten Christen: «Hast du deine Schwester, deinen Bruder gesehen, dann hast du Gott gesehen.»[2]

Die Menschen, auf die das Credo letztlich zurückgeht, waren überrascht, wie leicht es war Gott zu sehen, wenn man Jesus in die Augen schaute, Gott zu hören, wenn Jesus sprach. Begeistert legten sie in Wort und Tat Zeugnis dafür ab, und bis heute begegnen Christen Gott in und durch Jesus Christus. Dabei darf sich jedoch keine Ausschließlichkeit einschleichen. Wir können Gott jederzeit, irgendwo und in irgendeiner Form begegnen; das wird hier vorausgesetzt.

Für uns Christen ist Jesus Christus der zentrale Begegnungspunkt mit der göttlichen Wirklichkeit; das gibt unserem Gottesglauben eben seine spezifisch christliche Färbung und macht uns zu Christen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass wir nicht nur von Jesus sprechen, oder von Christus, sondern von Jesus Christus.

Die Benennung Jesus Christus hält zwei Pole in schöpferischer Spannung miteinander verbunden: Jesus, eine geschichtliche Persönlichkeit, und Christus, die gottmenschliche Wirklichkeit (in jedem Menschen, also auch in uns selbst, die in Jesus einzigartig aufleuchtet).

Wir dürfen diese Spannung nicht aufheben. Wenn ich den einen Pol ‒ Jesus ‒ auf Kosten des Christus-in-mir betone, so verliert Jesus seine einzigartige Bedeutung für mich persönlich; er kann mir zwar ein bewundernswerter Lehrer sein, aber ich erkenne in ihm nicht die geschichtliche Verwirklichung meiner eigenen gottmenschlichen Möglichkeit.

Wenn ich aber den anderen Pol so ausschließlich betone, dass ich den Christus-in-mir nicht in Jesus von Nazareth verwirklicht sehe, dann ist meine innere Christuswirklichkeit ihres objektiven geschichtlichen Bezugspunktes und Maßstabes beraubt und ich kann sie allzu leicht subjektiv verzerren.

Beide Pole verlangen unsere beständige Aufmerksamkeit. Ich muss mich bemühen immer klarer zu sehen, worauf ich mich einlasse, wenn ich Jesus nachfolge. Zugleich muss ich immer bewusster aus meiner innersten Mitte leben und so Christus in mir verwirklichen. Dieser doppelten Aufgabe muss ich mich stellen, um dem gerecht zu werden, was die Worte «Ich glaube an Jesus Christus» im Credo für den Gottesglauben bedeuten.

Was wir von Jesus wissen, das haben wir von anderen erfahren; was Christus heißt, das kennen wir aus eigener Erfahrung, auch wenn wir nie von Jesus hören. Von dieser inneren Christuswirklichkeit soll hier zuerst die Rede sein.

«Verliebte sind blind», heißt es; sie sind aber zugleich auch besonders hellsichtig. Wenn wir jemanden aus ganzem Herzen lieben, dann kann es vorkommen, dass wir plötzlich erfahren, wie uns in einem anderen Menschen Gott begegnet.

Das ist weit entfernt von vernarrter Vergötterung. Worum es geht, ist vielmehr ein gegenseitiges Anschauen Liebender: so innig und so tief, dass der Blick bis zum göttlichen Wesensgrund des Anderen durchdringt.

Eine solche Erfahrung kann zur Einsicht führen, dass, was wir Gott nennen, nicht nur alle unsere Horizonte überschreitet, sondern uns zugleich «zuinnerst näher ist als wir uns selber sind» («Intimior intimis meis», sagt Augustinus).[3]

Im Bild der Bibel heißt das, dass wir «als Gottes Ebenbild» geschaffen sind. Unsere Gottesähnlichkeit wird umso strahlender leuchten, je mehr wir unser ureigenstes Selbst ‒ Christus-in-uns ‒ verwirklichen. In diesem Sinne muss man nicht Christ sein, um Christus zu kennen. Einfach als Menschen sind wir mit Christus in dem Ausmaß vertraut, in dem wir uns selber kennen, sind ihm in dem Ausmaß verbunden, in dem wir unserer innersten Wirklichkeit getreu leben. Indem du dich selber kennst, kennst du Christus; indem du dich selber verwirklichst, wirkt Christus in dir; indem du dein wahres Selbst findest, findest du Christus.

Je mehr wir unser wahres Selbst kennenlernen, umso klarer erkennen wir Christus in uns. Was Jesus für uns bedeutet und welchen Zusammenhang wir zwischen Jesus und Christus finden können, das ist eine andere Frage. Die Antwort wird von äußeren Umständen abhängen, von unserer kulturellen Einbettung, unserer religiösen Erziehung (oder deren Mangel), sogar von unserer Geschichtskenntnis. Ein christliches Kind mag aufwachsen, ohne je klar zwischen Gott und Jesus zu unterscheiden; ein jüdisches Kind mag entdecken, dass Jesus auch nur zu erwähnen, tabu ist. Wenn wir Glück haben, begegnen wir überzeugten Christen, die ihren Glauben leben und Liebe ausstrahlen. Es kann uns aber auch zustoßen, dass wir es mit widerwärtigen Menschen zu tun haben, die als öffentliche Vertreter Jesu gelten. Es macht wohl auch einen Unterschied aus, ob meine Kultur im Namen Jesu von Missionaren (trotz bester Absicht) zerstört wurde, oder ob höchste Gipfel meiner Kultur ‒ etwa der «Christus» Rembrandts, das Rote Kreuz, oder Beethovens «Missa Solemnis» ‒ vom Namen Jesu untrennbar sind. Vielen Menschen wird Unvoreingenommenheit gegenüber Jesus ehrliche Bemühung kosten ‒ ob es sich dabei um negative Vorurteile handelt oder um positive. Jedenfalls verdient eine Persönlichkeit, die in der Geschichte soviel Widerspruch erregt hat, unsere Aufmerksamkeit und ehrliche Auseinandersetzung: Es geht letztlich um die Entscheidung zwischen der Liebe zur Macht und der Macht der Liebe.

Dreierlei muss zusammenkommen, bevor wir sagen können, dass wir an Gott und an Jesus Christus glauben:

  • Wir müssen unser wahres Selbst, die Christuswirklichkeit in uns, wenigstens keimhaft erfühlen.
  • Wir müssen die geschichtliche Gestalt Jesu und die gewaltfreie Revolution, für die er sein Leben gab, genügend kennenlernen.
  • Und wir müssen diese beiden verbinden, indem wir uns mit Überzeugung hinter sein Programm sozialer Veränderung ‒ «das Reich Gottes» ‒ stellen und so zugleich unser göttliches Selbst (Christus-in-uns) verwirklichen.

Manche, die sich Christen nennen, erfüllen leider diese drei Bedingungen nicht. Wenn wir sie erfüllen, dann sehen wir in Jesus Christus unsere eigene gottmenschliche Selbstverwirklichung vorgebildet.

Der Glaube an Jesus (als) Christus schließt ein, dass wir in Jesus unser eigenes gott-menschliches Selbst erkennen, das Selbst, das als Gottes «Ebenbild» geschaffen ist und Gottes eigenen Lebensatem atmet.[4]

Diese Bilder verwendet die Bibel, wo die Rede ist von der Erschaffung Adams, dem Urbild jedes Menschen. Wer an Jesus Christus glaubt, setzt sein gläubiges Vertrauen darauf, dass Gottes liebende Gegenwart in uns Wirklichkeit werden will, und durch uns in der Welt. Sich dazu zu bekennen ist schon der erste Schritt zu der neuen Weltordnung, die Jesus das Reich Gottes nannte.

Das hilft uns verstehen, warum der Glaube an Jesus Christus keine Kluft aufreißt zwischen Christen und Andersgläubigen; obwohl das in der Vergangenheit oft missverstanden wurde. Im Gegenteil, die wichtige Einsicht, die das Credo hier ausspricht, ist:

Das Göttliche kann sich inmitten des Menschlichen verwirklichen ‒ also auch in mir selbst.

Das gilt nicht nur für Christen, sondern für uns alle. Gott will sich im Menschlichen offenbar machen, wenn wir nur unsere Herzen dafür öffnen. Nur gemeinsam können wir dieser Anforderung gerecht werden. Mensch sein ist nicht Privatsache. Unsere Zeit stellt uns vor die Aufgabe, ein für alle Menschen gültiges Weltethos klar zu formulieren. Unser Überleben hängt davon ab. Die ganze Menschheit und jeder Einzelne von uns ist da herausgefordert. Es gibt keine höhere Aufgabe für uns Menschen als Menschlichkeit.

Das wichtige und in unserem Satz «Ich glaube an Gott … u n d  an Jesus Christus» bedeutet, dass ich nicht nur an den Gott jenseits aller Horizonte glaube, sondern auch an Gott in mir, Gott immanent in der Welt ‒ und auf ausgezeichnete Weise in Jesus Christus. Das gibt unserem Glauben an Gott einen handgreiflichen Bezugspunkt ‒ den geschichtlichen Jesus ‒, und es gibt uns eine klare Aufgabe: durch gewaltfreie Revolution für eine neue Weltordnung einzutreten, für das Reich Gottes. Beides ist wichtig.[5]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 5)

[Ergänzend:

1. Christuserlebnis von Bruder David in seiner Kindheit:

Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2021): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:

«‹Wenn unser Ich in Raum und Zeit vergeht, bleibt noch unsere Beziehung zum Ur-Du. Die war und ist das grundlegend Erste, aus dem alles entspringt, und wird das Letzte sein, was übrig bleibt.› Dies ist der tiefste mystische Gedanke, den Steindl-Rast mitteilt und der vermutlich auf eine frühe Kindheitserfahrung zurückgeht, die ihn zeitlebens prägte und führte: ‹In diese Zeit, also etwa in mein viertes oder fünftes Lebensjahr, fällt auch ein Traumbild, das mir ‒ ohne dass ich es damals ahnte ‒ grundlegend werden sollte für mein Lebensgefühl: Ich gehe die steinerne Wendeltreppe vom ‹alten Stock› hinunter. Auf halber Höhe begegnet mir Jesus Christus, der von unten heraufkommt. Er sieht so aus wie auf dem Bild, das über dem Bett meiner Großmutter hängt. Wir bewegen uns aufeinander zu, aber anstatt aneinander vorbeizugehen, verschmelzen wir miteinander.»

Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹1. Mensch werden: Meine Herzmitte finden und den Zugang dazu, 1926-1936›, 9f. und 199: Anm. 6:

«… Eine steinerne Wendeltreppe führt in den ersten Stock hinauf; ich nenne ihn den ‹alten Stock›, weil meine Großmutter und meine Urgroßmutter dort oben wohnen. Im ‹alten Stock› bin ich am liebsten. Dort baut meine Großmutter oft ein Zelt aus einem bunten Tischtuch, das sie über zwei Sessellehnen breitete; da fühle ich mich geborgen und lasse mich von meiner Omi bewirten. Wir staunen gemeinsam über das Tanzen der Sonnenstäubchen, wenn Lichtstrahlen zwischen den schweren Vorhängen ins Zimmer strömen. Wir beten auch gemeinsam. Von meiner Großmutter lerne ich das Vaterunser, das Angelus-Gebet und bald den ganzen Rosenkranz.

Weit auseinanderliegende Wirklichkeitsbereiche fließen in meinem Erleben zu dieser Zeit noch ganz ineinander. Es ist kurz vor Weihnachten. Alles strahlt schon vor Vorfreude. Da glitzert etwas auf dem Teppich im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich nehme das winzige Goldfädchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Was kann das nur sein? ‹Vielleicht ist das Christkind schon vorübergekommen und hat ein Haar aus seinen Locken verloren?› schlägt meine Mutter vor. Das genügt, um mich in Verzückung zu versetzen. Auch rückblickend muss ich sagen: Das war für mich eine echte, freilich kindliche Begegnung mit dem unergründlichen Geheimnis, mit dem wir uns als Menschen auseinandersetzen müssen.

In diese Zeit, also etwa in mein viertes oder fünftes Lebensjahr, fällt auch ein Traumbild, das mir ‒ ohne dass ich es damals ahnte ‒ grundlegend werden sollte für mein Lebensgefühl: Ich gehe die steinerne Wendeltreppe vom ‹alten Stock› hinunter. Auf halber Höhe begegnet mir Jesus Christus, der von unten heraufkommt. Er sieht so aus wie auf dem Bild, das über dem Bett meiner Großmutter hängt. Wir bewegen uns auf einander zu, aber anstatt aneinander vorbeizugehen, verschmelzen wir miteinander.

Grundlegend wurde dieser Traum in dem Sinn, dass sein Verschmelzungsbild auch auf alle weiteren Phasen meines Menschwerdens immer wieder passt. Der Traum löste in mir kein Gefühl von Ehrfurcht oder Ergriffenheit aus. Er war überhaupt nicht gefühlsgeladen. Ich würde eher sagen, dass er eine Einsicht auslöste, die über mein Begreifen weit hinausging, mir aber vielleicht gerade deshalb als gewichtig in Erinnerung blieb.»

2. Jesus, der Christus ‒ zwei Pole:

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(33:39) Die unerschöpfliche Christuswirklichkeit (Kol 1,24) und Jesus, der Bezugspunkt

Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)
Vortrag:
(00:00) Einführung: Der Vortrag ist in drei Teile aufgebaut: Im ersten Teil geht es um Jesus, die historisch fassbare Persönlichkeit.
Das Thema des zweiten Teils ist Christus, die mystische Erfahrung Jesu, die uns mit ihm innigst verbindet. Jesus und Christus bilden zwei Pole in einem Spannungsverhältnis: Jesus ohne Christus ist für uns nicht verbindlich, Christus ohne Jesus ist eine mystische Erfahrung ohne Bezugspol in der Außenwelt.
(23:41) Und damit kommen wir zur Christus Erfahrung, die mystische Erfahrung Jesu, die wir selber machen können, denn in unseren besten und lebendigsten Augenblicken wissen wir, dass wir dem Göttlichen zutiefst verbunden sind: Gott als das Geheimnis, das alles umfasst, uns selbst als Gabe Gottes, und den Geist Gottes als Danksagung, die von uns zu Gott zurückfließt. Oder wir können sagen: Wir kennen Gott als das
Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen oder Vater, Sohn und Heiliger Geist.
(40:33) Bruder David schließt mit unserer Aufgabe: Mensch werden: Mensch sein ist nicht Privatsache, wir hängen alle zusammen. Wir sind das Missing Link zum vollen Menschen Jesus. Die Evolution selbst von Stufe zu Stufe bis zum Menschen ist Menschwerdung Gottes und nach der ersten Seite der Bibel leben wir vom ureigensten Leben Gottes: Wir sind Gott-menschliche Wesen

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(10:41) Epochaler Durchbruch in der Religionsgeschichte durch Jesus Christus
(13:16) Der Mensch lebt nach der biblischen Anthropologie vom ureigensten Leben Gottes ‒ Christus und Buddha
Geistliches Leben, das Maß nimmt an der Gestalt Jesu:
(11:25) Jesus Christus, ein Name mit zwei Polen: Der Christus in uns und Jesus, wofür er steht. Geistliches Leben, das immer wieder Maß nimmt am Leben Jesu

Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Jesus, der Christus ‒ zwei Pole

3. Christuswirklichkeit in der Bewegung von ‹to selve› zu ‹justicing› im Eisvogel-Sonett von Gerard Manley Hopkins und Ergänzend:
1. Christus, der Logos, das Wort, in der Gestalt der Sophia, der alttestamentlichen Weisheit
2. Christus-in-uns: unser ureigenstes gott-menschliches Selbst
3. «Ich und der Vater sind eins» ‒ «Atman ist Brahman und Brahman ist Atman»
4. Christus als Choryphaeos, Anführer im Reigentanz der Hl. Dreifaltigkeit

4. Christusgeburt in uns:

Credo (2015): ‹Geboren von Maria der Jungfrau›, 94f.:

«Die dichterische Vorstellungskraft der frühen Christen sah im Jungfrauenschoß, aus dem der neue Adam geboren wird, ein Spiegelbild der jungfräulichen Erde, aus welcher der alte Adam im Paradies geformt wurde. In beiden Bildern bedeutet Jungfräulichkeit einen taufrischen Neubeginn. So wie ein Skifahrer durch ‹jungfräulichen› Pulverschnee die erste Spur zieht, so bahnt Jesus einen ganz neuen Weg zu Gott. Das ist die entscheidende Aussage dieses Glaubenssatzes.

Wir müssen den Mut haben, Gottes Geist jungfräulich zu empfangen, und selber das göttliche Kind zu gebären, denn das heißt ja nichts anderes als für die Christuswirklichkeit lebendiges Zeugnis abzulegen. Angelus Silesius spricht für die mystische Tradition, wenn er sagt:

‹Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn
Und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlorn.›

Positiv drückt er dieselbe Einsicht in den weniger bekannten Versen aus, die an Maria gerichtet sind:

‹Sag an / O werte Frau / hat dich nicht auserkorn
Die Demut / dass du Gott empfangen und geborn?
Sag / obs was anders ist? Damit auch ich auf Erden
Kann eine Magd und Braut und Mutter Gottes werden.›

So verstanden wird dieser Glaubenssatz: ‹Geboren von Maria der Jungfrau›, der sonst nur überflüssige und unbeweisbare Information für Neugierige enthielte, zur begeisternden Herausforderung für Mutige.»

Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Christliche Mystiker wie Angelus Silesius und Franz von Assisi

5. Christus, der Weg:

Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 299-301:

«Dieser Tage bekam ich ein Flugblatt in die Hand. Ich bewundere die jungen Menschen, die es verteilt haben. Sie haben sich wirklich getraut, für ihre Überzeugung einzutreten. Aber der Inhalt dieses Blattes zeigt mir, dass sie in ihrem Glauben nicht weit genug gegangen sind, zumindest nach christlichem Maß. Denn das Blatt besteht aus Bibelzitaten, und das sollte uns schon zu denken geben. Ist die Bibel für Christen ein Handbuch, aus dem man Sätze herauszieht, mit denen man seine Gesprächspartner bestenfalls überzeugt und schlimmstenfalls mundtot macht? Oder ist die Bibel Wort, das mich persönlich jetzt und hier herausfordert? Heraus-fordert, aus was heraus? Aus der Angst in den Glauben! Aus der Angst in das Vertrauen.

Ich lese gleich am Anfang: Jesus Christus spricht: ‹Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben› (Joh 14,6).

Ich würde es als gläubiger Christ sehr unter der Würde dessen, was wir als Christen von Jesus Christus glauben, halten, dass wir ihn nur als einen von vielen Wegen darstellen. Was heißt es denn, auf dem Weg zu sein? Auf dem Weg sein, heißt, sich bewegen. Jeder, der sich vorwärtsbewegt nach jenem Kompass des Herzens, der immer auf Gott weist, der ist auf dem Weg. Der ist also auf dem Weg, den wir als Christen ‒ Gott sei Dank ‒ als Jesus Christus kennen. Aber es ist viel weniger wichtig, dass man den Namen kennt, als dass man auf dem Weg ist. Christus, der Weg, kennt alle, die sich auf den Weg gemacht haben. Und die Wahrheit, so steht darüber, die Wahrheit wird Euch frei machen. Was uns nicht frei macht, kann nicht die Wahrheit sein. Was uns frei macht, etwa von Angst, das ist Wahrheit. Frei in Verantwortung. Unverantwortlichkeit ist nicht frei.

Einer der frühen Kirchenväter hat schon ganz deutlich gesagt: ‹Wenn es wahr ist, frag nicht, wer es gesagt hat. Die Wahrheit kommt immer vom Heiligen Geist.›

Wenn wir das nur auch heute noch wüssten! Hier ist nun der Punkt, wo im Hören des Wortes und in der Antwort durch die Tat Schweigen und Arbeit sich verbinden. Hier beginnt ein Prozess, den Rilke so wunderbar das Reifen Gottes nennt.

Wir haben oft ein viel zu statisches Gottesbild. Dass Gott eine Wirklichkeit ist, die in und um uns reift, ist zutiefst christlich. Wir Christen warten ja auf die Wiederkunft Jesu Christi. Aber nicht Wiederkunft, so wie er schon einmal gekommen ist, sondern das endliche Kommen, die endliche Verklärung der Welt. Daher schon sollten wir uns in Gemeinschaft verbunden wissen mit all denen, die auf dem Weg sind.

Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift. Jetzt sind wir wieder bei den dunklen Tiefen, mit denen wir angefangen haben. Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:

Daraus, dass Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, dass wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluss zutag,
der in die Stille der Steine greift, der vollen.
Auch wenn wir nicht wollen:

Gott reift.»

Begegnung der Religionen (1993)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(20:13) ‹Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben› (Joh 14,6)

6. Orpheus, eine Christus-Figur:

Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 53f.:

«Und Rilke sagt: er wurde nicht zerrissen, er wurde verteilt, so wie die Kommunion verteilt wird. Und darum singen wir jetzt: Er singt in uns, in den Felsen, in den Löwen, in den Bäumen singt er noch, er wurde verteilt. Er wird zur Christus Figur. Sie konnten sein Haupt nicht zerstören, das Haupt schwimmt am Fluss hinunter und singt noch. Und die Leier wird zum Himmel gehoben und wird zum Sternbild. Er wird verteilt an die ganze Welt. Das ist der große Gott, der göttliche Sänger. Und der singt in uns.»

So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus]

_____________________

[1] Film Dem Geheimnis auf der Spur (2016)

[2] Zwei Audios mit dem Wort der frühen Christen in Sehen ‒ schöpferisches Schauen: Ergänzend: 2.1. (29:53) und 2.2. (01:05:31)

[3] Augustinus: ‹Confessiones›, III, 6,11

[4] Siehe auch: Hl. Geist ‒ Lebensatem Gottes: Ergänzend: 2. Weitere Texte: 2. Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in Die Frage nach Jesus (1973), 59-63

[5] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 60-64



Quellenangaben

Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Barbara Krähmer

Durch meinen Leib bin ich an die Zeit gebunden und mein Ich ist vergänglich, mein Selbst aber hat Bestand. Und doch erlebe ich mich als Einheit, als ich selbst ‒ nicht als ich  u n d   selbst.

Dieses Einssein ist mir jedoch nur bewusst, solange ich im Jetzt lebe, im Augenblick, im Doppelbereich von Zeit und Ewigkeit.

Sobald ich an Vergangenem hängen bleibe oder mich in Zukunftsfantasien verstricke, bin ich mir nur mehr des Zeitablaufs bewusst, und es bedrückt mich, dass meine Zeit rasch abläuft und ausläuft.

«Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt», sagt der Dichter.[1]

Ich sehe es jetzt mehr noch als in früheren Lebensabschnitten als meine große Aufgabe an, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren und zu erkennen, dass ich nicht in einem Nebeneinander von Zeit und Ewigkeit lebe, sondern in ihrem Ineinander, in der dynamischen Spannung des einen Doppelbereichs.

Auf Reisen fällt mir das nicht schwer. Da muss ich einfach im Augenblick leben. Und Reisen wurden mir geschenkt in meinem hohen Alter ‒ zahlreicher und weiter und spannender als je zuvor.

Zugleich mache ich immer weitere Reisen nach innen in neue Gebiete des Doppelbereichs. Er ist ungeteilt und unteilbar eins. Das rufe ich mir immer wieder ins Bewusstsein. Meine Reisen in seine Tiefen sind nicht ein Verlassen dessen, was als Oberfläche erscheint. Nein.

I n  Raum und Zeit kommt Ewigkeit zum Vorschein ‒ scheint hervor, wirft Licht auf meinen Weg. Alles, was hinter mir liegt auf diesem Weg, war notwendig, um mich genau an diese Stelle zu bringen. Alles, was vor mir liegt, ist nur von diesem Standpunkt aus erreichbar.

Rilke hilft mir zu benennen, was zu entdecken vor mir liegt. «Weltinnenraum», «das Offene», die «Mitte des Immer», das «Namenlose», letztlich die «Unbetretbarkeit» ‒ das Geheimnis. Es ist groß und einfach. Was ich dagegen rückblickend gewahre, ist schier unüberschaubar in seiner tausendfach vernetzten Vielfalt.

Aber alles, was ich erlebe, hat ja schon jetzt eine Dimension, die über Zeit und Raum erhaben ist.

T. S. Eliot nennt das Jetzt «the moment in and out of time»[2] ‒ es gehört der Zeit an und doch auch nicht.

Im Doppelbereich des Jetzt sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.

«Alles ist immer jetzt», sagt wieder T.S. Eliot, «All is always now»[3] ‒ und spricht damit eine Wahrheit aus, die sich nicht leugnen lässt, denn was nicht jetzt ist, ist nicht, es hat nur eine Schattenwirklichkeit in Vergangenheit oder Zukunft.

Im Jetzt aber kann es nicht verloren gehen, da ist es in einem dreifachen Sinn «aufgehoben»:

Es besteht nicht länger (wie etwa ein Gesetz, das aufgehoben wird), es wird aber auf eine höhere Ebene hinaufgehoben und bleibt dort bewahrt (wie ein Goldreif in einer Schatzkammer gut aufgehoben ist).

In diesem Sinn verstehe ich, warum Rilke im Aufheben unsere Lebensaufgabe sieht: «Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Leidenschaftlich heimsen wir den Nektar des Sichtbaren ein in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[4]

Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup: «Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit ‒ in der Erfahrung des Jetzt ‒ eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht.»

«Freilich komme ich dabei um eine Schwierigkeit nicht herum: Jemand könnte sagen: Nur durch meine Sinne, die in Raum und Zeit sind, kann ich das erfahren, und nur mit meinem Gehirn kann ich es denken; wenn aber mein Gehirn zu Staub zerfällt, was dann?

Ich kann nur antworten: Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum.

Und dieser Dimension meines Daseins ‒ dem Bleibenden ‒ gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre.

Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe.

Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet.

Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit. Im Jetzt rühre ich an das Bleibende.[5]

Darauf muss ich mich einlassen, muss mich einfühlen ins Jetzt und dort heimisch werden. Im Getriebe der Zeit geht dieses Bewusstsein allzu leicht verloren.»

«Unser ganzes Leben ist eine Auseinandersetzung in Raum und Zeit mit dem Großen Geheimnis, das über Raum und Zeit hinausgeht.

Schon jetzt nimmt jedes Erlebnis im Doppelbereich an diesen beiden Aspekten teil. Wenn also Raum und Zeit wegfallen, ist das, was ich erlebt habe, damit nicht ausgelöscht. Das zeigt uns schon jetzt unsere Erinnerung, die Tatsache, dass wir uns überhaupt an etwas erinnern können.»

Johannes Kaup: «Aber Erinnern ist ein zeitliches Phänomen.»

Bruder David: «Erinnerung ist ein Phänomen in der Zeit, aber dass Erinnerung nur in der Zeit ist, ist eine sehr reduktionistische Vorstellung. Ja, es gibt etwas wie neuronale Konstellationen oder Engramme, Aufzeichnungen irgendeiner Art, die dann wieder aufgerufen werden. Da ist etwas dran, aber das ist nicht das Wesentliche von Erinnerung.

Erinnerung ist nicht Wiederbringung von Vergangenem, sondern ‹Er-inner-ung›:

Etwas ist ins Innerste eingegangen und gehört nicht nur meinem persönlichen Innersten an, sondern dem Weltinnenraum.

Rilke fasst das in die dichterische Vorstellung, dass wir Menschen die ‹Bienen des Unsichtbaren› sind.

Unser ganzes Leben besteht darin, jeden Augenblick, jede Erfahrung in die ‹große goldene Honigwabe› des Weltinnenraums einzuheimsen.

Nichts kann dort je wieder verloren gehen. Was ich einheimse in diese große goldene Honigwabe, ist mein einzigartiger Beitrag.

Wir sind so verschieden voneinander, dass es wohl nie zwei Menschen gegeben hat, die, sagen wir, eine Rose angeschaut und dasselbe gesehen haben.

Mit meiner einzigartigen Sensibilität reichere ich den Weltinnenraum an.

Ich bereichere ihn mein Leben lang, nicht nur durch alles Angenehme, was ich erlebe, sondern auch durch jedes Leiden. Alles hat Wert und Bestand. Nichts geht verloren.»

Johannes Kaup: «Vom Leiden hoffen wir, dass es ebenfalls verwandelt wird. Deswegen frage ich noch einmal anders: Wird auch die Vergänglichkeit verwandelt?»

Bruder David: «Sie wird schon jetzt verwandelt. Jetzt oder nie.

Der mystische Dichter Kabir fragt: ‹Wenn du als Lebender nicht deine Ketten sprengst, sollen Geister es tun, wenn du tot bist?›

Er meint, ewige Seligkeit, nur weil die Würmer dich fressen, sei ein Wunschtraum. Was du jetzt findest, wirst du dann gefunden haben, was du jetzt versäumst, wirst du dann versäumt haben. Schon jetzt musst du den großen Gast empfangen und umarmen.»

Johannes Kaup: «Ich muss da noch einmal nachhaken. Unvergänglichkeit bedeutet, wenn ich es recht verstehe, dem zeitlichen Strom des Vergehens entrissen zu sein. In gewisser Weise können wir uns nicht anders denken als als leibliche Wesen. Dass der Körper sich bereits zu Lebzeiten verändert, ist unbestritten. Mir geht es um unsere Gestalt. Wir sind immer Gestalt und dadurch erkennbar. Ich möchte einmal, so es mir vergönnt ist, Sie, Bruder David, im Himmel an der ‹Honigwabe› wiedertreffen und Sie erkennen können.»

Bruder David: «Auch jetzt ist es doch schon so, dass wir nach zwanzig Jahren keine Schwierigkeit haben, einen alten Bekannten wiederzuerkennen, und doch ist keine einzige Zelle in seinem Körper dieselbe geblieben.

Es ist die Gestalt, die wir wiedererkennen. Und Gestalt des Leibes ist die Definition von Seele

Johannes Kaup: «Anima forma corporis es, (Thomas von Aquin), sagen die scholastischen Theologen. Die Seele ist die Gestalt des Leibes.»[6]

Bruder David: «Sie ist es, was diesen Leib zu diesem Leib macht. Und nicht nur zum Leib, sondern was diesen Menschen zu diesem einzigartigen Menschen macht.»

Johannes Kaup: «Die Seele ist diese Lebendigkeit.»

Bruder David: «Im Doppelbereich haben wir alle eine doppelte Lebendigkeit ‒ in Raum und Zeit und im großen Selbst, das über Zeit und Raum hinausgeht.»

Johannes Kaup: «Bruder David, ich habe noch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man neunzig Jahre alt ist. Da kommt sicher einiges auf mich zu. Doch nicht nur ich bewundere, dass Sie in Ihrem Alter noch so wach, so neugierig und lebendig sind. Was ist das, was Sie heute im vielleicht letzten Lebensjahrzehnt beschäftigt, umtreibt, bewegt?»

Bruder David: «Es kristallisiert sich für mich immer klarer heraus, dass meine große Aufgabe darin besteht, im Jetzt zu leben und das immer wieder zu üben.

Das sehe ich als meine Hauptaufgabe an, und zugleich ist es ein großes Geschenk, das so viele Jahrzehnte lang üben zu dürfen.

Vielleicht wird uns das Leben nur verlängert, weil wir noch nicht gelernt haben, wirklich im Jetzt zu leben.»

Johannes Kaup: «Woran haben Sie heute noch besondere Freude? Worüber können Sie nach wie vor staunen und was macht Ihr Herz ganz weit?»

Bruder David: «Um das zu beantworten, müsste ich alles aufzählen, was mir im Lauf des Tages begegnet. Alles macht mich staunend, mehr als je zuvor. Schon wenn ich am Morgen die Augen aufschlage. Dass mir noch einmal ein Tag geschenkt wird, ist das nicht eine große Überraschung?

Johannes Kaup: «Ich bin auch noch da ...»

Bruder David: «Aha! Es gibt mich noch. Alles, alles wird immer staunenswerter.

Johannes Kaup: «Das heißt staunenswerter, je älter Sie werden ‒ wie das? Sie könnten ja auch sagen: ‹Ich bin schon abgebrüht, ich kenne das schon.›»

Bruder David: Wie Augustinus sagt: Alles ist Gabe, alles ist Gnade, alles ist Geschenk.

Johannes Kaup: «Bruder David, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.»

Bruder David: «Ich danke Ihnen für Ihre Fragen.»

[Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich, 2006-2016›, 181-185 und ‹9. Dialog, 188-191, 193]

[Ergänzend:

1. Filme

1.1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
(09:46) T. S. Eliot nennt das JETZT: ‹the moment in and out of time›, ‹der Augenblick, der innerhalb und außerhalb der Zeit ist› ‒ beides. Und wir leben in diesem Doppelbereich. Das ist sehr wichtig: Rilke hat sehr viel mit diesem Gedanken des Doppelbereichs gearbeitet, ist immer wieder auf den Doppelbereich zurückgekommen als Dichter.
Dieser Doppelbereich ist, dass wir einerseits in Raum und Zeit leben: einen gewissen Anfang haben, ein gewisses Ende unseres Lebens, überschaubar, und anderseits im JETZT:
Einerseits das ICH ‒ in Zeit und Raum ‒, anderseits das SELBST: im JETZT ‒ über Raum und Zeit erhaben. Und diese beiden zusammenzuhalten ‒ es ist weder gemischt noch getrennt: Es ist eben dieser sonderbare Doppelbereich; und in dem leben zu lernen, das ist in vielen spirituellen Traditionen eigentlich das Ziel.

1.2. Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.›

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Doppelbereich:
(04:26) Erst in dem Doppelbereich werden die Stimmen ewig und mild (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, X)
(39:16) Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)

2.2. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe
Transkription S. 2, 11-13 und 27f.:
Wer bin ich? Ich-Selbst oder Ego? ‒ (00:15) Immer wieder kommen wir auf den Doppelbereich / (07:14) Der Doppelbereich von ‹innen› und ‹außen› /
(21:37) Das Selbst ist immer Jetzt ‒ Einheit und Vielheit ‒ Wandel und Bestand ‒ ‹die Mitte des Immer› (Rilke, Elegie an Marina) ‒ von außen betrachtet bin ich Materie, von innen betrachtet bin ich Geist: Einheit, besser: Nicht-Zweiheit ‒ a-dwaita / (55:57) Seele ist ein abstrakter Begriff, der unsere Verschiedenheit wie auch Einzigartigkeit ausdrückt ‒ In der Definition ‹Anima forma corporis est› (Thomas von Aquin›) ist ‹forma› nicht ‹etwas›, sondern ‹Causa formalis› (Aristoteles): Was mich zu mich selbst macht

2.3. «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 61f.:

(11:07) «Im tiefsten fragt unser Herz das, von Anfang an:  W e r  b i n  i c h? ‒ Was bedeutet aber diese Frage? Die Betonung müsste da auf dem ‹b i n› liegen.

Die Frage erhebt sich ja gerade deshalb, weil ich weiß, dass vor nicht so langer Zeit ich noch nicht war. Es hat mich einfach nicht gegeben. Und ich weiß auch, dass ich in absehbarer Zeit nicht mehr sein werde, jedenfalls nicht in der Form, in der ich mich jetzt kenne. Ich war nicht, ich werde nicht sein, und trotzdem weiß ich, ich bin! Dieses ‹bin› ist aber, wenn wir recht zusehen, nicht der Zeit unterworfen; es ist ewig; ich kenne mich als ewig und muss mich doch in der Zeit verwirklichen.

Ich weiß, ich bin, aber ‹bin› muss immer in der Gegenwart sein; wenn es in der Vergangenheit ist, heißt es ‹ich war›. Dann bin ich nicht, denn ich bin nicht mehr. In der Zukunft ‹bin› ich auch nicht; ‹ich werde sein›, aber ich bin noch nicht.

Ich ‹bin› nur in der Gegenwart. Und diese Gegenwart, dieser gegenwärtige Augenblick ist etwas, was uns immerfort entgeht und entgleitet. Es ist im tiefsten Sinn fragwürdig.

Wir stellen uns das so vor, dass unser Leben ein langer Weg ist, eine Linie, die aus der Zukunft auf uns zukommt und in die Vergangenheit versinkt. Die kleine Wegstrecke, auf der wir jetzt stehen, das ist die Gegenwart: hier  b i n  ich.

Solange wir aber von einer Wegstrecke sprechen, hindert uns nichts daran, diese Strecke in die Hälfte zu teilen. Die eine Hälfte ist dann nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist. Wo bin ich dann? In dieser Klemme sind wir vielleicht geneigt, die Gegenwart nicht mehr als Zeitstrecke, sondern als Zeitpunkt zu verstehen. Aber ein Punkt hat keine Ausdehnung; ein Zeitpunkt hat also keine Dauer, die doch zum Begriff der Zeit gehört. Sobald wir aber an Dauer denken, sind wir wieder beim Bild einer Zeitstrecke und eine Strecke lässt sich immer halbieren: die eine Hälfte ist nicht mehr, die andere Hälfte ist noch nicht. Hat also unser Bewusstsein von ‹ich bin› überhaupt Platz in der Zeit?

Nein. Wir existieren, und existieren heißt wörtlich: herausreichen, herausstehen. Wir reichen heraus aus der Zeit ins Sein, ins Ewige.

Ewig heißt ja nicht: lange, lange Zeit; Ewigkeit ist ‒ wie Augustinus definiert ‒ das ‹nunc stans›, also das Jetzt, das niemals vergeht.

‹Ich bin› gehört also zur Ewigkeit, zum Jetzt, das bleibt. Dieses bleibende Jetzt kennt schon jedes Kind, wenn es nur versteht, was ‹ich bin› heißt. Jeder Mensch reicht eben existenziell über die Zeit in die Ewigkeit hinein, in das Sein.

Ich muss mit dieser Spannung leben, dass ich der bin, der dieses ‹bin› nie in der Zeit findet und es doch in der Zeit verwirklichen muss.

Eben da erhebt sich nun die existenzielle Frage des Menschen: Wer bin ich denn? Und das heißt letztlich: Wie bin ich, von Zukunft verunsichert und von Vergangenheit ausgelöscht, dennoch verbunden mit dem, was wirklich ist?

Was ist meine Beziehung zum Wirklich-Seienden, zum Sein?

Das ist die Frage, die hinter dem: Wer bin ich? steht. Das Herz des Menschen hat von Anfang an schon immer diese Frage gestellt und stellt sie immer neu.

Jedem Menschen stellt sich diese Frage, ob das reflexiv erfasst und deutlich ausgesprochen oder nur so ganz ahnend erlebt wird. Die Frage ist da und das Herz gibt auch Antwort darauf.»

3. Weitere Texte

3.1. Im Buch Orientierung finden (2021):

‹Innen / Außen ‒ zwei Aspekte der einen Wirklichkeit›, 76f.:

«Von biologischem Leben können wir erst sprechen, wenn es ‒ wie bei den einfachsten Einzellern, die wir kennen, ‒ ein Innen gibt, das, durch die Zellwand vom Außen getrennt, auf die Außenwelt reagiert. Auf unser menschliches Leben und Erleben angewandt, sind Innen und Außen bildliche Ausdrücke für zwei Aspekte der einen Wirklichkeit.

Der Unterschied ist uns aus täglicher Erfahrung vertraut: Im Außen kennen wir nur Vielfalt. Innen aber können wir jene Einheit erfahren, welche die Vielfalt zusammenfasst, enthält und übersteigt.

So übersteigt unsre innerste Du-Erfahrung Einheit, aber auch Zweiheit.

Darum spricht der Hinduismus hier nicht von Einheit, sondern von Nicht-Zweiheit ‒ a-dwaita. Was mir als Außen bewusstwird, ist an Raum und Zeit gebunden und beständigem Wandel unterworfen. Als Innen kann ich etwas erleben, was unteilbar und immer jetzt ist. Rilke spricht von der ‹Mitte des Immer› und drückt mit diesem Bild ein innerstes Bleibendes aus.

Unter diesen beiden Aspekten von Innen und Außen erlebe ich die eine ungeteilte Wirklichkeit als Doppelbereich.

‹Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
Wisse das Bild.
Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.›
[7]

Einen Aspekt dieses Doppelbereichs auf den andren zu reduzieren, würde dem Unterschied von Innen und Außen nicht gerecht. Aber den Unterschied als Dualität zu verstehen, widerspricht der nahtlosen Einheit unsrer Erfahrung.»

‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.:

«Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit. Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.»

«Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit. Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt leben. Nur dann bin ich ‹Ich-Selbst›.»

A-DWAITA, in: Das ABC der Schlüsselworte, 128

DOPPELBEREICH, in: Das ABC der Schlüsselworte, 132f.

3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 98-105; 108f., 118-123; siehe 121f.:

«Als unser letztes Gedicht heute, möchte ich eigentlich um der letzten Zeilen dieses Gedichtes willen, ein Gedicht von Clemens Brentano lesen.

Es heißt ‹Eingang› und ist das Eingangsgedicht zu einem seiner Gedichtbände.»

Beim ersten Vers: ‹Was reif in diesen Zeilen steht›, fügt Bruder David humorvoll an: «Und das gilt auch zugleich für die Dichtung Rilkes, für alle Gedichte. Ich stelle mir vor, dass im Himmel sich alle Dichter treffen und nicht mehr wissen, wer was geschrieben hat.»

(Entspanntes Lachen im Saal). ‒

Und nach der Zeile: «Ans Feldkreuz angeschrieben

Und das ist jetzt die Inschrift: O Stern und Blume ‒

Die ‹Stern-Blume›, Stern ‒ Blume: Doppelbereich.

Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!

Lieb und Leid gehören so zusammen wie Geist und Kleid, wie Stern und Blume.

O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!»
]

_____________________

[1] ‹Stimme eines jungen Bruders

Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.

Ich möchte sterben. Laß mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.›

R. M. Rilke, Das Stunden-Buch

[2] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe auch Stillehalten

[3] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten

[4] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105f.

[5] Siehe auch Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2021): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:

«Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit − in der Erfahrung des Jetzt − eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht. (...) Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum. Und dieser Dimension meines Daseins − dem Bleibenden − gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre. Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe. Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit.»

[6] Bruder David geht auf die Definition von Thomas von Aquin ein weiter unten im Audio in Ergänzend: 2.2. (55:57)

[7] Rilke: ‹Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten› (Sonette an Orpheus 1. Teil, IX); siehe in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 99-101


Quellenangaben

Film, Audios und Text von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Barbara Krlähmer

(Film 13:35) Isha Johanna Schury: «Aber was ich bei Dir jetzt heraushöre, ist, dass es unabhängig von dem äußeren Umstand immer mein inneres Jetzt gibt, und das innere Jetzt kann ich jederzeit mit Freude, mit erkennender Freude füllen, indem ich zulasse, zu erkennen, dass ich bereits beschenkt bin, weil ich schon atmen darf, weil meine Augen sehen dürfen, weil meine Ohren hören dürfen, und ich einfach hier sein darf und diesen Moment jetzt erleben darf. Verstehe ich das richtig?»

David Steindl-Rast: «Darum ist es so entscheidend, dass wir innehalten und dann horchen: hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir?

Es gibt mir eine Gabe, immer die Gelegenheit, die das Leben jetzt mir schenkt, ist eine Gabe, aber wie es heißt: In jeder Gabe ist eine Aufgabe enthalten und sehr häufig kommt es vor, dass unsere Ideen, was wir jetzt werden müssen oder sollen oder was wir noch aus uns machen sollen usw.: Das hat sehr wenig damit zu tun, was das Leben von uns will.

Und das ist eine der großen Schwierigkeiten: Nicht seine eigenen Ideen zu haben, sondern hinzuhorchen …

Wenn ich sage: Das Leben ‒ das sind die ganzen Umstände, in denen ich mich jetzt zur Zeit befinde ‒, und dahinter steht natürlich das große Geheimnis des Lebens selber, ist uns ein unauslotbares Geheimnis.

Wenn ich sage ‹Geheimnis, dann meine ich nicht irgendwie so was wie Geheimnistuerei oder etwas Verschwiegenes. Ich meine etwas ganz Konkretes:

Wir sind im Leben immer wieder konfrontiert mit einer Wirklichkeit, die hinter allen anderen Wirklichkeiten steht, eine Wirklichkeit, die wir nicht begreifen können. Wir können sie nicht in den Griff bekommen, aber wir können sie verstehen, wenn wir hinhorchen.

(18:43) Isha Johanna Schury: «Woher weiß ich, welche Stimme gerade auf mich einspricht? Ich will sie unterscheiden, dass ich auch wirklich höre: Welche Stimme ist jetzt das wirkliche Leben und welche Stimme ist vielleicht mein Ego oder mein Brauchen, mein Wollen, meine Angst?»

David Steindl-Rast: «Vielleicht meine Güte und mein Mitleid. Wer heute nicht mit tiefem Mitleid und Schmerz auf die Welt schaut, dem fehlt etwas.

Wenn man wirklich wach ist, musss man heute schon an der Welt leiden, leider.

Aber im gegebenen Augenblick ein gutes Glas Wasser zu haben, was Millionen Menschen fehlt, und einfach jetzt dieses Glas Wasser mit Freude und Genuss zu trinken …

Alle diese Ängste und Schmerzen für die Welt sind im Augenblick nicht wichtig für dich. Was für dich dir das Leben jetzt schenkt, ist dieses Glas Wasser und an dem darfst du dich vollkommen freuen und es genießen.

Darum ist dieses Eine jetzt wichtig und das Andere ist natürlich im großen Bild viel wichtiger, aber für dich jetzt ist etwas wichtig, was dir jetzt das Leben sagt.»

(28:35) Isha Johanna Schury: «Warum haben wir immer so das Gefühl, etwas zu versäumen, Bruder David?

Die Menschen haben immer das Gefühl, sie versäumen etwas und landen nie in ihrem Jetzt, sind immer entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und wenn doch Liebe im Leben nur im Jetzt stattfindet, warum versäumen wir dann so gern oder so oft unser Leben?»

David Steindl-Rast: «Es ist wieder die Frage: Können wir im Jetzt wirklich leben, können wir uns Üben, im Jetzt zu leben?

Und wenn wir dankbar leben, wenn wir im Augenblick ‒ in jedem Augenblick idealerweise ‒ hinhorchen, ganz da sind, für das, was das Leben uns zuspricht in diesem Augenblick und es dann versuchen zu tun, der Aufgabe gerecht zu werden: Wenn wir das tun, dann leben wir im Augenblick.

Und im Augenblick hat dieses Gefühl, etwas zu versäumen überhaupt keinen Platz, wird sind ja so beschäftigt mit dem, was wir jetzt tun, dass uns das gar nicht in den Sinn kommt.

Ich verstehe schon, was du damit meinst: immer das Gefühl haben, ich versäume etwas, aber das kommt nur davon, dass wir eben nicht wirklich im Jetzt leben.

Die Übung der Dankbarkeit ‒ Dankbarkeit als ein spiritueller Weg, das ist er ja ‒, auf diesem Weg zu gehen, ist eigentlich ein sehr sicheres Mittel, nicht in diese Angst zu verfallen, etwas zu versäumen.»

(37:05) David Steindl-Rast: «Und wir erleben immer wieder, dass das Leben es besser meint und besser weiß als wir. Das Leben ist weiser als unser kleiner Verstand.»

Isha Johanna Schury: «Ja! Das heißt, wir könnten uns dieses ganze Tamtam schenken mit ‹Finde deinen Lebenssinn, finde dies, finde jenes›: Macht das Sinn? Wahrscheinlich nicht so viel, oder?»

David Steindl-Rast: «Es ist schon eine sehr gute Frage: ‹Wie kann ich meinen Lebenssinn finden›? Und die Antwort ist: ‹Nicht dadurch, dass ich in mir grüble und mir selber Pläne mache ‒ das ist ja ein winziger Teil des ganzen Lebens ‒, sondern ich kann den Sinn meines Lebens dadurch finden, dass ich auf das Leben selber, wie es mir gerade jetzt in diesem Augenblick begegnet, hinhorche und antworte.»

(43:56) Isha Johanna Schury: «Ich hätte dich jetzt gefragt, ob sich aus dir noch etwas mitteilen möchte, abschließend für unser Gespräch, wo du das Gefühl hast, das möchte noch hinaus?»

David Steindl-Rast: «Vielleicht den Gedanken, den Tod allzeit vor Augen zu haben.

Das ist ein Satz aus der Regel des hl. Benedikt, der mich schon, bevor ich Benediktiner geworden bin, sehr berührt hat, und ich habe erkannt ‒ damals war ich so ungefähr 19 oder 20 Jahre, höchstens ‒, dann habe ich erkannt, dass unser ganzes Leben bis dahin dadurch geprägt war, dass wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Das war ja mitten im Krieg und unsere Freunde sind immer wieder gefallen an der Front, die Bomben sind gefallen links und rechts, also, wir hatten den Tod allezeit vor Augen.

Und rückblickend, damals habe ich gesehen: ‹Ah, darum waren wir so glücklich!

Darum waren wir so freudig! Weil wir ‒ damals hätte ich das nie so ausdrücken können ‒, weil wir im Jetzt leben mussten.

Wenn man den Tod vor Augen hat, muss man im Jetzt leben.

Warum ich dann Mönch geworden bin und Benediktiner, hat viel damit zu tun, dass ich wirklich den Tod täglich vor Augen halten wollte. Und ich muss sagen, wenn ich auch sonst Vieles besser machen hätte können, aber das ist mir jedenfalls gelungen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es keinen Tag in meinem Leben gegeben hat, an dem ich nicht viele Male den Tod vor Augen hatte.

Und darum muss ich sagen, ich hatte wirklich ein sehr freudiges Leben. Dafür bin ich auch sehr dankbar.»

[Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch Transkription]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im
Selbst sein ist identisch› (Bruder David)

1.2. Wie uns dankbar leben heil und gesund macht (2011): Audio und Transkription:

(08:50) ‹Und da könnte man es ganz einfach sagen: Spiritualität ist aus der Ganzheit leben. Das ist dann diese Lebendigkeit, die aus der Ganzheit kommt, aus der Verbundenheit mit allen und allem.

Und da muss ich eben wieder auf ein persönliches Erlebnis zurückgreifen, denn wir wollen ja nicht etwas über die Sache sagen, sondern Ihr Erlebnis wecken: Wo haben Sie diese Einheit mit allen erlebt? Wo haben Sie diesen Geist, Lebensatem, diese Lebendigkeit, die alles verbindet, wo haben Sie die erlebt? (S. 3)

(15:02) Worauf es ankommt, ist, wir erleben dieses Einssein mit allem, und zwar mit uns selbst, mit allen und allem und mit dem Grund des Lebens, dem Lebensgrund. Und in diesen Augenblicken sind wir über da müssen Sie wirklich genau aufpassen, war das auch wirklich so bei mir? , da sind wir irgendwie über die Zeit erhaben.

Es kann ein Augenblick sein, in dem sich so viel ereignet, als ob es Stunden gewesen wären, fast ein Leben lang. Es kann aber auch sein, dass eine ganze Stunde plötzlich vorüber ist, wie wenn es nur ein Augenblick gewesen wäre.

Also die Zeit verschiebt sich in diesen Gipfelerlebnissen, wir sind im Jetzt! Das ist das Entscheidende, wir sind wirklich im Jetzt. Und meistens sind wir nicht im Jetzt. Meistens sind unsere Gedanken 49% schon in der Zukunft und können es nicht erwarten oder fürchten, befürchten, was sich ereignen wird und 49% hängen noch an der Vergangenheit und bedauern, dass wir nicht mehr dort sind, oder beweinen die Umstände, dass wir uns als Opfer ansehen. Wir hängen an der Vergangenheit, wir strecken uns aus in die Zukunft. Und ungefähr 2% sind da für unser Bewusstsein, im Augenblick zu leben, im Jetzt zu leben. Und in diesen Augenblicken der Gipfelerlebnisse das ist für Maslow auch so bedeutend , sind wir im Jetzt: vollkommen, 100% im Jetzt. Und darum erleben wir diese große Befreiung.

Es ist eine Befreiung von der Zeit. Wir sind jetzt im Jetzt ‒, wir sind wirklich Wir selbst. Nicht unser kleines Ich, sondern unser Selbst. (S. 4f.)

(23:29) In dem Augenblick, wo wir dankbar sind wieder, erinnern Sie sich an einen Augenblick, in dem Sie wirklich dankbar waren , sind wir im Jetzt. Man kann für die Vergangenheit dankbar sein, man kann für die Zukunft dankbar sein, dankbar sein kann man immer nur im Jetzt.

Sind wir im Jetzt, sind wir Wir selbst. (S. 7)

(27:57) Wie kann man das also jetzt im Alltag auch üben? Wie kann man das praktizieren? Wie können wir es methodisch tun? Und wie können wir uns methodisch immer wieder an die Gelegenheit erinnern, die uns da geboten wird, und diese Gelegenheit verwenden im Jetzt?

Wie können wir immer wieder ins Jetzt kommen? Denn das ist das Ziel jeder spirituellen Übung. (S. 8)

(33:56) Wenn wir im Jetzt leben lernen, und das lernen wir durch die Dankbarkeit: Jedes Mal, wo wir dankbar sind, verschieben wir unser Gewicht vom Ich auf das Selbst. (S. 10)

(35:52) Und wenn wir im Selbst sind und im Jetzt sind, dann sind wir über den Tod erhaben. Dann brauchen wir keine Furcht mehr vor dem Tod haben.

Denn der Tod kommt, wenn meine Zeit um ist, aber das heißt gar nicht, dass mein Selbst davon betroffen wird.

Das Jetzt ist nicht in der Zeit.

Das wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich sage, das Jetzt ist nicht in der Zeit. Aber unsere westliche Philosophie hat das schon sehr lange gewusst:

Die Zeit ist im Jetzt!

Wir stellen uns das meistens so vor, dass die Zeit eine lange, lange Linie ist. Auf der einen Seite ist die Vergangenheit, auf der anderen Seite ist die Zukunft. Wo ist jetzt das Jetzt? Es ist der kleine Abschnitt zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Wenn es ein kleiner Abschnitt ist, lade ich Sie dazu ein, diesen kleinen Abschnitt in die Hälfte zu schneiden und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist: Wo ist das Jetzt? Das ist Haarspalten. Gut ‒, solang es ein Haar ist, können wir es spalten.

Wir können es spalten, bis wir finden, dass das Jetzt, das wir erleben, zu unserem Leben gehört, nicht in der Zeit ist: In der Zeit frisst die Vergangenheit nahtlos die Zukunft auf. (S. 10f.)

1.3. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Vertiefungsseminar:
(00:43) Dankbarkeit, der kürzeste Weg ins Jetzt zu kommen

1.4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
(Mitschrift):
Wir sind JETZT im Augenblick, wir sind völlig gegenwärtig, JETZT im Augenblick
Fragen im anschließenden Gespräch:
Erlösung aus der Verstrickung in der Zeit

1.5. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
2.1. Der Weg zu Fülle und Nichts ‒ Vortrag und Kanon:
(30:52) Bruder David übersetzt und deutet die Zeilen von John Cage (
Übersetzung ins Deutsche) ‹If you let it, it supports itself. You don’t have to. Each something is a celebration of the nothing that supports it. When we remove the world from our shoulders we notice it doesn’t drop. Where ist the responsibility?› / (33:30) ‹Wo ist dann unsere Verantwortung?› Darin, es zu feiern: Bruder David liest und deutet von Rilke: ‹Rühmen, das ists!› und die Schlussverse des Sonetts ‹Sei allem Abschied voran› ‒ Chronos: Zeit der Uhren und Kairos: Zeit zum Entschluss , Gelegenheit, völlig zu sein ‹dieses einzige Mal› / (37:53) Br. David liest das Sonett noch einmal

1.6. Retreat-Woche in Assisi (1989); siehe auch Erlösende Kraft: Ergänzend: 2.3.:
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›

2. Weitere Texte

2.1. Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Text und Anm. 2:

«Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit ausdrücken können, Bewegung und Ruhe. Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt. Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.»

Dr. Henning Klingen: «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›»

2.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 20:

Ein Teilnehmer fragt, welche Formen und Wege es gibt, um ins Schweigen zu kommen und darin zu wachsen. Er erwähnt Zen-Meditation.

Bruder David: «Das Stichwort für dieses ins Schweigen kommen, ist ‹Innehalten›.

Der Grund, warum wir nicht immer schon im Schweigen sind, ist: Wir sind die Eilenden, Wir sind die Treibenden, sagt Rilke (Sonette an Orpheus 1. Teil, XXII):

Wir sind die Treibenden,
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.
[1]

Und das Bleibende ist das Jetzt, das große Jetzt, der Augenblick und wir sind meistens so in der Zeit gefangen, wir hängen noch an der Vergangenheit und weinen, dass sie nicht mehr da ist, oder fühlen uns als Opfer der Vergangenheit, oder wir sind ganz ungeduldig in der Zukunft. Also wir sind in der Zeit gefangen. Das ist wie ein reißender Strom ‒ und ein reißender Strom ist noch ein zu schönes Bild, weil es nicht so organisch ist wie ein reißender Strom ‒, sondern ganz mechanisch: Wir sind in dieser mechanischen Zeit der Schweizer Uhren eingefangen, und im Augenblick des Innehaltens ‒ ein schönes Wort, ‹Innerlichkeit› ist da drin ‒ wird es schon schweigen, wird es schon still. Das werden wir dann gleich ein bisschen üben.»

Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 83-85:

«Zeit hat zwei Aspekte: Einen Positiven und einen Negativen. Der Negative ist, dass wir uns in der Zeit verfangen.

Die meisten von uns müssen zugeben, dass wir oft an der Vergangenheit hängen oder die Vergangenheit bedauern und sehr mit der Vergangenheit beschäftigt sind oder / und zugleich auf die Zukunft schon nicht mehr warten können, und auch mit ihr beschäftigt sind, oder uns vor der Zukunft fürchten, und es bleibt ganz wenig Energie übrig, um im Jetzt zu sein.

Und auf dieses Jetzt kommt wieder alles an. Im Jetzt zu sein, das ist das Entscheidende.

T.S. Eliot, den ich schon mehrmals zitiert habe, sagt:

‹All is always now.› ‒ ‹Alles ist immer Jetzt.›[2]

Das klingt zuerst wie eine Binsenwahrheit, aber es ist eine ganz tiefe Einsicht.

Es ist nur Jetzt.

Wenn wir nicht im Jetzt sind, dann sind wir nicht wirklich da.

Was sich in uns an die Vergangenheit klammert oder auf die Zukunft schon ausrichtet, ist nicht da.

Das heißt nicht, dass man sich nicht erinnern soll. Erinnerung ist etwas Wunderbares:

Im Jetzt kann Erinnerung sein oder Planung, ist etwas ganz Wichtiges, kann auch Jetzt sein.

Aber es muss immer Jetzt sein, denn wenn’s nicht Jetzt ist, war es nur oder wird sein, und das  i s t  nicht.

Und wir wollen sein!

Nur im Sein, in der Lebendigkeit des Jetzt-Seins begegnen wir dem Geheimnis.

Der negative Aspekt der Zeit ist, dass wir in ihr gefangen sind.

Der positive Aspekt der Zeit ist, dass sie uns immer wieder neue Gelegenheiten schenkt.

Wir können uns hier überhaupt fragen: Warum soll es überhaupt Zeit geben? Warum ist nicht alles Jetzt?

Wenn alles nur Jetzt wäre, gibt es nur diese eine Gelegenheit, und das Leben ist so großzügig, dass es uns, wenn man diese Gelegenheit verpasst, eine neue Gelegenheit gibt.

Und wenn wir diese Gelegenheit beim Schopf ergreifen, führt es zu einer weiteren Gelegenheit. Immer wieder eine neue Gelegenheit, solange wir leben, von Anfang bis Ende eine große Gelegenheit nach der andern.

Und dieses Innewerden bezieht sich letztlich auf die Gelegenheit.

Das Innehalten, damit wir diesen Automatismus der Zeit brechen und wirklich im Jetzt sind. ‒

Das Innewerden bezieht sich auf: die Gelegenheit innewerden.

Wozu ist jetzt, das Jetzt, die Gelegenheit?

Und meistens ist es die Gelegenheit uns zu freuen. Uns einfach an dem Geschenk zu freuen.

Wir können es kaum glauben, das ist 99% der Zeit, einfach jeder Augenblick eine Gelegenheit, uns zu freuen.

Aber wenn wir beginnen innezuhalten, innezuwerden, und dann zu antworten auf die Gelegenheit, die uns geboten wird, wird uns plötzlich  b e w u s s t, dass eine Gelegenheit nach der andern eigentlich Gelegenheit ist, uns zu freuen.

Man kann das nur übersehen, weil wir entweder so in der Zeit befangen waren, dass wir gar nicht in der Gegenwart waren, oder weil wir alles so als gegeben hingenommen haben und nicht weiter darüber nachdenken.

Durch das Innehalten wachen wir dann auf und werden wirklich inne, was uns jetzt geschenkt ist.

Im Augenblick nachdenken, innehalten, innewerden: Was wird uns jetzt geschenkt?»

Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 88f., 91:

Eine Teilnehmerin fragt Bruder David:

«Wo ist die Entscheidung in dem Stop ‒ Look ‒ Go

Bruder David: «Das Entscheidende ist im Augenblick zu sein. ‒

Und das Stop ‒ Look ‒ Go ist eine Methode ins Jetzt zu kommen.

Wenn wir im Jetzt sind, dann fließt die Entscheidung schon durch uns durch und wir brauchen uns gar nicht mehr kompliziert zu entscheiden.

Wir sind eins im Selbst, im Jetzt, und es fließt durch.

Und wir kennen diese Situation, nicht von außen, sondern von innen.

Wir alle haben diese Situationen erlebt, in denen es sich einfach getan hat.

Und nachher fragt man sich, wie hast du denn das gemacht? —

Keine Ahnung! Es hat sich wie von selbst ergeben.

Es ergibt sich.»

Bruder David bringt das Beispiel eines Feuerwehrmannes, der ein Kind aus den Flammen rettet. Und der Reporter fragt: «Wie war das, diese Entscheidung zu fassen?» «Entscheidung? — Ich hab es schon getan, bevor ich etwas gewusst hatte.»

«… Das ist dieselbe innere Kraft, Lebenskraft, die wir durch uns fließen lassen, wenn wir im Jetzt sind.»

Ein Mann meldet sich: Er kann nicht gut zuhören. … Er strengt sich an …

Bruder David: «Nur immer wieder üben und keine Energie daran verschwenden, sich zu ärgern, weil’s nicht gelungen ist. Die Energie wird schon gebraucht für den nächsten Ausgenblick und die nächste Gelegenheit.

Immer wieder anfangen. Das ist eben das große Geschenk, dass das Leben uns noch eine Gelegenheit und noch eine Gelegenheit gibt.»]

 _______________________

[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Gedichte, 3; siehe auch Arbeit und Schweigen (1989), 296; Orientierung finden (2021), 98, und Audio in Ergänzend: 1.5.

[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten



Quellenangaben

Text, Filme und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn ich von meinem Selbst spreche, meine ich mein ureigenstes Wesen. Ich bin mir bewusst, dass ich «in mich gehen» kann, in einen inneren Bereich, der nur mir selbst zugänglich ist. Nur ich kann mein Bewusstsein erfahren, die andren erfahren nur meine von außen sichtbare Gegenwart als Körper unter andren Körpern. Aber normalerweise sagen wir nicht «Ich  b i n  ein Körper», sondern «Ich  h a b e  einen Körper». Das ist jedoch seltsam, wenn wir es bedenken. Da sitzt ein Körper und sagt: «lch  h a b e  einen Körper.»

Wer spricht denn da? Es ist mein verkörpertes Selbst, das spricht ‒ als eins mit meinem Körper. Und zugleich spricht es über meinen Körper als seine sichtbare Erscheinung. Innen und außen können nicht getrennt, sondern nur unterschieden werden.

Wenn ich also «lch-selbst» sage, dann meine ich eine Einheit, mein verkörpertes Selbst. Wie aber kann ich mein Ich klar von meinem Selbst unterscheiden? Kann ich den Unterschied zwischen Selbst und Ich bewusst erleben?

Das lässt sich an einem Experiment erproben. Unser reflektierendes Bewusstsein ermöglicht es uns, uns selbst zu beobachten. Beobachte dich also, wie du dasitzt und diese Zeilen liest. Damit uns das gelingt, müssen wir uns innerlich von dem, was wir beobachten, «distanzieren».

Schau noch einmal genau hin mit deinem inneren Auge: Siehst du irgendwie gleichzeitig dich selbst als beobachtet und als Beobachter? Dann musst du dich noch ausschließlicher auf das Beobachten konzentrieren. Früher oder später wird es dir gelingen, nur mehr das Beobachtete zu beachten, weil du dich vollständig mit dem Beobachter identifizierst. Wenn dir das gelingt, hast du das Ziel erreicht. Der Beobachter, den niemand mehr beobachtet, ist das Selbst.

Wo ist dieses Selbst? Nirgends und überall. Du kannst es nicht verorten. Daher ist es auch nicht in Teile zerlegbar. Daraus entspringt die überraschende Einsicht, dass es nur ein einziges Selbst gibt: eins für uns alle ‒ ein grenzenloses, unteilbares Ganzes!

Trotzdem ist unser Ich einzigartig und verschieden von jedem andren Ich.

Das eine unerschöpfliche Selbst drückt sich immer wieder in einem neuen Ich aus. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht einmal unsre Fingerabdrücke sich zweimal unter Milliarden andrer finden. Und doch meinen wir alle ein und dasselbe Selbst, wenn wir «Ich selbst» sagen. In jedem, dem ich gegenüberstehe, begegnet mir das eine Selbst, das uns allen gemeinsam ist. Dies ist von schwerwiegender Bedeutung für meine Beziehung zu andren.

Das Selbst ist nicht nur über den Raum erhaben, sondern auch über die Zeit und ist in diesem Sinne überzeitlich.

Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, finde ich ein andres, ein kindliches Ich, nicht mein jetziges. Trotzdem aber ist mein Selbst damals wie heute das gleiche; es bleibt auch in meiner Erinnerung unverändert. Schulfreunde erkennen einander nach dreißig Jahren wieder, obwohl nicht ein einziges Molekül in ihren Körpern mehr das gleiche ist. Sie erkennen einander, weil das bleibende Selbst sich im stets veränderlichen Ich des andren ausdrückt. Trotz all unsrer Einschränkungen ist jeder Mensch eine neue Verwirklichung der unbegrenzten Möglichkeiten des Selbst.

Erinnerst du dich an den Beginn deiner allerersten Freundschaft ‒ vielleicht schon im Kindergarten? War das nicht ein Augenblick überwältigten Staunens: Wie kann ein andres Kind so völlig anders sein und gleichzeitig so ich? Nicht wie ich ‒ die große Verschiedenheit zwischen uns macht das Ganze erst so spannend ‒ und doch im wahrsten Sinn des Wortes ich!

Der griechische Philosoph Aristoteles (385-332 v. Chr.) verstand Freundschaft als «eine einzige Seele, die in zwei Körpern wohnt» ‒ ein einziges Selbst in unsrer Terminologie.

Natürlich wohnt in allen Körpern «ein einziges Selbst», wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber die Augen von Freunden sind offen für diese ausschlaggebende Tatsache und sie sind sich ihrer Bedeutung füreinander bewusst.

Wenn wir uns dessen in Bezug auf alle andren wenigstens manchmal bewusst sein könnten, dann wäre unsere Welt ein freundlicherer Ort.

Im Laufe meines Lebens wurde mir mehrmals die Freude zuteil, Menschen kennenzulernen, deren Ich das Selbst mit großer Klarheit durchscheinen ließ. In ihrer Gegenwart fiel es mir leichter, «ich selbst» zu sein. Sie machten mir bewusst, dass auch ich ein einzigartiger Ausdruck des einen großen Selbst bin.

Verschiedene Traditionen geben dem Selbst unter diesem Aspekt unterschiedliche Namen. Für die Pima in Arizona heißt es z. B. «I’itoi», für Hindus «Atman», für Buddhisten «Buddha-Natur». Christen nennen es «Christus in uns».

In diesem Sinne schreibt der heilige Paulus: «lch lebe, aber nicht ich, Christus lebt in mir» (Gal 2,20).

Dieses Selbst immer klarer durchscheinen zu lassen durch unser Ich, stellt die große Aufgabe dar, «zu werden, wer wir wirklich sind».

Das ist die Aufgabe, «unsre Rolle im Leben gut zu spielen», wie man sagt.

Was heißt das aber? Unsre Rolle im Leben ist kein festes Drehbuch, und sie zu spielen, bedeutet zu improvisieren ‒ wie Schauspieler bei Improvisationsaufführungen oder wie Jazzmusiker. Jazz entfaltet und verändert sich ständig auf unvorhersehbare Weise, weil die Spieler aufeinander hinhorchen und jeder von allen andren beeinflusst wird.

Was ein Einzelner beitragen kann, wird von seinem Instrument mit all dessen Möglichkeiten und Grenzen bestimmt. Das Instrument, das wir von Geburt an mitbekommen, ist weitgehend durch Faktoren bestimmt, die nicht unter unsrer Kontrolle stehen. Wie viel hängt allein schon von Zeit und Ort unsrer Geburt ab ‒ von Zeit und Ort unsres «Auftritts» auf der Bühne des großen Welttheaters, auf der das Stück schon seit Jahrtausenden läuft.

Und denken wir an unsre Stärken und Schwächen, unsre ererbten Begabungen und Unzulänglichkeiten. Ganz gleich, wie wir mit ihnen umgehen, werden sie jedenfalls die Möglichkeiten und Grenzen unsrer Improvisation weitgehend mitbestimmen. Die Erfüllung unsrer Aufgabe «gut zu spielen», kann also nicht vom Instrument abhängen, auf das wir ja keinen Einfluss haben. Sie muss davon abhängen, wie «gut» wir es spielen.

Woran kann ich aber erkennen, dass ich meine Rolle gut spiele? Was heißt hier «gut»? Die Antwort ergibt sich aus dem, was wir über das Selbst gesagt haben:

Sie lautet: Du musst als «Du selbst» spielen. Wie gut wir «unsre Rolle im Leben spielen», hängt nicht von unsrer Veranlagung ab, sondern davon, dass unser Ich immer transparenter wird für das Selbst.

Das bedeutet auch, dass wir uns dessen bewusst bleiben, dass wir ‒ die Spieler ‒ alle ein Selbst sind. Und dass wir unsre gegenseitige Zugehörigkeit durch unsre Art zu spielen bekräftigen. Dann wird unser Spielen ‒ alles, was wir tun ‒ ein «gelebtes Ja zur Zugehörigkeit» ausdrücken. Das aber ist genau unsre Definition von Liebe.

Wenn du darüber nachdenkst, wirst du finden, dass Liebe in all ihren authentischen Formen «das gelebte Ja zur Zugehörigkeit» ist. «Unsre Rolle gut zu spielen», heißt also, durch alles, was wir im Leben tun, Liebe auszudrücken.

Das entspricht der Forderung, die wir in jeder Form von Spiritualität wiederfinden und die in der jüdisch-christlichen im allbekannten Gebot ihren Ausdruck findet: «Liebe deinen Nächsten als dich selbst!» (Lev 19,18).

Nicht «wie dich selbst» lautet es, sondern, «a l s  dich selbst» ‒ da dein Selbst ja auch das Selbst deines Nächsten ist. In jedem unsrer Mitspieler begegnen wir unsrem gemeinsamen Selbst ‒ auch in unsren Feinden. Daher ist «Liebe deine Feinde» (Mt 5,44) keine widersprüchliche Zumutung.

Zum Beispiel bleiben alle, die den Regenurwald zerstören, meine Feinde, obwohl ich als Christ sie lieben will. Würde Liebe alle zu Freunden machen, dann könnte ich ja niemals Feinde lieben. Meine Liebe wird sich daran zeigen, dass ich zwar alles tue, um ihren Bemühungen entgegenzuwirken und es ihnen unmöglich zu machen, Schaden anzurichten, ihnen aber gleichzeitig den Respekt erweise, der jedem Menschen gebührt, und sie so behandle, wie ich selbst behandelt werden möchte, wenn unsre Rollen vertauscht wären.

Inmitten meiner tatkräftigen Opposition darf ich niemals vergessen, dass das Selbst meiner Feinde mein Selbst ist.

Es gibt nur  e i n  Selbst. In dem Ausmaß, in dem wir diese Tatsache aus dem Bewusstsein verlieren, ist uns auch nicht mehr bewusst, dass letztendlich das Selbst alle Rollen spielt.

Wenn ich das vergesse, werde ich wie ein Schauspieler, der sich so in seine Rolle verliert, dass er sich am Ende nicht mehr von der Rolle unterscheiden kann. Wenn dies geschieht, hat mein Ich mein Selbst vergessen. Wir nennen das Ich, das seine Beziehung zum Selbst verloren hat, das Ego.

[Orientierung finden (2021): ‹Das Selbst ‒ mein ureigenstes Wesen›, 19-23]

[Ergänzend:

1. Filme

1.1. Filminterview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:

 «Wenn man von der Selbstfindung spricht, denken leider sehr viele Menschen nicht an wirkliche SELBST-findung, sondern an noch größere Vereinzelung dadurch, dass man sein EGO, sein kleines ICH in Zeit und Raum beweihraucht oder genau definiert oder was immer. Wirkliche SELBST-findung heißt ja, das in uns selbst finden, was uns mit allen andern verbindet.

Das SELBST ist, was uns mit allen andern verbindet. Letztlich gibt es nur ein SELBST. Und dieses eine SELBST drückt sich in vielen ICH aus.»

1.2. Die Rolle ist das Ich, der Schauspieler ist das Selbst (2011)
Zum Film:    Das Ich als Maske und das Selbst ‒ kurzer Ausschnitt aus ‹Ich und Selbst› im Zentrum Buddhas Weg im Odenwald (DE)

2. Audios

2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch› (Bruder David)

2.2.Lebendige Spiritualität (2015)
Der Doppelbereich
Die Themen des Gesprächs:
‹Selbstlos› ‒ Selbst ‒ Heilung

2.3. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe
Transkription S. 2, 11-13 und 27f.:
Wer bin ich? Ich-Selbst oder Ego?

2.4. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription:
(18:43) Was meinen wir, wenn wir Ich sagen und was meinen wir, wenn wir ‹Ich selbst› sagen?
(29:51) Wie kommen wir in Kontakt mit unserem Selbst? Durch alle die verschiedenen Formen der Meditation und der spirituellen Praxis: Auch dankbar leben ist ein ganz ebenso gültiger Weg wie jede andere spirituelle Praxis, ein Weg mit dem Selbst in Kontakt zu kommen, aus dem Selbst heraus zu leben

2.5. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Heilung von Körper und Geist: Gespräch mit Pater Johannes und Bruder David:

(22:04) Ich und Selbst unterscheiden: Das Selbst, der Quellgrund in uns

Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Sehen lernen:
(01:24:43) Ich und Selbst: die göttliche Wirklichkeit in uns

3. Weitere Texte

3.1. Das grosse Geheimnis (2019): Interview in Visionen (3/2019) zum 93. Geburtstag von Bruder David:

«Erwachen – was löst der Begriff aus in einem 93jährigen Benediktiner mit viel Zen-Erfahrung?»

Bruder David: «Die christliche Taufe bedeutet ursprünglich ‹Erleuchtung› – griechisch ɸωτισμος (phōtismos). Und in einem Taufhymnus aus dieser frühesten Zeit des Christentums heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten (Epheser 5:14). Erwachen und Erleuchtung sind hier aufs Engste verbunden. Worum aber geht es dabei? Um diese Frage zu beantworten, muss ich etwas weiter ausholen.

Wir Menschen leben im Doppelbereich von Ich und Selbst. Unser Ich steht in Raum und Zeit, hat Anfang und Ende, ist also vergänglich. Wir rühren aber auch an Unvergängliches (das Große Geheimnis habe ich es genannt) und wissen in unseren lebendigsten Augenblicken – etwa in Gipfelerlebnissen – dass wir mit unserem innersten Selbst auch dieser Wirklichkeit angehören. Dabei kann uns bewusstwerden, dass unser Selbst über Raum und Zeit erhaben, und daher unvergänglich und unteilbares Eines für uns alle ist. Es gibt nur ein Selbst, ob wir es Christus nennen, wie in dem erwähnten Taufhymnus, oder unsere Buddha-Natur, oder Ātman, oder mit sonst einem Namen. Wenn wir vollbewusst ‹ich selbst› sagen, betonen wir zugleich unsere Einzigartigkeit als Ich und unsere Verbundenheit mit allen Andren im Selbst. Alles, was wir aus dieser Mitte heraus tun, blüht auf in Harmonie mit dem Universum.

Aber leider vergisst unser Ich allzu oft sein Selbst und schrumpft dadurch zum Ego zusammen. Das Ego ist ein Ich, das vergessen hat, dass es durch sein Selbst mit dem Ganzen verbunden ist. Daher muss das Ego sich vereinzelt und von all den anderen Egos eingeschüchtert und bedroht fühlen. Aus Furcht wird es bereit zu Gewalt, Rivalität und Habsucht – alle drei Grundübel unserer Gesellschaft. Wenn mein Ego aber wieder zu vollem Selbstbewusstsein erwacht, dann wird es zum Ich-Selbst und kann Gewalt durch Gewaltfreiheit ersetzen, Rivalität in Zusammenarbeit verwandeln und Habsucht in Teilen. Das sind Stichworte für eine Gesellschaft, wie wir alle sie uns ersehnen.»

3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 103-112, 148-150:

«Das SELBST ist eines, aber ist so unerschöpflich, dass es sich immer wieder, immer wieder neu in noch einem ICH und noch einem ICH und noch einem ICH ausdrücken will, muss und kann. Drum gibt es so viele ICH und nur ein SELBST für uns alle. Und wenn man nur bedenkt, wenn man mit dem Bewusstsein, mit dem SELBST-Bewusstsein, lebt, wie anders man sich dann zu anderen Menschen verhält: Jeder Mensch, auch der unsympathischste, bin ich selbst. Nicht ich, aber das ist mein SELBST, wir haben nur ein SELBST, auch wenn er unsympathisch ist, der Mensch, nur ein ganz anderes ICH. Aber es hilft schon, zu wissen, er ist mein SELBST.»]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Thorsten Scheu

Die stille Ekstase der Gregorianischen Gesänge spricht Menschen aller Glaubensrichtungen an. Was übt diese zeitlose Faszination aus? Die Gesänge sprechen auch heute unser Herz an: Sie rufen uns auf, in das Jetzt einzutreten, innezuhalten, zuzuhören und auf die Botschaft des jetzigen Augenblicks zu achten. Sie sprechen den Mönch in jedem von uns an und ebenso unsere Seele, die sich nach Frieden sehnt und nach der Verbindung mit jener letztendlichen Quelle von Sinn und Wert.

Mit Informationen übersättigt, oft jedoch jeglichen Sinnes beraubt, haben wir das Gefühl, in einem endlosen Strudel von Pflichten und Anforderungen gefangen zu sein, gefordert von Dingen, die wir erledigen und in Ordnung bringen müssen. Auch wenn wir uns bange von einer Aktivität in die nächste stürzen, spüren wir dennoch, dass es im Leben mehr geben muss als unsere geschäftlichen Termine. Unbehagen und hektisches Herumjagen sind das Ergebnis unserer verkehrten Zeitempfindung ‒ einer Zeit, die stets abzulaufen scheint.

Die westliche Kultur verstärkt diese irrtümliche Auffassung von Zeit als beschränktem Gut: ständig arbeiten wir auf Termine hin, ständig fehlt uns die Zeit, ständig ist die Zeit abgelaufen.

Die Gesänge hingegen rufen ein anderes Verhältnis zur Zeit wach, in dem Zeit wohl wertvoll, aber nicht knapp ist. Sie beschwören die Urform des klösterlichen Lebens herauf, in welcher die Zeit harmonisch dahinfließt. Die verfügbare Zeit entspricht der vorliegenden Aufgabe. Es ist immer genügend Zeit da für alles, was getan werden muss.

Die reinen, klaren und erhabenen Töne der Gesänge erinnern uns daran, dass es sehr wohl eine andere Art und Weise gibt, in dieser lauten, zerstreuten Welt zu leben, und dass diese nicht so unerreichbar ist, wie es scheint.

Wenn wir uns den Gregorianischen Gesang anhören, werden wir nicht nur der ineinander verwobenen Stimmen der Mönche gewahr, sondern auch eines beinahe unhörbaren Echos, einer zusätzlichen Tiefendimension dieser Musik. Und es ist diese heilige, transzendente Qualität der in einer hohen Kapelle gesungenen melodischen Linien, welche viele am Gregorianischen Gesang so sehr berührt.

Gerade diese Tiefendimension gleicht der Jetzt-Dimension der Zeit. Denn «jetzt» findet nicht innerhalb der chronologischen Zeit statt, sondern transzendiert sie.

Hier kann Zeit nicht als etwas, das knapp wird, begriffen werden, sondern als etwas, das wie Wasser aus einer Quelle steigt und zu jener Fülle der Zeit anschwillt, die jetzt ist.

Genau in die Mitte dieses Lebens im Jetzt holen uns die Gesänge zurück.

Der Gregorianische Gesang regt uns durch seine Harmonie, Ganzheit und Gesundheit dazu an, aus den Vorgegebenheiten und Spannungen des Arbeitstages auszutreten, unser eingefahrenes Selbst loszulassen und uns in unserem wahren Selbst einzufinden.

Der Gesang ist eine Einladung an unsere Seele, den Zynismus hinter uns zu lassen, das innere Geschwätz abzustellen und hinzuhorchen.

Die Stunden sind die «Jahreszeiten» des Tages. Früher wurden sie mystisch verstanden. Frühere Generationen, die nicht von der Uhr beherrscht wurden, verstanden die Stunden persönlich und begegneten ihnen als Boten der Ewigkeit im Fluss der Zeit, der wächst, erblüht und Früchte trägt. Im sich entfaltenden Rhythmus aller Dinge, die auf Erden wachsen und sich verändern, war die Vorgabe jeder Stunde von einer unendlich reicheren und komplexeren Eigenart als unsere sterile Uhrzeit. Man verstand sie als Boten einer anderen Dimension ‒ gleichsam als Engel ‒ die anzeigten, dass jeder Stunde ihre ureigene Bedeutung innewohnte.

Auch heute noch ‒ inmitten unserer vollgepackten Geschäftstermine ‒ können wir feststellen, dass die Zeit vor der Morgendämmerung, die frühen Morgenstunden, der Vormittag und die Mittagszeit eine eigene Qualität haben. Die Zeit mitten am Nachmittag, wenn die Schatten länger werden, hat einen anderen Charakter als die Zeit der Abenddämmerung, wenn wir das Licht einschalten.

So ist eine Gebetszeit denn eher eine unsichtbare Kraft als eine Maßeinheit.

Die Stunden, in denen die Mönche zum Gebet und zum Gesang zusammengerufen werden, sind Engel, denen wir zu bestimmten Zeitpunkten im Laufe des Tages begegnen.

Die Gebetszeiten werden «kanonische» Gebetszeiten (oder Stundengebete) genannt, weil das Wort «Kanon» ursprünglich einen Messstab bezeichnete und weil der Tag nach seinen verschiedenen Stimmungen gemessen wird. «Kanon» kann aber auch Gitter bedeuten, wie ein Spalier, an dem man Reben hochzieht. So können wir uns die Gebetszeiten auch wie einen Rahmen vorstellen, der den klösterlichen Tag und das gesamte mönchische Leben trägt und unterstützt.

Die mönchische Beziehung zur Zeit wird geformt durch die Stunden des Gebetes; dadurch steigert sich unsere Aufmerksamkeit für die feinen Unterschiedlichkeiten im Ablauf des Tages. Und je größer diese Sensibilität wird, desto empfindlicher werden wir für den gegenwärtigen Augenblick.

Die Wechselgesänge jeder Stunde helfen den Mönchen, voll in die flüchtige Dimension des Jetzt einzutreten.

Der Gesang bereitet uns darauf vor, auf den Ruf jeder Stunde zu antworten; denn das wirkliche Leben findet weder in der Uhrzeit noch in der chronologischen Zeit (nach dem Griechischen chronos) statt, sondern in dem, was die Griechen kairos nannten: der Zeit als Gelegenheit oder als Begegnung.

Aus der mönchischen Perspektive ist die Zeit immer eine Reihe von Gelegenheiten, von Begegnungen.

Wir leben im Jetzt, indem wir uns auf den Ruf eines jeden Augenblicks einstimmen, indem wir hören, was jede Stunde und jede Situation von uns verlangt, und indem wir darauf antworten.

Die Gebetszeiten sind noch in einem anderen Sinn mönchische Tagzeiten. Das englische Wort «season» (oder das französische «saison») hat eine lateinische Wurzel, die «säen» bedeutet.

So sind denn die Stunden des Tages die eigentlichen Stationen oder Abschnitte des Tages, zu denen wir in uns, und draußen in der Welt, bestimmte Samen säen. Die Samen, die wir säen, sind die Tugenden, die jeder Stunde eigen sind.

Tun wir einen Schritt aus der bloßen Uhrzeit hinaus, in der wir lediglich reagieren, und gehen stattdessen in die Tageszeit der Stunden ein, indem wir bewusst auf die Botschaft des Engels einer bestimmten Stunde antworten.

Jede Stunde des klösterlichen Tages stellt eine unverwechselbare Aufforderung dar und verlangt daher nach einer einmaligen Antwort.

Dieses wechselseitige Spiel von Botschaft und Antwort findet wiederum ihren symbolischen Ausdruck in der antiphonalen Struktur der Gesänge.

Anrufung und Antwort ist das Wesen dieser Musik. Die Gesänge sind kein Vortrag eines Solisten, sondern die Darbietung eines Chorals. Und die ganze Gemeinde singt, nicht nur einige spezialisierte Sänger. Wichtig ist nicht der Sänger, sondern der Gesang und eine über sich selbst hinausgehende Antwortbereitschaft, die dieser Gesang erfordert.

Die Regel des heiligen Benedikt - das «Spalier» (denn Regel heißt griechisch canon), das Gitterwerk, das 1500 Jahre lang das mönchische Leben getragen hat ‒ erinnert die Mönche daran, dass sie sich jedes Mal, wenn sie singen, in Gegenwart von Engelchören befinden. Und sie singen wie die Engel, von denen man sagt, sie würden einander gegenseitig anrufen und in nie endendem Lobpreis antworten.

So drückt sich auch das spirituelle Leben als Ganzes aus, das wesensgemäß ein Leben der Liebe ist, in der wir Gott und einander zuhören und antworten. Liebe (Agape) ist keine Privatangelegenheit.

In den Gesängen, die nicht so sehr ein akustisches Phänomen als vielmehr eine innere Erfahrung sind, begegnen wir einer Wirklichkeit, die wirklicher ist als das, was wir in unserem geschäftigen Alltagsleben erleben. Weshalb ist das so?

Einer der Gründe für ein Gefühl des Unbehagens in unserem Alltagsleben könnte darin liegen, dass wir entweder über die Vergangenheit grübeln oder uns Sorgen über die Zukunft machen und deshalb nicht im Hier und Jetzt sind, wo unser wirkliches Selbst weilt.

Die Gesänge rufen uns aus der chronologischen Zeit heraus, in der «jetzt» niemals gefunden werden kann, und in das ewige Jetzt hinein, das gar nicht in der Zeit zu finden ist.

Wenn wir uns die Zeit als Linie vorstellen, die von der Zukunft in die Vergangenheit reicht, dann frisst die Vergangenheit die Zukunft ständig und ohne den geringsten Rest auf.

Solange wir uns «jetzt» als eine ganz kurze Zeitstrecke vorstellen, hält uns nichts davon ab, diese Strecke zu halbieren und dann nochmals in zwei zu teilen.

Weil sich die chronologische Zeit immer weiter teilen lässt, gibt es kein «jetzt» auf unseren Uhren, und in der Uhrzeit lässt sich keine «stille Mitte»[1] finden. Es ist ein Gedankenexperiment, das uns klar machen kann, wie wir im Jetzt etwas erfahren, das in der Zeit gar nicht enthalten ist, sondern weit über sie hinausgeht: die Ewigkeit.

Die Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit. Sie ist, wie Augustin sagte: «Das Jetzt, das nicht vergeht.»

Wir können die Ewigkeit nicht dadurch erreichen, dass wir einfach in einer chronologischen Reihenfolge vorangehen, und dennoch ist sie uns in jedem Augenblick als geheimnisvolle Fülle der Zeit zugänglich.

Wir werden ab und zu, in den Augenblicken, in denen wir am lebendigsten sind, in unseren Gipfelerlebnissen, in das Mysterium der Zeit aufgenommen.

Von solchen Momenten sagen wir etwa: «Die Zeit stand still» oder: «So viel hatte in einem einzigen winzigen Augenblick Platz» oder: «Stunden vergingen, und es war wie im Nu, wie eine Sekunde.»

Unser Zeitgefühl verändert sich in solchen Momenten der tiefen und intensiven Erfahrung, und dann wissen wir, was Jetzt bedeutet.

Wir fühlen uns in jenem Jetzt, in jener Ewigkeit zu Hause, weil das der einzige Ort ist, wo wir wirklich sind.

Wir können nicht in der Zukunft sein, wir können nicht in der Vergangenheit sein; wir können nur in der Gegenwart sein.

Wir sind nur in dem Maße wirklich, in dem wir im gegenwärtigen Hier und Jetzt leben.

Opus Dei nennen es die Mönche, wenn sie die Stunden des klösterlichen Tages besingen: das Werk Gottes. Wenn wir verliebt sind, ist der Lobpreis des geliebten Geschöpfes, das uns gegenübersteht, keine Mühe. Ebenso wenig sind es die Gesänge der Mönche. Der Gregorianische Gesang ist ein Lobpreis, der von Herzen kommt. Wenn die Gesänge auch manchmal ein Schmerzensschrei oder ein Ausdruck unserer Not sind, so behalten sie dennoch stets die Ober- und Untertöne des Lobpreisens bei. Lobpreisen ist unsere Antwort auf die Herrlichkeit Gottes, darauf, dass Gottes Gegenwart in allem, in jedem Menschen und in jeder Situation erstrahlt. Je liebevoller wir sind, desto öfter sehen wir diese strahlende Herrlichkeit. Je öfter wir sie erstrahlen sehen, desto eher ist Lobpreisen unsere spontane Antwort darauf. Das ist es, wozu der Mensch gemacht ist. Wir sind wesensgemäß diejenigen, die lobsingen. Das ist unser höchstes Ziel.[2]

In der traditionellen christlichen Spiritualität heißt es, dass alles sub specie aeternitatis anzusehen ist, was soviel heißt, wie die Dinge vom Gesichtspunkt der Ewigkeit aus zu betrachten.

Im Alltagsleben sind wir versucht, den Dingen ein subjektives Maß anzulegen, sei es den irdischen Erfolg, das Erreichen unserer Ziele oder die Erfüllung der Erwartungen anderer. Unser Leben hat aber nur dann Tiefe und Sinn, wenn wir es von einer höheren Warte aus betrachten und unsere zeitlichen Ziele am ewigen Jetzt messen. Dieses Jetzt hallt in den Gesängen nach.

Wir wissen, dass es uns nicht wirklich glücklich macht, nur Ziele auf der pragmatischen, materiellen, zeitlichen (und damit auch befristeten) Ebene zu erreichen.

Wenn uns etwas mit einer tiefen und anhaltenden Freude erfüllt, dann bedeutet dies, wirklich zu sein, ganz lebendig und gegenwärtig im Jetzt zu Hause zu sein.

Doch wer kann lange in diesem gesegneten Bereich verweilen? Wir stellen uns gerne vor, die großen spirituellen Meister, die großen Asketen, könnten das. Können sie?

In einer alten Geschichte aus den Anfängen des christlichen Klosterlebens kommt das schön zum Ausdruck: Ein junger Mönch reist zu einem alten, hoch geachteten Mönch weit draußen in der ägyptischen Wüste und berichtet ihm, dass er immer wieder seinen Geistesfrieden verliert. Der junge Mönch sucht eine Anleitung, um seinen inneren Frieden zu bewahren. Zu seinem großen Erstaunen antwortet ihm der alte Mann: «Ich habe dieses Gewand nun siebzig Jahre getragen, und nicht einen einzigen Tag lang habe ich Frieden gefunden.»

Wenn sogar dieser erfahrene Mönch feststellt, dass der Frieden des Augenblicks ständig bedroht ist, was sollen wir dann erst dazu sagen? Was zählt, ist aber nicht, dass dieser Friede ein fester Besitz ist, sondern vielmehr, dass wir nie aufhören, danach zu streben. Vollkommenheit heißt nicht etwas erreichen; Vollkommenheit liegt im unermüdlichen Streben.[3]

Die gregorianischen Gesänge erscheinen vollkommen, auch wenn sie nicht von Berufssängern vorgetragen werden. Es gehört zur Eigentümlichkeit dieser Musik, dass jeder lernen kann, im Choral mitzusingen.

Diese Gesänge sind eine Volkskunst: Ihre Unvollkommenheit gehört zu ihrer Vollkommenheit. Sie haben für alle Arten von Stimmen und Gesangstalenten Platz; im Kloster werden die Gesänge von allen gesungen, die gerade da sind und die den Geist der Gemeinsamkeit teilen. So sind Unvollkommenheiten unvermeidlich, genau wie im Leben. Und gerade darum geht es: Eine bemerkenswert überirdische Schönheit entsteht, wenn ganz normale Leute mit all ihren Unzulänglichkeiten sich diesem Gesang hingeben.

Singen ist ein wesentlicher Bestandteil vieler religiöser Überlieferungen ‒ der buddhistischen, jüdischen, hinduistischen, islamischen und anderer. Das kommt daher, dass an einem gewissen Punkt der religiösen Erfahrung das Herz einfach singen will, das Singen bricht aus ihm heraus.

Obwohl es widersprüchlich scheint, kann man sagen, dass das Wort dann entsteht, wenn das Schweigen seine Fülle gefunden hat.

Wie es im Buch der Weisheit heißt: «Denn während tiefes Schweigen alles umfing und die Nacht in ihrem schnellen Laufe bis zur Mitte vorgerückt war» – als also die Nacht am dunkelsten und tiefsten war –, «da sprang sein allmächtiges Wort vom Himmel her, vom königlichen Thron» (Weish 18,14f.):

In der Weihnacht beginnt das Schweigen zu singen.

Dieses Buch ist eine Reise durch die Stunden des mönchischen Tages. Um die Musik der Stille zu hören und ihre Botschaft zu erlauschen, müssen wir aus der Uhrzeit in den klösterlichen Fluss der Zeit eintreten, der sich in den Horen, den Stunden des Gebetes äußert.

Wir müssen die Gewohnheit zu reagieren aufgeben und lernen, auf das zu antworten, was im Augenblick gegeben ist.

Wenn wir mit dieser inneren Haltung dem Engel jeder Stunde begegnen, dann werden wir offen sein für den Samen, den der Engel uns zu säen aufträgt, und die Tugend, die sich daraus entfaltet, wird in unserem Leben Frucht tragen.

[Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 15-17, 27-32]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Gregorianische Gesänge, siehe QR Code in Musik der Stille (2023), 32:
Antiphona I: Sancta Maria, sucurre miseris ‒ Psalmus 109 Dixit Dominus; Interpretation: Heinrich Isaac-Ensemble, Karlsuhe; Leitung: Hans-Georg Renner

1.2.Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen:
(57:56) Im Gespräch: Das Geheimnis als Vater und Mutter (Gleichnis vom verlorenen Sohn) – Als tiefes Schweigen (Weihnachtsantiphon, Weish 18,14f.)

1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Teil 3: ‹Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht› (Angelus Silesius):
(06:39) ‹Es ist jetzt 12 Uhr›: Das Läuten zum Angelus Gebet ist Anstoß zu einer Betrachtung über den Einbruch der Ewigkeit in der Zeit, in der auch die Katzen nicht fehlen

2. Weitere Auszüge aus : Musik der Stille (2023):

Beginn des Vorworts von Anselm Grün, 1f.:

«Der heilige Benedikt hat den Tag für seine Mönche so geordnet, dass sie siebenmal am Tag das Lob Gottes singen und in den nächtlichen Vigilien das Wort Gottes meditieren. Die frühen Mönche hatten noch ein Gespür für die Heiligkeit der Zeit. Jede Stunde sollte durch ein Gebet geheiligt werden. Heilig ist das, was der Welt entzogen wird, worüber die Welt keine Macht hat.

Durch die Heiligung der Zeit im Stundengebet wird deutlich, dass nicht wir es sind, die über die Zeit verfügen, dass die Zeit viel mehr Gott gehört und dass sie uns geschenkt ist. Jeder Augenblick ist, so verstanden, eine angenehme Zeit, eine Zeit der Gnade.

Jede Stunde hat ihre eigene Qualität. Das wird im Charakter der einzelnen Gebetszeiten deutlich, vor allem in den Hymnen.

Der Benediktiner David Steindl-Rast beschreibt die Gnade, die jede Stunde für uns bereithält. Und er verbindet das Geheimnis der Stunden mit der Musik des gregorianischen Chorals.

Der gregorianische Choral kennt acht verschiedene Töne. In diesen acht Tönen singt er die Psalmen. Wie jede Stunde ihre eigene Qualität hat, so auch jeder Choralton. Jeder Ton eröffnet einen Klangraum, in dem Gott anders erklingt. Jeder Ton eröffnet im Herzen des Singenden einen eigenen Geschmack. Und jeder Ton öffnet auch im Herzen der Sänger Räume, damit alle Bereiche der menschlichen Seele von Gottes Heil durchdrungen werden. Der ganze Mensch soll durch das Singen des Chorals geheilt werden.»

‹Die Tagzeiten›, 23-26; Text vollständig in Sinn und Feier:

«Die Glocke erweckt uns zum Jetzt und fordert uns auf, das zu tun, wofür es Zeit ist, weil es jeden Moment Zeit ist, etwas zu tun, auch wenn es bloß Zeit zum Schlafen ist.

Ein altes Motto lautet: ‹Age quod agis› ‒ ‹Tue, was du tust›.

Freiheit liegt darin, das, was du tust, wirklich zu tun.

Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt.

Der Gesang lehrt uns noch etwas anderes über das Leben in der Gegenwart. Von einem Pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts. Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht. Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten.

Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.

Sich auf die Gesänge einzulassen, kann eine Art nüchterner Ekstase auslösen. Ekstase heißt wörtlich außerhalb von sich stehen.

Wenn wir singen oder Gesängen zuhören, haben wir Zugang zu jener Dimension, die außerhalb der Zeit ist: dem Jetzt.

Paradoxerweise brechen wir aus der Uhrzeit genau dann aus, wenn wir ganz im Augenblick sind.

Der Augenblick und die Ekstase gehören zusammen: Wenn wir wirklich hier, jetzt, in diesem Augenblick sind, dann sind wir ganz spontan auch ekstatisch.

T. S. Eliot spricht von ‹Musik, so innig gehört, dass sie nicht gehört wird, weil man selbst die Musik ist, solange sie forttönt.›[4]

Und in dieser Erfahrung sieht er einen Aspekt vom ‹Augenblick in und außer der Zeit›.[5]

Wenn wir lernen, die beiden miteinander zu verbinden und in und außer der Zeit zu leben, dann lassen wir aus der Polarität zwischen Zeit und Jetzt, zwischen Augenblick und Ekstase eine schöpferische Spannung entstehen.

Dank dieser inneren Einstellung können wir ein volles und schöpferisches Leben leben.»

‹Die Tagzeiten›, 26f.; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4. und Erlösende Kraft:

«Die Beschäftigung mit dem Gesang entwickelt jene Haltung des Zuhörens und Antwortens in uns, die wir auf jede Handlung im Laufe des Tages übertragen können.

Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.

Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.

Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.

Deshalb sagte Rilke: ‹Jeder Engel ist schrecklich.›

Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel? Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.

‹Denn das Schöne›, sagt Rilke, ‹ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.›[6]

Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben. Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.

T. S. Eliot bemerkt: ‹Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.›[7]

Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen, Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug: ‹Tut Wirklichwerden weh?› Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort: ‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»

Vigil ‒ NACHTWACHE›, 36-39:

«DIE VIGIL IST DER SCHOSS der Stille und die längste Stunde. Der Gang zum Oratorium noch vor der Morgendämmerung unter dem Sternenhimmel, wenn die Mönche sich zur Vigil einfinden, erfüllt uns mit Ehrfurcht und ist ein geeigneter Beginn des klösterlichen Tages.

Die Vigil lädt dazu ein, sich der Nacht hinzugeben und trotz der großen Furcht, die sie einflößen kann, auf die Dunkelheit zu vertrauen. Es gilt zu lernen, dem Mysterium mit jenem Mut entgegenzutreten, der lebendig macht. Dann entdecken wir, was im Prolog zum Johannesevangelium mit dem geheimnisvollen Wort ausgesprochen wird: ‹Das Licht leuchtet in der Finsternis›. Das heißt nicht, dass das Licht in die Finsternis hineinleuchtet, wie etwa der Strahl einer Taschenlampe in ein dunkles Zelt. Nein, das Erfreuliche an der Botschaft des Johannesevangeliums ist, dass das Licht mitten in der Finsternis leuchtet. Das ist eine große Offenbarung; die Finsternis selbst leuchtet.

Deswegen singt der Psalmist: ‹Zur Finsternis will ich sprechen: Sei mein Licht!› Die Finsternis selbst als Licht zu erkennen, kann sehr tröstlich sein. Wenn Finsternis in uns herrscht, dann rufen wir mit dem Propheten aus: ‹Wächter, ist die Nacht bald hin?› Wann wird es endlich Tag?

Die Herausforderung besteht darin, tief genug zu schauen, um zu erkennen, dass diese Finsternis alles ist, was wir brauchen, und in ihr finden, was wir suchen. Wenn wir uns in den Gregorianischen Gesang vertiefen, dann hören wir Klang gewordene Finsternis, eine Finsternis, die leuchtet.

Der Nachtwind ist die natürliche Stimme der Vigil. Der Wind ist ein Symbol für Geist, den spiritus, ein Wort, das auch ‹Atem› und ‹atmen› bedeutet. Der Heilige Geist oder spiritus sanctus ist jener Lebensatem, der in der Finsternis weht. Der Gesang ist hörbar gewordener Geist. Er ist ein Symbol für den Wind, der im Geist weht, und wir wissen nicht, von woher er kommt und wohin er fährt. Er ist voller Überraschung und ganz und gar schöpferisch.

Um in diesem Choral mitzusingen, lernt man als Mönch, richtig zu atmen. Wer bewusst atmet, lernt, in seiner Mitte und dort gegenwärtig zu sein, wo er sich gerade befindet.

In einem seiner Gedichte spricht Robert Frost scherzhaft vom Wind, der nicht wusste, wie er blasen sollte, bis wir Menschen ihn in uns aufnahmen und ihm Stimme verliehen. Gesang – wie Poesie – ist der Wind, wie er sein sollte: ‹Der Zweck war Gesang›.[8]

Wir alle haben mit dunklen Zeiten zu kämpfen, wie Jakob, der nachts mit der göttlichen Gegenwart in Form eines dunklen Engels rang, der so verführerisch schön und doch so beängstigend war. Am Ende der Nacht sagt der Engel: ‹Lass’ mich los›. Jakob aber antwortet: ‹Ich lasse dich nicht, bis du mich gesegnet hast›. Als die Dämmerung anbrach, segnete ihn der Engel, aber er verletzte ihn auch, indem er ihn am Hüftgelenk berührte. Von jenem Tag an hinkte Jakob. Es gibt diese geheimnisvolle Verletztheit, die mit einem großen Segen einhergeht.[9]

Wenn wir der Nacht wirklich in ihrer ganzen Schönheit und ihrem ganzen Schrecken entgegentreten, dann haben wir keinerlei Zusicherung, dass wir unversehrt davonkommen. Gehst du aber verletzt daraus hervor, kann dies auch ein Zeichen des Segens sein, den du dort empfangen hast.

DIE STUNDE DER VIGIL ist auch ein Zeichen für das Erwachen, das wir inmitten unseres Lebens vollbringen sollen. Die Welt, in der wir leben, ist in der Tat eine umnachtete Welt. Das Wachen in der Nacht, das Warten auf Licht, ist eine Wachsamkeit, die uns eindringlich darauf hinweist, den Tag hindurch aus der Welt des Schlafs in eine andere Wirklichkeit zu erwachen.»

‹Laudes ‒ TAGESANBRUCH›, 50f., 57-58:

«Die Musik schwingt sich empor: Es ist ein Gesang der Freude und ein Gesang der Dankbarkeit. Diese festliche Stimmung der Dankbarkeit und Freude zieht sich den ganzen Tag durch die Gesänge hindurch, sogar dann, wenn sie gemessener und zurückhaltender werden. Welche Gesänge wir uns auch anhören, es ist ein Widerhall dieser tiefen Freude darin zu hören, weil Freude selbst mitten im Leiden und mitten im Schmerz angebracht ist.

Freude ist jene Art von Glück, das nicht davon abhängt, was uns zustößt. Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt. Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist? Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein? Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade jetzt geschenkt ist. Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.»

«Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken. Die Freude äußert sich im Lobpreis Gottes und durchzieht sogar die klagenden Melodien der Gesänge. Freude ist etwas, das wir pflegen können: wenn wir erst einmal diese dankbare Freude in den Gesängen hören und ihre Schönheit unser Herz ergreift, dann können wir auf leichte und natürliche Weise anfangen, Dankbarkeit zu üben.»

«Die schlanken melodischen Linien des Gregorianischen Chorals in ihrer Einfachheit und überirdischen Schönheit wecken unsere volle Aufmerksamkeit. Sie entspringen einer tiefen Stille, und haben die Kraft, uns selbst still werden zu lassen, wenn wir sie nicht nur mit den Ohren aufnehmen, sondern mit dem Herzen. Diese Musik stumpft niemals unser Gehör ab, sondern verfeinert es. Ihre ‹asketische› Schönheit und ihre lautere Sinnlichkeit vermitteln den Hörenden mühelos Sammlung und jene besondere Lebenshaltung, die daraus entspringt.»

‹Prim ‒ BEWUSSTER BEGINN, 72-75; siehe Stop ‒ Look ‒ Go: Ergänzend: 1.:

«Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.»

«Man singt ja gemeinsam mit anderen, und gerade deshalb ist der Gesang so schön. Es ist nicht nur eine Stimme, die singt, sondern da singt eine Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft singt nicht einfach nur, sondern sie singt ganz bewusst mit der gesamten Schöpfung, mit den Vögeln, den Bäumen, dem Wasser und den Engeln, mit der sichtbaren und der unsichtbaren Kreatur.»

«Solange wir unsere Arbeit aus Liebe tun für diejenigen, die uns etwas bedeuten, macht sie Sinn. Die Liebe ist der beste Grund für unsere Mühsal. Liebe verwandelt alles, was wir tun und erleiden, zu einer Musik, die sich erhebt und weit hinaufschwingt wie ein Lobgesang.»

Terz ‒ SEGEN, 88f.:

«Unser Unbehagen in der Welt, die wir uns geschaffen haben, spricht von unserer Sehnsucht, am Strom der Gnaden teilzuhaben, Gottes Geist in einer wahren Begeisterung zu erleben und zu spüren, dass Lebensfreude mehr ist als ein flüchtiges Gefühl. Der Gregorianische Gesang ist die Musik, die unsere Verbindung zum Ganzen ausdrückt. Er sagt uns, dass wir letztlich nicht verwaist und entfremdet sind. Der Geist des Universums belebt unseren Leib und fließt als Gesang aus unserem Mund»

Sext ‒ INBRUNST UND HINGABE, 94f.,100, 102f.; siehe auch Besinnung:

«Am Mittag läutet es zum Angelus. Die Glocken läuten, wenn der Tag seinen Höhepunkt erreicht hat, und zu diesem Zeitpunkt beten wir den Angelus. Dieses Gebet ist nach den ersten Worten der Verkündigung im Lukas-Evangelium benannt ‹Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom Heiligen Geist.› In dem Bild der Gottesmutterschaft Marias feiern wir den Einbruch der Ewigkeit in die Zeit. Und genau das verkündigt eigentlich jeder Engel: dass das Ewige jetzt in unsere Zeit einbricht.»

«DIE SEXT IST mit der Stille und dem Frieden des Mittags verbunden, aber sie lenkt den Blick auch auf Krisen und Gefahr.»

«Der Mittagsteufel ist die Stimme der Negativität, der Verzweiflung und der Depression. Sein Gegenspieler, der ihm entgegengesetzte Engel, ist die Freude. Das Gegenteil von Freude ist nicht die Traurigkeit, sondern die Faulheit, welche die Mühe scheut, auf den geschenkten Augenblick voll und ganz zu antworten, und die Trübsinnigkeit, die daraus entspringt.

Die Gregorianischen Gesänge erinnern uns daran, dass Leid ‒ etwa Kummer über einen Schicksalsschlag, den Tod eines Kindes, das Ende einer Freundschaft, große Enttäuschung – mit Freude doch letztlich vereinbar ist. Sie können inmitten der Freude tieftraurig klingen, niemals aber trübsinnig. In vielen Gesängen ertönen Psalmen, die alle Wechselfälle des Lebens umfassen. Trotzdem schleicht sich nie Verzagtheit ein, weil diese Musik im tiefsten Glauben wurzelt.»

Non ‒ DIE SCHATTEN WERDEN LÄNGER, 107:

«Früher am Tag schwangen Kraft und Begeisterung mit, doch mit der Non begegnen wir der Wirklichkeit, dass im Menschenleben nichts für immer währt. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass wir etwas nicht ewig behalten können? Wie gehen wir mit der unausweichlichen Unbeständigkeit des Lebens um? Genau das ist die Frage dieser Stunde.

Die Gesänge verkörpern sowohl die Vergänglichkeit als auch Dauerhaftigkeit. Keine Note klingt länger an als etwa eine Sekunde. Die Gesänge sind Bewegung und Veränderung. Dennoch vermitteln die ununterbrochenen Gesänge durch alle rhythmischen und melodischen Wechsel hindurch eine Qualität von Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit.»

Vesper ‒ DAS LICHTERANZÜNDEN, 122f.; siehe auch Erlösende Kraft: 3.2.:

«Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln. Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns. Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.

Wenn wir tagein, tagaus in den acht Gebetszeiten in der Gemeinschaft singen, dann sinkt die rhythmische Ruhe der Gesänge tief in unsere Seele. Wir tragen sie dann in uns, wohin wir auch gehen. Diese Stille ist unsere innere Klausur. Und es mag wohl sein, dass diejenigen, die ein Einsiedlerleben in der Abgeschiedenheit wählen, das nur tun können, weil sie vorher jahrelang in Gemeinschaft gebetet und gesungen haben. Sogar wer diese Gesänge zu Hause hört, wird ihren mönchischen Geist tief in sich aufnehmen und ihre heilige Ruhe zu einer wesentlichen Dimension seines Innenlebens machen können.»

«Wir rücken näher zusammen, wenn es dunkel wird. Die Stunde der Vesper ist ein Aufruf zur Nachbarlichkeit. Diese dunkle Stunde der Weltgeschichte lädt uns ein, unsere Nachbarn näher kennenzulernen und mit ihnen gemeinsam zu arbeiten und zu feiern. Wenn das Gemeinschaftsbewusstsein, das den Gregorianischen Gesang prägt, zu einem stärkeren Füreinandersorgen führt, dann kann das ein großes Geschenk der Mönche an die Welt sein.»

Komplet ‒ DER KREIS SCHLIESST SICH, 132f.:

«In Rilkes Stunden-Buch heißt es in einem Gedicht von geheimnisvoller Schönheit: ‹Ich komme aus meinen Schwingen heim, mit denen ich mich verlor.› Die Aktivität hat mich verschluckt, ich war besessen von Bewegung und Tun, und jetzt trete ich hinaus aus meinen Schwingen, um still zu sein.

Ich war Gesang, und Gott, der Reim,
rauscht noch in meinem Ohr.
Ich werde wieder still und schlicht,
und meine Stimme steht;
es senkte sich mein Angesicht
zu besserem Gebet.
[10]

Er nennt dieses Gebet der Stille ‹ein besseres Gebet›, zumindest besser für diese Stunde. Die Komplet ist die Stunde, in der wir die Rückkehr der Gesänge, der Worte in die Stille feiern, aus der sie kommen.»

Das grosse Schweigen ‒ die MATRIX DER Zeit, 142f., entlässt uns am Schluss wieder in den Alltag; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.4.:

«Wir haben nun alle mönchischen Tageszeiten durchlaufen, den Kreis geschlossen und sind im großen Schweigen angelangt, der Brücke der Stille zwischen Komplet und Vigil, die erneut den Kreislauf der Stunden eröffnet. …

Die Botschaft der Stunden lädt uns ein, täglich nach dem wirklichen Tagesrhythmus zu leben. Aufmerksam, bewusst und absichtsvoll zu leben, unser Leben von innen heraus zu lenken und uns nicht von den Forderungen der Uhr oder äußeren Terminen oder von bloßen Reaktionen auf irgendwelche Geschehnisse fortreißen zu lassen.

Wenn wir dem wirklichen Rhythmus zufolge leben, werden wir selbst wirklicher.

Wir lernen, auf die Musik dieses Augenblicks zu lauschen, lernen, ihr süßes Flehen und ihre nüchternen Anweisungen zu hören.

Wir lernen, im Herzen ein wenig zu tanzen, unsere inneren Pforten einen Spalt weiter zu öffnen und auf die Musik der Stille, den göttlichen Herzschlag des Universums, zu horchen.»]

 ________________________

[1] R. M. Rilke: ‹Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)

[2] Im Retreat-Woche in Assisi (1989) weist Bruder David bereits zu Beginn im Audio ‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5) auf den wunden Punkt der Verkündigung hin: Die Trennung von Glauben und Loben.

[3] In Zeit der grossen Glocken:

«In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt.

Wir sind jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das Zeit überwindet.

Das Jetzt ist nicht in der Zeit. Jetzt geht über Zeit hinaus.

Nur wir Menschen wissen, was ‹jetzt› bedeutet, weil wir ‹existieren›, ‒ weil wir aus der Zeit ‹herausragen›. Das ist ja die Bedeutung von Existenz. Und all diese klösterlichen Glocken wollen uns einfach erinnern: Jetzt! ‒ und sonst nichts.

Freilich können wir nicht behaupten, dass es uns schon gelungen sei. Um nochmals Eliot zu zitieren:

‹For most of us, this ist the aim
Never here to be realised;
Who are only undefeated
Because we have gone on trying.›

‹For us, there is only the trying. The rest ist not our business.›

‹Das Ziel hienieden
Den meisten von uns unerreichbar,
Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Weil wir es stets aufs Neue versuchten.›

‹Für uns gilt nur der Versuch. Der Rest ist nicht unsere Sache.›»

T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V und East Coker, V

[4] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]; siehe auch Mystische Erfahrung: Anm. 1 und Stillehalten:

‹For most of us, there is only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
                                            sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.›

‹Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
                                               Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.›

[5] Siehe Anm. 4

[6] R. M. Rilke: Erste Duineser Elegie

[7] T. S. Eliot: Four Quartets, Burnt Norton, I; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.3. und Erlösende Kraft: Ergänzend: 3.1.:

‹Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.

Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.›

[8] Robert Frost: ‹The aim was song›

[9] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 94f.:

«Das ist unser Wachstum eigentlich, nicht Siege, sondern vom immer Größeren besiegt zu sein.»

[10] R. M Rilke: ‹Ich komme aus meinen Schwingen heim› (Das Stunden-Buch)



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Robert Graf

Johannes Kaup: «Im Buddhismus gibt es eine zentrale Haltung, die man als Anfängergeist beschreiben könnte. Das ist im Englischen mit beginner's mind ein etwas missverständlicher Ausdruck, weil man meinen könnte, hier ginge es um den Gegensatz von unerfahrenen Schülern und erfahrenen Lehrern. Was ist dieser Anfängergeist, der auch für Sie sehr wichtig wurde?»

Bruder David: «Wer Anfängergeist hat, erlebt zum Beispiel jeden Tag so, als ob es der erste Tag wäre.

Mit Anfängergeist putzt man sich jedes Mal die Zähne so, als ob man sich noch nie die Zähne geputzt hätte.

Wenn man es einmal praktisch versucht, sieht man erst, was das für einen Unterschied im Leben macht. Wie interessant plötzlich alles wird, wie lebendig. Man bemerkt Dinge, die man vorher nie bemerkt hat. Darum sprechen buddhistische Lehrer vom typischen Dahinleben als einem Schlafwandeln. Ein schlafwandelnder Mensch wandelt eben durch die 24 Stunden des Tages dahin, aber ein wacher Mensch erlebt das Leben in voller Lebendigkeit. In diesem Sinn wach zu sein heißt, mit Anfängergeist zu leben. Bin ich nicht immer Anfänger? Ich habe ja diesen jeweils neuen Tag noch nie erlebt.»

Johannes Kaup: «Dieses Gespräch auch noch nicht. Wir haben schon ein paarmal miteinander gesprochen und es ist immer wieder neu. Wir fangen etwas Neues an, erkunden noch Unerhörtes. Ich jedenfalls komme mir auch immer wieder wie ein Anfänger vor.

Bruder David: «Das ist gut, das müssen wir beide ...»

Johannes Kaup: «… aus einem frischen Geist tun. Man könnte auch sagen, es geht darum, die Dinge von ihrem Ursprung her immer wieder neu und tiefer zu verstehen. Man versucht den Dingen auf den Grund zu gehen, zur Quelle zu gehen und nicht die fixierten Begrifflichkeiten, die Vorurteile, die gedanklichen Einbahnen, die Meinungen über Menschen und Sachen als Schablone zu übernehmen, sondern diese zurückzustellen und einzuklammern.»

Bruder David: «Jede Benennung ist schon eine Verallgemeinerung und sozusagen eine Ablage in irgendeiner Schublade. Solange ich etwas nicht benenne, bleibt es reines Erlebnis. Auch das gehört zum Anfängergeist: Ich habe noch keinen Namen dafür.

Wenn ich es benenne, erlebe ich es gar nicht so richtig, sondern der Name kommt zwischen das, was ich tue, und mein lebendiges Erleben. Es wird zur Gewohnheit.

Die Rabbiner sagen: Die Gewöhnung ist das eigentliche Exil.

Was war das eigentliche Exil? War es, in Babylon zu sein oder in Ägypten? Nein. Sie antworten: Das eigentliche Exil besteht darin, dass man sich daran gewöhnt. Das Exil ist die Gewöhnung.[1] Sobald wir uns an etwas gewöhnen, erleben wir es nicht mehr mit Anfängergeist, sondern sind im Exil.»

Johannes Kaup: «Ich möchte das doch noch mit dem Gedanken von vorhin in Verbindung bringen. Sie haben gesagt, Sie brauchen Ordnung, Stabilität und Wiederholung. Wie verträgt sich Ordnung, Stabilität und Wiederholung mit diesem Anfängergeist, der die Dinge immer wieder neu sehen, erleben und begreifen möchte, der sozusagen aus der Ursprünglichkeit heraus lebt?»

Bruder David: Vielleicht ist mir gerade deshalb Wiederholung so lieb, sogenannte eintönige Arbeit. Manche Brüder finden es langweilig, wenn wir gemeinsam die Rundbriefe ausschicken. Aber jeder Briefumschlag, in den man etwas hineinsteckt, ist neu: Diesen einen habe ich noch nie in der Hand gehabt.

Wenn wir im Augenblick leben, wird er für uns taufrisch und überraschend.

Diese Einsicht steht wohl auch hinter dem großen Versprechen Gottes in der Apokalypse: ‹Siehe, ich mache alles neu› (Offenbarung 21,5).

Wenn wir bewusst in Gott leben und weben und sind, dann wird alles jeden Augenblick neu.

Es meint nicht: An einem gewissen Punkt der Geschichte werde ich alles erneuern und von da an beginnt es wieder zu altern, nein. Vielmehr: Sieh her! Wach auf! Jeden Augenblick mache ich alles neu. Das ist das große Versprechen. Eigentlich gibt es also gar keine Wiederholung.»

Johannes Kaup: «Es ist paradox: Wir leben aus einer Quelle, die sich ständig schenkt. Zugleich zieht sich der Grund dieser Quelle zurück, ist nicht sichtbar und fassbar. Das beschreibt gut die Situation, in der wir leben. Wir können das unergründliche Geheimnis Gott nicht festhalten. Aber aus dem Anfängergeist heraus können wir entdecken, dass sich uns ständig etwas neu schenkt.»

Bruder David: «Der Quellgrund, der hinter dem Herausquellen liegt, ist ja noch nicht Quelle. Anfängergeist achtet jeden Augenblick auf das Herausquellen, auf den Ur-Sprung.»[2]

Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das TAO. Watercourse Way nennt Alan Watts das TAO auf Englisch. Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden.

Um mit dem TAO zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum ‹Anfängergeist› des Kindes zurückfinden.

Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt. ‹Du hast noch kein Ich, das sich von dem, was geschieht, unterscheidet›, wie Alan Watts es ausdrückt. ‹Deshalb geschieht Dir auch nichts. Es geschieht einfach.› Du nimmst teil, sagt er an ‹den wundervollen Tanzfiguren … fließenden Wassers›.

Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im ‹Fließweg›. Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.

Wie beim Baby ‹geschieht einfach› das Lebensbejahende, aber mit unsrer Zustimmung. Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.»[3]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f.)

[Ergänzend:

1. Musik der Stille (2023), S. 53:

«Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren, und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten. Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. Diese erfrischende Haltung, Dinge immer wieder neu zu betrachten, nennen buddhistische Mönche ‹Anfängergeist›.

Gelegenheit, diese Haltung einzunehmen, ist nicht nur Mönchen vorbehalten, sie ist allen zugänglich. Wie Rilke im Stunden-Buch sagt: ‹Nichts war vollendet, eh ich es erschaut.›[4] Niemand hat je gesehen, was ich sehe, weder mit meiner ganz eigenen Anschauungsweise noch von meinem ganz persönlichen Standpunkt aus. Ich bin Schöpfer eines jeden neuen Tages. Mir ist Gelegenheit gegeben, alles in diesem neuen Licht zu betrachten, und als der einmalige Mensch, der ich bin, dies zu würdigen und darauf zu antworten.»

2. ‹Es nicht benennen›:

2.1. Schmecken, Ahnen, Weisheit:

«Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns ‹langsam namenlos› im Munde.»

Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal

2.2. Riechen, Düfte, Erinnerung:

«Solange man dem nicht einen Namen gegeben hat, war es ein großes Erlebnis. Und dann sagt man ‹pille› (‹bitter›) und aus ist es, abgestempelt. Aber solange man nicht benennt, hat es einen ungeheuren Effekt. Und so ist es auch nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Geruch. Und das sollte man immer wieder mal ausprobieren: nicht benennen: ‒ erleben!»

Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(43:44) ‹Der Duft› (Rilke, aus dem Nachlass) – ‹Rose, du thronende› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, VI)

2.3. Stille zulassen:

«In einem Kloster, das ich besuchte, trieb das Kreischen der Kreissäge beim Nachbarn eine der Schwestern buchstäblich die Wände hoch. ‹Wie kann denn so ein Geräusch Gabe Gottes sein?› Mein Vorschlag war: nur hinhorchen; nicht benennen. Und in diesem Fall wirkte es. ‹Ich hab's versucht›, berichtete die Schwester nach ein paar Tagen, ‹und was ich da hörte, klang wie die Stimme eines Erzengels!› Zwar verstehe ich mich nicht auf die Unterscheidung von Engelstimmen, aber ich glaube, mir würde schon die Stimme eines ganz gewöhnlichen Engels genügen.»

Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011)
Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch:
(13:52) Wie wir Stille finden können, wenn Lärm und Geräusche uns stören / (17:47) Die Tiefe des menschlichen Herzens, diese Tiefe liegt hinter allem: diese sehr tiefe Traurigkeit, die gehört dazu, und das Heimweh der Menschen liegt am Grund von allem Lärm]

__________________

[1] Siehe auch Sakramentales Leben: ‹Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.›

[2] Ich bin durch Dich so ich (2016): 5. Dialog, 1966-1976, 103-105

[3] Orientierung finden (2021): ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 88f.]; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.1.

[4] ‹Da neigt sich die Stunde und fasst mich an›: Das Gedicht, mit dem Rilke das Stundenbuch eröffnet, in Sehen ‒ schöpferisches Schauen, Sinn und Feier, Anm. 2, Stop ‒ Look ‒ Go, Anm. 2



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wenn ich mich an die spirituellen Giganten erinnere, die zu treffen ich die Ehre hatte ‒ Mutter Teresa, Thomas Merton, Dorothy Day, S.H. der Dalai Lama ‒ kann ich noch immer die kraftvolle Energie spüren, die sie ausstrahlten.

Aber woher hatten sie diese Vitalität?

In dieser Welt gibt es keinen Mangel an Überraschungen, aber solch eine strahlende Lebendigkeit ist selten.

Mir ist aufgefallen, dass all diese Leute von tiefer Dankbarkeit waren, und so habe ich das Geheimnis verstanden.

Eine Überraschung macht uns nicht automatisch lebendig, Lebendigkeit ist eine Sache von Geben-und-Nehmen, von Erwiderung.

Wenn wir zulassen, dass die Überraschung uns lediglich stört, dann wird sie uns betäuben und unser Wachstum hemmen.

Jede Überraschung ist eine Herausforderung, dem Leben zu vertrauen und so zu wachsen.

Überraschung ist ein Samen.

Dankbarkeit sprießt, wenn wir uns dem Aufruf der Überraschung stellen.

Die Großen auf dem Gebiet des Geistes sind so sehr lebendig, weil sie von so tiefer Dankbarkeit sind.

Dankbarkeit kann durch Übung vertieft werden. Aber wo sollen Anfänger beginnen?

Der naheliegende Ausgangspunkt ist Überraschung.

Du wirst merken, dass du die Samen der Dankbarkeit wachsen lassen kannst, nur indem du ihnen Raum gibst.

Wenn Überraschung passiert, weil etwas Unerwartetes auftaucht, lasst uns nichts erwarten.

Lasst uns Alice Walkers Rat befolgen:

«Erwarte nichts. Lebe einfach von der Überraschung.»

Nichts zu erwarten, das kann bedeuten, dass du nicht für selbstverständlich nimmst, dass dein Auto startet, wenn du den Schlüssel drehst.

Versuche das, und du wirst überrascht sein von einem Technikwunder, das aufrichtige Dankbarkeit verdient.

Oder vielleicht bist du von deiner Arbeit nicht gerade begeistert, aber wenn du für einen Moment aufhören kannst, sie für selbstverständlich zu nehmen, dann wirst du die Überraschung spüren, überhaupt eine Arbeit zu haben, während Millionen andere arbeitslos sind.

Wenn dich das einen Funken Dankbarkeit spüren lässt, wirst du den ganzen Tag über ein kleines bisschen freudiger, ein kleines bisschen lebendiger sein.

Wenn wir aufhören, alles für selbstverständlich zu nehmen, werden unsere eigenen Körper zu den größten Überraschungen überhaupt.

Es erstaunt mich immer wieder, dass mein Körper in jeder Sekunde zugleich 15 Millionen rote Blutkörperchen produziert und zerstört, 15 Millionen! Das ist fast zweimal die Einwohnerzahl von New York City.

Mir wurde gesagt, dass die Blutgefäße in meinem Körper, hintereinander aufgereiht, um die ganze Welt reichen würden. Trotzdem benötigt mein Herz nur eine Minute, um mein Blut durch dieses filigrane Netzwerk und wieder zurück zu pumpen. So hat es das in den vergangenen 75 Jahren Minute für Minute, Tag für Tag getan, und es pumpt immer noch alle 24 Stunden 100.000 Herzschläge. Für mich geht es dabei um Leben und Tod, dennoch habe ich keine Ahnung davon, wie das funktioniert und es scheint trotz meiner Ahnungslosigkeit erstaunlich gut zu funktionieren.[1]

Solange wir unserer Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie die Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.

In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hereinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig.

Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran.[2]

Es hilft, täglich wenigstens eine Überraschung wahrzunehmen, irgend etwas, was überraschend und unvorhergesehen ist.

Vielleicht ist es das Wetter, vielleicht ein Anblick, auf den wir aufmerksam werden.

Es kann ein angenehmes oder ein unangenehmes Ereignis sein. Wenn wir unser Herz öffnen, um etwas Überraschendes hineinzulassen, wird es uns immer klarer, wie viele Überraschungen jeder Tag enthält, und mit der Zeit erkennen wir, dass wir in einem Universum leben, das irgendwie zu uns spricht. Wenn wir das erst einmal erkannt haben, hören wir ganz selbstverständlich hin, weil wir die Botschaft hören wollen.[3]

Ein Regenbogen ist immer eine Überraschung.

Das soll nicht heißen, dass man ihn nicht voraussagen könnte. Manchmal bedeutet überraschend unvorhersagbar, häufig aber bedeutet es mehr.

Überraschend im umfassenden Sinn bedeutet irgendwie grundlos, geschenkt, gratis.

Selbst das Vorhersagbare wird zur Überraschung, wenn wir aufhören, es für selbstverständlich zu halten.

Wüssten wir genug, dann wäre alles vorhersagbar, und doch bliebe alles grundlos.

Wüssten wir, wie das gesamte Universum funktioniert, dann wäre es immer noch überraschend, dass es das Universum überhaupt gibt. Mag es auch vorhersagbar sein, so ist es doch umso überraschender.

Unsere Augen öffnen sich diesem Überraschungscharakter unserer Welt im gleichen Moment, da wir aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich zu erachten. Regenbogen haben etwas an sich, das uns aufwachen lässt.

Es kommt vor, dass ein uns völlig Unbekannter uns am Ärmel zieht und zum Himmel zeigt:

«Haben Sie den Regenbogen bemerkt?»

Gelangweilte und langweilige Erwachsene werden zu erregten Kindern. Vielleicht verstehen wir nicht einmal, was uns da aufscheuchte, als wir jenen Regenbogen sahen.

Was war es? Es war das Geschenkhafte, das da in uns hereinplatzte, die Unentgeltlichkeit aller Dinge.

Wenn so etwas geschieht, dann ist unsere spontane Reaktion Überraschung. Plato erkannte jene Überraschung als den Anfang aller Philosophie. Sie ist auch der Beginn von Dankbarkeit.

Eine kurze Begegnung mit dem Tod kann jene Überraschung auslösen.

In meinem Leben kam das sehr früh zustande. Da ich im von den Nazis besetzten Österreich aufwuchs, gehörten Luftangriffe zu meiner täglichen Erfahrung. Und ein Luftangriff kann einem die Augen öffnen.

Ich erinnere mich an einen Tag, als die Bomben zu fallen begannen, unmittelbar nachdem die Warnsirenen abgeschaltet waren. Ich befand mich auf der Straße. Da es mir nicht gelang, schnell genug einen Luftschutzbunker zu erreichen, rannte ich in eine nur ein paar Schritte entfernte Kirche. Um mich vor Glassplittern und Trümmern zu schützen, kroch ich unter eine Kirchenbank und verbarg mein Gesicht in den Händen. Als aber die Bomben draußen explodierten und der Boden unter mir erzitterte, da war ich sicher, dass das gewölbte Dach jeden Moment einstürzen und mich lebendig begraben würde. Nun, meine Zeit war noch nicht gekommen.

Ein gleichbleibender Ton der Sirene verkündete, dass die Gefahr vorüber sei. Und da stand ich nun, reckte mich, klopfte den Staub aus meiner Kleidung und trat heraus in einen herrlichen Maimorgen.

Ich lebte. Welch eine Überraschung!

Die Gebäude, die ich vor weniger als einer Stunde noch gesehen hatte, waren jetzt rauchende Schuttberge.

Was mich aber auf überwältigende Art und Weise überraschte, war, dass es dort überhaupt noch irgendetwas gab.

Meine Augen fielen auf wenige Quadratmeter Rasen inmitten all dieser Zerstörung.

Es war als hätte mir ein Freund auf seiner Handfläche einen Smaragd angeboten.

Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich Gras so überraschend grün gesehen.[4]

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann haben sich alle Schicksalsschläge und alles Arge, was mir widerfahren ist, immer als die Quelle einer guten Entwicklung herausgestellt.

Wir vergessen das nur allzu oft.

Und manchmal muss man auch lange warten, um es zu erkennen. So ist aber das Leben ‒ alles Schwere und alle Schläge wenden sich letztlich doch zu unserem Besten.

Rückblickend können wir das sehen. Und wenn wir uns üben, dann können wir daraus auch Vertrauen schöpfen im Voraus. Wir vertrauen uns dann dem Leben an. Wir sind offen für die Überraschungen, die uns das Leben schenkt.

Das alles entspringt aus der Dankbarkeit.[5]

Unser Herz sehnt sich nach der Überraschung, dass ein Geschenk auch wirklich ein Geschenk ist. Unser stolzer Intellekt aber stutzt bei einer Überraschung und will sie erklären, hinwegerklären.

Der Intellekt allein bringt uns nur ein Stück weit. Er hat einen Anteil an Dankbarkeit, aber eben nur einen Anteil.

Unser Intellekt sollte wach genug sein, die vorhersagbare Hülle der Dinge bis zu ihrem Kern zu durchschauen, um dort ein Körnchen Überraschung vorzufinden.

Das allein ist eine anspruchsvolle Aufgabe.

Aber Aufrichtigkeit verlangt ebenso, dass der Intellekt genügend demütig sei, das heißt genügend bodenständig, um seine Grenzen zu kennen.

Der Geschenkcharakter aller Dinge kann erkannt, nicht aber bewiesen werden ‒ zumindest nicht durch den Intellekt. Beweise finden sich im Leben. Und am Leben ist mehr, als der Intellekt zu fassen vermag.

Auch unser Wille muss seine Rolle übernehmen. Auch er gehört zur ganzen Fülle von Dankbarkeit. Es ist die Aufgabe des Intellekts, etwas als Geschenk zu erkennen, der Wille aber muss den Geschenkcharakter anerkennen. Erkennen und anerkennen sind zwei verschiedene Aufgaben.[6]

Es spielt keine Rolle, wie taub oder intellektuell verfangen wir sind, Überraschung ist immer nahe.

Selbst wenn in unserem Leben außerordentliche Überraschungen selten sind, das ganz Normale möchte uns immer wieder aufs Neue überraschen.

Wie ein Freund mir eines Wintermorgens aus Minnesota schrieb: «Ich war vor Sonnenaufgang auf den Beinen und beobachtete Gott dabei, wie er alle Bäume weiß anmalte. Den Großteil seiner besten Arbeit tut Er, während wir schlafen, um uns beim Aufstehen zu überraschen.»

Es ist ebenso wie bei der Überraschung, die wir in unserem Regenbogen fanden.

Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche.

«Natur ist niemals verbraucht», sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe.

«Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.»

Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals.

Bei einem Regenbogen ist das offensichtlich.

Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, «ein Schleier aus dem Atem eines Windes», wie Robert Frost das nennt, «ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht.»

Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden.

Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein.

Vielleicht sah ich «an diesem Morgen des Morgens Liebling», Gerard Manley Hopkins «vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben», oder einfach die zwei Zentimeter Zahnpasta auf meiner Zahnbürste.

Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, dass es überhaupt etwas gibt ‒ dass wir hier sind.

Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen lässt, öffnet «die Augen unserer Augen».[7]

Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Zentimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.

Überraschung führt uns auf den Weg der Dankbarkeit. Dies gilt nicht nur für unseren Intellekt, sondern auch für den Willen.

Es spielt keine Rolle, wie beharrlich sich unser Wille an unsere Selbständigkeit klammert, das Leben bietet uns die Hilfe, die zum Entkommen aus dieser Falle nötig ist.

Selbständigkeit ist eine Illusion. Und früher oder später zerbricht jede Illusion am Leben. Wir alle wären nicht das, was wir sind, ohne unsere Eltern, Lehrer und Freunde. Selbst unsere Feinde helfen dabei.

Niemals hat es jemanden gegeben, der sich selbst zu dem gemacht hat, was er ist. Jeder von uns braucht andere. Früher oder später begreifen wir diese Wahrheit.

Ein plötzlicher Trauerfall, eine lange Krankheit oder irgendetwas anderes ‒ ganz überraschend hat uns das Leben eingefangen.

Eingefangen?

Überraschend befreit, sollte ich besser sagen. Vielleicht schmerzt es, aber Schmerz ist ein geringer Preis für die Freiheit von Selbsttäuschung.[8]

(Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-6, 8)

[Ergänzend:

1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:

(18:34) «Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: ‹Überrasche mich!›, dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.»

2. Audios

2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(15:21) Das Leben will uns überraschen ‒ mit Hoffnung leben im Jetzt

2.2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(56:56) Offenheit für Überraschung in Angst und Panik

2.3. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(19:29) Offen für Überraschung im Augenblick tiefster Dankbarkeit ‒ Überraschung ist ein Name Gottes

2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen

3. Weitere Texte

3.1. Das Leben ist überraschend

Sinnenfreudiges Morgenlob mit Gedichten von Gerard Manley Hopkins; siehe auch Schönheit

Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:

«Wann und wo immer ich etwas mit Ehrfurcht beachte,
beschenkt es mich mit namenloser Überraschung,
weil bei allem ‹mehr dahintersteckt›.
Heute will ich also ehrfürchtig auf alle Dinge schauen.»

Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019):

«Ob krank oder gesund, wir sollten unseren Sinn für Überraschungen schärfen. Der Anfang der Dankbarkeit ist, sich vom Leben überraschen zu lassen – nicht von außergewöhnlichen Dingen, sondern von ganz alltäglichen! Es ist beispielsweise unglaublich, wie mein Blut tagtäglich Sauerstoff zu den Zellen transportiert. Oder wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, staune ich über die Schönheit des Abendlichts auf dem See. In solchen Momenten wird das Geschenkhafte der Welt deutlich. Nichts ist selbstverständlich, sondern alles ist geschenkt, unentgeltlich. Wir müssen aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich hinzunehmen.»

Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln ‒ Technik im Buch Dankbar leben (2018):

«Zuerst einmal können wir nicht damit beginnen, dankbar zu sein, es sei denn, wir wachen auf.

Aufwachen zu was? Zu Überraschungen!

Solange uns nichts überrascht, gehen wir wie betäubt durchs Leben.

Wir brauchen Übung, um zu einer Überraschung aufzuwachen. Ich schlage vor, eine einfache Frage als eine Art Wecker zu verwenden: ‹Ist das nicht überraschend?›

‹Ja, natürlich!›, ist die richtige Antwort, egal, wann und wo und unter welchen Umständen diese Frage gestellt wird.

Ist es nicht letztendlich überraschend, dass da überhaupt etwas ist anstatt nichts?

Fragen Sie sich selbst mindestens zweimal am Tag: ‹Ist das nicht überraschend?›, und Sie werden schon bald wacher durch die überraschende Welt gehen, in der wir leben.

Überraschung kann uns ein Anstoß sein, genug, um uns aufzuwecken und uns daran zu hindern, alles für selbstverständlich zu halten.»

Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 68f.:

Wir sagen, das Leben überrascht mich. (Schmunzelnd:) Und das Leben überrascht uns immer. Keine Gefahr! Wenn’s lebendig ist, ist es überraschend, wenn es nicht überraschend ist, sind wir schon im Bereich des Mechanischen, die Maschine. Das Leben ist grundsätzlich Überraschung.»

3.2. Hoffnung ist Offenheit für Überraschung

Stop ‒ Look ‒ Go:

«2. Durch ‹Look› üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.

Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.

Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.»

Weihnachtsgrüße 2019:

«Hoffnung, so verstanden, unterscheidet sich von Hoffnungen. Auch wenn all unsere Hoffnungen zerschlagen werden, diese Hoffnung überlebt als ‹radikale Offenheit für Überraschung›. Das Leben ist immer überraschend, und dem Leben dürfen wir vertrauen. Darum ist es diese, unsere gemeinsame Hoffnung, die ich Euch ans Herz lege und die ich uns allen von ganzem Herzen erwünsche und erbete.»

Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Hoffnung: Offenheit für Überraschungen›, 115, 117, 122 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 115, 117, 121f.]:

«Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst. In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern. Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.»

«Die Überraschung in der Überraschung jeder neuen Entdeckung besteht darin, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt. Hoffnung hält die Gegenwart offen für eine völlig neue Zukunft. Wir wollen jedoch nicht vergessen, dass es wenig Sinn hat, von Gott, Vergangenheit und Zukunft in einem Atem zu sprechen. Gott lebt im ‹Jetzt, das nicht vergeht›.

Hoffnung hält uns im doppelten Sinne offen: für eine Zukunft in der Zeit und für eine Zukunft jenseits von Zeit, für Gottes Jetzt.»

«Warten ist nur dann ein Ausdruck von Hoffnung, wenn es ein ‹Warten auf den Herrn› ist, auf Gott, dessen Name Überraschungen heißt ‒ und auf sonst nichts. Solange wir auf eine Verbesserung der Situation warten, machen unsere Ambitionen einigen Lärm. Und wenn wir auf eine Verschlechterung der Situation warten, dann werden unsere Ängste laut. Die Stille, die in jeder beliebigen Situation auf das Aufleuchten des kommenden Herrn wartet ‒ das ist die Stille biblischer Hoffnung.»

3.3. Überraschung ist ein Name Gottes

Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Hoffnung: Offenheit für Überraschungen›, 109 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 109]; siehe auch ST 139:

«Überraschung aber ist ein Name Gottes.

Tatsächlich ist Überraschung vielleicht der einzige Name, mit dem wir es wagen dürfen, den Namenlosen zu benennen. Zwar gelingt es auch dem Namen Überraschung nicht, Gott zu benennen. Indem wir ihn aussprechen, gelingt es uns aber zumindest, unser Herz für die Erkenntnis offen zuhalten, dass Gott mit keinem Namen eingefangen werden kann. Und das macht gerade aus unserer Unzulänglichkeit einen Erfolg.»

Das Vaterunser (2022): ‹Geheiligt werde dein Name ‒ Mein liebster Gottesname heißt Überraschung›, 46:

«Die Ergriffenheit, die mir vor dem Bild des Gottes Shiva in Chidambaram in Indien geschenkt wurde, kann ich nicht unterscheiden von dem, was mich manchmal beim Beten des Vaterunsers ereignet.

Es sollte uns daher gelingen, uns den Gottesnamen ‹Vater› immer wieder frisch zu eigen zu machen und ihn rühmend zu beten. Wir dürfen auch selber immer wieder neue Gottesnahmen erfinden.

Mein eigener liebster Gottesname ist ‹Überraschung›.»]

____________________________

[1] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Wunder des Lebens›, 57-61; siehe auch Lass dich überraschen (2019): ‹Jede Überraschung fordert uns auf, dem Leben zu vertrauen und so zu wachsen›

[2] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Staunen wie ein Kind›, 48; siehe auch Musik der Stille (2023), 55

[3] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Lass dich überraschen›, 51; siehe auch Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast›, TEIL 2, 102

[4] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Nichts ist selbstverständlich›, 52-56; siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 16f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 13f.]; siehe auch ST 137f.

[5] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Alles zu unserem Besten›, 113f.; siehe auch Spiritualität und Verantwortung: Christa Spannbauer im Gespräch mit Br. David (2009)

[6] Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Erwachen›, 78f.; siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 19f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 16f.]

[7] Siehe auch den Titel der Festschrift zum 80. Geburtstag von Bruder David Die Augen meiner Augen sind geöffnet (2006), inspiriert vom Gedicht XAIRE / 65 von E. E. Cummings im Beitrag von Max Milz Nicht quantifizierbar: Anm. 3

[8] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Staunen und Dankbarkeit›, 26f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 23f.]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hl geist georg stahl titelCopyright © - Georg Stahl

Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[1]

Pfingsten steht in der christlichen Tradition für die Feier des Geistes, und Geist ist Atem, göttlicher Atem, der uns lebendig macht und uns alle verbindet. Und in der Lesung zu Pfingsten heißt es von diesem Geist-Atem Gottes: er füllt das All; er hält alles zusammen; und er spricht und kennt alle Sprachen. Dem sollten wir nachgehen. 

Zunächst einmal: Er erfüllt das All. Das «All» steht hier für Kosmos, für Universum und für die ganze Geschichte, von Anfang bis Ende aller Zeit. Der Geist-Atem Gottes, so wird uns gesagt, erfüllt dies alles; und da auch wir atmen ‒ so können wir folgern ‒ sind auch wir mit alledem verbunden.

Und tatsächlich sagt uns die Wissenschaft, dass wir mit jedem Atemzug ganz kleine Spuren von Edelgas einatmen. Zum Beispiel macht das Argon 1% unserer Atemluft aus. Da es keine Verbindung eingeht, ist es von allem Anfang an in der Luft gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach atmen wir daher mit jedem Atemzug Argonatome ein, die Buddha eingeatmet hat, und Jesus und Moses. Auch in diesem Augenblick hat jeder von uns Atome in sich, die jeder große Mann und jede große Frau der Geschichte, an die Sie denken mögen, nach wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit einmal ebenfalls in sich hatten. So sind wir bereits physisch mit der ganzen Geschichte von Anfang bis Ende und mit jedem Ort der Erde verbunden.

Wir wissen darüberhinaus, dass unser Körper aus Sternenstaub gemacht ist, aus demselben Stoff also wie die Himmelskörper, die wir nur mit den stärksten Teleskopen überhaupt sehen können, die Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt von uns sind. ‒ Die Materie war ursprünglich eins. Und so hängen wir schon über Raum und Zeit mit allem zusammen.

Aber viel mehr noch hängen wir zusammen durch den Geist. Was meinen wir damit?

Albert Einstein sagte einmal, dass die Fülle der Natur, die uns umgibt, die Fülle dessen, was wir erforschen können, erstaunlich sei, dass aber noch erstaunlicher sei, dass wir diese Fülle verstehen können.

Wie können wir diese Fülle, wie das Universum verstehen? Wir können sie nur verstehen, weil wir nicht nur physisch eins sind mit dem Universum, sondern weil wir auch den Geist, den Geist-Atem in uns haben, der alles er-füllt.

Wir können «Fülle» hier auch durch das Wort «Sinn» ersetzen. Da wir also den Sinn, der alles erfüllt, in uns haben, vermögen wir in uns auch den Sinn dessen zu verstehen, was uns umgibt; wir sind ihm verbunden.

Wir könnten aber genauso sagen, Sinn sei «Nichts». Wenn nämlich etwas Sinn hat, fügt der Sinn dem ja nichts hinzu. Es ist somit «Nichts», nicht aber ein leeres Nichts, sondern jenes Nichts, das für uns weit bedeutender ist als alles, was besteht. Wenn wir auch alles besäßen und es hätte keinen Sinn für uns, dann wäre dieses alles völlig belanglos. Der Sinn ist jenes Nichts, das das All wertvoll macht, es zum Leben bringt. Daher sprechen wir auch, wenn wir diesen Sinn meinen, von Geist, von Atem, weil Atem Leben bedeutet. Und wenn es heißt, dass wir Menschen erst durch Gottes Lebensatem lebendig werden, dann bedeutet dies, dass wir das Leben Gottes teilen.

Was meinen wir jedoch mit diesem so oft missverstandenen Begriff «Gott»? Hat das Vorgetragene Bedeutung aus Ihrem persönlichen Erleben heraus, auf das es bei Sinnfragen ja letztlich ankommt? Ich will versuchen, aus meinem Erleben eine Brücke zu schlagen. Vielleicht erinnert Sie das an Ähnliches, was Sie selbst erlebt haben.

Wenn wir fragen, wann wir diesen Geist, diesen Sinn-schaffenden Lebensatem erleben, so scheint mir die Antwort aus der gemeinsamen Erfahrung zu sein: Wir erleben ihn dann, wenn wir einmal wirklich in der Gegenwart stehen.

Meistens befinden wir uns ja doch nicht in der Gegenwart, sondern haften noch halb an der Vergangenheit und sind schon halb ausgestreckt auf die Zukunft.

Hie und da aber erleben wir einen Augenblick, in dem wir ganz geistes-gegenwärtig sind, wie es das schöne Wort ausdrückt. Und Gott, richtig verstanden, ist dann das, was uns ent-gegenwartet, wenn wir wirklich in der Gegenwart sind. Oder man kann es auch so sagen: das Göttliche ist die Gegenwart, in der wir aufgehoben sind.

Erinnern Sie sich an diese besten, lebendigsten Augenblicke Ihres Lebens? Augenblicke, in denen Sie ganz in der Gegenwart aufgehoben waren?

Nicht wahr, wir erleben uns aufgehoben in dreifacher Hinsicht.

Zunächst im Sinn von ausgelöscht: Was uns da ent-gegenwartet, das löscht uns aus, aber nicht in negativer Weise, sondern wie die Sterne ausgelöscht werden, wenn die Sonne aufgeht.

Wir erfahren uns aber auch aufgehoben in dem Sinn, dass wir auf eine höhere Ebene hinaufgehoben werden. Die Gegenwart, wenn wir uns ihr wirklich stellen, hebt uns über uns selbst hinaus. Von solchen Augenblicken pflegen wir zu sagen, «in diesem Moment bin ich über mich selbst hinausgewachsen».

Und schließlich ‒ und dies ist das Wichtigste ‒ sind wir auch aufgehoben im Sinn von geborgen. Wir wissen in unseren besten und lebendigsten Augenblicken, dass wir in dem, das uns entgegenwartet, zuhause sind, völlig aufgehoben und wohl geborgen.

Weil Gottes Geist das All und uns erfüllt ‒ so haben wir gesehen ‒ deshalb können wir das All verstehen. Und da er alles zusammenhält, sind wir in der Einheit aufgehoben; und auch dies in dreifachem Sinn.

Wir sind in einer Einheit aufgehoben, in der unser kleines Ich ausgelöscht ist ‒ dies ist die negative Seite.

Wir erleben uns in ihr aber auch hinaufgehoben in Gemeinschaft und Bezogenheit.

Und wir erfahren uns schließlich geborgen in Gemeinschaft, zugehörig zum großen Haushalt der Erde.

Ich erinnere Sie nur an etwas, was gewiss auch Sie erfahren haben: In solchen Augenblicken, in denen wir, wie wir sagen, uns selbst verlieren, finden  wir uns, da sind wir wirklich ganz die wir sind.

In Zeiten dagegen, in denen wir uns anklammern an das, was wir zu sein glauben, da verlieren und zerstreuen wir uns.

Wenn wir uns über uns selbst hinaus in eine Einheit hineingehoben erleben, die gleichzeitig grenzenlose Gemeinschaft bedeutet, dann finden wir uns, aber wir finden uns nicht in unserem kleinen Ich, sondern in unserer Einzigartigkeit, in unserem höchsten, umfassendsten Selbst als Person, und wir erleben uns verbunden mit der ganzen Schöpfung und dem ganzen All.

Und darum heißt es auch vom Geist Gottes, dass er nicht nur das All erfüllt, nicht nur alles in Einheit zusammenhält, sondern dass er jede Sprache kennt. Wenn wir eine solche Geisterfahrung hatten, wie ich sie geschildert habe, dann sind wir versucht zu denken, unsere Sprache ‒ oder genauer gesagt, die Sprache unsrer religiösen Tradition ‒ sei die einzige, in der wir diese Geisterfahrung ausdrücken können.

Aber der Geist Gottes kennt und spricht alle Sprachen, nicht nur die der Menschen, sondern die der ganzen Schöpfung. Jedes Tier ist ja eine eigene Sprache, die der Geist spricht, jede Pflanze, jeder Kristall, jeder Stein, jeder Stern, jedes Meer, ‒ das Weltall ist ein Sprechchor von verschiedenen Sprachen, die alle der eine Geist spricht.

Und das Pfingstwunder wird gerade so beschrieben, dass alle die vielen Völkerschaften, die das Brausen des Geistes vernahmen, sich wunderten, dass jeder einzelne von ihnen die eigene Sprache vernahm!

Es ist die Einheit in der Vielfalt, die hier erfahren wurde ‒ ein ganz und gar ökumenisches Ereignis! Daher bedeutet das Pfingstfest auch geschichtlich den Durchbruch aus der Enge einer Religion (die hier, mehr oder weniger zufällig, das Judentum war), in den Universalismus!

Was sich aber im Laufe der Zeit aus diesem Pfingstereignis heraus entwickelt hat, das ist ‒ jedenfalls bis heute noch ‒ kein solcher Ausbruch aus der Enge, sondern nur die Entstehung einer anderen Religion, nämlich des Christentums.

Wir können bedauern, wir können es aber ebenso begrüßen. Denn diese Religion hat doch im Wesentlichen nur die eine Aufgabe: Mit jeder neuen Generation erneut über sich selbst hinauszuführen in den Universalismus, auch wenn sie noch so oft in sich selbst steckenbleibt.

Das Gleiche aber gilt ja auch für jeden einzelnen von uns. Auch wir haben doch eigentlich die Aufgabe, aus jenem tiefsten Erleben unserer All-Einheit heraus zu leben, und dennoch bleiben wir täglich wieder in uns selber stecken. Wie können wir dieses dann den Religionen verübeln, die doch nur die Konglomerate sind aus den vielen einzelnen von uns.

Besinnen wir uns also darauf, dass auch heute noch, 2000 Jahre nach dem Pfingstereignis, unverändert die Herausforderung an uns besteht, aus Religion im engeren Sinn ‒ ob das nun die jüdische, die christliche, die buddhistische oder eine andere Religion ist ‒ in den Universalismus auszubrechen, ohne die Religion zurückzulassen.

Wir lassen uns ja auch selbst nicht zurück, wenn wir über uns hinauswachsen, im Gegenteil. Genauso die Religion. Und auch sie wird erst wirklich sie selbst, wenn sie universalistisch wird.

Sie wird aufgehoben in dreifachem Sinn: Ausgelöscht, soweit sie in der Vereinzelung, im Gegensatz zu den anderen, steht; hinaufgehoben auf eine höhere Stufe und in eine umfassendere Ordnung; und aufgehoben im Sinn von Bewahrung, bei der ihr Bestes zum Vorschein kommt.[2]

Der Heilige Geist ist der göttliche Lebensatem in uns. Geist und Fleisch stehen einander im biblischen Sprachgebrauch als Pole gegenüber. Fleisch bezeichnet alles, was unvermeidlich dem Tod verfallen ist. Fleisch muss ja verwesen, wenn es nicht mehr vom Lebensatem lebendig erhalten wird. Geist ist dieser Lebensatem, zunächst ganz konkret biologisch, dann in alle Grade des Lebendigseins übertragen, bis zur höchsten spirituellen Wirklichkeit, unserer Teilnahme am göttlichen Leben.

In dieser letzten Bedeutung sprechen wir vom Geist als Heilig im Sinne höchster Transzendenz. An den Heiligen Geist zu glauben heißt, auf unsere innerste Verbundenheit mit dem lebendigen Gott zu vertrauen und entsprechend zu leben.

Wir können uns bewusstwerden, dass «leben» nicht etwas ist, was wir «tun», wie kochen, laufen oder Schach spielen. Leben ist vielmehr ein Vorgang, an dem wir teilnehmen durch alles, was wir tun und erleiden ‒ ein Vorgang, der sich in uns abspielt, der aber weit über uns hinausgeht.

Es ist etwas, was wir nicht durch Analysieren verstehen können, sondern nur im Durchleben.

Wir können uns auch verschiedener Intensitätsgrade der Lebendigkeit bewusst werden.

Deine Lieblingsspeise wird Deine Lebendigkeit um einige Grade erhöhen.

Gute Musik wird sie noch etwas höher schrauben.

Das Lebensgefühl, wenn du dein erstgeborenes Kind in deinen Armen hältst, liegt auf einer noch weit höheren Ebene.

Anderseits kann es auch vorkommen, dass deine physische Lebendigkeit, sagen wir durch Krankheit oder Altersbeschwerden, hinuntergedrückt ist. Auch emotional fühlst du dich niedergeschlagen und deine Denkschärfe ist geschwächt; und trotzdem kannst du gerade in einer solchen Lage einer unerwarteten Lebensintensität gewahr werden; trotz erschlaffter Vitalität brennt tief in dir die Lebensflamme stetig, still und stark.

Solange wir uns gesund und kräftig fühlen, achten wir meist kaum auf dieses innerste Lebensfeuer.

Wenn in ihm unsere Sehnsucht nach der letzten Wirklichkeit glüht, wenn es uns wärmt und wach hält und uns Kraft gibt unserer Umwelt in Liebe als Mitwelt zu begegnen ‒ mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben ‒, dann nennt die christliche Tradition diese Lebendigkeit den Heiligen Geist.

Jeder Mensch kann diese uns unendlich übersteigende und zugleich einbeziehende Lebenskraft in sich erfahren, ganz gleich welchen Namen wir ihr geben.

«Ich glaube an den Heiligen Geist»

Worum es in diesem Glaubenssatz geht, ist nicht ein Fürwahrhalten, dass es «eine göttliche Person» gibt, die Heiliger Geist heißt.

Es geht vielmehr um ein gläubiges Sich-verlassen auf das Leben in uns, das letztlich Anteilnahme an der göttlichen Lebendigkeit ist.

So dem Leben zu vertrauen  heißt: fest damit rechnen, dass jeder Tag uns genau das bringen wird, was wir brauchen ‒ wenn es auch nicht immer das ist, was wir uns wünschen.

Für mich persönlich war es eine folgenreiche Fügung, dass ich eingeladen wurde, im Sommer 1969, fünfzehn kleinen Klöstern-auf-Zeit im Staat Michigan beim Start zu helfen und sie zu betreuen; über die ganzen USA verstreut gab es Hunderte. Aus den stillen Gebetsgemeinschaften nahmen viele regelmäßig an den sprudelnden sprühenden charismatischen Gebetsabenden teil.[3]

Etliche von uns bereiteten sich in diesem Sommer auf die Geisttaufe vor, eine Erneuerung der Verpflichtungen, die man in der Taufe auf sich nahm, jetzt aber mit besonderer Offenheit für ein Leben im Heiligen Geist und für seine Gaben.

Als Tag für diese Feier hatte ich für mich den 20. Juli ausgewählt, weil das der 43. Jahrestag meiner Taufe war. Freilich konnte ich noch nicht voraussehen, welche spektakuläre zusätzliche Bedeutung dieser Tag in jenem Jahr erhalten sollte. Als wir am Abend des 20. Juli noch ganz glühend von Begeisterung aus dem Schulraum kamen, in dem wir gebetet und die Geisttaufe empfangen hatten, fiel mein Blick auf den Vollmond, der von hoch oben durch eines der Fenster herunterschaute. Eine kleine Menschengruppe stand da in der Eingangshalle vor einem Fernsehgerät. Warum waren sie alle so still? Als ich näher kam, bemerkte ich, dass sie atemlos zuschauten, wie der erste Mensch seinen Fuß auf die Mondoberfläche setzte.

«Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit», konnten wir aus 380.000 Kilometer Entfernung Neil Armstrong sagen hören und zugleich zum Mond aufblicken.

Bis heute kann ich kaum glauben, wie alles für mich zusammenstimmte, um eine Einsicht zu unterstreichen, die ich wohl nie vergessen werde:

Ja, der Heilige Geist ergreift und verändert uns durch tiefe innere Erfahrungen, aber derselbe Heilige Geist ergreift und verändert auch unsere äußere Welt.

Die leidenschaftliche, geduldige Forschungsarbeit von Wissenschaftlern, die Schöpferkraft von Technikern, Künstlern, Musikern, Dichtern und Schriftstellern, und der Einfallsreichtum von Frauen und Männern, die sich auf unzähligen anderen Gebieten im Dienst an der Menschheit um eine bessere Welt mühen, sie alle sind von ein und demselben Heiligen Geist inspiriert.

Jede Saite einer Windharfe antwortet mit einem anderen Ton auf denselben Wind. Welche Tätigkeit lässt dich selber am stärksten mitschwingen, wenn der Wind des Heiligen Geistes dich anrührt, der «weht, wo er will» (Joh 3,8)?

Die Turbulenz der Charismatischen Erneuerung in den Sechziger- und Siebzigerjahren hat sich gelegt, aber die Kirchen werden nie mehr zum alten Trott zurückkehren können. Ungezählte Christen hatten da tief spirituelle Erlebnisse und werden nie mehr ihre persönliche Erfahrung offizieller Lehre unkritisch unterwerfen.

Was hältst du persönlich von dieser Einstellung? Hat sie Grenzen, die respektiert werden wollen? Wie siehst du die Rolle des Heiligen Geistes in dieser Hinsicht? Wo siehst du den Heiligen Geist heute die Welt bewegen?[4]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 4)

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 3:
(23:08) Unser innerstes Leben ist göttliches Leben, der Lebensatem Gottes: ‒ Einatmen und ausatmen, geben und nehmen

1.2. «Vom Rhythmus des Lebens»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989) (06:02-15:47); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 13-15:

«Leben ist zu breit, als dass wir hoffen könnten, das ganze Spektrum hier zu behandeln. Wir müssen daher auswählen. Aber im Leben hängt alles mit allem zusammen. Welchen Bereich des Lebens sollen wir hier in Frage stellen, ins Auge fassen? Biologisches Leben, psychologisches Leben, soziologisches Leben, sogar politisches, ökonomisches Leben spielt da herein; jedes hat seine Rhythmen.

Ich möchte vorschlagen, dass wir uns heute auf den umfassendsten Bereich des Lebens einstellen, auf das  g e i s t l i c h e  Leben.

Geistliches Leben, das ist ‒ im Deutschen ‒ ein schwieriges Wort und missverständlich, weil man gleich an ‹die Geistlichen› denkt. Was heißt also ‹Geistliches Leben›?

Es heißt: Leben im Geist, Leben aus dem Geist, Leben im Heiligen Geist, Leben aus dem Heiligen Geist. Und Geist heißt Lebensatem Gottes.

Lebensatem ‒ alle die Wörter, die unserem Wort ‹Geist› voranstehen in der biblischen Tradition, ruach, pneuma, spiritus ‒ alle bedeuten Lebensatem.

Beinahe ist es ein Pleonasmus, von geistlichem, also lebendigem Leben zu sprechen ‒ so etwas ist ein weißer Schimmel oder ein schwarzer Rappe ‒, aber es ist doch nicht wirklich ein Pleonasmus. Wenn wir nämlich vom  g e i s t I i c h e n  Leben sprechen, dann meinen wir damit  w a h r e s  Leben, wahrhaftige Lebendigkeit, aufblühendes Leben, fruchtbares Leben ‒ ganz im Gegensatz zu dem, was wir so häufig Leben nennen, nämlich unser halbtotes, sich selbst verneinendes, geistloses Dahinleben. Das nennen wir auch Leben. Und daher muss man es ausdrücklich sagen: Wir meinen hier geistliches Leben, nämlich wirkliche Lebendigkeit.

Was können wir über diese wirkliche Lebendigkeit sagen?

1. Wir haben sie von Gott als Geschenk.

Im Buch Genesis, im 2. Kapitel (1 Mose 2,7), lesen wir: Gott, der Bundesgott, formte den Menschen aus Erde und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Das heißt, in biblischer Sicht sind wir jene Lebewesen, die durch Gottes eigenen Lebensatem lebendig sind. Das ist der Mensch.

Was können wir weiters über diese wahre Lebendigkeit aus der Sicht der christlichen Tradition, der biblischen Tradition sagen?

2. Wir haben sie mit Gott gemeinsam.

Diese Lebendigkeit ist Gottes Lebendigkeit in uns. Freilich, wir haben sie nur so gemeinsam, wie das Wasser in einem Krug und das Wasser im Meer gemeinsam sind, aber es ist doch eine Gemeinsamkeit. Wir Menschen atmen Gottes Atem.

3. Wir kennen Gott durch diese Lebendigkeit, wir kennen Gott nur durch diese Lebendigkeit des göttlichen Lebens in uns.

Denn man kann zwar über Gott etwas wissen, von außen, aber kennen kann man Gott nur von innen. Selbst erahnen können wir Gott nur von innen. Der heilige Paulus spricht das sehr schön aus im ersten Korintherbrief, im 2. Kapitel (1 Kor 2,10-12).

Er sagt: Wer kann schon einen anderen Menschen wirklich kennen? Nur der Geist, der in dem Menschen selber ist, kennt den Menschen wirklich. Und in Parallele dazu sagt er: Wer könnte dann hoffen, Gott zu kennen? Nur der Geist Gottes selbst kann die Tiefen Gottes ausloten.

Da könnte man nun glauben, dass Paulus aus diesen beiden Prämissen den Schluss zieht, wir sollten uns gar nicht bemühen, Gott zu kennen. Wenn wir schon einen anderen Menschen nicht kennen können, um wieviel weniger Gott.

Aber da springt er jetzt in der Kraft dieses selben Heiligen Geistes über die beiden Prämissen sozusagen hinweg und zieht kühn den Schluss: Wir haben den Heiligen Geist Gottes empfangen und erkennen Gott daher mit Gottes eigener Selbsterkenntnis. Wir kennen Gott von innen her, weil uns an Gottes eigener Lebendigkeit Anteil  g e s c h e n k t  ist.

Gottes Lebensatem ist uns geschenkt, wir können also Gott von innen her verstehen, durch diesen Heiligen Geist, durch diese Lebendigkeit in uns.

4. Diese Lebendigkeit macht uns zu Menschen, macht uns erst zu Vollmenschen.

Wir Menschen werden zu lebendigen Wesen, indem Gott uns Anteil nehmen lässt am göttlichen Atem, am Heiligen Geist.

Und je mehr wir uns aufschließen und lebendig werden durch Offenheit aller Sinne und durch Opferbereitschaft, umso mehr werden wir wahrhaft menschlich: als Gotterfüllte erfüllen wir unsere menschliche Berufung.

5. Zugleich aber verbindet uns dieser Heilige Geist auch miteinander.

Im Römerbrief sagt Paulus: Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, sind Söhne und Töchter Gottes (Röm 8,14). Das ist der Geist Gottes, den wir Menschen schon von Anfang an empfangen haben und dann in Fülle zu Pfingsten. Nach dem biblischen Menschenbild gibt es keinen Menschen in der ganzen Welt, der nicht aus Gottes eigenem Leben lebt, wenn er sich nur diesem Leben aufschließt, und so wirklich Mensch wird. Und darum verbindet uns der Heilige Geist mit allen, denn alle, die sich dem Geiste Gottes aufschließen, alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen (und Paulus betont dieses ‹alle› hier), sind Söhne und Töchter Gottes.

6. Nicht nur mit den Menschen verbindet uns dieser Heilige Geist, dieser Lebendigkeit in uns, sondern mit allen und allem, mit den Tieren, den Pflanzen, ja mit dem ganzen Kosmos.

In den Psalmen hören wir immer wieder vom Atem Gottes, der ausgeht und alles lebendig macht; wenn er zurückgezogen wird, fällt alles wieder ins Nichtsein zurück. Wir hören auch schon im Alten Testament, dass der Geist Gottes den ganzen Erdkreis füllt und alles zusammenhält, alles vereinigt und jede Sprache kennt.

Da ist die vereinigende Kraft des Geistes ganz deutlich ausgesprochen. Und wie sehr wir dieses Gemeinsamkeitsbewusstsein mit der ganzen Schöpfung gerade heute brauchen! ‹Geistliches Leben› bedeutet also Lebendigkeit im Heiligen Geist Gottes. Gerade auf diesen Aspekt des Lebens möchte ich hier am Anfang unserer Tagung eingehen, wenn vom ‹Rhythmus des Lebens› die Rede sein soll.»

1.3. Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 2:
(20:10) Bruder David spricht über seine Geisttaufe am 20. Juli 1969 und die Charismatische Erneuerung, wie er sie erlebt hat.

1.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(10:23) Mit Jesus bricht durch, was in Israel angelegt war: Wir sind lebendig mit Gottes eigenem
Lebensatem. Jesus ist nicht in erster Linie Verkünder, sondern erinnert uns, dass wir in unserem eigenen Herzen mit dem innersten Gesetz unseres Lebens, in eins mit dem Baugesetz ‒ dem Hologramm ‒ des Kosmos, vertraut sind.

2. Weitere Texte

1. Wendezeit im Christentum, Teil I (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 94f.:

«Der Heilige Geist bedeutet, dass wir die göttliche Wirklichkeit durch Gottes eigenes Selbsterkennen erfahren, an dem wir teilhaben. Gottes Selbsterkennen ist ein Aspekt dessen, was wir den Heiligen Geist nennen. Der hl. Paulus hat eine wunderbare Stelle in seinem ersten Brief an die Korinther formuliert (1 Kor 2,10-12): ‹Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch niemand, was in Gott ist, als der Geist Gottes.› Nun könnte man denken, aus diesen Sätzen sei der Schluss zu ziehen, dass kein Menschenwesen jemals Gott kennen könne. Wenn wir nicht einmal einen anderen Menschen in seinem Innersten kennen, wie könnten wir dann Gott kennen? Doch macht Paulus hier einen unglaublichen Sprung und sagt: ‹Wir haben aber nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist.› Das heißt, wir kennen Gott aus innerer Sicht, gewissermaßen durch Gottes Selbsterkennen. So gesehen ist die Dreifaltigkeit eine Art, über unsere menschliche Verbundenheit mit der göttlichen Wirklichkeit zu sprechen. Es ist eine Lehre, die ihre Wurzel in unserer mystischen Erfahrung hat.» [ST 63]

2 Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 59-63:

«Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht. Er gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.»

Dazu ergänzend aus Credo (2015): ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, 52f.:

«Im biblischen Schöpfungsmythos geht es anders zu als in Collodis ‹Pinocchio›, wo Gepetto eine Puppe schnitzt, die ihm davonläuft.

Der biblische Schöpfer haucht dem Werk seiner Hände seinen eigenen Lebensatem ein. Könnten wir (und so der ganze Kosmos) inniger verbunden sein mit Gott?

Hier muss das Bild von Gott als unser Vater das Bild von Gott als unser Schöpfer ergänzen und berichtigen. Es geht hier um ein Gegenüber, mit dem wir doch im Innersten eins sind.

Weil Lebendiges nicht  e r zeugt, sondern  g e zeugt wird, verlangt etwas in uns danach, dass auch Pinocchio zuletzt nicht Puppe bleibt, sondern in der Geschichte Collodis der Fleisch-und-Blut-Lausbub wird, der er eigentlich schon von Anfang an war.

‹Gezeugt, nicht geschaffen; eines Wesens mit dem Vater›, sagt eine andere Fassung des Glaubensbekenntnis von Christus aus.»[5]]

_____________________

[1] Sakramentales Leben; Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 119

[2] Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): ‹Wo stehen wir›?

[3] Ebd. S. 185:

«Es begann im Februar 1967 mit einer förmlichen Explosion von Geistesgaben während eines Einkehrtages für Studenten der Duquesne University [in Ann Arbor, Michigan, eine kleine Universitätsstadt im Mittelwesten der USA] Von da aus verbreitete sich die Charismatische Erneuerung wie ein Lauffeuer über die ganze Welt. Solche Geistesgaben ‒ z. B Zungenreden (ein ekstatisches Beten in meist unverständlichen Lauten), prophetische Mahnreden und Heilung durch Handauflegung ‒ die in kleineren evangelischen Kirchen der Pfingstbewegung schon lange bekannt waren, fanden nun plötzlich in den großen traditionellen Kirchen Eingang; in jeder beliebigen Anglikanischen oder Römisch-Katholischen Pfarrkirche konnte man jetzt auf solche Phänomene stoßen.»

[4] Credo (2015): ‹Ich glaube an den Heiligen Geist›, 182-184, 186f.

[5] ‹genitum non factum, consubstantialem Patri› (Großes Glaubensbekenntnis); siehe auch Religionen und heiles Gottesbild: Anm. 3



Quellenangaben

Text mit Video-Film von Br. David Steindl-Rast OSB

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(Video-Film gelesen von Bettina Buchholz) Singen ist eine meiner großen Freuden in dieser Zeit von Advent und Weihnachten. Aber heuer ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass dieses Singen an der Schwelle eines neuen Jahres eigentlich das Einüben einer Haltung ist, die wir beibehalten wollen. Singen weckt uns auf und macht uns erst so recht lebendig. Ist diese wache Lebendigkeit nicht die Haltung, mit der wir allem entgegengehen wollen, was uns bevorsteht?

Wie wichtig diese Haltung ist, nicht nur für uns selbst, sondern für das Wohl der Welt, hat Howard Thurman (1899-1981), den ich als einen großen Denker, Lehrer und Friedensaktivisten schätze, so ausgedrückt:

«Frag’ dich nicht, was die Welt braucht. Frag’ dich, was deine eigene Lebendigkeit weckt, und mach’ dich dran, es zu tun. Denn was die Welt braucht, sind wache, lebendige Menschen.»

Solche Menschen schauen auf das Leid der Welt und ihre Augen kennen brennende Tränen, die nach innen fließen. Sie verstehen aber Augustinus, wenn er sagt:

«Schau auf das Ganze: Preise das Ganze!»[1]

Und darum kennen sie innen auch ein Singen, das weiterklingt, wenn das Singen der Weihnachtsengel verklungen ist. Auch davon schreibt Howard Thurman:

«Wenn das Singen der Engel verklungen ist,
Wenn der Stern nicht mehr am Himmel steht,
Wenn die Könige und die Weisen heimgekehrt sind,
Wenn die Hirten wieder ihre Herden weiden,
Dann fängt das Weihnachtswerk an:
Verlorene finden,
Gebrochene heilen,
Hungernde speisen,
Gefangene frei machen,
Nationen neu erbauen,
Menschen Frieden bringen
Und im Herzen singen.»

Was mit dem Singen der Engel begonnen hat, wird am Ende zum Singen im Herzen der Menschen. In diesem Singen drückt sich die wache Lebendigkeit aus, mit der allein wir das verwirklichen können, was wir zu Weihnachten feiern – heilen, befreien, Frieden in die Welt bringen – und all das nicht als grimmige Weltverbesserer, sondern aus Freude, freudig, preisend, trotz aller Hammerschläge des eigenen Schicksals und des Schicksals der Welt.

Vom Menschenherzen, das auf diese Weise singt, sagt Rilke:

«Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»
[2]

Zum Segen für unsere arme Welt wünsche ich Euch (und mir selbst) so ein singendes Herz – in dieser festlichen Zeit, aber auch an jedem Tag des kommenden Jahres.

Euer Bruder David[3]

Der Gesang lehrt uns etwas über das Leben in der Gegenwart. Von einem pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts. Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht. Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem pragmatischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten. Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.

Singen ist ein wesentlicher Bestandteil vieler religiöser Überlieferungen ‒ der buddhistischen, jüdischen, hinduistischen, islamischen und anderer. Das kommt daher, dass an einem gewissen Punkt das Herz einfach singen will, das Singen bricht aus ihm heraus. Obwohl es widersprüchlich scheint, kann man sagen, dass das Wort dann entsteht, wenn das Schweigen seine Fülle gefunden hat.[4]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f.)

______________________

[1] Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: siehe die Audios in Ergänzend: 2.1-2.3

[2] R. M. Rilke: Die zweite Duineser Elegie

[3] Weihnachtsgrüsse 2014 mit Ernst Barlachs Bronzefigur ‹Singender Mann›

[4] Musik der Stille (2023): ‹Zum Gregorianischen Gesang›, 24f. und 31; siehe auch ST 119



Quellenangaben

Texte und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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 «Dein Reich komme»

«D e i n R e i c h und was damit gemeint ist, können wir wohl nur dann recht verstehen, wenn wir die geschichtliche Lage beachten, in der dieses Gebet entstanden ist.

Jesus und seine Jünger waren Juden, gewalttätig unterdrückt und ausgebeutet von der römischen Besatzungsmacht. Erst im Gegensatz zum gewalttätigen Weltreich der Römer gewinnt die Bitte um dein Reich seine volle Wucht.

Dein Reich auf Erden gewaltfrei zu verwirklichen, das war die große Leidenschaft Jesu. Dafür lebte er und dafür musste er sterben.

Da stand Gottesreich gegen Römerreich.

Politische Machthaber spüren so etwas sofort. Sie erkannten die Konkurrenz und schlugen zu. Für unpolitische Nächstenliebe ist noch nie jemand ans Kreuz geschlagen worden.

Je aufrichtiger ich dein Reich erbete, umso tatkräftiger muss ich auch bereit sein, dafür einzutreten ‒ auch politisch. Gib du mir Mut dazu und nimm mir die Angst vor den Folgen. Amen.»

«D e i n R e i c h ist ‹nicht von dieser Welt› ‒ eben nicht von der Art der Weltreiche. Sondern es ist das von jedem Menschenherzen ersehnte Friedensreich.

In der Natur steht es uns als dein Welthaushalt schon vor Augen. In der Gesellschaft muss es als Gotteshaushalt erst noch verwirklicht werden durch das freie Ja der Liebe. Denn du zwingst uns deine Ordnung nicht auf. Du bist ja Vater, nicht Gewaltherrscher.

Und doch wirst du immer wieder ‹am höchsten Thron› einer Machtpyramide dargestellt.

Das ist zwar ein aufrichtiges Bemühen, dich zu ehren, aber auch eine herzzerreissende Blasphemie.

Genau als Gegenpol zur Machtpyramide hat Jesus ja dein Reich verstanden: nicht auf Eroberung gegründet, sondern auf Umdenken: nicht auf Angstmacherei gestützt, sondern auf gegenseitiges Vertrauen; nicht durch Gewalt verwirklicht, sondern gewaltfrei. Nicht von dieser Welt, aber mitten in ihr. Amen.»

«D e i n R e i c h, wie Jesus es verstanden hat, ist kein abgegrenzter Herrschaftsbereich ‹hier oder dort›, sondern ‹mitten unter› uns, als die uns von dir geschenkte Möglichkeit, die wir verwirklichen können, wenn wir nur wollen.

Deine ‹Herrschaft›, also die Wirkkraft deiner Liebe, steht uns jederzeit zur Verfügung. Und auch eine Gelegenheit, das Ja gegenseitiger Zugehörigkeit zu sprechen, ist stets zur Hand.

Dein Reich ist das freudige Zusammenleben, das sich ereignet, wenn eine Gemeinschaft nach deiner Musik zu tanzen beginnt.

Schon ‹zwei oder drei› genügen, um damit zu beginnen: zwei Liebende, die miteinander eine Familie gründen, oder drei Freunde, die den Keim einer Gemeinschaft bilden.

Und woran können wir dein Reich erkennen?

An gelebter Liebe. Daran, dass Menschen sich bedingungslos zuhause fühlen dürfen und sich geachtet wissen in ihrer Eigenständigkeit ‒ an Menschenwürde also.

Wecke in mir die wache Bereitschaft, mich dafür einzusetzen. Amen»

«D e i n R e i c h  meint nicht erst die himmlische Herrlichkeit, die wir erhoffen, wenn wir beten: ‹Lass uns eingehen in dein Reich›.

Der indische Mystiker Kabir sagt es ganz unverblümt:

‹Dass deine Seele Seligkeit finden soll, nur weil dein Leichnam verwest, ist ein Hirngespinst. Wenn du hier nichts findest, kannst du dort auch nur eine Wohnung im Totenreich erwarten.›

Ein Reich der Lebendigen ist dein Reich, und Lebendigkeit muss deshalb sein Hauptmerkmal sein, schon hier auf Erden.

Freilich bleibt im Diesseits alles Stückwerk ‒ auch dein Reich.

Die Richtschnur unsres Bauens muss ins Jenseits auslaufen.

Wir wissen ja: ‹Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen.›[1]

Jetzt und immer bist und bleibst du der Schnittpunkt aller Beziehungen und der Mittelpunkt deines Reiches.

Das Dichterwort gilt:

‹Jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt uns den Zirkel aus der Zeit.›
[2]

Amen.»

«‹Dein Reich k o m m e›, beten wir, und das klingt recht passiv. Wo immer wir aber aktiv unser Zusammenleben gestaltet haben, ist in der ganzen Menschheitsgeschichte kaum jemals ein Aufdämmern deines Friedensreiches erkennbar geworden. So sehr wir alle es auch ersehnen, scheinen wir uns doch völlig verirrt zu haben. Der ganze Karren ist verfahren. Ist es zu spät, umzukehren?

Ein Geschenk muss dein Reich jedenfalls sein. Du schenkst uns ja auch sonst alles, was es gibt. Aber, wie alles andre auch, bleibt es nur ein Angebot. Es wird wahrhaft zum Geschenk, wenn wir uns dankbar erweisen, indem wir aus dem Angebotenen etwas machen.

Und das tun ja doch unzählige Menschen, die sich ehrlich und aufopfernd bemühen, Ansatzpunkte für ganze neue Formen geschwisterlichen Zusammenlebens zu finden.

Lass auch mich Ansatzpunkte für Neues als dein Geschenk erkennen und sie mutig und dankbar nutzen. Amen.»

«‹Dein Reich k o m m e› ‒ so bitten wir und wissen doch, dass es schon da ist, mitten unter uns ‒ als stete Möglichkeit.

Wenn du zwei oder drei von uns zusammenführst, dann liegt darin auch schon dein Angebot, ‹in deinem Namen› beisammen zu sein.

Dein Name ist ja ‹Liebe›, und jede Begegnung ist eine neue Gelegenheit, das Ja der Liebe zum Ausdruck zu bringen.

Mit diesem Ja ‹heiligen› wir deinen Namen und empfangen mit weit offenen Armen einander und so dein Reich.

Dein Name und dein Reich sind also keimhaft gegenwärtig, wann und wo immer wir Menschen gemeinsam unser Leben gestalten.

Mach du uns wach und achtsam für dieses uns anvertraute Aufkeimen und lass uns mit Geduld auch die zartesten Pflanzen der Liebe so geduldig pflegen, dass aus ihnen dein Reich aufblühen kann. Amen.»

«‹Dein Reich k o m m e› als gesellschaftliche Wirklichkeit! In der Ordnung des Kosmos wirkst du als ihre innerste Lebendigkeit, ‹du sanftestes Gesetz›.

Im Erd-Haushalt stellt uns die Natur ein lebendiges Bild jenes harmonischen Zusammenlebens vor Augen, das dein Reich ‒ der Gottes-Haushalt ‒ uns schenken will.

Die Natur baut keine Machtpyramiden, sondern vernetzt Netzwerk mit Netzwerk, so wie in der Musik sich Motiv mit Motiv verwebt.

Wo immer wir ehrfürchtig auf die Natur achten, zeigst du uns Leitbilder für die Gestaltung deines Reiches.

Lehre uns, ihnen zu folgen, bei allem, was wir bauen.

Dann dürfen wir wohl auch der schier unerschöpflichen Erneuerungskraft der Natur vertrauen, dass sie nicht nur die Verwundungen heilt, die wir ihr zugefügt haben, sondern auch unsrer Kultur den Weg zu heilem Sein weist. Amen.»

«‹Dein Reich k o m m e› ‒ das ersehnen wir. Und wir wissen auch, dass letztlich nur du diese Sehnsucht erfüllen kannst.

Und doch dürfen wir dein Reich nicht völlig ohne unser Zutun als dein Geschenk erwarten. Was aber ist unsererseits notwendig, damit dein Reich sich unter uns ereignen kann?

Was kann ich in meinem winzigen Umkreis dazu beitragen?

Mein Einflussbereich reicht allerdings weiter, als mir oft bewusst ist. Alles hängt ja mit allem zusammen! Und jeder Anstoß setzt sich grenzenlos fort.

Sooft wir einander Gutes tun aus dem Bewusstsein, dass wir füreinander da sind, setzen wir ein unaufhaltbares Ja der Liebe in Bewegung.

Sooft wir einander gegenseitig Achtung erweisen, springt ein Fünkchen vom Glanz dieses Reiches über, das weiter und weiter leuchtet.

So beizutragen zum Kommen deines Reiches, dazu schenke mir Kraft und Entschlossenheit. Amen.»

Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn du von den ‹Kreisen freudigen Lebens› sprichst, höre ich die Freude als das entscheidende Wort heraus. Und Freude ist ansteckend. Darum gefällt mir das Bild für freudiges Zusammenleben, das du gerne verwendest: eine Gemeinschaft, die nach der Musik Gottes zu tanzen beginnt.»

Bruder David: «Der Name Gottes ist Musik, der Tanz der Liebe ist sein Reich. Und obwohl unser Bemühen stets Stückwerk bleibt, bleibt die Hoffnung lebendig, dass das Reich Gottes wenigstens jenseits von Zeit und Raum Vollendung findet.

Paulus sagt: ‹Was Gott will, ist allen Menschen offenbar, Gott hat es uns offenbart. Schon seit Erschaffung der Welt drücken die Werke der Schöpfung seine unsichtbare Wirklichkeit aus› (frei nach Röm 1,19f.). An den Werken der Schöpfung kann unsre menschliche Vernunft also wahrnehmen, was Gott will. Das ist mir eine große Ermutigung.

So viele, die vom Christentum nichts wissen oder gar nichts wissen wollen, bauen dennoch tatkräftig mit an dem Friedensreich, das wir Christen das Reich Gottes nennen.»

«Das Lernen von der Natur ist dabei ein wesentlicher Bereich, in dem sich jederzeit Neues ereignet. Es geht um eine Forschungshaltung, die in der Fachsprache ‹Bionik› genannt wird oder auch ‹Biomimetik› ‒ die Befragung und Nachahmung der Natur, um schwierige technische, gesellschaftliche oder organisatorische Probleme zu lösen.»

«Die Natur heiligt den Namen Gottes, indem sie uns zeigt, wofür Gott eintritt.

Wenn wir vorurteilslos bereit sind, von der Natur zu lernen, dann finden wir in ihr schon samenhaft das Modell für das Reich Gottes angelegt.

Dante nennt ja die Liebe das innerste Geheimnis des Universums:

‹Liebe, die die Sonne rollt und andere Sterne›,[3]

lautet ein berühmter Ausspruch von ihm.

Vielleicht können wir die Evolution als die allmähliche Entfaltung dieses innersten Wesens verstehen ‒ als das Offenbarwerden des Reiches der Liebe, nach dem sich alles sehnt.»

Brigitte Kwizda Gredler: «So verstehe ich auch Pierre Teilhard de Chardins berühmten Ausspruch:

‹Eines Tages, nachdem wir Herr der Winde, der Wellen, der Gezeiten und der Schwerkraft geworden sind, werden wir uns in Gottes Auftrag die Kräfte der Liebe nutzbar machen. Dann wird die Menschheit zum zweiten Mal in der Weltgeschichte das Feuer entdeckt haben.›»

Bruder David: «Dann wird die Vaterunserbitte um das Kommen des Gottesreiches in Erfüllung gegangen sein.»[4]

(Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 4)

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch:
(57:20) ‹Die Gesellschaft, in der die Starken die Schwachen unterdrücken, das ist die typische menschliche Gesellschaft. Leider. Eine Gesellschaft, die aus der Angst und aus der Unterdrückung lebt.
Und der entgegen stellt Jesus das Reich Gottes. Und das Reich Gottes ist eine Übersetzung dieses tiefsten Zugehörigkeitsgefühls in eine soziologische Wirklichkeit, in gesellschaftliche Wirklichkeit.
Er ist nicht nur Mystiker, er hat nicht nur diese tiefe Erfahrung der Zugehörigkeit, die sich ausdrückt dadurch, dass er alle Menschen, auch die Ausgestoßenen als Brüder und Schwestern anspricht und sich Gott so ganz eng verbunden fühlt: diese Familie Gottes, zu der auch die Tiere und Pflanzen gehören. Das ist ganz stark angelegt, aber nicht nur dieses Mystische, sondern dann die Übersetzung dieses Mystischen in ein tägliches Leben, in Gesellschaftsformen, die unsrer Art von Gesellschaftsform, wo einer den andern frisst und beißt, entgegengesetzt ist.
Und das versucht er zu verwirklichen und das nennt er Reich Gottes, und Bekehrung ist dann eine Umkehr von der Art von Gesellschaft, die wir kennen ‒ typisch ‒ zu der andern Gesellschaft.
Aber ich möchte nicht einfach so die Gesellschaft abschreiben. … das ist das Gute, dass es heutzutage ‒ wahrscheinlich wie immer in der Geschichte ‒, viele Zellen gibt, viele Ansatzpunkte, wo Menschen schon in einer Familie, in einer Freundschaft, in einer Pfarre, in irgendeinem Freundeskreis genau das zu verwirklichen beginnen. Und sie kommen in Konflikt mit der vorherrschenden Gesellschaft.›

1.2. Audio Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition:

«Das Bild des Messias strahlte in einer anderen solchen Gnadenstunde auf, als sich Vertreter vieler Religionen 1972 auf Mount Saviour[5] trafen. … Ich weiß nicht mehr, ob es Reb Shlomo Carlebach war oder Reb Zalman Schachter, der bei unserem letzten gemeinsamen Abendessen eine chassidische Geschichte erzählte, die uns zu Herzen ging, weil sie von dem sprach, was unter uns Wirklichkeit geworden war: ‹Der gelehrte Rabbiner und seine Schüler waren beisammen und so glühend war die Liebe unter ihnen, dass der Meister einen von ihnen zum Fenster schickte: ‹Schnell, schau hinaus, ob der Messias nicht gekommen ist!› Enttäuscht kam die Antwort: ‹Alles da draußen wie eh und je.› ‹Aber Rabbi›, fragte ein anderer Schüler, ‹müssten wir hinausschauen, wenn der Messias gekommen wäre? Würden wir es nicht hier herinnen gleich wissen?› ‹Ja! Aber hier›, sagte der Meister strahlend, ‹hier ist der Messias ja gekommen!›»[6]

2. Weitere Texte

2.1. Osterbrief 2023

«Jesus hat ein Zusammenleben gelehrt, das er ‹Reich Gottes› nannte, das wir aber auch ‹Gotteshaushalt› nennen könnten, Gemeinschaftsleben, das dem Gemeinsinn der Vögel näher steht, als der Gesellschaftsordnung seiner und unserer Zeit. Er sagte: ‹Schaut euch die Vögel des Himmels an› (Mt 6,26) und baute eine auf ‹Wir-Denken› gegründete Gemeinschaft: Das ‹Reich Gottes›. Es war, wie wir heute sagen würden, ‹der Natur nachgebildet› ‒ der Natur, in deren innerstem Mysterium wir ‹Gott› begegnen. Dafür lebte und dafür musste er sterben, denn die Machtpyramide des ‹Ich-Denkens› erkannte, dass sie an ihrer Wurzel bedroht war.»

2.2. Vom mystischen Wasser kochen ‒ 99 Namen hat Gott im Islam (2019): Interview von Josef Bruckmoser mit Bruder David:

«Sind Ihnen von diesen 99 Namen einige besonders nahe gekommen?»

«Interessanterweise fällt mir keiner ein, aber es fallen mir viele ein, die mir eher unsympathisch sind, wie z. B. der König oder der Mächtige. Das sind Bezeichnungen für Gott, die sich auch weitgehend mit dem Christentum decken. Solche Namen Gottes kommen der Pyramide der Macht im Christentum wie im Islam sehr gelegen, weil weltliche wie religiöse Machthaber diesen Anspruch Gottes für sich selbst ausnützen. Das steht meinem Verständnis von Christentum völlig entgegen. Wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, ist es genau das Gegenteil einer weltlichen Machtpyramide, an deren Spitze ein König sitzt. Das Reich Gottes ist keine Pyramide, es ist ein Netzwerk von Netzwerken. So hat Jesus das als Wanderprediger mit seinen Leuten gelebt. Seine mystische Erfahrung der Nähe Gottes machte ihn zum Revolutionär. Er hat gesellschaftliche und religiöse Macht untergraben und wurde dafür am Ende hingerichtet. Papst Franziskus versucht, die kirchliche Machtpyramide durch menschliche Beziehungen und Netzwerke zu ersetzen. Zwischen ihm und Vertretern dieser Machtpyramide spielt sich leider ein schwerer Zusammenstoß ab.]»

 __________________________

[1] «An Zimmern
Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.»

Friedrich Hölderlin

[2] R. M. Rilke: ‹Wer seines Lebens viele Widersinne› (Das Stunden-Buch); das Gedicht in Sinnorgan Herz und
(29:15) im Audio Fragen, die uns bewegen (2005)

[3] Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: «L'amor che move il sole e I'altre stelle» ‒ «die Liebe, die alles bewegt.» ‒ Das zentrale Geheimnis des kosmischen Rundtanzes ist die Liebe.

[4] Das Vaterunser (2022): ‹Dein Reich komme›, 49-53 und ‹Reich Gottes als konkrete Aufgabe›, 55f.

[5] Bruder David trat 1953 in das kurz zuvor neu gegründete Benediktinerkloster Mount Saviour in Elmira, NY, ein.

[6] Ich bin durch Dich so ich (2016), 98



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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Je mehr Menschen verschiedenster Art und je mehr ihrer Anliegen ich auf meinen Reisen kennenlernen durfte, umso häufiger stieg in mir die Ahnung auf, dass sich in unserer Zeit eine weltgeschichtliche Umwälzung anbahnte. Immer ging es bei den denkwürdigsten Begegnungen um Tränen, aber auch um unauslöschliche Hoffnung. Besonders ein Gespräch mit Studenten in Zaire löste Einsichten aus, die sich im Lauf des 8. Jahrzehnts meines Lebens herauszukristallisieren begannen.

Ich bin in Kinshasa. Die Unruhen haben ein solches Ausmaß erreicht, dass ich jede Nacht in eine andere, diesmal vielleicht etwas weniger gefährdete Unterkunft gebracht werden muss. Einmal besuchte ich Doktoranden in einem heruntergekommenen Studentenwohnbau. Hier leben sie mit ihren Frauen und Kindern auf engstem Raum zusammengepfercht. Der eine Tisch ist zugleich Kochtisch, Esstisch, Spieltisch für die Kinder und Schreibtisch, auf dem die teuren Bücher und die Unterlagen für ihre Doktorarbeit ständig in Gefahr sind. Trotz unvorstellbarer Entbehrungen sind diese Männer endlich dem Ziel ihrer Mühen nahe.

«Was erhofft ihr euch am heißesten für eure Zukunft?», frage ich und denke dabei ‒ ich gestehe es ‒ an Reichtum und Einfluss. Die Antwort macht mich sprachlos:

«Wenn wir es einmal geschafft haben, hoffen wir, der Versuchung widerstehen zu können, mit den Wölfen zu heulen. Wir wollen es einmal anders machen als die, die Macht und Geld haben. Aber dabei mitzuhalten ist nicht leicht; wir werden auf vieles verzichten müssen.»

Hier ist eine radikal neue Vision der Zukunft. Der Mut dieser Pioniere, gegen den Strom zu schwimmen, geht mir zu Herzen und erschüttert meine Vorstellungen. Er ist revolutionär.

«Revolution» wird nach und nach zu einem wichtigen Begriff. Ich verwende ihn allerdings halb scherzhaft, weil es um etwas ganz anderes geht als bei Revolutionen, die wir aus der Geschichte kennen. Die Revolution, die heute der weltgeschichtliche Augenblick von uns verlangt, muss sogar die hergebrachte Vorstellung von Revolution revolutionieren.

Bisher bestand Revolution darin, dass die jeweilige Machtpyramide auf den Kopf gestellt wurde und die ehemaligen Revolutionäre von unten nach oben stiegen; ansonsten blieb alles beim Alten.

Das Neue besteht nun darin, dass die Machtpyramide nicht umgekehrt, sondern total abgebaut und durch ein Netzwerk ersetzt werden muss.

Buddha setzte sich zum Ziel, das in seiner Sangha zu verwirklichen, und Jesus wollte es in der Gemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger verwirklicht sehen:

«Die Könige der Nationen herrschen über sie, und die Gewalthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter euch sei wie der Geringste und der Befehlende wie der Dienende.»

Etwas Ähnliches wollten offensichtlich auch die Doktoranden in Kinshasa. Das Ziel, das ihnen und vielen anderen Gruppen, denen ich begegnen durfte, mehr oder weniger klar vorschwebte, war keine verbesserte Machtpyramide, sondern vielmehr ein Netzwerk gegenseitiger Ermächtigung.[1]

Bruder David, damals noch mit dem Geburtsnamen Franz Kuno Steindl-Rast:

«Werfen wir nur einen Blick auf unsere Zeit, um zu sehen, wo wir überhaupt stehen.

‹Der Mensch liegt in größter Not.›

Dieser Aufschrei, [den Gustav Mahler durch seine zweite Symphonie klingen lässt], gilt unserer Zeit mehr als der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Ja, es gibt keinen erschütternderen Hilferuf aus unserer Zeit als diesen: ‹Der Mensch liegt in größter Not›. Aber nicht nur er, alles, was von ihm geschaffen wurde, ist zerstört und geschändet, alles, was ihm zum Dienste und zur Freude vom Schöpfer gegeben wurde, hat er missbraucht und entweiht. Es scheint so, als ob der Fluch auf alles gefallen sei, das er berührte.»

«Wenn wir in kurzen Streiflichtern einige Punkte berühren, die nun über das persönliche Augenblickserlebnis hinausgreifen, wird der Eindruck in einer erschütternden Weise noch vertieft: Krieg in China, Terror in Palästina, Hetze und Propaganda verschiedenster Ideologien und Parteirichtungen, Hunger in allen Winkeln der Erde, Mangel an den nötigsten Gebrauchsgütern, Schleichhandel mit Arzneimitteln und Waren und Spenden für notleidende Völker, Aufruhr gegen Kirche und Christentum, bettelnde und sich verkaufende Kinder in allen Straßen der Städte der ganzen Erde, Raub, Totschlag, Schändung Quälerei, [6] Rachgier, Ehrgeiz, Verzweiflung, Selbstmord.

Es ist Karfreitag und die Welt schlägt Christus ans Kreuz und merkt nicht, dass sie sich selbst ‒ mordet in ihm. Denn was bleibt, wenn die Liebe getötet ist?

Ich weiß nicht, ob es nach den wenigen Sätzen noch viel bedarf, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass der Mensch ein Enterbter und Entrechteter ist.

‹Der Mensch liegt in größter Not.›

Wir alle sind mitgerissen in dieses Chaos und fühlen die hilflose Einsamkeit des einzelnen Menschen, weil wir zu vielen Malen erlebt haben, dass wir in Auflehnung gegen Untergang und Verderben allein gestanden sind. Wir wissen, dass nicht alle dem Ruf nach Macht und Ehrgeiz folgen, wir wissen, dass sogar viele bereit sind, wenn es sein soll, selbst ihr Leben einzusetzen. Aber sie stehen allein in ihren Bestrebungen und Hoffnungen, sie werden umspült von einer Masse ablehnender und angreifender Menschen, dass sie sich hilfesuchend nach Gleichgesinnten umsehen müssen. Sie erkennen mit einmal, dass sie allein auf einem verlorenen Posten stehen, und einzig der Wunsch, das Leben sinnvoll einzusetzen, lässt sie Ausschau halten, wenigstens eine kleine Schar ähnlich Denkender und ähnlich Fühlender zu finden.»

«Wir müssen uns langsam zu der Erkenntnis durchringen, dass jeder von uns mitverantwortlich ist für den Ablauf der Geschichte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, und darüber hinaus vielleicht noch mitbestimmend an der Gestaltung kommender Jahrhunderte. [Wir mögen uns hier nur daran erinnern, wie die Wellen der französischen Revolution noch an die Ufer der Gegenwart schlagen, wie Ideen ausgehend von einigen Wenigen noch die Gehirne vieler beherrschen.]

Es nützt uns sehr wenig, zu bedauern, in eine so verworrene Situation hineingeboren zu sein. Kritik, Bedauern und Unzufriedenheit mit der Lage der Welt und der Menschheit führt bestens zur Resignation und zur Zurückgezogenheit des Einzelwesens. Bewährung bedeutet uns aber aufopfernde Stellungnahme zu den Gegebenheiten der Gegenwart. Freilich ist damit ein Übergang von der passiven zu einer aktiven Lebensgestaltung erforderlich. Das bedeutet, die Defensivstellung aufgeben und zum Angriff übergehen. Solange wir nur darauf bedacht sind, die überlieferten Schätze und Positionen zu bewahren, wird man uns Stück für Stück des eigenen Lebensraumes entreißen, ja, wir werden auf das Versprechen hin, geduldet zu sein, wichtige Bastionen aufgeben, um uns am Ende kaum mehr von Menschen anderer Gesinnung zu unterscheiden.

[11] Allein zu einer wirklichen Bewährung gehört mehr als nur Aktivismus. Es wäre verfehlt, zu meinen, damit den richtigen Weg zu einer Gesundung schon gefunden zu haben. Jeder Schritt, der unternommen wird, möge allein aus der einer Erkenntnis entsteigenden Notwendigkeit geboren werden.

Wir selbst scheinen verbraucht und müde, dass es einem unmöglich vorkommt, das Erbe der gegenwärtigen Situation übernehmen zu können. Aber vielleicht sind es gerade unsere Ausgelaugtheit und Müdigkeit, die uns so klar vor Augen stellen, dass es höchste Zeit ist, endlich den neuen Boden vorzubereiten, der ein gesünderes und in der Ordnung verwurzeltes Leben möglich macht. Nicht die Fortsetzung des alten Weges, sondern der Aufbruch zu einem neuen wird die Bewährung unserer Generation in dieser Zeit sein.

Es ist leicht, an bestehenden Dingen Kritik zu üben, ohne selbst einen Ausweg daraus zu kennen, d.h. wenigstens Ansatzpunkte dazu zu sehen. Darum soll hier angedeutet werden, worin nicht nur ein Ausweg aus einer Situation, sondern ein gültiger Weg liegen könnte. Um es klar und einfach zu sagen:

Ich meine damit eine christliche Generation, die imstande ist, eine Revolution der Herzen durchzuführen, die die Vormachtstellung einer materialistisch diesseits gerichteten Welt durchbricht.

Eine Generation, die endlich einmal zuerst das Reich Gottes sucht und damit den Traum eines in Organisation und Mechanisierung gesicherten Lebens aufgibt.

Eine Generation, die bereit ist, in ihre Herzen das Gesetz der Liebe zu brennen, weil Christus Mensch geworden ist, und er mit seinem Tod am Kreuze und seiner Auferstehung uns die Gültigkeit dieses Gesetzes bewiesen hat.

Eine aufbrechende christliche Generation würde bedeuten: bereit zu sein, vor der Welt Bekenntnis abzulegen, dass Christus nicht in die behüteten Räume unserer Wohnung, nicht in Klöster und Kirchen gebannt werden kann, sondern dass er Anspruch erhebt auf alle Menschen und alle Bereiche des Lebens. Allerdings nicht in Gewalt, [12] sondern allein in der Macht der Liebe.

Ich will Sie mit dieser Tatsache, wie gering der Anteil der christlichen Kräfte in unserer Generation ist, nicht beunruhigen, denn wer immer sich mit der Frage der Generation beschäftigt, wird auf den Begriff der ‹Wenigen› stoßen. Die Wenigen, die von einer nachkommenden Zeit gesehen, der Generation das Gesamtgepräge geben.

Es gibt in jeder Generation die kleine Schar dieser Wenigen, die den geheimen Hebel ihrer Zeit finden, wo sie sich fast selbstverständlich aus den eingefahrenen Geleisen einer Entwicklung heben lässt.

Um was Andere sich mühen und mit allen Anstrengungen nicht zustande bringen, gelingt diesen Wenigen, als ob ihre Hand geführt würde, traumwandlerisch, und es gelingt immer, wenn es der Schwerpunkt ist, an den sie die Hände legen.

Dass wir mit einer derartigen Auffassung von der Welt von den weitesten Kreisen als Narren, Phantasten und Utopisten abgetan werden, muss uns bei einiger Offenheit nicht wundern. Und auch die Generation vor uns wird wahrscheinlich kein anderes Urteil fällen. Aus diesem Grund ist unsere Stellung zu ihr schon in einer Weise bestimmt. Da wir mit ihr in unseren Gedankengängen in Widerspruch geraten, ist uns der geschichtliche Weg einer Nachfolge und Fortsetzung unmöglich geworden.

Die Grenze, die wir ziehen sollten, gilt vor allem den Richtungen, für die Verachtung der Natur, Zerschlagung aller uns als Sinnbilder gegebenen Formen, Zynismus und auswegloser Individualismus kennzeichnend sind.

Gegen die müssen wir eine scharfe Trennungslinie ziehen. Wir wollen gläubig die Natur und alle uns gegebene Formen sehen und sie aufschließen zu einem Hintergrund, dass sie zu leuchten beginnen als Gleichnis und Bild.»[2]

An einen gekreuzigten Verlierer zu glauben, heißt, für eine eher ungewöhnliche Wertskala einzutreten: für eine Gegenkultur mit utopischen Idealen.

Das Ideal, für das Jesus lebte und für das er gekreuzigt wurde, ist das «Reich Gottes», eine Weltordnung, die nicht auf Mächtigkeit, sondern auf Gerechtigkeit gründet. Wirklich daran zu glauben, heißt sich zu verpflichten, in unserer Gesellschaft gegen den Strom zu schwimmen.

Hast Du einmal Bilder von den Demonstrationen gesehen, die Dr. Martin Luther King in Selma, Alabama anstiftete, wo schwarze Bürgerrechtler vom Wasserstrahl aus Feuerwehrschläuchen niedergestoßen und von Polizeihunden angefallen wurden?

Hast Du selber einmal teilgenommen an einer öffentlichen Protestaktion für Menschenrechte oder für ein ähnliches Anliegen? Wann und wo (etwa bei den Abendnachrichten im Fernsehen) hast Du persönlich Christus unter Pontius Pilatus leiden gesehen?[3]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3)

[Ergänzend:

1. Prophetischer Gehorsam

2. Das Vaterunser (2022): ‹Vater unser im Himmel›, 38f.:

«Wesentlich ist, mit sich und allen anderen im Frieden zu leben. Das heißt, bereit zu sein für alle Höhen und Tiefen des Lebens und sie als Impulse für unser Wachstum anzunehmen. Von ‹Leben in Fülle› spricht das Evangelium.

Je lebendiger wir werden, umso deutlicher erleben wir das.

‹Der ganze Weg zum Himmel ist Himmel›,

so lautet ein bekannter Ausspruch von Dorothy Day, die sich in den Slums von New York um die Ärmsten der Armen kümmerte. Ihre Freundschaft war eines der größten Geschenke meines Lebens. Wenn irgendjemand mit der Hölle auf Erden vertraut war, dann gewiss diese heiligmäßige Frau. Und ihr konnte man geradezu ansehen, dass sie zugleich auch jetzt schon im Himmel war.

Unsere Herzensbeziehungen zu Freunden und Verwandten machen die Erde zum Himmel. Das gilt nicht nur für unsere Beziehungen zu Menschen, sondern wohl auch für unsere Beziehungen zu Tieren. Sollte der Tod daran etwas ändern können? Schon jetzt erleben wir jede Beziehung in reiner Liebe als ‹Himmel auf Erden›. Und in dem Ausmaß, in dem unser Herz in Liebe mit dem Vater im Himmel verbunden ist, sind wir jetzt schon dort.»

3. Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 165f. und 168f.:

Johannes Kaup: «Noch einmal zurück zu den Vorbildern. Jesus haben Sie bereits genannt. Gibt es auch zeitgenössische Vorbilder?»

Bruder David: «Ja. Eine Frau, die ich sehr verehrt und bewundert habe, kommt mir sofort in den Sinn: Dorothy Day[4], die das «Catholic Worker Movement» gegründet hat.»

Johannes Kaup: «Das ist eine Organisation, die sich besonders um die Ausgegrenzten in der Gesellschaft kümmert.»

Bruder David: «Ja, diese Organisation ist auch heute noch ausserordentlich lebendig und erfolgreich. Sie ist entsprungen aus Dorothys Mitgefühl für die Armen und ihrer Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann mit der Armut in den USA. Aus ihrer ursprünglichen Gründung zusammen mit Peter Maurin 1933 in New York entstanden dann weitere Gemeinschaften. So wie Mutter Teresa nahm Dorothy Day sich der Ärmsten der Armen an, aber sie ging darüber hinaus und hinterfragte eine Gesellschaftsordnung, die für solche Armut verantwortlich ist. Deswegen musste sie immer wieder ins Gefängnis. Der brasilianische Erzbischof Hélder Câmara kannte den Grund dafür. Er sagte:

‹Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen arm sind, nennt man mich einen Kommunisten›.

Auch die christlichen Basisgemeinden in Lateinamerika waren Gemeinschaften, die aufgrund ihres gemeinsamen Lesens der Frohbotschaft die Machtpyramide infrage gestellt haben. Solche Ansätze werden oft als kommunistisch verschrien und angeprangert.»

Johannes Kaup: «Zu Recht oder zu Unrecht?»

Bruder David: «Zu Recht im besten Sinn von kommunistisch, also gemeinschaftlich denkend, aber zu Unrecht im Sinne der politischen kommunistischen Internationale.»

Johannes Kaup: «Also der kommunistischen Parteiideologien?»

Bruder David: «Genau.» ‒

«Ich frage mich immer wieder: Ist da wirklich alles einfach zerstört worden? Wir schauen zurück und sehen, dass im Lauf der Geschichte immer wieder kleine Gruppen, die in unseren Geschichtsbüchern verteufelt werden ‒ weil Geschichte von den Machthabern geschrieben wird ‒, sich bemüht haben, das Ideal zu verwirklichen, die Macht der Liebe gegen die Liebe zur Macht durchzusetzen. Diese Versuche sind jedoch immer wieder vereitelt worden. Ich denke zum Beispiel an die Bauernaufstände, die sicher häufig in dieser Richtung gegangen sind.»

Johannes Kaup: «Das lässt sich auch in Bezug auf die Orden beobachten, beispielsweise die Franziskaner, die anfangs sehr revolutionär waren. Sie konnten nur überleben, weil es einen demütigen Papst gab.»

Bruder David: «In ihrer ursprünglichen Form haben die Franziskaner nicht überlebt. Schon in der zweiten Generation wurden sie zu etwas anderem. Die Ordensregel wurde umgeschrieben. Sogar die ursprünglichen Geschichten wurden zensiert und umgeschrieben. Da frage ich mich: War dann damit einfach alles aus?

Die einzige Antwort, die ich für mich persönlich darauf finde, sind Hölderlins Verse:

‹Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.›
[5]

Ich glaube an eine Vollendung aller positiven Bemühungen jenseits der Zeit. Dafür kann ich keine Beweise liefern, aber das Gute, das Schöne, das Wahre hat Bestand und unterliegt zu einem gewissen Grad nicht der Zeit. Alle Aufopferung, die wir dem Guten, Schönen und Wahren widmen, vor allem die Mühe, die wir dafür einsetzen, kann nicht verloren gehen. Mehr kann ich nicht sagen. Diese Überzeugung brauchen wir, sonst müssen wir verzagen.»

4. Am dritten Tag auferstanden von den Toten (2023):

Bruder David: «Da suche ich nach einem Vorbild, nach jemandem, der in unserer Zeit das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit auf die Seite des machtlosen, verlachten Weltverbesserers warf, obwohl er ebenso gut in der Gesellschaft der (verächtlich lächelnden) Mächtigen ohne Mühe seinen Platz halten konnte. Dag Hammarskjöld fällt mir ein.»

5. Dankbarkeit ist Zusammenfassung des Christentums (2019): Pressebericht:

«‹Die großen Vorbilder der Furchtlosigkeit waren deshalb Revolutionäre, darunter viele der Ordensgründer wie Benedikt oder Franziskus. Sie hatten eine ganz andere, auf einem Vertrauensnetzwerk basierende Gesellschaft vor Augen, die somit im klaren Gegensatz steht zu unserer von Gewalttätigkeit, Rivalität und Habsucht geprägten›, erklärte Steindl-Rast. Gewalttätigkeit werde im Christentum durch Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit ersetzt, Rivalität durch Zusammenarbeit und Habsucht durch das Teilen.»

6. Brücken statt Mauern (Ostern 2017):

«Unzählige Menschen guten Willens suchen heute Jesus Christus, stoßen sich aber an kirchlichen Mauern. Wollen wir als Christen für das eintreten, wofür Jesus gekreuzigt wurde und wozu der Auferstandene uns aussendet? Wenn wir Zeugen werden für das Reich Gottes, dann bauen wir zugleich die einzig gangbare Brücke zur Zukunft unserer Kirche. Die Liturgie von Jesu Christi Tod und Auferstehung ruft uns wieder dazu auf.»

7. Audios

7.1. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch Fließweg und Entscheidung
Eröffnungsvortrag:
(28:26) ‹Das ist unsere große Herausforderung::
‹Wir können im Leben entweder  m i t  der Maserung hobeln oder  g e g e n  die Maserung hobeln.

Wir können  m i t  dem Strich gehen oder  g e g e n  den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:
Wir können  m i t  dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen,  g e g e n  den Strom des Lebens zu schwimmen.
Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die  m i t  dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben
g e g e n  den Strom schwimmen müssen.
Und darum schwimmen so wenige  m i t  dem Strom des Lebens.›

7.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch zur Frage:
(54:07) ‹Wenn wir die Christusnachfolge antreten, werden wir dann gekreuzigt werden, oder: Was muss dann gekreuzigt werden›?
‹Wenn wir so mit dem göttlichen Lebensstrom in uns schwimmen, dass wir gegen den Strom der Gesellschaft schwimmen, dann wird die Gesellschaft uns früher oder später kreuzigen.
Und das ist es auch, was wir an Jesus vorgezeichnet sehen und das ist, wofür wir uns entscheiden müssen.
Denn das ist ja gerade der Grund, warum wir es so schwer haben, wirklich mit diesem inneren Lebensstrom, diesem göttlichen Lebensstrom zu schwimmen. Das ist etwas Wunderschönes, ganz Begeisterndes. Aber wenn man in diese Konflikte kommt ‒ und früher oder später kostet es einem den Kragen ‒, dann ist das nicht so leicht.›
(57:20) [transkribiert in
Reich Gottes: Ergänzend 1.1.]
(59:34) ‹Bei sich selber beginnen ‒ die Kreuzigung nicht suchen, aber auch nicht scheuen ‒ eine Gesellschaftsordnung, die mit dem Strom geht, und eine, die gegen den Strom des Lebens geht: ‹Und wir ‒ jeder von uns, fürchte ich ‒, geht an einem Vormittag mehrmals hin und her zwischen diesen beiden. Das Reich Gottes ist unter uns: es ist eine Wirklichkeit, die unter uns beginnt ‒ in uns und um uns ‒ aber sie ist noch nicht ausgereift, weil wir uns nicht entschieden genug dahinterstellen.›]

 _____________________

[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 1996-2006, 155f

[2] Franz Kuno Steindl-Rast: Die Kunst und die junge christliche Generation (1946)

[3] Credo (2015): ‹gekreuzigt›, 112 und ‹Gelitten unter Pontius Pilatus›, 107

[4] Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:

«Die christliche Sozialistin und Journalistin Dorothy Day bewundern Sie sehr. 1906, als sie acht Jahre alt war, erlebte sie das starke Erdbeben in San Francisco mit. Damals schaute sie den Menschen auf der Straße zu, wie sie sich gegenseitig halfen und fragte sich: «Warum können wir nicht immer so leben?» Diese Frage lebte sie ihr ganzes Leben.»

Bruder David: «Ja, ganz tapfer.»

«Wie können wir es schaffen, immer so zu leben?»

[5] Friedrich Hölderlin: ‹An Zimmern›, in der Abschrift von Ernst Friedrich Zimmer; siehe auch Reich Gottes: Anm. 1



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Die heutige Bibelforschung ist von dem Ehrgeiz abgekommen, eine detaillierte Biographie von Jesus erstellen zu wollen. Die verfügbaren Daten reichen einfach nicht aus. Doch wir können etwas viel Wichtigeres erreichen. Wir können recht zuverlässig rekonstruieren, was für ein Mensch Jesus war. Es gibt heute ein sehr großes Interesse an der Person des vorchristlichen Jesus. Das Bild, das dabei zum Vorschein kommt, zeigt uns Jesus als einen Pionier des menschlichen Bewusstseins, und dies genau an der Grenze der Mystik.

Die von Jesus ausgehende Wirkung kann als eine neue Phase in der menschlichen «Gotteserforschung» verstanden werden.

Zudem stehen und fallen das Werk seines Lebens und seine Lehre mit der Mystik. Sie hängen beide an der «Erfahrung der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit Gott» ‒ Jesu eigener Verbundenheit und der der Menschen, an die diese Botschaft gerichtet ist.

Wir können in dieses Thema einsteigen, indem wir zwei grundlegende Fragen über Jesus stellen, den vorchristlichen Jesus. Was lehrte er eigentlich? Und wie lehrte er?

Lassen Sie mich die beiden Antworten vorwegnehmen (die Gelehrten sind sich in diesen beiden Punkten praktisch einig). Der Kern der Botschaft Jesu ist die Verkündigung des Reiches Gottes, und seine charakteristische Lehrmethode besteht im Erzählen von Gleichnissen.

Wir müssen nun den Inhalt dieser beiden gedrängten Antworten auseinandernehmen, um festzustellen, welchen Weg Jesus bei der Überschreitung der Grenzen des Bewusstseins vorzeichnete und so anderen die Möglichkeit gab ihm zu folgen.

Im Markusevangelium, dem frühesten der vier Evangelien, finden wir eine Zusammenfassung der Lehre Jesu (1,15). Markus fasst sie in einem einzigen Vers zusammen, so dass man unzweifelhaft das Wesentliche erkennt:

«Jesus … kam … und predigte die frohe Botschaft Gottes. Er sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes hat sich genaht. Kehrt um und glaubt an die frohe Botschaft!»

«Die Zeit ist erfüllt»
das bedeutet «Jetzt.»

Wartet nicht auf etwas anderes, der Augenblick ist jetzt gekommen.

«Das Reich Gottes hat sich genaht»«Hat sich genaht» bedeutet

«Hier, an diesem Ort.»

Hier und Jetzt geben den Rahmen für die Verkündigung ab.

Jetzt ist der Zeitpunkt, hier ist der Ort.

Schaut nicht woanders hin, wartet nicht auf einen anderen Augenblick.

Und nun heißt es:

«Kehrt um und glaubt an die frohe Botschaft.»

Das Wort, das Markus für Umkehr verwendet, bedeutet eine grundlegende innere Wandlung. Es bedeutet eine völlige Umkehrung unserer gewohnten Denk- und Lebensweise.

Was bedeutet dann «Reich Gottes», das eine solche welterschütternde Reaktion rechtfertigt?

Die Antwort auf diese Frage führt uns geradewegs zurück in die Mystik und hilft uns zu verstehen, wie Jesus die Grenzen des Bewusstseins erweiterte.

Die Bibelwissenschaft ist sich heute weitgehend einig über die Bedeutung des Begriffs «Reich Gottes» in der Botschaft von Jesus. «Reich Gottes» bedeutet nicht einen Ort oder ein Reich wie etwa das britische Weltreich. Es bedeutet auch nicht eine Gemeinschaft ‒ die Gemeinschaft all derer, für die Christus der König ist. Und es bedeutet auch nicht die Herrschaft oder Macht Gottes in einem abstrakten Sinn.

Im Gegenteil, der Begriff «Reich Gottes» bezieht sich auf die unmittelbar erfahrbare Realität.

«Reich Gottes» bedeutet für Jesus Gottes manifest gewordene erlösende Kraft.

Wenn wir den Begriff «Reich Gottes» in der Botschaft Jesu als «Gottes manifest gewordene erlösende Kraft» auffassen, dann können wir sofort erkennen, wie relevant er für unser Thema christliche Mystik ist.

Wann erfahren wir ‒ in unserem eigenen Erleben ‒ Gottes «Macht» oder «erlösende Kraft»?

Verstehen wir diese Begriffe richtig, dann muss die Antwort lauten: in unseren lebendigen Augenblicken, in jenen mystischen Augenblicken, über die wir bereits gesprochen haben.

Wie können wir Begriffe wie «Gottes Macht» oder «Erlösung» mit unserer heutigen Zeit in Verbindung bringen?

Wir könnten es vorziehen, den Begriff Gott zu vermeiden. Führt man diesen Begriff ein, so stiftet man heute vielfach Verwirrung. Auf der anderen Seite aber verwenden wir hier Begriffe der christlichen Tradition, der jüdischen Tradition. Deswegen müssen wir auch versuchen, die Terminologie dieser Tradition zu verstehen.

Wann machen wir heute Erfahrungen, die denen der erlösenden Kraft Gottes gleichkämen?

Ich meine, wir machen sie in jenen Augenblicken, in denen wir von Empfindungen der Lebendigkeit überwältigt werden. Denken Sie an die Beispiele von Eugene O'Neill[1] und Mary Austin[2], die ich Ihnen vorgelesen habe. In ihnen werden Augenblicke beschrieben, in denen Menschen von etwas übermannt wurden, das stärker war als sie.

Und auch wir wissen, wenn wir uns an ähnliche Augenblicke erinnern, dass wir über die Grenzen unseres normalen Bewusstseins durch eine Kraft, eine erlösende Kraft hinausgetragen wurden.

Führen Sie es sich wieder vor Augen. Es ist das Gefühl, aus einem Käfig herausgelassen zu werden. Eine über uns stehende Macht befreit uns, rettet uns vor dem Ertrinken.

In unseren mystischen Erlebnissen werden wir plötzlich von der Entfremdung erlöst. Wir sind zu Hause, wir sind keine Waisenkinder, keine Ausgestoßenen. Wir gehören zum Ganzen dazu. So erfahren wir in unseren größten Augenblicken das «Reich Gottes».

Wir gehen aufrechter, sobald wir diese Erfahrung gemacht haben. Wir sind in einem viel wahreren Sinn wir selbst, sobald diese erlösende Kraft in unserer Erfahrung manifest geworden ist. Das allein ist schon eine Bekehrung, eine Wandlung, eine neue Denkweise, durch die das bisherige Denken auf den Kopf gestellt wird. Die meiste Zeit leben wir, als ob wir entfremdet wären, aber nun wissen wir, dass wir dazugehören.

Diese Manifestation erlösender Kraft verlangt nach weiterer Bekehrung.

Wenn wir in jedem Augenblick unseres Alltagslebens das ausleben könnten, was wir erfahren, wessen wir uns in unseren mystischen Augenblicken bewusstwerden, dann wäre dies Bekehrung. Das Leben, das aus einer solchen Kraft heraus gelebt wird, würde die Welt vollkommen verändern.

Auf der Grundlage dieser Erfahrung können Sie Jesus als Person verstehen. Er hat eine enge Verbindung mit Gott erfahren, ihm wurde Gottes erlösende Kraft zuteil.

Sie können jetzt verstehen, wie er umherzieht und jedem erzählt:

«Habt ihr das nicht erfahren? Dieses Reich Gottes, diese Offenbarung von Gottes erlösender Kraft, ist hier und jetzt Wirklichkeit. Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Vertraut auf dieses Bewusstsein, das ist alles, was ihr zu tun braucht. Vor allen Dingen aber lebt danach, das ist Bekehrung.»

Diese frohe Botschaft ist aber zu froh, um wahr zu sein. Aus diesem Grund leben wir nicht in ihrem Sinn. Wir leben auch nicht im Sinn unserer größten Erfahrungen. Wir machen sie ‒ und eine Stunde später haben wir diese Empfindung der Lebendigkeit beinahe wieder vergessen. Wir unterdrücken sie wieder, zweifeln sie an. Vielleicht war sie nur Illusion. Unser mystisches Erlebnis kann einfach nicht wahr sein. Wir verdrängen es. Jesus aber sagt:

«Vergesst es nicht. Es ist Wirklichkeit. Lebt danach!»

Diese Botschaft kehrt im ganzen Neuen Testament in vielen Formen immer wieder. Aus diesem Grund spricht Jesus auch in Gleichnissen.

[Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 184-186]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen
Vortrag:
(25:35) ‹Jesus verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer. Das ist das völlig Neue. Er kommt nicht wie ein Prophet, der sagt: ‹So spricht Gott der Herr› und Gottes Autorität steht hinter ihm ‒ auch so, aber nicht hauptsächlich. Er kommt nicht als ein großer Charismatiker, der sagt: ‹Ich habe alle Autorität in mir ‒ auch das zu einem gewissen Grade ‒ er strahlt Autorität aus, aber dort liegt nicht die Betonung. Die Betonung liegt ‒ wie man zum Beispiel aus seiner Lehrmethode zeigen kann, er lehrt in Gleichnissen: ‹Ihr wisst das doch schon›. ‒ ‹Wer von euch weiß das nicht schon›: so beginnen die Gleichnisse. Er nimmt an, dass jeder von seinen Zuhörern ‒ jeder ‒, nicht nur die Gelehrten ‒ er hat gar nicht so viele Gelehrte unter seinen Zuhörern ‒, das sind die Leute von der Straße, die Armen, die Ausgestoßenen sehr weitgehend, die Frauen, die Kinder, die völlig unberechtigt waren, ganze Berufsklassen, die rechtlos waren, die Kranken, die als Sünder angesehen wurden, denn warum wären sie sonst krank? ‒, alle die spricht er an und sagt zu ihnen: ‹Ihr wisst doch, worum es geht›!
‹Wer von euch weiß nicht, wie es geht, wenn man Saat aussät›? ‹Wer von euch weiß nicht, wie es geht, wenn man fischt›? ‒
‹Ah, das wisst ihr also ‒, dann wisst ihr auch alles, was nötig ist, um Gott zu verstehen von innen her›.
‹Wer von euch weiß nicht, wie Eltern ihre Kinder behandeln› (wenn sie’s richtig tun)? Und die Antwort ist: ‹Wir wissen das alle›! ‒ ‹Aha, ihr nennt doch Gott ‹Vater› ‒ wisst ihr dann nicht, wie Gott euch behandelt›? ‒ ‹Glaubt ihr wirklich an einen strengen Richter, wenn ihr Gott ‹Vater› nennt›: all dieses beinhaltet: Jesus verlegt die Autorität in die Herzen seiner Hörer.
Und das führt jetzt zu dieser Welle des Aufschwungs der Heilungen, der Sündenvergebung ‒ nicht dass Jesus herumgeht und sagt: ‹Ich vergebe dir deine Sünden›, kein einziges Mal ist das in der Bibel so beschrieben, er sagt nur: ‹Deine Sünden sind dir vergeben ‒ weißt du denn das nicht›? ‒ Sünde im Sinn von Trennung: ‹Was dich von Gott trennt, ist dir vergeben, bevor du es überhaupt je verursacht hast: So lieben dich Eltern: die Eltern halten das nicht gegen dich, der Vater, die Mutter hält das nicht gegen dich›!
Heilung: ‹Weißt du nicht? Dein Glaube hat dich geheilt›, nicht ‹Hokuspokus, jetzt bist du geheilt›. Und es heißt auch ausdrücklich: ‹In Nazareth, in seiner Heimatstadt zum Beispiel konnte er nicht viele Wunder wirken, weil der Glaube gefehlt hat› (Mt 13,58).
Das war also nicht seine Kraft, sondern der Glaube, den er geweckt hat Er hat sie auf ihre Füße gestellt. Immer wieder das Wunder: ‹Steh auf, du kannst auf deinen eigenen Füßen stehen› ‒und das ist wieder das erste Wunder, das die Apostel nach dem Tod und der Auferstehung Jesu wirken (Apg 3,6) ‒: ‹Steh auf! Im Namen Jesu, steh auf deinen eigenen Füßen›!
Das auf ‹seinen eigenen Füßen›, das ist die Autorität. So ermächtigt Jesus seine Hörer. Er verlegt die göttliche Autorität in ihr Herz und ermächtigt sie. Und das bringt ihn in Schwierigkeiten mit den Autoritäten.›

1.2. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(48:20) Die Kernaussagen des Johannesevangeliums drücken in theologischer Sprache und in anderer Perspektive dasselbe aus wie die Gleichnisse Jesu: ‹Die göttliche Autorität ist in dir›! Jesus setzt voraus, dass die göttliche Autorität in jedem seiner Zuhörer spricht, selbst in den Ausgestoßenen, selbst in den Sündern, in jedem Menschen.
‹Und das war nichts Neues, das war nur ein Durchbruch des Ältesten, so wie immer das Neuste der Durchbruch des Ältesten ist, auch heute›, denn schon in der ersten Seite der Bibel, im Schöpfungsmythos steht, dass wir Menschen ‒ Adam, der Mensch ‒ wir alle ‒ lebendig sind mit Gottes eigenem
Lebensatem: Wir leben mit Gottes eigenem Leben.›
Und Johannes, von dem man, wenn man das Johannesevangelium oberflächlich liest, den Eindruck bekommen könnte, dass er Jesus auf ein Postament hinaufstellt, das zu hoch für uns ist, und eine Kluft aufreißt zwischen uns und Jesus: Gerade Johannes sagt an der zentralen Stelle im Prolog: ‹Und allen jenen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden› (Joh 1,12), das heißt, genau das zu werden, was er nach dem Johannesevangelium ist: Sohn Gottes.

2. Weitere Texte

2.1. Credo (2023): ‹… und an Jesus Christus, SEINEN EINGEBORENEN SOHN›, 72-74:

«Die ganze Frohbotschaft Jesu ist samenhaft in dem einen Wort ‹Abba› enthalten, mit dem er Gott aus seiner mystischen Erfahrung heraus ‹Vater› nennt.

Alles, was er in Leben und Lehre vertritt, entspringt dieser innigen Beziehung zu Gott als ‹Vater›. Darum drückt auch ‹Sohn Gottes› besser als jeder andere Titel sein Verhältnis zu Gott aus ‒ und nicht nur zu Gott, sondern auch zu uns. Jesus Christus ist in diesem Sinn ‹der Erstgeborene von vielen Geschwistern› (Röm 8,29). Von Jesu innigem Verhältnis mit Gott her werden drei entscheidende Begriffe verständlich, die der christlichen Tradition ihr besonderes Gepräge geben: Frohbotschaft, Reich Gottes und Erlösung.

‒ Die Frohbotschaft fasst einfach das Gottesverständnis Jesu zusammen. Johannes spricht dies so aus: ‹Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm› (1 Joh 4,16). Weil aber Liebe das gelebte ‹Ja› zur Zugehörigkeit ist, hat das Bleiben in der Liebe umwälzende Folgen für alle Lebensbereiche. Eine Welt, in der wir alle ‹Ja› sagen zu gegenseitiger Wertschätzung und Verantwortung, muss anders aussehen als die Welt, die wir kennen. Liebe wird so zur Triebkraft für die gewaltfreie Revolution, die Jesus angestoßen hat und die das Reich Gottes zum Ziel hat.

‹Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie wünsche ich, es würde schon brennen› (Lk 12,49).

‒ Das Reich Gottes ist die Welt, insofern sie ‹in der Liebe bleibt›. In Anlehnung an den Dichter Gary Snyder[3] können wir vom ‹Gotteshaushalt› sprechen, weil Haushalt uns vielleicht vertrauenserweckender klingt als Reich. Der Dichter spricht vom Erdhaushalt (‹Earth Household›), aber für Tiere, Pflanzen und die ganze unbelebte Natur ist der Erdhaushalt ja zugleich Gottes Haushalt, weil sie völlig eingebettet leben in die Ordnung und den Frieden einer allumfassenden ‹Familie›. Nur wir Menschen schließen uns aus, wie der verlorene Sohn im Gleichnis Jesu; wir gehen von zuhause fort in die Fremde, die Entfremdung. Hier beginnt alles Elend der Welt. Wo immer aber Liebe herrscht statt Macht, da wird auch unter uns Menschen der Erdhaushalt zum Gotteshaushalt.

Erlösung ist Rückkehr aus der Entfremdung von uns selbst, aus der Entfremdung von Anderen und schließlich aus der Entfremdung von Gott. Sobald wir einsehen, dass wir ja nie aus Gottes Liebe herausfallen können, kommen wir ‹zu uns selbst›, wie der verlorene Sohn (Lk 15,17) ‒ zu unserem wahren Selbst ‒ das daheim ist im Haushalt Gottes als innig geliebtes Familienmitglied. Dann tanzt der Vater beim Freudenfest, das er dem einst verirrten Sohn bereitet hat. Im Johannesevangelium sagt Jesus:

‹Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben› (Joh 10,10).»

2.2. Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 61f.:

«Jesus kommt nun als der Menschensohn, als der Mensch, und sagt: Ihr seid gerettet. Weil einer es geschafft hat, seid ihr alle gerettet. Er kommt nicht, um uns zu sagen, was wir tun müssen, damit wir gerettet werden. Das wäre keine Frohe Botschaft. Es kamen ja schon viele, die uns sagten, was wir tun müssten, um gerettet zu werden, und wir konnten es doch nicht tun.

Das Neue, das mit Christus anbricht, fasst Markus (1,15) ganz klar zusammen: ‹Die Zeit ist erfüllt› (jetzt), ‹Das Reich Gottes ist herbeigekommen› (hier). Ihr seid also erlöst. ‹Tut Buße und glaubt die Botschaft›

Nun hängt alles daran, was wir darunter verstehen: ‹Tut Buße›! ‒ Es gibt eine weltliche Auffassung von Buße, und es gibt eine christliche Auffassung.

Buße tun heißt umdenken. Dass wir das mit ‹Buße tun› übersetzen, ist etwas gefährlich, etwas zu weltlich. Die weltliche Auffassung von Buße ist alt: Wir haben etwas falsch gemacht, und wir müssen es jetzt so schnell wie möglich gutmachen. Das Beste, was dabei herausschauen kann, ist Flickwerk, und auch das gelingt uns selten, wie wir wissen.

Das Neue ist: Gott hat es getan! Es ist bereits geschehen. Wir sind erlöst. Wir müssen nur umdenken, neu denken. Es heißt nicht: Tut zuerst Buße, und glaubt danach! Sondern: Tut Buße, indem ihr umdenkt und glaubt, was zu gut scheint, um wahr zu sein.

Die ganze Polemik zwischen Gesetz und Gnade steckt in diesem einen kleinen Satz: Denkt um und glaubt!

Glauben  i s t  umdenken.

Verlasst euch nicht darauf, was ihr als Buße tun könnt, um alles wieder zusammenzuflicken; das ist alles noch weltlich. Denkt wirklich um; glaubt, vertraut, verlasst euch auf die Frohe Botschaft: Einer ist gekommen, der es geschafft hat, der das geworden ist, was der Mensch sein sollte: Gottes Sohn. Es ist endlich Wirklichkeit geworden, und wir können alle daran teilnehmen durch unser gläubiges Leben.»]

 ___________________

[1] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 170: Eugene O’Neill: ‹Eines langen Tages Reise in die Nacht› (1956), siehe Mystische Erfahrung

[2] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 175f.: Mary Austin: ‹Earth Horizon ‒ An Autobiography› (1932), siehe Gott

[3] Erdhaushalt, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134f.:

«Erdhaushalt ist ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (geb. 1930) geprägt hat. Dieses Wort veranschaulicht, dass unsre Umwelt zugleich Mitwelt ist, der wir uns verwandt fühlen dürfen und von der wir ernährt werden. Statt Umwelt Erdhaushalt zu denken und zu sagen, verändert ganz von selbst unsre Haltung, was zugleich zeigt, welche Wirkkraft Worte besitzen.»



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Johannes Kaup: «Was das Revolutionäre betrifft: In welcher spirituellen Tradition sehen Sie sich da selbst? Welche Vorbilder haben Sie vor Augen?»

Bruder David: «Mein Vorbild ist vor allen anderen Jesus Christus als Revolutionär. Er war es in seiner Zeit und wurde auch als solcher anerkannt, denn die Kreuzesstrafe war nicht für religiöse Vergehen vorgesehen. Dafür wurde man mit Steinigung bestraft. Kreuzigung war ausdrücklich eine politische Strafe ‒ für davongelaufene Sklaven und Revolutionäre, Vergehen also, durch die der sogenannte Verbrecher die bestehende Gesellschaftsordnung unterminiert hat. Das hat Jesus durch seine Predigt vom Reich Gottes getan. Wenn er sagt:

‹Bei euch soll der Größte der Diener von allen sein›, dann unterminiert er die Machtpyramide  seiner Zeit ‒ und auch unserer Zeit. Ist das nicht entschieden revolutionär?»[1]

Was aber machte ihn politisch so gefährlich? Es war seine radikale Spiritualität seine beständige Bemühung, sich auf Gott einzustellen und sich an Gott auszurichten statt an den Normen der Gesellschaft. In diesem Sinne war Jesus ein Aufrührer. Gerechtigkeit im Sozialleben war ihm ebenso wichtig wie Integrität im Privatleben.

Was er «Reich Gottes» nannte, stand in radikalem Widerspruch zur vorherrschenden Gesellschaftsordnung, in der die wenigen Privilegierten (gemeinsam mit der römischen Besatzungsmacht) die Masse unterdrückten und ausbeuteten.

Er verkehrte «in schlechter Gesellschaft»[2], teilte sein Brot gerne mit Leuten von der Straße, verbrüderte sich mit Ausgestoßenen, ja, er berührte sogar Aussätzige liebend und heilend.

Sein Blick drang durch jede soziale Maske und schaute direkt auf das strahlende Selbst jedes Menschen.

Dadurch gab er den Entmachteten ein Gefühl der Würde.

Den Mächtigen aber schien es, als ob er ihnen etwas an Unterwürfigkeit schuldig bliebe.

Gebeugte konnten sich in seiner Gegenwart plötzlich wieder aufrichten, Verunsicherte konnten aufrecht stehen.

Darum so viele Heilungen Lahmer, darum aber auch die Anklage, er sei ein Demagoge, er wiegle das Volk auf (Lk 23,5).

In dieser Hinsicht stand Jesus in der Tradition der Propheten in der Geschichte seines Volkes. Deren radikale Spiritualität war zu ihrer Zeit auch in Konflikt geraten mit einer Form von Religiosität, die, einfallslos, den Status quo um jeden Preis bewahren will und für die man als Preis das eigene Denken aufgeben muss.

Jesus hingegen betonte, dass ein wacher Verstand unbedingt zu unserer Gottesbeziehung gehöre.

Nach Markus zitiert Jesus das erste und wichtigste Gebot aus dem 5. Buch Mose, wo es heißt: «Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft» (Dtn 6,5).

Jesus fügt aber noch hinzu: «und mit deinem ganzen Verstand» (Mk 12,29).

Der Verstand ist zwar im hebräischen Begriff der Seele schon enthalten, hier hebt Jesus ihn aber noch ausdrücklich hervor.

Gemeint ist nicht ein besonderes intellektuelles Vermögen, sondern der gesunde Menschenverstand. Jesus ermächtigte seine Zuhörer dazu, sich mittels des ihnen von Gott geschenkten Verstandes selber ein Urteil zu bilden. Das können wir aus jenen Schichten der Evangelien herauslesen, die nach Sicht der Wissenschaft der ursprünglichen Lehre Jesu am nächsten kommen, nämlich den Gleichnisse Jesu.[3]

«Gelitten unter Pontius Pilatus»

Weil Jesus für Gottes Weltordnung eintrat, musste er notwendigerweise mit einer Weltordnung zusammenstoßen, die sich nicht an Liebe ausrichtet, sondern an Macht, die also im vollen Sinn des Wortes ver-rückt ist. In der Welt der Machtpolitik ist er dann der Unterlegene. Wenn er sich auflehnt, muss er mit Folgen rechnen.

Den römischen Statthalter Pontius Pilatus im Glaubensbekenntnis zu erwähnen heißt: Ich kenne die Mächtigen bei Namen, ich kenne ihre Taktiken und das Leid, das sie der Welt und mir selber antun können. Trotzdem setze ich Vertrauen auf Jesus Christus, den Verlierer in dieser Welt. Gerade weil ich die weltliche Macht von Neid, Geiz und Hass in mir selber kenne, will ich mich immer wieder ‒ im Vertrauen auf Gott ‒ für die Weltordnung der Liebe entschließen und einsetzen.

Der Zusammenstoß zwischen Christus und Pilatus wird uns bewusst, wenn wir uns die Diskrepanz zwischen unseren spirituellen Werten und der Wertordnung unseres täglichen Lebens eingestehen.

In Augenblicken, in denen wir wirklich wir selbst sind (in unseren Gipfelerlebnissen), wird uns das Wahre Schöne und Gute zur unleugbaren Erfahrung.

Aber wie schwer fällt es uns doch, um dieser Werte willen in unserer Gesellschaft gegen den Strom zu schwimmen.

Was in unserem Alltag gilt, wird meist doch weitgehend vom gerade vorherrschenden Pontius Pilatus diktiert.

Wir haben unzählige Gelegenheiten für Menschenwürde und Gerechtigkeit einzustehen und wenn wir das wagen, wird uns sehr bald durch eigenes Leiden bewusst gemacht, was es heißt, dass Jesus gelitten hat unter Pontius Pilatus. Auch in unserer Zeit bewahrheitet sich die neutestamentliche Behauptung:

«Alle die in Jesus Christus nach Gottes Ordnung leben wollen, werden Verfolgung leiden» (2 Tim 3,12):

Dietrich Bonhoeffer, Edith Stein, Franz Jägerstätter, die Blutzeugen und Desaparecidos in Lateinamerika, Maximilian Kolbe und unzählige Andere anderswo, sie alle sind jener Macht zum Opfer gefallen, die im Credo durch Pontius Pilatus verkörpert wird.

Transzendente Wirklichkeit wird hier geschichtlich verankert. Für uns, nicht weniger als für Jesus, ist Geschichte bedeutsam. Sie ist der Schauplatz, auf dem sich unsere Überzeugungen bewähren müssen.

Sich zu Jesus Christus zu bekennen, obwohl er unter Pontius Pilatus gelitten hat, setzt gläubiges Vertrauen voraus, dass die Schwachheit Gottes stärker ist als menschliche Macht (1 Kor 1,25).

Dass Jesus unter Pontius Pilatus leiden musste, ist wichtig, weil es uns zeigt, was Jesus seine Überzeugung kostete und was seine Nachfolge uns kosten kann.

Unzählige Blutzeugen ‒ gefeierte und längst vergessene ‒ haben im Laufe der Geschichte «gelitten unter Pontius Pilatus», und leiden immer noch irgendwo in der Welt an diesem heutigen Tag. In ihrer Niederlage aber erweisen sie sich stärker als ihre Henker.

Was wir hier vom Leiden Jesu Christi bekennen, hat also eine Wichtigkeit die weit über den Wortlaut hinausgeht, weil es zur Kraftquelle werden kann für alle, die verbunden mit Jesus Christus, spirituelle Werte den Machtsystemen der Welt entgegenstellen, für alle, die im Einsatz für eine heilige und geheilte Welt leiden.[4]

In der Wallfahrtskirche ‹Maria Schmerzen› in Wien, unserer Pfarrkirche in meiner Jugend, steht ein viel verehrtes Schnitzbild der Schmerzensmutter. Jedes Jahr am Freitag vor dem Karfreitag kamen tausende Menschen dorthin, um zu beten. Auch 1944 zog ein endloser Strom von Frauen in Schwarz zwischen den Weingärten den Kaasgraben hinauf zur Kirche. Sie trauerten um ihre gefallenen Männer, Brüder, Söhne oder Enkelsöhne, die als Kanonenfutter in Hitlers Armee gezwungen worden waren. Nur wenige von ihnen wussten, dass drei Tage vorher in einer Nachbarpfarrei ein junger Priester von der Gestapo verhaftet und des Hochverrats angeklagt worden war, weil er im Namen seines Herrn Jesus Christus gegen dieses sinnlose Hinschlachten von Millionen klar Stellung genommen hatte.

Dieser Priester hieß Heinrich Maier. Er war einer der Kapläne, die wir Studenten liebten, weil sie mit der Jugend umzugehen wussten. Während er an jenem Morgen die Messe feierte, kamen drei Männer in die Kirche gestampft und nahmen mit verschränkten Armen und gespreizten Beinen vor dem Altar Stellung. Diese Drohgebärde war alles, was die Mitfeiernden zu sehen bekamen. Kaum hatte der Priester den Altar verlassen, wurde er noch in seinem Messgewand in der Sakristei festgenommen und abgeführt.

Lisi Irdinger, die geistesgegenwärtige und mutige Pfarrhelferin verschwand schnell in Pater Maiers Zimmer, packte seine Schriftstücke und Unterlagen zusammen und brachte sie ins Zimmer von Pater Robert Firneis, eines Kaplans, der in die Armee eingezogen worden war und dessen Zimmer folglich nicht von der Gestapo durchstöbert werden durfte.

Spitzel hatten allerdings schon alles verraten, was man wissen wollte: Dieser hochintelligente und zweifach promovierte junge Kleriker war gefährlich für das Dritte Reich. Alle in der Pfarrei hatten ihn gern; schon das war verdächtig. Er hatte eine Gruppe der österreichischen Widerstandsbewegung gegründet, hatte sich mit ähnlichen Gruppen in Deutschland in Verbindung gesetzt, besonders mit Mitgliedern katholischer Gewerkschaften, und war sogar mit dem Geheimdienst der Alliierten in Kontakt. Er hatte versucht, das wahllose Bombardieren der Zivilbevölkerung zu bremsen, indem er half, alliierte Luftangriffe auf Waffenfabriken zu lenken. All das genügte, ihn des Hochverrates anzuklagen. Das Todesurteil lautete: Enthauptung.

Am Schmerzensfreitag des nächsten Jahres kamen nur noch eine Handvoll Trost suchender Frauen zur Wallfahrtskirche. Bombenangriffe bei Tag und Nacht hatten ganze Stadtteile Wiens in Trümmerfelder verwandelt. Die russische Befreiungsarmee rückte von Ungarn her täglich näher und das Ende von Hitlers «Tausendjährigem Reich» war in Sicht. Wir ahnten nicht, was die russischen «Befreier» in Wien anrichten würden. Vielleicht stand uns das Ärgste noch bevor. «Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende», sagten wir damals. Die Schreckensherrschaft war jedoch am Zusammenbrechen. Erst später erfuhren wir es: Pater Heinrich Maier war am Tag vorher hingerichtet worden.

Wenn ich jetzt an ihn denke, so vermischt sich das, was ich aus eigener Erinnerung weiß, mit dem, was mir erzählt wurde. Nackt war er im Gefängnis ans Fenstergitter gefesselt und gefoltert worden. Selbst unter Folterqualen hatte er keinen Namen eines Mitverschwörers verraten. Einer seiner Richter hatte ihn zynisch gefragt: «Sie nehmen alle Schuld auf sich, was bekommen Sie denn dafür?» «Von nun an werde ich sehr wenig brauchen», war die Antwort.

Ich weiß aber auch, dass manche sagten: «Waghalsig war er; da ist's ihm halt an den Kragen gegangen. Was hat er denn sonst erwartet?»

Ich weiß aber auch, dass wir junge Menschen damals von Helden wie Heinrich Maier lernten, was es heißt, Jesus Christus als «Unseren Herrn» zu bekennen.

Mit lauter Stimme hatte er das getan ‒ so berichteten seine Mitgefangenen. Wenige Augenblicke, bevor er für immer schweigen musste.[5]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3-5)

[Ergänzend:

1. Credo (2015): ‹Am dritten Tage auferstanden von den Toten›, 150:

«Von den religiösen Autoritäten seines Volkes verdammt und ausgestoßen zu werden, hieß für einen Juden zur Zeit Jesu, auch von Gott verstoßen zu sein.[6] Seine Hinrichtung schien dies zu bestätigen ‒ ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen›? (Mk 15,34) ‒, aber seine Auferweckung zeigte den Jüngern: Gott hatte ihn doch nicht verlassen. Das ist und bleibt der zentrale Aspekt des Auferstehungsglaubens.»

2. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 298:

«‹Kein Prophet kann außerhalb Jerusalems sterben› (Lk 13,33),

sagt Jesus, das heißt, er muss dort sein, wo es ums Wesentliche geht.

So müssen auch wir mitten drinstehen.

Dieses Drinstehen in einer Gemeinschaft ist so schwierig, dass man glauben sollte, es genüge schon. Drinnen zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen, ist schwer genug.

Darin, dass beides von uns verlangt wird, in der Gemeinschaft zu stehen und sie zugleich herausfordern, da liegt das Kreuz des Propheten.

Das Drinnenstehen ist der senkrechte Balken und das Herausfordern ist der horizontale Balken.

So endet jeder Prophet früher oder später am Kreuz. Versuchen Sie nur einmal bei irgendeiner Gelegenheit, wirklich aus dem tiefsten inneren Horchen, aus dem Herzen zu sprechen, besonders dann, wenn sich das, was Sie sagen wollen, mit der vorherrschenden Meinung nicht ganz verträgt. Sie werden auf die eine oder die andere Weise gekreuzigt werden.»

3. Audios

3.1. Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(07:58) ‹Denn zur Zeit Jesu war etwas, was für uns schon eigentlich verständlich ist, völlig unentdeckt. Und das war die Möglichkeit, dass ein Mensch mit Gott in guter Beziehung sein kann, ohne mit seinem Volk in guter Beziehung zu sein.[7] Die Beziehung eines Juden zur Zeit Jesu zu Gott, war die Beziehung eines Juden als  M i t g l i e d  des Volkes zu Gott. Aber dass jemand, von der Priesterschaft des Volkes ausgestoßen, doch eine gute Beziehung zu Gott haben könnte, dafür war Jesus ‹der Pionier des Glaubens›, wie ihn der Hebräerbrief nennt.[8] Das war etwas ganz Unerhörtes. Und so war es der Abschied von dem vertrauten Gottesbild. Das ist vielleicht der schmerzlichste Abschied. Aber Jesus als der Pionier der Gläubigkeit geht mit Vertrauen durch dieses ‹Mein Gott, warum hast du mich verlassen›[9] hin auf das ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist›[10]: den unbekannten Gott.›

3.2. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Wesen und Erscheinungsform der Kirche oder die Gemeinschaft der Glaubenden in Spannungen und Konflikten:
(34:30) ‹Jesus stirbt außerhalb von Jerusalem
Jesus geht nach Jerusalem und er sagt:
‹Kein Prophet kann außerhalb von Jerusalem sterben.›
Er muss nach Jerusalem gehen.
Aber er stirbt außerhalb von Jerusalem, weil sie ihn hinausschmeißen.
Er geht ausdrücklich nach Jerusalem, um in der Mitte zu sein. Aber man exkommuniziert ihn.
Das war für mich historisch ganz sicher die Schwelle, über die Jesus hinausgegangen ist bei der Kreuzigung:
Das war der Augenblick, wo er aus Jerusalem ausgestoßen wurde.
Das berührt mich noch jetzt sehr stark, wenn ich daran denke.
Dieser Stein, da ist er drüber gegangen, in dem Augenblick, wo er wirklich ausgestoßen wurde.
Und für einen Juden aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu sein in dieser Weise, ist völlig anders, als es für uns wäre.
Für eine Johanna von Orleans ist es schon irgendwie möglich ‒ auch furchtbar schwierig ‒, aber irgendwie möglich, noch Christus treu zu sein und mit Gott verbunden zu sein, und von der Kirche ausgestoßen.
Das ist erst in unserem christlichen Bereich möglich ‒ denkbar.
Für einen Juden zur Zeit Jesu, also für Jesus ist es absolut undenkbar, mit Gott in Verbindung zu bleiben und vom Volk ausgestoßen zu sein, das ist einfach undenkbar.
Daher ist das vielleicht einer der ganz entscheidenden Durchbrüche ‒ menschlich gesprochen im Leben Jesu ‒ möglicherweise, man weiß es gar nicht, historisch lässt es sich nicht fassen ‒, aber möglicherweise hat Jesus sich irgendwie durchgerungen zu der Einsicht: Ja, ich bleibe doch mit Gott verbunden, obwohl das auserwählte Volk mich ausstößt, ‒ möglich ‒ wir wissen es nicht.
Andererseits der Schrei: ‹Mein Gott, warum hast du mich verlassen› könnte darauf hindeuten, dass er sich völlig ausgestoßen gefühlt hat, also bis zum Letzten: sich nicht mehr mit Gott verbunden wissen konnte, weil das einfach nicht in seinen Vorstellungskreis hineinpasst, dass man Gott verbunden sein kann und vom Volk ausgeschlossen.
Und vielleicht hängt das auch wieder mit der Einsicht zusammen, die zur Auferstehung gehört, dass er also doch von Gott anerkannt ist, trotzdem er ausgestoßen war. Wir wissen nicht sehr viel. Wir ringen da nur darum.«
(Zuhörer:) ‹Das hat aber bedeutende Konsequenzen!›
(Bruder David:) ‹Das hat auch für Jesus bedeutende Konsequenzen gehabt: ‹Haben sie mich verfolgt, werden sie euch verfolgen. Haben sie auf mich gehört, werden sie auf euch hören› (Joh 15,20).
Und das ist ein Punkt, in dem ganz ausdrücklich ‒ wenn man im Religionsunterricht oder auch im Theologieunterricht die Frage gestellt hat ‒ also: Hier ist Jesus als Anhänger seiner jüdischen Religion, versucht ein guter Jude zu sein und wird von den offiziellen Behörden deshalb, weil er versucht ein Judentum zu leben, das wir heute in der Rückschau als richtig und tiefer ansehen als das der Übrigen ‒ weil er das zu leben versucht ‒, wird er weggeräumt ‒:
Könnte das nicht heute wieder passieren, dass jemand wie Jesus oder Franziskus ein wirklich christliches Leben lebt und daher von den heutigen Behörden der Kirche – genauso dasselbe ‒ wieder weggeräumt wird?›
]

_________________________

[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 163f.

[2] 1971 erschien von Adolf Holl das Buch ‹Jesus in schlechter Gesellschaft›. Es folgte der Entzug der Lehrberechtigung und dann die Suspendierung vom Priesteramt.

[3] Credo (2015): ‹gekreuzigt› (2015), 109f.

[4] Credo (2015): ‹Gelitten unter Pontius Pilatus› (2015), 102-105

[5] Credo (2015): ‹… und an Jesus Christus … UNSEREN HERRN›, 82f.:

[6] Siehe Galaterbrief 3,13 mit Bezug auf 5 Mose 21,23: ‹Verflucht ist jeder, der am Holz hängt›

[7] Siehe Anm. 6

[8] Hebräerbrief 12,2

[9] ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen› (Mk 15,34, Mt 27,46, Psalm 22,2)

[10] ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist› (Lk 23,46, Psalm 31,6)

 


Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Nach Markus zitiert Jesus das erste und wichtigste Gebot aus dem 5. Buch Mose, wo es heißt:

«Gott lieben mit deinem ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft» (Dtn 6,5).

Jesus fügt aber noch hinzu: «und mit deinem ganzen Verstand» (Mk12,29).

Der Verstand ist zwar im hebräischen Begriff der Seele schon enthalten, hier hebt Jesus ihn aber noch ausdrücklich hervor. Gemeint ist nicht ein besonderes intellektuelles Vermögen, sondern der gesunde Menschenverstand.

Jesus ermächtigte seine Zuhörer dazu, sich mittels des ihnen von Gott geschenkten Verstandes selber ein Urteil zu bilden. Das können wir aus jenen Schichten der Evangelien herauslesen, die nach Sicht der Wissenschaft der ursprünglichen Lehre Jesu am nächsten kommen, nämlich den Gleichnissen.

Jesus lehrt in Gleichnissen. Das ist so bezeichnend für ihn, dass unser ältestes Evangelium (nach Markus) so weit geht, zu behaupten:

«Er sprach nur in Gleichnissen zu ihnen» (Mk 4,34).

Das typische Gleichnis Jesu wirkt ähnlich wie ein Witz: es überrascht und stellt uns auf gutmütige Weise vor uns selber bloß. Es geht in drei Schritten vor:

Häufig beginnt es mit einer Frage, die sich auf etwas allen Bekanntes bezieht. Zum Beispiel: «Wer von euch weiß nicht ...», dass ein wenig Sauerteig ausreicht, um Unmengen von Brot zu backen; dass uns das, was wir verlegt oder verloren haben, keine Ruhe lässt bis wir es finden; dass kein Geschäftsmann sich einen einzigartigen Gelegenheitskauf entgehen lassen wird; dass man in einem Weizenfeld nicht Unkraut jätet, weil man sonst alles zertrampelt; dass die Reichen reicher werden und die Armen ärmer; dass der Same, den wir säen seine Zeit braucht, ob wir Geduld aufbringen oder nicht; dass nicht alles, was wir aussäen, Frucht bringt, die Ernte uns am Ende aber trotzdem reich beschenkt.

Solche Fragen sind der erste Schritt. Die Antwort ist der zweite. Sie ist immer die gleiche: «Das weiß doch jeder!» sagen seine Zuhörer.

Aber damit ‒ und das ist der dritte Schritt ‒ sind wir auch schon auf den Leim gegangen. Wir müssen uns nämlich jetzt selber fragen: Wenn wir es so gut wissen, warum ziehen wir dann nicht die Konsequenz und wenden unsere Einsicht auf unsere Beziehung zu Gott an?

Dahinter steht nun die entscheidende Annahme: Gesunder Menschenverstand lehrt uns, was Gott will.

Wie schwerwiegend diese so einleuchtende Überzeugung ist, das muss man sich nur überlegen.

Nichts ist revolutionärer als die Vorrangstellung, die Jesus in seinen Gleichnissen dem gesunden Menschenverstand einräumt. Dieser stellt geradezu den Gegenpol dar zum konventionellen Denken.

Durch ihn spricht ja der Heilige Geist im Menschenherzen.

Jesus beruft sich also nicht darauf, sozusagen Sprachrohr der göttlichen Autorität zu sein; darin unterscheidet er sich von den Propheten vor ihm.

Er maßt sich auch nicht selber höchste Autorität an, sondern ‒ und das ist etwas völlig Neues in der Religionsgeschichte ‒ er appelliert an die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer:

Gott spricht zu uns durch unseren gesunden Menschenverstand ‒ das ist es, was jedes Gleichnis voraussetzt, und es ist zentral für das Gottesverständnis Jesu.

Dadurch löste seine Lehre eine gewaltige Autoritätskrise aus, deren Erschütterungen wir bis heute fühlen.

Jesus ermächtigte seine Zuhörer, für sich selber zu denken.

Das hat ungeheure politische Konsequenzen. Es war damals, und ist heute noch, bedrohlich für alle autoritären Strukturen; Jesus wird daher ‒ vom Standpunkt der Machthaber aus mit Recht ‒ als subversiv gebrandmarkt und gekreuzigt.

Von den einfachen Menschen aber, die Jesu zuhörten heißt es:

«Sie waren außer sich über seine Lehre, denn er lehrte wie einer, der Vollmacht hat.»

Und dann fügten sie vergleichend hinzu, «nicht wie die Schriftgelehrten» (Mk 1,22).

Mit diesem Vergleich ist sein Schicksal besiegelt. Die Schriftgelehrten werden ihm das nie verzeihen. Sie machten ihre Zuhörer klein; Jesus hob sie über sich selbst hinaus.

Dadurch war der verhängnisvolle Ausgang seiner Karriere praktisch unausweichlich. Gegen alle autoritären Machtansprüche einzutreten, hat nicht nur religiöse, sondern auch politische Konsequenzen. Das wissen wir. Die letzte Konsequenz für Jesus war seine Kreuzigung.

[Credo: ‹gekreuzigt› (2015), 110-112]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)
Vortrag:
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen: Bruder David erklärt die literarische Form von Gleichnissen. Ohne ihre Kenntnis verfehlen wir den springenden Punkt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Jesus lehrt in Witzen: Er stellt eine Frage, wir sagen: ‹Das wissen wir ja alle›! ‹Warum handelt ihr nicht danach›? der Witz ist auf unsere Kosten / (22:13) Er weist hin, wie die Gleichnisse Jesu eine religionsgeschichtliche Wende bedeuten: Jesus spricht nicht wie ein Prophet mit der Autorität Gottes, er nimmt auch nicht charismatisch seine eigene Autorität in Anspruch, sondern verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer: ‹Ihr wisst das doch›!

1.2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(30:59) Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit – Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter – (38:46) ‹Wisst ihr das denn nicht›?, sagt Jesus ‒ das ist ja seine Lehrmethode ‒ und wir sagen: ‹Ja wir wissen es!› ‹Aha, ihr wisst es so gut, der Hausverstand sagt uns das ja schon›! ‹Ah, was für ein Hausverstand ist denn das›? Das ist das Welthaus, das ist der Haushalt, dem wir alle angehören, der Welthaushalt, der Gotteshaushalt, zu dem auch die Tiere und die Pflanzen gehören: Hausverstand ist ein wunderschönes Wort.

2. Weitere Texte

2.1. Common Sense (2014): ‹Der Common Sense in den Gleichnissen Jesu, 45, 46f., 49f.:

«Frisch wie am ersten Tag leuchtet die ursprüngliche Botschaft Jesu in seinen Gleichnissen und nirgends sonst ist sie überzeugender. Wie Goldkörnchen im Sand, so lagerten sich die Gleichnisse in den frühesten Schichten der christlichen Tradition ab. Sie bewahrten das lebendige Wort der Lehre unverfälschter als die meisten anderen Evangelientexte.

Dass Jesus in Gleichnissen lehrte, ist eine der wenigen wirklich sicheren historischen Aussagen über ihn. Markus, der früheste Evangelist, behauptet sogar: ‹Ohne Gleichnis redete er nicht zu ihnen› (4,34). Damit mag Markus übertreiben, aber es lässt sich nicht leugnen, dass wir in den Gleichnissen das Herzstück der Botschaft Jesu finden können ‒ und zwar sowohl was den Inhalt angeht als auch die Form, in der er lehrte.

Die Gleichnisse enthalten nicht nur das Wesentliche seiner Botschaft; auch der Umstand, dass er sich für die Rede in Gleichnisform entschied, sagt etwas Entscheidendes darüber aus, worauf es ihm mit seiner Botschaft ankam.

Viele Gleichnisse Jesu sind jenen Sprichwörtern sehr ähnlich, in denen ein starkes Bild jäh eine Einsicht des Common Sense  aufblitzen lässt. Zuweilen erweitert er das Bild zu einer kurzen Erzählung und bringt damit das zündende Element dieser Art von Sprichwörtern noch kräftiger zur Wirkung.

… Im dritten Schritt sieht Jesus uns fragend an. Er braucht die Frage eigentlich gar nicht auszusprechen: ‹Wenn das so offensichtlich ist ‒ warum handelt ihr dann nicht entsprechend? Wo ist denn euer gesunder Menschenverstand›?

Uns bleibt nur, über uns selbst den Kopf zu schütteln: Wir hätten zwar durchaus den gesunden Menschenverstand ‒ den Common Sense ‒, aber in den entscheidendsten Punkten unseres Lebens verhalten wir uns wie Dummköpfe. Das Gleichnis hat uns auf humorvolle Weise überführt. Ein Gleichnis Jesu nach dem anderen führt uns immer wieder spielerisch im gleichen Dreischritt unsere Torheit und Inkonsequenz vor Augen. Warum reizen uns die Gleichnisse Jesu in den Evangelien eigentlich nicht zum Lachen? Die Antwort ist nicht schwer zu finden: Wie oft kann man der immer gleichen Zuhörerschaft ein und dieselbe geistreiche Pointe präsentieren? Nach einigen Wiederholungen würden auch die Geduldigsten müde abwinken. Aber trotzdem blieben die Bilder, die Jesus gebraucht hat, seinen Jüngern kostbar. Und so bewahrte man sie in der Tradition und wiederholte sie immer wieder ‒ und machte aus den spritzigen Formulierungen moralisierende Geschichten.

… Die Gleichnisse sind also keineswegs zahme Erbauungsgeschichten, sondern enthalten solche nicht ungefährliche Pointen, mit denen Jesus sich über die öffentliche Meinung lustig machte: Willst du wirklich wissen, wer dein Nächster ist? Warte nur, bis du in Not kommst, dann sagt es dir ganz unerwartet dein Common Sense! Dann kannst du ganz selbstverständlich sogar in einem verachteten Ausländer deinen Nächsten erkennen, ein Mitglied der Menschheitsfamilie.»

2.2. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 184-186:

«Es gibt keinen anderen Lehrer in der Religionsgeschichte, der in diesem Maße Gleichnisse verwendet hat. Zwar war das Gleichnis nicht die ausschließliche Lehrmethode Jesu, aber doch so charakteristisch, dass Markus sagen kann, Jesus habe nur in Form von Gleichnissen gelehrt. Dass er nicht auch auf andere Weise gelehrt hat, ist jedoch eine Übertreibung. Doch weil das Gleichnis für ihn am typischsten war, ist es auch so wichtig für uns, dass wir begreifen, was ein Gleichnis ist. Es ist ein sehr einfaches Lehrmittel. Es kann eine kurze Geschichte sein, manchmal auch eine etwas längere, es kann aber auch lediglich ein ganz kurzer Ausspruch sein, etwa wie ein Sprichwort.

Die Art und Weise, wie manche Sprichwörter in uns wirken, vermittelt uns eine gute Vorstellung von der Wirkungsweise eines Gleichnisses. Nehmen wir zum Beispiel das folgende Sprichwort: ‹Früher Vogel fängt den Wurm›. Das entspricht dem gesunden Menschenverstand. Sie können es selbst beobachten, wenn Sie früh genug aufstehen. Später sind die meisten Würmer verschwunden. Diejenigen, die zu spät kommen, kriegen keine mehr. Sie haben das vielleicht schon häufig beobachtet, aber es sagte Ihnen nichts. Aber dann eines Tages kommen Sie hier im Esalen-Institut zu spät zum Essen und bekommen keines mehr. Oder Sie gehen in einen Schallplattenladen und müssen zu Ihrem Bedauern feststellen, dass die neue Platte, die Sie haben wollten, ausverkauft ist. Plötzlich erinnern Sie sich, dass der frühe Vogel den Wurm fängt. Ihre Situation hat überhaupt nichts mit Vögeln oder Würmern zu tun, aber sie hat eine ganze Menge mit der Wahrheit zu tun, die in diesem Sprichwort steckt.

Das ist der Ausgangspunkt eines jeden Gleichnisses. Es erinnert Sie an eine Beobachtung, die dem gesunden Menschenverstand entspricht. Oft fängt es in dem Sinn an: ‹Wer von euch weiß das nicht schon›? Wer von euch, der Kinder hat, weiß nicht, was Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden? Wer von euch, der schon einmal Brot gebacken hat, weiß nicht, wie sich Hefe verhält? Wer von euch, der schon einmal etwas verloren hat, weiß nicht, wie sehr man sich anstrengt, um es wiederzufinden? Das ‹Wer von euch› wendet sich an die Zuhörer und bedeutet: ‹Kennt ihr das nicht ohnehin schon›? Dies ist der erste Teil eines jeden Gleichnisses. Wer weiß etwa nicht, dass der frühe Vogel einen Wurm fängt, das ist ein Gemeinplatz.

Dann kommt Teil zwei, die Reaktion der Zuhörer. Diese sagen: ‹Nun, das weiß doch wohl jeder, oder›?

Und dann kommt Teil drei, und das ist ‒ in den besten Fällen ‒ schlicht Schweigen. Manchmal aber wird es auch ausgesprochen, und es ist der Teil, in dem Jesus sagt: ‹Aha, das weiß jeder, in Ordnung. Aber warum handelt ihr nicht danach›? Zack ‒ die Falle hat zugeschnappt!

Wir wollen nun anhand eines Beispiels sehen, wie das Lehrmittel des Gleichnisses wirkt. Die meisten Gleichnisse handeln vom Reich Gottes, aber das folgende wird als Antwort auf eine Frage gegeben. Die Frage lautet: Wenn ich meinen Nächsten lieben soll wie mich selbst, wer ist mein Nächster?

Wir nennen dieses Gleichnis das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Ich bin sicher, dass Sie alle es kennen.

Wenn man dieses Gleichnis als das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bezeichnet, dann ist es, als ob man einen Witz erzählt und ihm vorab eine Überschrift gibt, die die Pointe vorwegnimmt.

Für die Juden zu Lebzeiten Jesu gab es so etwas wie den b a r m h e r z i g e n Samariter nicht. Der einzige barmherzige Samariter war ‒ wie man heute sagen würde ‒ ein toter Samariter. Die Samariter waren absolute Bösewichter.

Außerdem handelt dieses Gleichnis gar nicht von dem Samariter. Das ist ein weiteres Problem. Die Geschichte handelt vielmehr von einem Mann, der in die Hände von Räuber fiel.

(Es gibt eine Faustregel: In Gleichnissen muss man sich immer ‒ wie in Witzen ‒ mit der ersten Person identifizieren, die erwähnt wird, sonst begreift man die Pointe nicht. Man kann einen anderen Gewinn daraus ziehen wie etwa im Gleichnis vom ‹barmherzigen› Samariter. Alle möglichen guten und interessanten Lehren basieren darauf. Wenn man aber wissen will, was Jesus sagte, muss man sich an die Regel halten, die für jede Volkssage, jeden Witz oder jeden volkstümlichen Ausspruch gilt. Man identifiziere sich mit der ersten Person, die erwähnt wird.)

Jemand fragte also Jesus: ‹Wer ist mein Nächster›? und Jesus erzählte folgende Geschichte: Da war ein Mann (das sind Sie!), der von Jerusalem nach Jericho ging und unter die Räuber fiel. Zwischen Jerusalem und Jericho kann man auch heute noch unter die Räuber fallen. Die Straße führt durch eine Schlucht mit steil abfallenden Wänden und es kann einem dort alles Mögliche widerfahren.

Dieser Mann nun fiel unter die Räuber, die ihn misshandelten und beraubten. Sie stahlen ihm alles, was er hatte, und ließen ihn h a l b tot liegen. Es ist sehr wichtig, dass dieser Mann nur h a l b tot ist. Das bedeutet, dass er immer noch am Leben ist und das Geschehen um ihn herum mitbekommt. Denken Sie daran: S i e selbst sind dieser Mann. Gleichnisse werden nicht aus der Perspektive eines außenstehenden Beobachters erzählt, sondern aus der Sicht der ersten Person, die erwähnt wird.

Sie liegen also da und jemand kommt vorbei. Plötzlich wissen Sie, wer Ihr Nächster ist. In Ihrem Herzen schreit es: ‹D a s ist mein Nächster! Er muss mir helfen›! Doch er geht auf der anderen Straßenseite vorbei und lässt Sie liegen.

Dann kommt wieder jemand vorbei. Wiederum schreit es in Ihnen: ‹Hilf mir! Ich bin dein Nächster›! Doch auch dieser Mensch geht vorbei. Sie liegen immer noch da und hoffen, dass jemand Sie als seinen Nächsten erkennt und entsprechend handelt.

Als nächstes kommt nun ausgerechnet ein Samariter vorbei. Wollen Sie, dass dieser Ausgestoßene Ihnen hilft? Ja, natürlich, sind wir nicht alle einander die Nächsten? Und siehe da, dieser schmutzige Samariter verhält sich wie ein Nächster.

Mit einem Schmunzeln fragt Jesus: ‹Welcher von diesen Dreien war also dem der Nächste, der unter die Räuber fiel›? ‹Jener, der ihm Barmherzigkeit erwies›, antwortet der Mann, der gefragt hatte, wer eigentlich sein Nächster sei. Dass es ausgerechnet der Samariter war, sagt er lieber nicht.[1]

Können Sie das Schweigen hören, das sich daraufhin ausbreitet? In diesem Schweigen dreht Jesus den Spieß um. Wenn der Samariter dein Nächster ist, wenn d u dich in Not befindest, ist er auch noch dein Nächster, wenn  e r  in Not ist?

Ich bin auf eine hübsche moderne Version dieses Gleichnisses gestoßen. Als ich einer Gruppe in Neuseeland dasselbe wie hier erzählte, meldete sich eine Ordensschwester zu Wort und sagte: ‹Genau das ist mir passiert. Ich bin vor nicht allzu langer Zeit mit dem Auto von Auckland nach Hamilton gefahren und wurde unterwegs entsetzlich müde. Plötzlich bemerkte ich, wie mein Auto auf der falschen Straßenseite fuhr. Ich hielt sofort an und rollte auf den Randstreifen (mit der Wagenfront in die falsche Richtung). Ich sagte mir: ‹Jetzt werde ich erst einmal ein bisschen schlafen. In diesem Zustand zu fahren ist zu gefährlich›. Als ich aufwachte, klopfte jemand gegen das Wagenfenster. Noch schlaftrunken und entgegen allen Vorsichtsmaßregeln kurbelte ich es hinunter. Draußen stand ein Mann mit einer Lederjacke und sagte: ‹Alles in Ordnung, meine Liebe? Rutschen Sie mal auf den Nebensitz, Sie stehen auf der falschen Straßenseite›. In meiner Verwirrung rutschte ich hinüber. Er stieg ein, brachte das Auto auf die richtige Straßenseite und sagte: ‹Mir scheint, Sie sind in keiner guten Verfassung. Wo wollen Sie denn hin›? ‹Nach Hamilton›, sagte ich. ‹Okay, wir werden Sie begleiten›. Und so wurde ich ‒ eine Nonne in Tracht ‒ nach Hamilton eskortiert, von einer Rockerbande auf Motorrädern.›»

2.3. Unsere Zukunft ‒ das Reich des Kindes (1987):

«Schauen Sie sich doch die Evangelien ‒ vor allem die synoptischen ‒ einmal genau daraufhin an. Sie werden feststellen, dass Jesus sich immer wieder auf die Autorität Gottes in den Hörern beruft. Und die typische Form, in der dies geschieht, ist die Gleichnisrede, die mit einer Frage beginnt, oft unausgesprochen, meist aber ganz ausdrücklich: ‹Wer von euch, der jemals Schafe gehütet hat, weiß nicht; wer von euch, der Brot bäckt, weiß nicht; wer von euch Eltern weiß nicht›?

Immer wieder: ‹Wer von euch weiß das nicht schon›, das steht am Anfang der Gleichnisrede. Und darauf folgt die Reaktion der Hörer, die immer wieder lautet: Na, jeder weiß das; das Kind in uns weiß das genau. Und zum Schluss tritt dann meistens Stille ein, in die hinein Jesus sagt: ‹Ah, ihr wisst das so gut! Warum handelt ihr dann nicht danach›? Und so finden sich die Hörer von der eigenen Erfahrung überführt.

Darum sind die Gleichnisreden heute noch genauso lebendig, wie sie vor 2000 Jahren waren: weil sie uns noch immer dahin führen, zuzustimmen ‒ ‹ja, das weiß ja sowieso jeder› ‒ und dann uns bewusst machen, dass wir nicht konsequent danach handeln.

Wenn wir wirklich aus diesem Geist des Kindes in uns lebten, wenn wir aus dem Bewusstsein heraus handelten, das wir von unseren besten Augenblicken her kennen, dann wären wir nicht so halbtot, wie wir es jetzt sind, und die Menschheit als Ganzes wäre nicht so gefährdet.»]

___________________

[1] Dieser Abschnitt ist aus dem Buch Common Sense (2014), 49



Quellenangaben

Filme, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Georg Stahl

Mehr als früher hatte ich in meinen 70er-Jahren auch Gelegenheit, Menschen kennenzulernen, die in den USA und anderswo an führenden Stellen unserer Gesellschaft standen und von denen ich daher auch annehmen durfte, dass sie gut informiert waren. Immer wieder hörte ich gerade von Wohlinformierten das Sätzchen:

«So kann es nicht weitergehen! ‒ nicht in Politik, nicht in der Wirtschaft und auch in keinem anderen wichtigen Bereich.»

«Und warum nicht?», fragte ich.

«Weil wir im Begriff sind, uns selbst zu zerstören.»

(Dabei gab es damals noch viele, die Natur und Umwelt bedenkenlos ausbeuteten, den Klimawandel ein grünes Hirngespinst nannten und sich doch für sachkundig hielten.)

Durch Gewalt, Rivalität und Habgier standen wir nun vor der Selbstvernichtung. Und der sind wir in den 30 Jahren seither noch bedeutend näher gekommen. Zugleich sind in derselben Zeitspanne aber auch mehr und mehr Menschen aufgewacht zu der Erkenntnis, dass in Gewaltfreiheit, Zusammenarbeit und Teilen alle Hoffnung für die Zukunft liegt.

Pyramide und Netzwerk erwiesen sich auch als hilfreiche Modelle für das Verständnis meiner persönlichen Erlebnisse in diesem Lebensabschnitt.[1]

Johannes Kaup: «Bei ihrem Begriffspaar Kontemplation und Revolution haben Sie Revolution neu definiert, nämlich als Ende der Machtpyramide und als Aufstieg von Gemeinschaften, die sich netzwerkartig organisieren. Das klingt auf den ersten Blick sehr sympathisch. Ich glaube auch zu verstehen, welche Netzwerke Ihnen da vor Augen stehen. Aber ich werde zur Klärung ein kritisches Gegenargument bringen und missinterpretiere Sie jetzt als ‹Advocatus diaboli› bewusst: Auch eine subversive Nichtregierungsorganisation wie die Mafia organisiert sich neuerdings netzwerkartig. Selbst eine Terrororganisation wie der sogenannte Islamische Staat ist mit schlanken, autonom agierenden Zellen und Netzwerkstrukturen bei Attentaten in Belgien, Frankreich und der Türkei höchst erfolgreich. Wenn in einem Netzwerk Vertrauen nach innen herrscht, sagt das noch nichts über die Ethik der Netzwerkorganisation aus, sondern mehr über ihre Effektivität. Also an der Organisationsform alleine, fürchte ich, ist der neue Geist, den Sie im Sinn haben, nicht festzumachen?»

Bruder David: «Nein, nicht an der Form der Organisation, sondern am Gebrauch der Macht. Die Frage ist: Wird die Macht zur Ermächtigung aller in ihrer Eigenständigkeit verwendet? Das ist wichtig. Es muss für alle gelten, also grundsätzlich alle Menschen einschließen, nicht nur eine bestimmte Gruppe.»

Johannes Kaup: «Das heißt, die Netzwerke, die Ihnen vorschweben, sind universalistisch ausgerichtet.»

Bruder David: «Universalistisch und von Respekt für jeden einzelnen Menschen getragen. Aber Respekt ist vielleicht ein zu blasser Begriff. Es geht um tiefe Achtung vor dem Nächsten, vor allen anderen Menschen und vor dem Leben in all seinen Formen. Diese große Achtung, diese Ehrfurcht vor dem Leben muss zentral sein.»

Johannes Kaup: «Also das, was Albert Schweitzer einmal gesagt hat:

«Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.»

Bruder David: «Genau so. Das wäre die Spiritualität der Netzwerke, von denen ich spreche, und das unterscheidet sie fundamental von den Netzwerken der Mafia oder von Terroristen.»

Johannes Kaup: «Sie beschreiben, wie Sie in den 90er-Jahren als Lehrender[2] am legendären Esalen Institute in Big Sur diese unterschiedlichen Organisationsformen ‒ also Pyramide versus Netzwerk ‒ selbst gut beobachten konnten, samt den Konsequenzen, die das nach sich zog. Die Gemeinschaft, die sich in und um Esalen herum gebildet hatte[3], wollte genau dieses innovative, unterstützende, ermächtigende Netzwerk leben. Letzten Endes hat sich aber dann ein traditionelles Modell durchgesetzt mit einem Aufsichtsrat für den Wirtschaftsbetrieb. Wirken da vielleicht allzu menschliche Motive stärker als der altruistisch kooperative Geist? Brauchen diese Netzwerke, die Sie vorhin charakterisiert haben, nicht auch einen reformierten Menschen im weitesten Sinn oder Voraussetzungen für das menschliche Zusammenleben, die man nicht von vornherein in unserem Gesellschaftssystem mitbringt?»

Bruder David: «Ich glaube, wir brauchen ein neues Bewusstsein, um die notwendigen Veränderungen zu verwirklichen. Der Druck des Alten, der Machtdruck des Alten ist sehr groß. Es bedarf großer Anstrengung, uns gegen diesen Druck zu wehren. Und in Esalen ist das leider nicht geglückt.»

Johannes Kaup: «Warum?»

Bruder David: «Es gelingt leider nicht immer. Mut und Kraft reichen nicht immer aus.» [4]

(Film): Ein Teilnehmer: «Br. David: In den vielen Ausführungen, die ich von Dir gelesen und gehört habe, ist immer wieder ein Begriff vorgekommen, der mich sehr berührt hat und zwar, dass Dankbarkeit eine Revolution ist, die so revolutionär ist, dass sie selbst das Konzept der Revolution revolutioniert. Also dieses Wortspiel schon allein hat mich sehr berührt. In diesem Zusammenhang sprichst Du von einem Netzwerkt von kleinen Netzwerken. Kannst Du uns vielleicht zu diesen Netzwerken etwas mitteilen?»

Bruder David: «Ich versuche nur die Verbindung zu finden … Die Verbindung besteht eigentlich darin, dass das Leben eine Vernetzung ist. Leben ist ein Netzwerk aus Netzwerken. Das ist sowohl das Leben als dieses große Geheimnis, als auch unser Lebenslauf. Man wird als Individuum geboren und wird zur Person, indem man Verbindungen aufnimmt, Beziehungen. Je länger man lebt und je intensiver man lebt, umso mehr Beziehungen, also das Netzwerk von Beziehungen.

(26:53) Wir haben aber seit ungefähr 6000 Jahren Zivilisation dem Leben sozusagen übergestülpt. Zivilisation ist auf einem ganz anderen Prinzip aufgebaut als ein Netzwerk von Netzwerken. Leider, leider ist die Zivilisation, die wir kennen ‒ die einzige Zivilisation, die wir aus Erfahrung kennen ‒, eine Pyramide, eine Machtpyramide.

Das Netzwerk von Netzwerken wird durch Vertrauen aktiviert. Die Pyramide durch Furcht:

Das haben wir schon gesehen, das ist genau das Gegenteil von ‹Netzwerk›:

Die an der Spitze sitzen fürchten alle, weil ja sonst jeder eine Gefahr ist, selber an die Spitze zu kommen, und müssen sich daher durch Gewalt verteidigen. Diese Gewalt kann verschiedene Formen annehmen, aber es ist immer Gewalt.

Die etwas weniger hoch oben sind, die wollen hinaufkommen, sie müssen also die Ellbogen verwenden und mit den Füßen nach unten treten und nach oben buckeln, wie ein Radfahrer, und das ist Rivalität.

Also auf der Mittelschicht ist Rivalität.

Für alle besteht die Furcht, dass nicht genug da ist. Da kommt Habsucht herein. Wenn nicht für Alle genug da ist, dann muss ich so viel wie möglich an mich reißen.

(29:09) Also: Furcht von oben bis unten charakterisiert die Machtpyramide. Wir stehen leider an einem Punkt, an dem wir die Machtpyramide so weit ausgebildet haben, wo alles die ganze Zivilisation in Anspruch nimmt, dass wir uns selber zerstören. Furcht zerstört sich selbst, Furcht bringt immer das herbei, was wir fürchten, löst das aus, was wir fürchten.

Und in allen Bereichen haben wir leider ‒ das ist die große Schwierigkeit unserer gegenwärtigen Situation ‒ den Punkt erreicht, wo es so nicht weitergehen kann.

Daraus ziehe ich den Schluss, dass eben eine Revolution notwendig ist, die diese Pyramide umbaut in ein Netzwerk von Netzwerken. Aber natürlich nicht die Art von Revolution, die wir aus der Geschichte kennen, denn da handelt es sich ja immer nur darum, dass die, die an der untersten Schicht dieser Pyramide sind, jetzt an die Spitze kommen und dort dasselbe machen, was die andern früher gemacht haben. Es ändert sich nichts. Aber wir wagen die ganz andere Revolution. Es gibt schon viele, viele Netzwerke, ungezählte Netzwerke, aber sie sind noch nicht vernetzt. Das ist das Entscheidende.»[5]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4f.)

[Ergänzend:

1. Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität

2. Film Impuls zur Selbstfindung (2017); siehe auch Transkription:

(23:29) Wir leben in einer Gesellschaft, die eben durch das Ego geprägt ist, und die daher eine Art Pyramide ist. Der Stärkste ‒ zugleich auch wahrscheinlich der, der am meisten Furcht hat, das macht ihn so aggressiv ‒, ich sage  i h n, das ist eine sehr männliche Haltung, aber es kann auch Frauen passieren:

Wer am meisten Angst hat, der kommt am höchsten hinauf, weil er die Andern am stärksten tritt. Und da baut sich diese Pyramide auf und jeder ‒ auf jeder Schicht ‒, buckelt nach oben und tritt nach unten, wie ein Radfahrer.

So baut sich diese Machtpyramide auf.

Das Gegenteil ist eine Welt, nicht der Pyramide, sondern der Vernetzung.

Eine Vernetzung, etwas Horizontales, eine vernetzte Gemeinschaft: Idealerweise kennt jeder jeden, das muss ein kleines Netz sein. Und eine Welt, die ein Netzwerk aus kleinen Netzwerken ist, das ist auch das Ideal, dem wir nachstreben dürfen für die Zukunft.

Die Machtpyramide ist ja in unserer Zeit ‒ und das charakterisiert unsere Zeit ‒ im Zusammenbrechen.

Besonders die, die an der Spitze stehen, sagen: ‹So kann’s nicht weitergehen.›

Wir haben einen Endpunkt erreicht.

Ob das jetzt in der Wirtschaft ist oder in der Politik: Auf vielen Gebieten, wo diese Machtpyramide so betont wird: sie bricht vor unsern Augen zusammen.

Und Raimon Panikkar, ein ganz großer Denker des 20. Jahrhunderts, hat gesagt:

‹Wir sollen die Zukunft nicht in einem neuen Turm von Babel suchen, wieder so einen Turm bauen und bis zum Himmel kommen, sondern in wohlausgetretenen Pfaden von Haus zu Haus.›

Das ist die Zukunft, das ersehnen wir uns: ‹wohlausgetretene Pfade von Haus zu Haus.›

Und das ist die Welt des Selbst, wo wir alle zusammengehören, obwohl wir ‒ und gerade darum ‒ unsere individuelle Selbständigkeit und Einzigartigkeit betonen dürfen und können. Und die Andern unsere Begabungen schätzen.›

3. Audios

3.1. Das glauben wir (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
(01:32) ‹Der verleugne sich selbst› ‒ das Kreuz:
‹Das Kreuz war zur Zeit Jesu die Todesstrafe für Menschen, die die Gesellschaftsordnung unterminiert haben. Und das waren davongelaufene Sklaven und Revolutionäre. ‹Wer mir nachfolgen will, muss das Kreuz auf sich nehmen› heißt im Klartext: ‹Wir sind daran, die Gesellschaftsordnung von Grund auf zu unterminieren, und daher gehen wir auf das Kreuz zu›. Laut den Weissagungen in den Evangelien war vorauszusehen, dass Jesus gekreuzigt wird, weil er der gesellschaftlichen Machtpyramide, aufgebaut auf Furcht, Gewalttätigkeit, Rivalität, Habsucht, nicht eine andere Pyramide entgegenstellt, sondern ein Netzwerk ‒ ‹in IHM leben, weben und sind wir› (Apg 17,28) ‒, ein Netzwerk der Furchtlosigkeit, der Gewaltfreiheit, der Zusammenarbeit und des Teilens. Immer wieder in der Geschichte, wenn Menschen diese Lebensform propagiert haben ‒ etwa Franziskus mit seinen Brüdern ‒ sind sie mit der Machtpyramide in Konflikt gekommen. Und leider auch mit der Machtpyramide, insofern die Kirche selbst diese Machtpyramidenstruktur angenommen hat. Der jetzige Papst Franziskus unterminiert die Pyramidenstruktur der Kirche ‒ endlich einmal ‒, so wie Jesus es gemacht hätte. Und man muss nur hoffen, dass er nicht auch gekreuzigt wird.›

3.2. Audio Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Was hindert gesundes spirituelles Wachstum?; siehe auch (
Mitschrift):
(05:14) Gott als Machthaber getrennt von uns: ‹Durch diese Vergiftung des Gottesbildes werden wir daran gehindert, das MEHR immer tiefer zu verstehen, immer williger zu verwirklichen, immer freudiger und schöpferischer zu feiern. Und das verbindet sich dann noch mit religionspolitischer Machtpolitik. Denn es schafft dann eine Pyramide: oben ist dieser Machthaber und diese Pyramide geht herunter und weiter und weiter herunter, und jeder bemüht sich, ziemlich hoch auf dieser Pyramide oben zu sein ‒ je höher, umso besser ‒ und wir fühlen uns dann ein bisschen höher als die andern, die da weiter unten sind.

Das ist etwas außerordentlich Gefährliches. Auf der Ein-Dollar-Note finden Sie diese Pyramide oben geschnitten und über ihr das Auge Gottes: Das ist dieser himmlische Polizist, der uns überall sieht und uns bestraft. Das ist giftig und vergiftend.›

4. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:

«Revolution ist für Sie ein wichtiger Begriff, der allerdings aus Ihrer Sicht revolutioniert werden müsste. Bisher wurde die jeweilige Machtpyramide immer einfach auf den Kopf gestellt. Die ehemaligen Revolutionäre stiegen von unten nach oben, ansonsten blieb alles wie bisher. Ihnen schwebt stattdessen ein Netzwerk vor. Was verstehen Sie darunter?»

«Die Idee ist, die Hierarchie der Macht abzubauen, also die Pyramide der Ausbeutung und Unterdrückung, und sie in ein Netzwerk umzuwandeln. Auch ein Netzwerk kommt keineswegs ohne Autorität aus, aber Autorität ist nicht Machtbefugnis. Das ist ein völliges Missverständnis, aber das ist oft die erste Bedeutung, die man heutzutage diesbezüglich im Wörterbuch findet. Autorität ist ursprünglich Grundlage für rechtes Wissen und Handeln. Und da gibt es Menschen, die auf einer höheren Bewusstseinsebene stehen und deswegen verlässlicher sind, wenn es darum geht zu klären, was man tun soll und wie. Es wäre wichtig, diesen Menschen auch in einem Netzwerk die Autorität einzuräumen. Was wir brauchen, ist eine Vernetzung von Netzwerken. Denn gewisse Probleme sollten nur auf der untersten Ebene gelöst werden. Und nur, wenn dort keine Lösung gefunden werden kann, sollte das Problem auf der nächsten Ebene behandelt werden. Hinter der Idee von einem Netzwerk von Netzwerken stehe ich, aber es muss mit Autorität höheren Bewusstseins verbunden sein.»

5. Kirche als Machtpyramide

5.1. Brücken statt Mauern: Bruder David zu Ostern 2017:

«Furcht baut Mauern,
Vertrauen baut Brücken.

Beides ‒ und das ist die Tragik der Kirchengeschichte ‒ finden wir innerhalb der einen Kirche. Sie wurzelt in der Predigt Jesus vom Reich Gottes, verweltlicht aber zur Machtpyramide und baut Mauern von Furcht, Ausgrenzung und Habsucht.»

5.2. Osterbrief 2023:

«Eine katastrophale Entwicklung war es, dass die Kirche schon bald von der Netzwerkstruktur des ‹Reiches Gottes› auf die der Machtpyramide Roms zurückfiel. In ihr aber sprangen immer wieder Gruppen auf, die das ursprüngliche Ideal verwirklichten.»

5.3. Dankbarkeit ist ein Erfolgsprinzip (2018): Interview von Antje Luz mit Bruder David:

«Die Geschichte der WM begann mit der päpstlichen Enzyklika von 1891. Sie besagte, dass soziale Themen keine wirtschaftlichen, sondern moralische seien. Sie prägte den WM-Gründer Jules Rimet, der um die Jahrhundertwende den Fußball für soziale Gerechtigkeit nützte. Menschen aus allen sozialen Schichten sollten spielen und Geld verdienen können. Können Sie uns mehr zu dieser Enzyklika sagen?»

«Das war die ‹Rerum Novarum› von Papst Leo XIII. Sie ist für mich eine der allerwichtigsten Enzykliken der Neuzeit, vielleicht die wichtigste, weil sie sich als erste ausdrücklich mit sozialen Themen befasst hat. Und das wichtigste Thema darin ist für mich das Prinzip der Subsidiarität als Mittel für soziale Veränderung. Papst Leo XIII. hat es da zuerst formuliert und Papst Pius XI. hat es in der darauffolgenden Enzyklika, das war die ‹Quadragesimo Anno›, aufgenommen und verfeinert.»

«Was besagt das Prinzip der Subsidiarität?»

«Jede Entscheidung soll auf der niedrigsten Ebene getroffen werden, die dazu fähig ist. Also eine Strukturierung der Organisation von unten nach oben. Das erlaubt Selbstbestimmung und war wirklich ein ganz wichtiger Impuls, den Papst Leo XIII. da gesetzt hat. Die Tragik ist, dass es weder in der Kirche noch in der Gesellschaft richtig aufgegriffen wurde. Also wenn die Kirche das seit 1891, seit über hundert Jahren, verwirklicht hätte, dann wären wir in der Entwicklung weit voraus.»

«Inwiefern?»

«Unsere Zivilisation hat von Anfang an eine Machtpyramide aufgebaut, die sich derzeit im Zusammenbrechen befindet. … Das Prinzip der Subsidiarität ist die Lösung, denn es ersetzt die Machtpyramide durch ein Netzwerk. Die Zukunft unserer Welt ist entweder ein Netzwerk von Netzwerken oder wir haben überhaupt keine Zukunft. Der große Denker Raimon Panikkar hat das sehr schön ausgedrückt. Er hat gesagt: «Unsere Zukunft ist kein neuer Turm, ganz gleich wie hoch, sondern unsere Zukunft liegt in wohl ausgetretenen Pfaden von Haus zu Haus.» Das ist das Netzwerk. Und in dem Sinn könnte natürlich auch Sport ein Netzwerk von Netzwerken sein. Es ist ja jetzt schon mehr darauf angelegt als der Rest unserer Gesellschaft. Es gibt keinen Sportpapst…»

5.4. Bruder David berichtet von seiner Romreise 2018:

«Nach Jahrhunderten von immer mehr ins einzelne gehender Gleichschaltung – die zwischen Christianisierung und Europäisierung nicht unterscheiden konnte – zeigt sich heute, dass das bei einer Weltkirche überhaupt nicht mehr möglich ist. Dem Papst setzt aber bei jedem Versuch die Machtpyramide in ein Netzwerk zu verwandeln der vatikanische Machtapparat Widerstand entgegen. Da könnte es ihm eben helfen, sich auf das Subsidiaritätsprinzip zu berufen, dem schon seine Vorgänger Ansehen und Gewicht verliehen haben.

Ich habe also in kürzester Form – in nur vier Zeilen auf Spanisch – mein Anliegen aufgeschrieben: die Bitte an Papst Franziskus, darüber zu sprechen, wie das Subsidiaritätsprinzip praktisch in der Kirche angewendet werden könnte.»

5.5. Weihnachten geht nicht nur uns Christen an (2016): Interview von Josef Wallner mit Bruder David:

«Als Benediktiner sind Sie ein Mann der Kirche. Warum tun sich viele Menschen mit der Kirche so schwer? Schmerzt Sie das?»

«Ja, es tut mir weh, aber ich tu mir ja selber mit der Kirche schwer. Die Krise der Kirche – das ist wiederum so ein Engpass, durch den wir mit Gottvertrauen durchgehen müssen. Der Engpass lässt sich kurz so umreißen: Jesus hat zu seinen Lebzeiten das Reich Gottes auf Erden damit angebahnt, dass er arme Menschen inspiriert hat, noch ärmeren zu helfen. Das kann man historisch ganz überzeugend rekonstruieren. Kirche hat ursprünglich mit kleinen Gemeinden begonnen. Paulus spricht von der Kirche im Haus von Nympha oder von Priscilla and Aquila. Die Kirche war eine konkrete kleine Gemeinschaft. Nur abstrakt konnte man von der Kirche im Allgemeinen sprechen, von der Vernetzung der kleinen selbständigen Netzwerke zum Zweck gegenseitiger Hilfe. Durch Kaiser Konstantin wurde aus dem Hilfsnetz eine Machtpyramide. Das ist die Katastrophe.

Mit der Kirche als Machtpyramide haben viele von uns große Schwierigkeiten. Aber diese Form von Kirche ist am Zusammenbrechen. Ob wir es wollen oder nicht. Man braucht schon gar nicht mehr daran rütteln. Wir müssen uns vielmehr bemühen wieder Netzwerke zu schaffen, damit die Botschaft vom Reich Gottes nicht verstummt, wenn die Machtpyramiden-Kirche verschwindet. Gott sei Dank haben wir in Franziskus einen Papst, der um eine neue Form von Kirche bemüht ist – um die ursprüngliche, soweit das in seinen Händen liegt. Er setzt auch ganz klare Zeichen, die zeigen, dass er nicht an der Spitze einer Machtpyramide stehen will. Papst Franziskus ruft vielmehr zur Zusammenarbeit und zum Miteinander auf. Ich bin sehr dankbar für unseren Papst.»]

 ______________________

[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 1996-2006, 157f.

[2] Wie «gratefulness» nach Europa kam (2020)

[3] Ebd. 158-160 geht Bruder David auf die Geschichte von Esalen ein und fasst zusammen:

«Rückblickend scheint mir, dass sich hier der Gegensatz von Netzwerk und Pyramide in Kleinformat darstellte. Im Bereich von Programmen für Unternehmer hat Esalen sich zwar verdient gemacht und ich durfte selbst an Konferenzen teilnehmen, bei denen Geschäftsleute und bahnbrechende Vordenker aus dem Bereich der Ökonomie neue, humanere Modelle der Betriebsführung vorstellten. Verwaltungsmässig aber folgt Esalen dem herkömmlichen Modell und die Hoffnungen von Dick Price [der 1961 mit Mike Murphy das heutige Esalen gründete] und dem Netzwerk der ursprünglichen Kommune gehören der Vergangenheit an.»

[4] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 166-168

[5] Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019), siehe auch Mitschrift des Vortrages, 6f.


Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Geschichte war nie mein Lieblingsfach. Unter Hitler waren wir überzeugt, dass unsere Geschichtsprofessoren uns belogen, weil die ganze Vergangenheit zugeschnitten werden musste auf ihre glorreiche Krönung durch das Dritte Reich. Jetzt aber reizte es mich, etwa die Grundidee der (allerdings dann völlig aufs falsche Gleis geratenen) Französischen Revolution mit frischen Augen zu überprüfen, und ich fand sie begeisternd.

«Liberté, Égalité, Fraternité» ‒ war darin nicht die Idee für eine Neuordnung enthalten, die damals schon dringend notwendig war, von der heute aber unser Überleben abhängen könnte?

Freiheit beginnt und endet mit Gewaltfreiheit, zu der ich mich verpflichte. Gewalt macht unfrei, denn sie ist die Perversion von Macht.

Die einzig schöpferische Anwendung von Macht ist die Ermächtigung anderer, und sie befreit den, der ermächtigt, nicht weniger als den, der sich ermächtigt weiß.

Gleichheit ist nicht Gleichmacherei, sondern Gleichberechtigung. Es wurde mir immer deutlicher, dass eine dynamische Ordnung auf diesem Grundrecht beruht. Wo wir die Furcht überwinden, da wird aus dem Konkurrenzkampf ein Zusammenspiel von Geben und Nehmen unter Gleichberechtigten ‒ aber auch Gleichverpflichteten.

Brüderlichkeit betont die Gleichheit, indem sie ihren Ursprung benennt, dass wir eben alle der einen Menschheitsfamilie angehören, und weist zugleich auf den schönsten Ausdruck des Familiensinns hin: aufs Teilen.[1]

Johannes Kaup: «Das dominante Denkmodell, in dem wir jetzt noch leben und das auch in den 90er-Jahren ganz erfolgreich propagiert wurde, ist das Wettbewerbsdenken: Wir stehen alle im Wettbewerb miteinander, das wurde bis ins Bildungssystem hinein implementiert. Die Vertreter dieses Modells argumentieren so: Der Wettbewerbsgedanke steckt schon von Anfang an in allen Menschen. Es geht nur darum, dass man ihn zum Wohl der Gesellschaft lenkt. Man kann das schon im Kindergarten beobachten: Die Kinder konkurrieren um das beste Spielzeug, um die Gunst der Erzieherinnen, in der Schule konkurrieren sie um die besten Noten, am Arbeitsplatz um die beste Position, um das Einkommen, im Kunst- und Kulturbetrieb um die meiste Anerkennung, die beste Position, in der Politik um Wählerstimmen.

Überall, wo wir hinschauen, ist Wettbewerb. Aber Wettbewerb bedeutet auch: Es gibt Gewinner und Verlierer.

Ganz tief in uns drin haben wir gelernt, dass es ohne Wettbewerb keinen Antrieb gäbe, uns anzustrengen und weiterzuentwickeln, etwas Großes zu schaffen. Es scheint also, dass Konkurrenz und Selektion die entscheidende Triebfeder für den Fortschritt sind. Stimmt das Ihrer Ansicht nach?»

Bruder David: «Nur halb. Im Konkurrenzgedanken, wie wir ihn kennen, ist zweierlei enthalten: einerseits das Bestreben zu übertreffen und andererseits das Bestreben, den anderen zu übertreffen. Das ist zweierlei und nur in unserem Denken so vermischt, dass wir es kaum unterscheiden können. Aber es lässt sich unterscheiden.»

Johannes Kaup: «Der Unterschied könnte sein, einerseits gut zu sein und andererseits besser als ein anderer zu sein.»

Bruder David: «Das Gut-sein-Wollen, das Sich-selbst-übertreffen-Wollen ist positiv. Aber wie gut ich bin, daran zu messen, wie weit ich den anderen herunterdrücken kann, das ist falsch, weil es lebenszerstörend ist. Auch das lässt sich an der Natur ablesen: Hier will jede Pflanze sich und ihr innerstes Leben verwirklichen, aber nicht die andere unterdrücken.»

Johannes Kaup: «Es gibt auch Unkrautpflanzen, die andere überwuchern, sich auf Kosten der anderen entfalten.»

Bruder David: «Das ist Interpretation. Nicht auf Kosten der anderen. Sie wollen sich entfalten und tun das auch, aber nicht im Kampf gegen die anderen. Das als Kampf anzusehen, ist die Interpretation, die wir dem Beobachteten überstülpen. Die andere Pflanze muss sich umso mehr entfalten in ihrer Art und das heißt vielleicht, dass sie sich verändern muss. Es geht um gegenseitige Beeinflussung.»

Johannes Kaup: «In der Pflanzenwelt gibt es aber auch Verdrängung: In den Alpen wurde beispielsweise vor einigen Jahren eine Himalaya-Pflanze eingeschleppt und sie verdrängt massiv heimische Arten, einfach deshalb, weil sie widerstandfähiger ist. Von daher ist das Bild vielleicht etwas schief.»

Bruder David: «Aber die Verdrängung anderer Pflanzen ist ein Nebenprodukt der Selbstentfaltung, nicht das Ziel. Darin liegt der Unterschied. Für uns Menschen ist das höchste Ziel Entfaltung und Zusammenspiel aller. Ich erinnere mich an einen Bericht über Indianerkinder, die einen Fußball bekommen haben. Sie haben begeistert mit dem Ball gespielt, aber dann wurden sie in Mannschaften aufgeteilt und mussten gegeneinander spielen. Auf einmal haben sie das Interesse völlig verloren. Ihre Freude kam vom Miteinander, nicht vom gegeneinander Spielen.»

Johannes Kaup: «Ich finde, auch das Gegeneinander hat einen Reiz, solange es ein Spiel ist und nicht Scham und Angst erzeugt.»

Bruder David: «Solange man sich freuen kann, wenn der andere gewinnt.»

Johannes Kaup: «Ich spiele ebenfalls Fußball zusammen mit anderen. Aber ich möchte auch ein Tor schießen. Wenn allerdings ein anderer aus meiner Mannschaft die Möglichkeit hat, dann freue ich mich mit ihm.»

Bruder David: «Kann ich mich nicht auch freuen, wenn die andere Mannschaft ein Tor schießt? Geht es um das Besiegen der Gegenpartei oder um ein begeisterndes gemeinsames Spiel? Je besser ich spiele, desto mehr treibe ich den anderen an, noch besser zu spielen. Das wäre Konkurrenz, wie sie sein sollte, nicht wie sie ist.»

Johannes Kaup: «Das ist sozusagen Qualitätskonkurrenz und nicht Verdrängungskonkurrenz.»

Bruder David: «Ja! Das sind hilfreiche Begriffe in diesem außerordentlich schwierigen Bereich. Der eine Aspekt von Konkurrenz, die höchstmögliche Selbstverwirklichung, ist positiv zu bewerten und ist auch mit die Triebfeder für Entwicklung und Entfaltung.»

Johannes Kaup: «Das andere Verständnis der Konkurrenz scheidet die Menschen in die Erfolgreichen, die Gewinner, und die Verlierer auf der anderen Seite. Wir sehen das im Weltmaßstab: Manche Volkswirtschaften sind darauf angelegt, die übrigen abzuhängen. Das hat soziale Konsequenzen, wenn andere Nationen im Verlauf abgehängt werden in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Vom System her betrachtet, kann das nicht gesund sein.»

Bruder David: «Das System ist das Wichtige. Man muss auf das Ganze schauen und sehen, wie der Erfolg des Einzelnen im Rahmen des Ganzen wirkt. Im Rahmen des Ganzen ist das Sich-selbst-Übertreffen positiv zu werten, aber eine Selbstverwirklichung auf Kosten des anderen, das scheint mir im Großen gesehen das System nicht zu fördern.»

Johannes Kaup: «Vor allem, weil es von einer falschen Selbsterfahrung ausgeht, denn eigentlich sind wir immer von anderen, durch andere und auf andere hin.»

Bruder David: «Richtig. Diese Sichtweise auf die Dinge stammt schon von einem isolierten und abgetrennten, abgesonderten und daher sündigen Ich, vom Ego und nicht vom Ich-Selbst, das sich mit allen anderen verbunden weiß.»[2]

(Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1f.)

[Ergänzend:

Audio Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Transkription des Vortrages:

(16:39) Was meinen wir mit Ego im Zusammenhang mit Ich und Ich-Selbst?

(20:41) Das Ich ist einzigartig ‒ das Selbst ist Eines. ‒ Wenn das Ich das Selbst vergisst, wird es zum Ego: Das Ich auf der langen fließenden Skala zwischen dem weit offenen lebensfrohen Ich-Selbst und dem ganz in sich verschrumpften kleinen Ego.

(26:44) Das Ego und die Folgen: Furcht, Gewalttätigkeit, Konkurrenzkampf, Gier:

(26:44) «Warum ist das Ego aber schlecht, was ist das Problem, wenn man vergisst, dass wir alle eins sind? Darum geht’s ja: Wenn man das Selbst vergisst, hat man vergessen, dass wir alle eins sind. Warum ist das so problematisch?

In dem Augenblick beginnt alles schief zu gehen.

Und zwar das Erste, das immer passiert, ist: Wir bekommen Furcht. Wir fürchten uns. Wenn ich glaube, dass ich jetzt allein bin man braucht sich ja nur einen Augenblick in dieses Ich jetzt einlassen und ganz wirklich versuchen, das Selbst ein bisschen auszublenden und zu vergessen, dann muss ich mich ja fürchten. Da sind diese ganzen Millionen und Milliarden von anderen Ich rund und mich herum: Wir haben nichts gemeinsam oder sehr wenig und jedes Ich ist die Mitte seiner Handlungen und seines Lebens. Da muss ich mich ja fürchten, dass die Anderen mir was antun.

Also das erste, was immer der Furcht entspricht, ist Gewalttätigkeit.

Ich muss mich wehren. Das ist ganz instinktiv und notwendig. Sobald ich das Selbst vergesse, muss ich mich wehren. Ich muss mich wehren, die Anderen könnten ja mir vorankommen, auf mich steigen, höher klettern als ich. Da beginnt der Konkurrenzkampf.

Furcht führt zu Gewalttätigkeit, führt zu Konkurrenzkampf, ich muss mich wehren gegen die Anderen, ich muss ihnen zuvorkommen Konkurrenzkampf ist ja auch ein Kampf , und dann kommt der Kampf ums tägliche Brot. Und das artet aus in Gier, weil ich wieder Angst habe, Furcht, dass da nicht genug ist für so viele; um Himmelswillen! ist ja nicht genug. Da muss ich mich bereichern. Da muss ich schauen, dass auch für mich genug da ist.

Also alles, was in unserer Welt zum Verderben führt: zunächst die Furcht, dann die Gewalttätigkeit, dann die Konkurrenz der Konkurrenzkampf , und dann die Gier: Das entspringt alles dem Ego. Und das in unserem persönlichen Leben.]

__________________

[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 156f.

[2] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 169-171



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Streng genommen kann es keinen äußeren Beweis für die Auferstehung geben, nur Indizien wie etwa das Zeugnis der ersten Christen oder das oben erwähnte Grabtuch von Turin.[1] Für ein Ereignis, das sich am Grat zwischen Zeit und Ewigkeit abspielt, kann es nur innere Beweise geben.

Wir wissen hier in der Zeit um etwas, was über die Zeit hinausgeht.

Das Leben des Auferstandenen gehört der Ewigkeit an, dem Jetzt, das alles Vorher und Nachher einschließt.

Jesus Christus ist «in Gott verborgen» (Kol 3,3).

Sein Leben ist in Gott aufgehoben, und zwar in dreifachem Sinn: in der Zeit ist es gelöscht; jenseits der Zeit ist es unzerstörbar bewahrt; zugleich ist es in Gottes Gegenwart hinein überhöht, so dass es im Geist der Liebe die ganze Welt durchwirkt.

Was man einen inneren Beweis nennen könnte, sieht so aus: Zu wissen, wofür Jesus lebte und sein Leben hingab, bedeutet, Gottes Weisheit und Macht darin zu erkennen.

Diese Weisheit ist aber nach weltlichem Ermessen Torheit, diese Macht Schwachheit. In der Sprache Martin Luthers:

«Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind» (1 Kor 1,25).

Gottes Autorität lässt sich aber nicht auf immer ignorieren. Es ist ja die Autorität der Liebe, um die es hier geht, und wir wissen im Innersten, dass dies die letztgültige Autorität ist.

Früher oder später ‒ am dritten Tag ‒ muss es sich erweisen: Liebe ist stärker als der Tod.

Wir wissen das in unserem Herzen, schon bevor das Zeugnis der Jünger von der Auferstehung es uns von außen her bestätigt.

Wie weit die Auferstehungstexte der Evangelien geschichtliche Berichte sein mögen, wie weit Bildersprache für etwas Unbegreifliches, ist diskutabel. Eines wissen wir jedenfalls:

Die Jünger erlebten das, was sie seine Auferstehung nannten als ein Ereignis, das ihr Leben von Grund auf veränderte.

Durch den Tod Jesu zerschmettert und mutlos gemacht, setzen sie sich kurze Zeit später (vielleicht nicht genau ‹am dritten Tag›) unbeirrt für die Ideale Jesu ein. Sie stehen vor den Obrigkeiten, die ihn zum Tod verurteilt hatten und sagen unerschrocken, ja, fast tolldreist:

«Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus, den ihr ans Kreuz gehängt und umgebracht habt, auferweckt. ... Und wir sind Zeugen dieser Ereignisse» (vgl: Apg 29-32).

Auch wenn das in diesen Worten erst am Ende des 1. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde, haben wir mit dem ersten Thessalonicherbrief schon aus dem Jahre 50 oder 51 ein schriftliches Zeugnis, das beweist, dass dieser psychologisch schwer erklärliche Umschwung kurz nach Jesu Tod stattgefunden haben muss.

Stellen wir uns einmal vor, dass ein Wissen um die äußeren Umstände, die den Glauben der Jünger an die Auferstehung und ihre darauf gründende Begeisterung auslösten, uns grundsätzlich versagt wäre. Würde uns das die Möglichkeit nehmen zu leben, wie Jesus lebte, ermächtigt von demselben Geist, der ihm Macht gab?

Wenn wir so lebten ‒ aus unserem Christus-Selbst heraus, dann könnte unser eigenes Lebenszeugnis ja als eine Art Beweis für sein Leben gelten ‒ hier und jetzt ‒ seinem Tod zum Trotz.[2]

Unsere polarisierte Welt fordert uns alle heraus, Brücken zu bauen statt Mauern. Für uns Christen wäre das zugleich ein Brückenschlagen auf die Kirche der Zukunft hin. Ein Blick auf Jesu Tod und Auferstehung kann uns das nahebringen.

Um die Gottesherrschaft mitten unter uns (Lk 17,21) aufzurichten, zog Jesus durch Galiläa und organisierte eine von der römischen Besatzungsmacht unterdrückte und ausgebeutete Unterschicht zur Selbsthilfe.

Er sandte auch Mitarbeiter aus (Lk 10,1), um das Reich Gottes ganz gezielt im Gegensatz zur Machtpyramide Roms als Vernetzung kleiner Netzwerke aufzubauen.

Trotz aller Gegensätze zwischen Kaiphas und Pilatus, saßen beide an der Spitze der Pyramide, die Jesus zu erschüttern drohte, wenn er sagte:

«Der Größte von euch soll euer Diener sein» (Mt 23,11).[3]

Die Gewalthaber machten also gemeinsame Sache und «eliminierten» den Revolutionär.

Jesus wurde als politischer Verbrecher hingerichtet. Die Kreuzesstrafe war ausschließlich Aufrührern und davongelaufenen Sklaven vorbehalten. Ihr Verbrechen: Sie unterminierten die Grundlage der römischen Machtpyramide. Und genau das hatte Jesus sich zuschulden kommen lassen.

Ein Jude verstand sich mit Gott durch seine Zugehörigkeit zum auserwählten Volk verbunden.

Da die höchste religiöse Autorität seines Volkes Jesus ausgestoßen hatte, mussten seine Jünger annehmen, dass er auch von Gott verdammt war.[4]

Aber das Umwerfende der Osterbotschaft war: Gott hat Jesus auferweckt und so das Herzstück seines Wirkens, die Aufrichtung der Gottesherrschaft gerechtfertigt.

Das sendet die Apostel als Zeugen für das Reich Gottes in alle Welt.

Ein Schlüsselwort der Auferstehungsbotschaft ist:

«Fürchtet euch nicht!» (Mk 16,6).

Auf Furcht setzt das Grundmodell der vorherrschenden Weltordnung: die Machtpyramide.

Bei Johannes heißt sie darum einfach «die Welt» – nicht die Welt, die Gott so sehr geliebt, sondern die Welt, die ihn nicht erkannt hat.

Von ihr sagt Jesus Christus:

«In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden» (Joh 16,33).

Auch für uns gilt:

«Dies ist der Sieg, der die Welt überwindet: unser Glaube» (1 Joh 5,4).

Der Auferstandene siegt durch gläubiges Vertrauen auf Gott über alle Furcht der Welt.

Furcht müssen wir dabei freilich von Angst unterscheiden. Angst ist unvermeidlich. Sie ist die Enge, in die uns das Leben immer wieder führt. Furcht sträubt sich und bleibt in der Angst stecken.

Der Glaube geht voll Vertrauen weiter und auch die engste Passage führt zu einer neuen Geburt.

Jesus selbst schwitzt Blut vor Todesangst (Lk 22,44), furchtlos aber vertraut er dem Vater und wird so zum «Erstgeborenen von den Toten» (Offb 1,5).

Furcht baut Mauern,
Vertrauen baut Brücken.

Beides ‒ und das ist die Tragik der Kirchengeschichte ‒ finden wir innerhalb der einen Kirche. Sie wurzelt in der Predigt Jesus vom Reich Gottes, verweltlicht aber zur Machtpyramide und baut Mauern von Furcht, Ausgrenzung und Habsucht.[5]

Eine katastrophale Entwicklung war es, dass die Kirche schon bald von der Netzwerkstruktur des «Reiches Gottes» auf die der Machtpyramide Roms zurückfiel. In ihr aber sprangen immer wieder Gruppen auf, die das ursprüngliche Ideal verwirklichten.

Ein Beispiel sind die ersten Jünger des heiligen Franziskus. Und jede Klostergemeinschaft ist ein Versuch «Reich Gottes» zu leben.

Überall in der Welt entstehen heute Gruppen, die oft vom «Reich Gottes» keine Ahnung haben, aber es doch verwirklichen, indem sie sich vom «Ich-Denken» zum «Wir-Denken» bekehren und für ihr Gemeinschaftsleben von der Natur lernen.

Ihre Ehrfurcht vor der Natur ist, ob sie es wissen oder nicht, Ehrfurcht vor Gott, der uns im innersten Mysterium der Natur begegnet.

Noch ist Zeit, diese kleinen Netzwerke zu einem weltumspannenden Netzwerk des «Wir-Denkens» zu verweben.

Wenn uns das gelingt, dann kann die ganze Menschheitsfamilie ein gemeinsames Alleluja singen.[6]

(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 5f.)

[Ergänzend:

1. Kreuz und Auferstehung

2. Löwe Lamm und Kind (1992);
Vortrag:
[7]
(37:15) «Wir können nicht genau sagen, worin sich die Auferstehung historisch ausgedrückt hat, wir wissen es nicht: war es das leere Grab, waren es Erscheinungen ‒ nichts davon ist letztlich zwingend, selbst wenn wir es historisch ganz genau festnageln könnten. Das Entscheidende daran ist, dass seine Jünger, die ihn verlassen haben, nach seinem Tod klar sehen: Er ist wirklich gestorben, er ist wirklich tot und siehe: Er lebt.

Und das wird auch wieder in dem Bild des Lammes ausgedrückt, das Lamm, das die Todeswunde trägt in der Apokalypse und doch lebendig ist.

Oder wie es in dem Osterhymnus heißt: ‹Agnus redemit oves›: ‹Das Lamm, das Opferlamm hat die Schafe erlöst.› Und zwar, weil er für uns und für unsere Entfremdung gestorben ist:

In der Art von Welt, die wir aufgebaut haben, muss jemand, der so lebt wie Jesus dafür sterben: Das ist das letzte Wort über die Autoritätskrise ‒, aber nur das vorletzte Wort, denn das letzte Wort ist das Wort von der Auferstehung:

Dieses Leben lässt sich nicht auslöschen.

Und das haben seine Jünger gesehen und das ist das Entscheidende an der Auferstehung und darum können wir uns nicht entschuldigen:

Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesu lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt.

Und dann ist das eine Herausforderung für uns: Für das Reich Gottes ‒ so kann man leben ‒, aus dieser Erfahrung der Zugehörigkeit kann man ein befreites Leben, ein erlöstes Leben leben, ein Leben des Zusammenwohnens von Löwe und Lamm, ein Leben, in dem alle eine Gemeinschaft teilen können.

Und das ist der Sieg des Löwen aus dem Stamme Juda, von dem es in Jesaja heißt (Jes 9,5): ‹Ein Sohn ist uns geboren, ein Kind ist uns geschenkt› und seine Namen zeigen das schon an:

‹Wunderbarer Ratgeber›: Einen solchen Sieg, einen Sieg, der aus der Schwachheit des Lammes entspringt, einen Sieg, der durch den Tod des Siegers errungen wird, das ist wunderbarer Rat, den hätten wir nie erfinden können.

Er heißt: ‹Wunderbarer Ratgeber›, ‹starker Gott›: Die Schwäche Gottes ist stärker als unsere Kraft.

‹Vater der Zukunft›: Nur darin liegt Zukunft überhaupt. Nur in diesem Zusammenbringen von Demut und Glorie, in diesem Sieg des Löwen und des Lammes liegt die Zukunft.

Und ‹Fürst des Friedens›. Aber eines Friedens, wie ihn die Welt nicht gibt.

Ich darf vielleicht mit einem Erlebnis abschließen, das immer wieder mich daran erinnert, es hat sich schon vor vielen Jahren ereignet, dass dieses Friedensreich, in dem das Kind Lamm und Löwe zur Weide führt, ja nicht erst am Ende der Zeiten sich ereignen wird, sondern jetzt schon unter uns aufbricht. ‹Das Himmelreich ist mitten unter uns› (Lk 17,21), wie Jesus sagt.

Und zwar war ich da auf einer Tagung, bei der Vertreter der verschiedenen Religionen teilnahmen: verschiedene Gruppen von Christen, Buddhisten, Hindus, Muslimen, Sufis, Juden, und einer der jüdischen Rabbis steht auf und erzählt aus der chassidischen Tradition ‒ das war ein wunderbares Erlebnis ‒ folgende Geschichte und der Rahmen gibt dem Ganzen erst das Gewicht:

Einer unserer großen Meister hat mit seinen Jüngern gemeinsam den Sabbat gefeiert und die Begeisterung und das Zusammensein hat einen solchen Gipfel erreicht, dass der Lehrer plötzlich einen der Schüler wegschickt und sagt: ‹Geh schnell zum Fenster und schau, ob der Messias nicht schon gekommen ist, das Friedensreich nicht schon angebrochen ist›. Und der Schüler geht zum Fenster und schaut hinaus, und draußen geht alles so vor sich wie bisher, man kauft und verkauft … Dann kommt er zurück und sagt: ‹Leider keine Rede vom Kommen des Messias›. Und da sagt ein anderer zu dem Meister: ‹Aber Rabbi, wenn der Messias wirklich gekommen wäre, müssten wir dann zum Fenster hinausschauen? Würden wir es nicht gleich hier bemerken›? Worauf der Rabbi sagt: ‹Aber hier ist er ja schon gekommen.›»[8]

3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Nur die dichterische Sprache ist tragfähig genug, um so viel Wahrheit zu tragen›: Das Glaubensbekenntnis im Licht der großen Menschheitsmythen:
(40:55) ‹Warum sucht ihr den Lebenden bei den Toten›? (Lk 24,5) ‒ ‹Wenn es sich hier davon handelt, von dem zu erzählen, der das Leben ist und der uns die Antwort darauf gibt, was Leben heißt, ist die einzige Form, die sich dafür anbietet, der Mythos vom Helden.›

(44:05) Vergleich mit der früheren Deutung der Auferstehung: ‹Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott› (Kol 3,3)]

____________________

[1] Im Credo (2015), 133-137 und 152f. im Zusammenhang mit der Frage: ‹Wurde Jesus begraben? und: ‹welche äußeren Ereignisse könnten den Auferstehungsglauben der Jünger ausgelöst ‒ nicht bewirkt! ‒ haben?› gibt Bruder David einen Überblick zu den Forschungsergebnissen in Bezug auf auf das Sindon, das Grabtuch von Turin, wie auch auf das Sudarium (= Schweisstuch) von Oviedo, und bemerkt: ‹Zwingende Beweise, dass Sudarium und Sindon zusammengehören, werden sich kaum erbringen lassen, auch nicht der Nachweis, dass das Sindon das Grabtuch Jesu ist …›.

[2] Credo (2015), 151f. und 154

[3] Siehe auch Mk 10, 42-44; Lk 22,25f.

[4] Ausführlich in Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›: Ergänzend: 1. (Text), 3.1.-3.2. (Audios) und Anm. 6: Verweis auf Galaterbrief 3,13 und 5 Mose 21,23

[5] Brücken statt Mauern (2017)

[6] Osterbrief 2023

[7] siehe auch die Transkription des Vortrags (25:21-36:05) in Jesus zu Beginn des Textes mit Quellenangabe in Anm. 5

[8] Siehe auch den Bericht von Bruder David im Buch Ich bin durch Dich so ich (2016), 98, in Reich Gottes: Ergänzend: 1.2. (Audio)



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Barbara Krähmer

Vernetzung ist ein Begriff, der mir persönlich hilft, dem Wirken dessen in der Welt näher zu kommen, was das Credo den Heiligen Geist nennt. Freilich sollten wir von einem Begriff nicht allzu viel erwarten; er hilft uns bestenfalls zu intellektueller Klarheit.

Wahre Einsicht muss auf persönlicher Erfahrung gründen.

Da wir in jedem Augenblick Vernetzung erleben, fällt sie uns meist gar nicht mehr auf. Alles ist ja mit allem vernetzt.

Es kann also hilfreich sein, ein Beispiel zu wählen, bei dem uns eine ganz erstaunliche Vernetzung bewusst wird. C. G. Jung spricht da von Synchronizität. Wir erleben gewisse Ereignisse als bedeutungsvoll miteinander vernetzt, ohne dass sie wie Ursache und Wirkung verbunden wären.

Die meisten Menschen können sich an synchronistische Erlebnisse erinnern. Als Anregung für Erinnerungen der Leserinnen und Leser möchte ich hier von einer meiner eigenen berichten. In den Neunzigerjahren durfte ich am Schumacher College im Südwesten Englands unterrichten. Die umliegenden Teile der Provinz Devon bieten besonders reizvolle Gelegenheiten für Wanderungen. Es traf sich, dass ich zwei aufeinander folgende Tage frei hatte, und William Thomas, ein Mitarbeiter, mit dem ich mich dort angefreundet hatte, bot sich als Führer an für einen Streifzug durch das herrlich wilde Hochland des nahegelegenen Naturschutzparks.

Wir sprachen über vielerlei, als wir so miteinander durch eine Landschaft von karger, rauer Schönheit wanderten und da kam das Gespräch auch auf Synchronizität. William erzählte mir von einem Lehrer aus Indien, der sich in den Straßen von London um körperlich und geistig «gebrochene» Menschen annahm, wie er das ausdrückte. Es traf sich nun, dass William eine ganze Liste von Bezeichnungen für Schmetterling in verschiedenen Sprachen zusammengestellt hatte ‒ butterfly, mariposa, farfalla, papillon ‒ und so fragte er diesen Lehrer, wie man den Schmetterling in Indien wohl nenne. «Warte», sagte der, «ich habe den Dialekt, mit dem ich in Indien aufwuchs, schon so lange nicht mehr gesprochen; was war nur unser Wort für Schmetterling? Schmetterling …»

In diesem Augenblick, so erzählte William weiter, kam, wie auf den Ruf des Lehrers hin, ein Schmetterling da mitten in London, und setzte sich dem Lehrer auf die Brust. Noch dazu hatte dieser Schmetterling einen gebrochenen Flügel, wie um die «gebrochenen» Menschen zu verkörpern, die dem Herzen des Lehrers so nahe standen.

Ein eindrucksvolles Beispiel von Synchronizität. Was sich aber während Williams Erzählung ereignete, war noch eindrucksvoller. Auf unserer ganzen Wanderung hatten wir noch keinen Schmetterling gesehen, aber während William sprach, bemerkte ich, dass einer auf uns zugeflattert kam. Im Augenblick als er erzählte, «und der Schmetterling setzte sich dem Lehrer auf die Brust», schwebte unser eigener Schmetterling direkt vor mir und ‒ «Nein, nein, das kann doch nicht sein!» schrie alles in mir ‒ er setzte sich mir aufs Herz.

«Vernetzung» war auch für Thomas Mertons theologisches Denken ein wichtiger Begriff. Seine Erfahrung als Mönch hatte ihn gelehrt, dass der Heilige Geist alles mit allem vernetzt. Kurz vor seiner Reise in den Fernen Osten, von wo er nicht zurückkehren sollte, verbrachten wir gemeinsam einige Tage in einem Kloster in Nordkalifornien.

Das Thema Vernetzung war in unseren Gesprächen lebendig geworden, und jetzt stand Merton zur Eucharistiefeier am Altar der Kapelle. Die Wand hinter dem Altar war ganz aus Glas, ein einziges großes Fenster mit Ausblick auf eine von Mammutbäumen umstandene Lichtung. Sonnenlicht strömte in leuchtenden Farben schräg durch die Kronen der uralten Bäume herab. Das Tagesevangelium sprach vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest. Niemand konnte voraussehen, wie dramatisch die Vernetzung zwischen dieser Frohbotschaft und der Natur da draußen sich uns bald darauf darstellen sollte ‒ die Vernetzung zwischen Liturgie und instinktivem Verhalten, zwischen einem Ritual von uns Menschen und einem von Insekten.

Zur Zeit der Kommunion entfaltete sich vor uns ein erstaunliches Schauspiel: Völlig gleichzeitig mit unserer Kommunionsprozession in der Kapelle setzte sich draußen eine zweite in Bewegung, eine Hochzeitsprozession fliegender Ameisen ‒ tausende im Abendlicht glitzernder Flügelchen zogen über die Waldlichtung. In solchen Augenblicken weckt uns das Wunder der Vernetzung auf, und wir sind hellwach.

Jedoch selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, ereignet sich ununterbrochen die geheimnisvolle Vernetzung aller Dinge und Ereignisse um uns und in uns.

Weil Gott Liebe ist, und Liebe das gelebte «Ja» zur Zugehörigkeit, und Zugehörigkeit die Innenansicht sozusagen von dem, was wir von außen betrachtet «Vernetzung» nennen, dürfen wir sagen, dass der Heilige Geist die innigste Vernetzung von allem mit allem bewirkt.

Und weil Jesus Christus das «Ja» der Liebe zu vorbehaltsloser Zugehörigkeit vorbildhaft verwirklichte, dürfen wir ihn im Credo als «Empfangen durch den Heiligen Geist» bekennen.

Gewiss: das ist poetische Sprache; aber auf welche Weise sollten wir es denn sonst ausdrücken? Wir dürfen diese dichterische Ausdrucksweise nur nicht wörtlich nehmen. Carl Friedrich von Weizsäcker soll gesagt haben, man habe die Wahl, die Bibel wörtlich zu nehmen ‒ oder ernst. Wir wollen sie ernst nehmen. Dann werden wir uns aber nicht um ihre schwerwiegenden Anforderungen herumdrücken können.

Wir werden uns tief bewegt finden von der Kraft und Zartheit, der revolutionären Leidenschaftlichkeit und dem leidenschaftlichen Pazifismus Jesu Christi, der tatsächlich Gottes Lebensatem zu atmen scheint.

Dann wird das Beste in uns angefeuert werden durch sein Beispiel und seinen Geist in uns, den dieses Beispiel weckt.

Vernetzungen im Heiligen Geist sind nicht mechanisch zu verstehen. Die Verknüpfungen eines Fischnetzes oder selbst die Verbindungen in einem Cyber-Netzwerk bieten nur unzulängliche Bilder. Wir sollten eher an die Herzensverbindungen denken, die wir auf einem Hochzeitsfest feiern.

Wenn wir Beziehungen von Liebe und Freundschaft, von Treue und Vertrauen anknüpfen, dann können wir den Pulsschlag des Geistes in unseren Herzen fühlen.

In solchen Augenblicken beginnen wir zu ahnen, wie jene Welt aussehen könnte, nach der der Heilige Geist in uns sich sehnt.

Aber für diese Welt gibt es keinen im Voraus festgelegten Plan. Alles ist Improvisation. Jeder Einzelne von uns darf da mitträumen; wir sind Mitschöpfer.

Jesus erahnte Gottes Traum für die Welt und sprach vom Reich Gottes.

Dadurch dass wir uns um ein Herzensnetzwerk bemühen, tragen wir dazu bei, diesen Traum zu verwirklichen.

Und Du? Hast Du einmal Vernetzungen erlebt, die von Dir die Ausweitung eines zu engen Bewusstseins verlangten?

(Ich habe Beispiele dieser Art angeführt, als Fingerzeig auf noch weit tiefere Vernetzungen von allem mit allem im Heiligen Geist.)

Wenn Du die Kindheitsgeschichten Jesu bei Matthäus und Lukas als Aussagen über den erwachsenen Jesus liest, fühlst du dich bereichert, oder von etwas beraubt, das dir lieb war? Oder ein bisschen von beidem?

Wer außer Jesus kommt Dir in den Sinn, wenn Du daran denkst, dass der Heilige Geist Menschen braucht, um Herz mit Herz zu verknüpfen?

(Denke dabei nicht nur an die Heiligen der verschiedenen religiösen Traditionen, sondern auch an große Künstler, Erfinder, Diplomaten, Musiker, Autoren ...)

Kennst Du Vernetzungsbemühungen (vielleicht mit Hilfe des Internets), die durch den Heiligen Geist inspiriert zu sein scheinen?

Wenn wir um uns schauen, so erleben wir die Welt als sinnträchtig: schwanger mit Bedeutung. Jedes Ding sagt etwas aus ‒ manchmal so überwältigend wie ein sommerliches Gewitter, manchmal so zart wie ein Kücken, das soeben aus dem Ei geschlüpft ist.

In jedem Ding spricht uns etwas an, wenn auch nicht in Worten und Begriffen, so doch unserem Herzen vernehmlich.

Diese Erfahrung ist uns zugänglich; wir müssen nur unsere Scheu überwinden, und ‒ Selbsttäuschung vermeidend ‒ ein wenig introspektiv experimentieren.

Wir sollten vielleicht ein paar stille Minuten ohne Ablenkung mit einem Stein oder einer Blume verbringen und uns Rechenschaft darüber geben, was wir da erleben.

Hinter den Dingen begegnen wir einer Gegenwart, die uns «entgegenwartet», wie Rilke es ausdrückt: einer Gegenwart, die uns etwas sagt, oder schweigend auf unsere Antwort wartet.

Diese allgemein menschliche Erfahrung steht hinter dem «Gott sprach … und es ward» im biblischen Schöpfungsbericht. Wir haben es mit einem dichterischen Ausdruck zu tun, dafür dass jedes Ding und jede Begebenheit als Wort verstanden werden kann. Ein horchendes Herz weiß sich von Gott angesprochen in allem, was es gibt.

Auch in unserer Alltagserfahrung können wir diese große Gegenwart spüren.

In der Begegnung mit der Wirklichkeit wird uns nämlich etwas wie Vertrauenswürdigkeit bewusst, besonders in der Ordnung der Natur.

Es ist also nicht unvernünftig, wenn der Theologe H. Richard Niebuhr von «Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge» spricht.

In allem, was es gibt, spürt unser horchendes Herz den Pulsschlag einer großen Gegenwart, auf die wir uns gläubig verlassen dürfen.

Und je mehr wir uns darauf verlassen, umso mehr erfahren wir tatsächlich diese Verlässlichkeit.

Auch das kann jeder Mensch selber nachprüfen, und es führt folgerichtig zu Dankbarkeit.

[Credo (2015): ‹Empfangen durch den Heiligen Geist›: ‹Persönliche Erwägungen›, 89-92, 54f.]

[Ergänzend:

1. Kosmische Intelligenz:

«Wir können unser Denken zu einem Werkzeug dieser schöpferischen Intelligenz machen, die stetig die Welt hervorbringt und erhält. Wenn wir uns dieser gütigen Kraft bereitwillig öffnen, hat sie die Kraft alles zu ändern, was nicht mit ihr in Einklang ist.»

2. Osterbrief 2023:

«Jesus hat ein Zusammenleben gelehrt, das er ‹Reich Gottes› nannte, das wir aber auch ‹Gotteshaushalt› nennen könnten, Gemeinschaftsleben, das dem Gemeinsinn der Vögel näher steht, als der Gesellschaftsordnung seiner und unserer Zeit. Er sagte: ‹Schaut euch die Vögel des Himmels an› (Mt 6,26) und baute eine auf ‹Wir-Denken› gegründete Gemeinschaft: Das ‹Reich Gottes›. Es war, wie wir heute sagen würden, ‹der Natur nachgebildet› ‒ der Natur, in deren innerstem Mysterium wir ‹Gott› begegnen. Dafür lebte und dafür musste er sterben, denn die Machtpyramide des ‹Ich-Denkens› erkannte, dass sie an ihrer Wurzel bedroht war.»

3. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 300:

«Einer der frühen Kirchenväter hat schon deutlich gesagt: ‹Wenn es wahr ist, frag nicht, wer es gesagt hat. Die Wahrheit kommt immer vom Heiligen Geist›. Wenn wir das nur auch heute noch wüssten!»

Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch zur Frage:
(27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)

4. Erinnerungen an die letzten Tage von  Thomas Merton im  Westen (1968); siehe auch Kosmische Intelligenz Ergänzend: 2.:

«‹Das Wichtigste ist, dass wir hier sind, in einem Haus des Gebets. Hier gibt es eine wahre und echte Verwirklichung des zisterziensischen Geistes, eine Atmosphäre des Gebets. Genießt es! Nehmt es in euch auf. Alles, die Redwood-Wälder, das Meer, den Himmel, die Wellen, die Vögel, die Seelöwen. In all dem werdet ihr eure Antworten finden. Da ist alles vernetzt›. (Die Vorstellung der ‹Vernetzung› war für Thomas Merton von geheimnisvoller Bedeutung.)

… An diesem Tag hatten wir als Evangelium das Gleichnis vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest gehört. Gleichzeitig mit dem Kommuniongang begannen fliegende Ameisen durch den ganzen Wald auszuschwärmen und erhellten ihn mit Zehntausenden von glitzernden Flügelchen wie in einem Hochzeitszug. Alles ‹vernetzt›.

Dort zu beginnen, wo du bist und dich der Vernetzungen bewusst zu werden, war Thomas Mertons Zugang zum Beten.»

5. Der Anspruch von Menschen und Tieren (1994):
Audio: Archetypen (C.G. Jung)
[1] und das Erleben von Schamanen
Audio:
Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze
Audio: Eine Kosmologie, die unser Leben bereichert]

 _________________

[1] C. G. Jung: «Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.» [Quelle: Synchronizität (Wikipedia)]


Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Georg Stahl

«Augen ‒ was für ein staunenswertes Ergebnis der Evolution! Welch erschütterndes Ereignis ist ihre einmalige Entstehung, wie verblüffend ihre mehrmalige! Die Vielfalt von Augen in der Natur: welch Zeugnis unerschöpflicher Kreativität!

Was für ein einzigartiges Geschenk ist mein eigenes Augenlicht. Alle paar Sekunden erblindet ein Mensch irgendwo, meist in armutsgeprägten Ländern, an Augenkrankheiten, die durch einfache Mittel vermeidbar oder heilbar wären. Neun von zehn Menschen, die blind sind, müssten es nicht sein. Beim Augenaufschlagen am Morgen schon will ich daran denken. Unermüdlich will ich Elend bekämpfen.

Wie könnte ich sonst anderen überhaupt noch in die Augen schauen? Wie könnte ich Augenblick für Augenblick Auge in Auge mit Dir stehen?

‹Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens, in Deinem Licht schauen wir das Licht.›[1] Amen»[2]

Der kürzeste Weg von unseren Sinnen zum Sinn führt wohl über die Dankbarkeit.

Unsere Sinne führen uns hinaus in die Vielfältigkeit, weiter und weiter. Es ist ein wundervolles Abenteuer.

Aber wir können uns in der Vielfalt verlieren, wenn wir nicht jene heilige Einfalt finden, die uns tiefer und tiefer führt und alles zusammenhält.

Dazu verhilft uns die Dankbarkeit. Die Einfalt der Dankbarkeit ist ganz und gar nicht einfältig, im Sinne von Beschränktheit.

Sie ist mit Arglosigkeit verwandt, mit Ehrfurcht und mit Weisheit.

Weil sie arglos ist, geht sie heil durch den Dornwald argwöhnischen Misstrauens.

Arglos erkennt die Dankbarkeit jeden Augenblick mit allem, was er enthält, als Geschenk.

In Ehrfurcht anerkennt sie in (und zugleich jenseits von) allen Gaben den Geber. Preisend bekennt sie, dass alles Gnade ist.

Ergriffen von dieser Einsicht, führt die Dankbarkeit zu jener Weisheit, von der der Heilige Bernhard sagt:

«Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.»

In Dankbarkeit können wir vom Erkennen der Gabe zum Anerkennen des Gebers und von da zum preisenden Bekennen der Gnade fortschreiten und so durch unsere Sinne Sinn finden.

So reift unser Schauen: von einem Frühling, in dem wir arglos die Gabe als Gabe erkennen, zu einem Sommer, in dem wir den Geber ehrfürchtig anerkennen, und endlich zu einem Herbst, in dem wir die Gnade preisend bekennen.

In dieser Ernte weiser Preisung findet alles erst seinen Sinn.

Denn jede Gabe findet ihre Vollendung erst, wenn sie dankbar empfangen wird. Dann erst schließt sich sinnvoll der Kreis.

In Dankbarkeit ausgereiftes Schauen ist schöpferisch: Es gibt dem, was die Sinne empfangen, erst seinen Sinn.

Alle unsere Sinne können und sollen so bräutlich werden, indem sie die Jahreszeiten der Dankbarkeit durchlaufen.[3]

Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.

Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.

Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los ...

Rilke, Das Stunden-Buch

Das «Stop» ‒ der Bruchteil eines Augenblickes, in dem wir innehalten ‒ genügte, um unser Schauen ‹reifen› zu lassen, und jetzt kann wahr werden, was unser Dichter in eines seiner schönsten Bilder fasst:

Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.

Alles, dessen wir innewerden, kommt wie eine Braut auf uns zu. Und wie begegnen wir diesem bräutlichen Entgegenkommen des Lebens?

Meist wird uns gar nicht bewusst, wie unsanft, ungeduldig, ja geradezu unverschämt und gewalttätig wir alles, was uns unter die Augen kommt, an uns reißen, einfach durch die Härte, mit der wir es anblicken.

Wir können jedoch lernen, mit sanften Blicken alles, was wir sehen, zu umarmen, wie ein Bräutigam die Braut umarmt ‒ und sich von ihr umarmen lässt.

Dann werden wir die Gelegenheit, nach der wir mit unsrem «Look» Ausschau halten, nicht in erster Linie als Möglichkeit verstehen, alles, was das Leben uns in diesem Augenblick schenkt, auszunutzen.

Es würde uns vielmehr darum gehen, es auszukosten.

Hier stoßen wir wieder auf eine oft übersehene Unterscheidung, die im abendländischen Denken unter dem lateinischen Begriffspaar «uti» (nutzen) und «frui» (auskosten) schon lange eine wichtige Rolle spielt.

Wenn wir lernen, diese beiden Lebenshaltungen ‒ denn das sind sie letztlich ‒ zu unterscheiden und zugleich zu verbinden, dann kann unser «Look», unser Innewerden, sich zu einem wahren Fest entfalten: zur Feier des Lebens.

Nicht nur unsre Augen können diese Haltung erlernen. Das «Look» hier nur aufs Schauen zu beschränken, wäre ein Missverständnis. Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet.[4]

Das Menschenherz ist das Organ der Sinnfindung. Mit dem Herzen horchen wir.

Mit dem Herzen können wir aber auch schauen.

Mit dem Herzen können wir wie Spürhunde Wind bekommen und einer Fährte folgen; können im Dunkeln tasten; können dankbar kosten vom Festmahl, das uns bereitet ist.

Das Herz ist wahrhaft Kreuzweg all unserer Sinne.

Am geläufigsten sind uns die Redewendungen, in denen dem Herzen ein inneres Schauen zugeschrieben wird.

Wir sprechen z. B. von den Augen des Glaubens, die doch nur Augen des Herzens sein können.

Sie schauen durch alle Äußerlichkeiten hindurch auf das Wesentliche.

Sie sehen, wie im Unscheinbarsten das Leuchten göttlicher Herrlichkeit aufstrahlt.

Sie erkennen im tiefsten Grund aller Dinge eine Treue, der wir vertrauen dürfen.

Wir sprechen auch von den Augen der Hoffnung, die noch größere Sehkraft besitzen. Sie sehen selbst in der Finsternis der Gottesferne Gottes Gegenwart.

In der Liebe geht das Herz aber noch über den Glauben und die Hoffnung hinaus. Die Augen der Liebe sehen, was es noch gar nicht gibt, weil das Schauen des Herzens ein schöpferisches Schauen ist. Wir meinen, die Liebe sei blind. Aber sie drückt nur ein Auge zu, dem Kind zuliebe, wie eine Mutter. Mütter übersehen gern vieles, um des Einen willen, das noch seine Möglichkeit ist.

Und wer so angeschaut wird, der wächst in diese Möglichkeit hinein. Das Herz hat die Augen einer Mutter.

Gerade deshalb aber hat das Herz auch jungfräuliche Augen.

Es ist noch offen für unbegrenzte Möglichkeiten.

Nur die Augen der Jungfrau können das Einhorn sehen, «das Tier, das es nicht gibt», wie die Gobelinstickerinnen in Rilkes Sonett.

O dieses Tier, das es nicht giebt.
Sie wusstens nicht und habens jeden Falls
‒ sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals,
bis in des stillen Blickes Licht ‒ geliebt.

Zwar w a r es nicht, Doch weil sie’s liebten, ward
ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.
Und in dem Raume, klar und ausgespart,
erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum

zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,
nur immer mit der Möglichkeit, es sei.
Und die gab solche Stärke an das Tier,

dass es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.
Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei ‒
und war im Silber-Spiegel und in ihr.

Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, IV

So schöpferisches Schauen ist Vollendung, nicht Anfängerübung. Wir dürfen nicht erwarten, das Einhorn zu sehen, wenn wir uns nicht einmal einen Laufkäfer gründlich anschauen, der uns über den Weg läuft. Das Schillern seines Panzers hatte ich schon lange bewundert. Aber erst eine Bemerkung von C. S. Lewis hat mir die Augen geöffnet für das irgendwie Altmodisch-Komische dieses langbeinigen Geschöpfes, das alle beweglichen Bestandteile außen hat, wie eine Eisenbahnlokomotive aus dem vorigen Jahrhundert.

Aber, um so etwas zu bemerken, müssen wir uns Zeit lassen.

Es genügt nicht, dem kaum Beachteten schnell eine Bezeichnung zu geben, es sozusagen mit einer Inventarnummer abzufertigen.

Wir müssen anschauen, was uns unterkommt.

Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen.[5]

Mögest du die kleinen Wegweiser des Tages
nicht übersehen:
den Tau auf den Grasspitzen,
den Sonnenschein auf deiner Tür,
die Regentropfen im Blumenbeet,
das behagliche Buckeln der Katze,
das Wiederkäuen der Kuh,
das Lachen aus Kinderkehlen,
die schwielige Hand des Nachbarn,
der dir einen Gruß über die Hecke schickt.
Möge dein Tag durch viele kleine Dinge
groß werden.
[6]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-6]

[Ergänzend:

1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:

(18:34) «Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.

Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: ‹Überrasche mich!›, dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.

(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne soviel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.

(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.

(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.

(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.

Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.»

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(15:33) Rilke im ‹Schmargendorfer Tagebuch› (1898) über die Sinnlichkeit und unsere fünf Sinne – Unsere fünf Sinne und Arjuna (Bhagavad Gita) – ‹Ich lerne sehen› … (‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge›) / (20:08) ‹Der Panther› (Rilke,
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 127) – ‹Archaïscher Torso Apollos› (Rilke, Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 38-40) / (28:29) ‹In deinem Lichte sehen wir das Licht› (Psalm 36,10) – ‹Selig, die reinen Herzens sind› (Mt 5,8) – ‹Hast du deine Schwester gesehen, hast du deinen Bruder gesehen: du hast deinen Gott gesehen› – Schauen und lächeln:

Rilke aus Gesprächen und hinter ihnen: (Sinnlichkeit. Zufall. Vergessen.) (‹Schmargendorfer Tagebuch›):

«Dass die Sinnlichkeit nicht eine heimliche Flamme, die immer an der gleichen Stelle ausbricht, sei ‒ das sei unser Stolz und unsere Stärke. Wir wollen, sie soll eine fröhliche Fackel werden, die wir lachend hinter alle Transparente unseres Wesens halten.»

Rilke zu Beginn seines Romans ‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge›:

«Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.»

«Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.»

2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Sehen lernen:
(00:00) Mit dem Auge des Glaubens schauen heißt, sich auf das Leben verlassen (04:12) Hinweis auf
Teilhard de Chardin / (43:48) ‹Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt› (Goethe) / (48:22) Hellsichtig sein, feinfühlig, sensibel: Sehen lernen Schritt für Schritt / (56:47) Lernen, erleben, erfühlen, mit den Augen des Glaubens zu schauen, sich zu sammeln, langsamer zu werden / (01:02:35) Mit den Augen des Herzens sehen, was die Augen nicht sehen können: ‹Hast du deine Schwester gesehen, hast du deinen Bruder gesehen, dann hast du deinen Gott gesehen› ‒ Einander wie mit den Augen einer Mutter anschauen: ‹Das kannst du doch› schafft Raum, in den wir hineinwachsen können ‒ Sich an Träume erinnern

(01:08:27) Musik (Hannelore und Bruder Thomas) ‒ Einsichten, Fragen der Anwesenden:
(01:11:10) Augen und Ohren ‒ sehen und hören / (01:14:07) Das Kind werden, das wir sind / (01:15:11) Der Discipulus, der Schüler in der Pupille des Lehrers ‒ benediktinische Disziplin / (01:16:49) Sich in die Augen schauen ‒ ‹Was bedeutet zähmen›? Von Antoine de Saint-Exupéry lernen / (01:20:07) Virtuelle Kontakte / (01:24:43) Ich und Selbst ‒ Schauen und Einsicht: die göttliche Wirklichkeit in uns / (01:27:17) ‹Wenn Gottes Auge alles sieht› / (01:28:52) ‹Augen, meine lieben Fensterlein› (Gottfried Keller)

(43:48) Johann Wolfgang Goethe: ‹Lynkeus der Türmer› (‹Faust: Der Tragödie zweiter Teil›):

«Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
Ich seh in der Näh
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir’s gefallen,
Gefall ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!»

(01:28:52) Gottfried Keller: ‹Abendlied›:

«Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.

Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!»

2.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(24:35) Durch die Sinne zum Übersinnlichen: ‹Öffne deine Augen, neige dein Ohr› ‒ Gott spricht in jedem Augenblick

2.4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Schauen, Ansehen, Einsehen]

________________________

[1] Psalm 36,10

[2] Erwachende Worte (2023): ‹28 Augen›, 73

[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Die Dankbarkeit der fünf Sinne› (2021), 53, 59f.

[4] Orientierung finden (2021), 103f.

[5] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch, hrsg. von Margrit und Rüdiger Dahlke (1996), 269-271; Quelle: Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Der Dreischritt des horchenden Herzens› (2021), 36-39

[6] Geleitwort zum Buch von Angela Römer-Gerner: Möge deine Seele voll sein von Leben (2013), 6



Quellenangaben

[Le milieu divin]: ein Entwurf des innern Lebens›[1]

«Wir müssen jedoch sehen ‒ die Dinge sehen, wie sie sind, wirklich und eindringlich. … Machen wir, es lohnt die Mühe, die heilsame Übung, die darin besteht, im Ausgang von den personalisiertesten Bereichen unseres Bewusstseins die Verlängerung unseres Seins durch die Welt hindurch zu verfolgen. Wir werden aufs höchste erstaunt sein, wenn wir die Ausdehnung und Innigkeit unserer Beziehungen zum Universum feststellen.

Die Wurzeln unseres Seins? Sie tauchen doch zunächst in die unauslotbarste Vergangenheit ein. Wie groß ist das Geheimnis der ersten Zellen, die der Hauch unserer Seele eines Tages überbeseelt hat! Welch unentzifferbare Synthese aufeinanderfolgender Einflüsse, in die wir für immer einverleibt sind! Durch die Materie findet in jedem von uns zu einem Teil die ganze Geschichte der Welt ihren Widerhall. So autonom auch unsere Seele sein mag, sie ist Erbin einer vor ihr durch die Gesamtheit aller irdischen Energien wunderbar ausgearbeiteten Existenz: sie begegnet und verbindet sich dem Leben auf einer bestimmten Stufe. ‒ Kaum aber ist sie an diesem besonderen Punkt in das Universum hineingenommen, fühlt sie sich ihrerseits von dem Strom der zu ordnenden und zu assimilierenden kosmischen Einflüssen belagert und durchdrungen. Blicken wir um uns: die Wellen kommen von überall her und aus der Tiefe des Horizonts. Durch alle Öffnungen überflutet uns das Sinnenhafte mit seinen Reichtümern: Speise für den Leib und Nahrung für die Augen, Harmonie der Töne und Fülle des Herzens, unbekannte Phänomene und neue Wahrheiten, all diese Schätze, alle diese Reize, all diese Anrufe durchdringen, von allen Himmelsrichtungen aufsteigend, in jedem Augenblick unser Bewusstsein. Was wirken sie in uns? Was werden sie dort tun, selbst wenn wir, schlechten Arbeitern gleich, sie passiv oder gleichgültig aufnehmen? Sie werden sich in das innigste Leben unserer Seele mischen, um sie zu entwickeln oder zu vergiften. Beobachten wir uns eine Minute lang, und wir werden davon bis zur Begeisterung oder bis zu Beklemmung überzeugt sein.» (40f.)

«Uns ist kaum bekannt, in welchem Maße oder in welcher Gestalt unsere natürlichen Fähigkeiten in den endgültigen Akt der Schau Gottes eingehen werden. Doch kann es kaum einen Zweifel darüber geben, dass wir uns hier unten mit der Hilfe Gottes die Augen und das Herz geben, aus denen eine letzte Transfiguration die Organe eines Anbetungsvermögens und einer Fähigkeit zur Seligkeit machen wird, die jedem von uns eigentümlich sind.» (42)

 

[1] Olten, Walter-Verlag 91982, 40f., 42:

Film und Text von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - pixabay

(Film 25:01) T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.

(27:14) Die Zeit um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.

(46:10) Das Tönen der Glocke
misst die Zeit, die nicht die unsere ist, sondern eine, die geläutet wird
von der gemessenen Flut, eine Zeit,
älter als die der Uhren, älter
als die Zeit, wie sorgende Frauen sie zählen,
die wachliegen nachts und die Zukunft berechnen
zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn die Vergangenheit Trug ist,
und die Zukunft nicht künftig vor der Morgenwache,
wenn die Zeit einhält und endlos sich dehnt;
Und die Flut, die heute wie von jeher anschwillt,
läutet
die Glocke.
[1]

Losgelöstheit macht uns bedürfnisloser. Je weniger wir haben, umso leichter ist es das, was wir haben, zu würdigen.

Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt.

Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen.

Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse …

Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten.

Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße.

Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit.

Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt.

Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, das die Grundlage dieses Trainings bildet, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist», wie T. S. Eliot es ausdrückt.[2]

In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist» zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒ «jetzt und in der Stunde unseres Todes».

«Und die Todesstunde ist jeder Augenblick», in dem wir wirklich hinhorchen, ist «Augenblick in und außer der Zeit».[3]

Die Askese des Raumes des fördert die Loslösung in Bezug auf den Ort, wo immer wir auch seien. Ihr Ziel ist,

da wirklich gegenwärtig zu sein,
wo wir gerade sind.

Dies ist der erste Schritt ‒ und wie oft gelingt er uns nicht!

Wir sind uns selbst voraus oder bleiben hinter uns zurück. Vielleicht aber schauen wir weder voraus in eine Zukunft, die noch nicht da ist, noch halten wir an einer Vergangenheit fest, die schon vorbei ist ‒ und sind doch nicht in der Gegenwart.

Wir sind hier und doch nicht hier, weil wir nicht wach sind.

Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.

Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?

Jetzt, hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.

Ob die Mönche auf dem Feld arbeiten oder auf Reisen sind, wo immer sie auch sein mögen, wenn es Zeit zum Gebet ist, dort sollen sie ehrfürchtig niederknien, gebietet die Regel. Und so führt die Askese des Raumes zur Askese der Zeit.

Zum Hier, zum heiligen Ort, gehört das Jetzt, der heilige Augenblick; «kairos» (griechisch: Zeit), die rechte Zeit, das Heute, von dem die Liturgie immer wieder singt:

«Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!»

ein gewichtiges Psalmwort,[4] mit dem wir Mönche jeden Tag beginnen.

Dieses Heute ist immer.

lm klösterlichen Lebensraum ist Zeit etwas völlig anderes als das, was Uhren messen können.

Die Zeit gehört nicht uns.

Wenn T. S. Eliot von der «Zeit, die nicht unsere ist» spricht, dann weist dies auf Losgelöstheit von der Zeit hin.

Wir behaupten, Zeit zu haben, Zeit zu gewinnen, Zeit zu sparen; in Wirklichkeit gehört uns die Zeit nicht.

Sie wird nicht von der Uhr abgelesen, sondern daran, wann es Zeit ist.

Deshalb sind Glocken in einem Kloster von so großer Bedeutung. Und dies nicht nur, weil die meisten Mönche ohne Glocke nicht aufwachen (wenn auch niemand behaupten wird, das sei unwichtig).

In Wirklichkeit geht es darum, dass in einem Kloster Dinge nicht getan werden, wenn einem gerade danach zumute ist, sondern wenn es dafür Zeit ist.

Nach der Regel des Heiligen Benedikt wird von einem Mönch erwartet, dass er die Feder aus der Hand legt im Augenblick, wo die Glocke läutet, und nicht einmal mehr einen Querstrich aufs «t» oder ein Pünktchen aufs «i» setzt.

Wenn es Zeit für etwas ist, dann verlangt das etwas von uns, ob es uns passt oder nicht.

Auch wenn wir nur fünf Minuten zu spät kommen, geht die Sonne kein zweites Mal für uns auf oder unter. Auch die Mittagszeit können wir nicht verschieben, indem wir die Uhr zurückdrehen. Sonnenaufgang, Mittag, Abend, das sind entscheidende Zeiten, um die sich der Tag im Kloster dreht; kosmische Augenblicke, auf die die Glocke hinweist, nicht willkürliche Uhrzeiten auf einem Fahrplan.

Die Glocken im Kloster sollen uns daran erinnern, dass es Zeit ist, wenn wir sie läuten hören ‒ «nicht unsere Zeit».

In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt.

Wir sind jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das Zeit überwindet.

Das Jetzt ist nicht in der Zeit. Jetzt geht über Zeit hinaus.

Nur wir Menschen wissen, was «jetzt» bedeutet, weil wir «existieren», ‒ weil wir aus der Zeit «herausragen». Das ist ja die Bedeutung von Existenz. Und all diese klösterlichen Glocken wollen uns einfach erinnern:

Jetzt! ‒ und sonst nichts.

Freilich können wir nicht behaupten, dass es uns schon gelungen sei. Um nochmals Eliot zu zitieren:

Das Ziel hienieden
Den meisten von uns unerreichbar,
Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Weil wir es stets aufs Neue versuchten.
[5]

Für uns gilt nur der Versuch
Der Rest ist nicht unsere Sache.
[6]

Die Losgelöstheit, von der hier die Rede ist, muss klar von Gleichgültigkeit unterschieden werden. Während Gleichgültigkeit Liebe einer Situation entzieht, ist die Liebe der Losgelöstheit «ein Erweitern über das Begehren hinaus».[7]

Das Begehren ist in der Zeit verstrickt; es sehnt sich nach der Vergangenheit und sorgt sich um die Zukunft. Liebe, die über das Begehren hinauswächst, ist «Befreiung vom Künftigen wie vom Vergangenen».

Was übrig bliebt, ist das Jetzt, in dem «Vergangenes und Zukunft vereint sind», der ruhende Punkt.[8]

Wir können die befreiende Ausdehnung der Liebe in unserem eigenen Alltag erleben. Tatsächlich können wir unser Tun und Lassen bei fortschreitender Erweiterung des Horizonts als immer unwichtiger und zugleich immer bedeutsamer empfinden.

Und genau das geschieht bei fortschreitender monastischer Losgelöstheit.

Das Hier und Jetzt gewinnt genau in dem Maße an Bedeutung, wie es an Wichtigkeit verliert.

Im Ruhepunkt spielt das Hier und Jetzt keine Rolle mehr, und gleichzeitig gewinnt es letzte Bedeutung.

Daraus ergibt sich, dass wir ein dem Training in innerer Freiheit entsprechendes Raum-Zeit-Gefühl entwickeln müssen. Ohne das geht es nicht.

Die unterschiedlichen Formen, durch welche Mönche verschiedener Traditionen die Askese, zum Beispiel des Raumes, kultivieren, mögen von außen betrachtet als gegensätzlich erscheinen. Haben wir erst einmal den Schlüssel gefunden, ist leicht zu erkennen, dass alle dasselbe Ziel haben.

So unterschiedliche Formen wie die Heimatlosigkeit des Pilgermönchs und die Stabilität des Klosters sind nur zwei verschiedene Wege zum selben Ziel.

Ein Wandermönch auf den Straßen Indiens, ein Stylit, der sein Leben auf einer Säule sitzend verbringt; die seefahrenden irischen Mönche des Mittelalters oder die eingemauerten Eremiten im alten Russland und Tibet; und all die Mönche, deren Lebensformen irgendwo zwischen solchen Extremen liegen ‒ sie alle haben nur das eine Ziel: dort gegenwärtig zu sein, wo sie sind, wirklich, ganz, gegenwärtig.

… Um dahin zu gelangen,
Wo du schon bist, und fortzukommen von dort,
wo du nicht bist,
Musst du einen Weg gehen, der keine Ekstase kennt.
[9]

«Ekstase» bedeutet wörtlich «außer sich sein», fehl am Platze sein, sogar verrückt sein ‒ also das genaue Gegenteil jener vollkommenen Gesammeltheit, jener Gegenwart im Hier und Jetzt, mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend.

Dass die Ekstase ausgerechnet im Augenblick höchster Sammlung und Gegenwärtigkeit eintritt, ist lediglich das sprachliche Spiegelbild des hier besprochenen Paradoxes.

Das klösterliche Training ist ohne Eile und Hektik, aufs Praktische und Alltägliche ausgerichtet: fegen, kochen, waschen, bei Tisch auftragen oder am Altar dienen, Bücher lesen, Karteikarten einordnen, den Garten umgraben, an der Schreibmaschine sitzen, Heu machen, Rohre reparieren; aber all das mit jener liebevollen Losgelöstheit, die jeden Ort zum Mittelpunkt des Universums wandelt.

Zu diesem monastischen Bewusstsein des Raums gehört ein entsprechendes monastisches Bewusstsein der Zeit.

Die Jahreszeiten und die Gezeiten der Sterne,
Die Zeit des Melkens und die Zeit des Erntens.
[10]

Die Zeit des «unaufhörlichen Angelusläutens der Glockenboje» an der Küste:

Die Glocke zur See misst
Zeit, die nicht unsere Zeit ist, geläutet von dem gemessenen
Schwall der Dünung: eine Zeit, weit älter
Als die Zeit, wie Uhren sie deuten, weit älter
Als die Zeit, wie wir sie zählen…

Und dieser «gemessene Schwall der Dünung» wird zum Sinnbild jener Erweiterung der Liebe über das Begehren hinaus, innerlich frei, aber nicht gleichgültig, sondern hellwach und verantwortlich ‒ denn die Zeit, welche von der läutenden Glocke gemessen wird, ist «nicht unsere Zeit».

Wir werden gerufen. Wir müssen antworten.

Und die Dünung, heut wie von jeher,
läutet
Die Glockenboje.

Die Angelusglocke und der Gong, die Holzklöppel und die Trommel ‒ sie alle geben Zeit an, «nicht unsere Zeit».

Das ist der entscheidende Punkt: dass es nicht unserer Zeit ist.

Die Mönche stehen auf und gehen zu Bett, arbeiten und feiern ‒ wenn es Zeit dazu ist.

Sie «halten» sich nur an die Zeit, ohne sie zu «bestimmen».

Beim ersten Glockenschlag hat der Mönch in seiner Tätigkeit innezuhalten, was immer es sei, und sich dem zuzuwenden, wofür es Zeit ist.

Das Entscheidende ist das Loslassen. Es ist Befreiung.

Durch das Loslassen wird die Zeit, welche «nicht unsere Zeit» ist, alle Zeit, unser eigen, weil wir uns ihr hingeben. Wenn wir im Rhythmus des Lebens mitschwingen, sind wir im Einklang mit der Welt, und sie gehört ganz uns.

Die innere Freiheit von Raum und Zeit, durch die alles unser eigen wird, weil wir im Hier und fetzt völlig gegenwärtig sind, enthält das ganze monastische Leben wie eine Frucht den Samen.

Ein Zustand vollendeter Einfalt
(Der nicht weniger kostet als alles)
[11]

Jeder andere Verzicht ist in der liebevollen Losgelöstheit des Mönchs vom Hier und Jetzt eingeschlossen.

Sie weist auf jene radikale Losgelöstheit von uns selbst hin, in der wir unser wahres Selbst finden.

Um das zu besitzen, was du nicht besitzt,
Musst du den Weg der Entäußerung gehen.
Um das zu werden, was du nicht bist,
Musst du den Weg gehen, auf dem du nicht bist.
[12]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3, 6, 12]

_______________________

[1] Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription

[2] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 46f.]:

«And under the oppression of the silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future,
Trying to unweave, unwind, unravel
And piece together the past and the future,
Between midnight and dawn, when the past is all deception
The future futureless, before the morning watch
When time stops and time is never ending;
And the ground swell, that is and was from the beginning,
Clangs
The bell.»

«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Mißt Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als die Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen,
Abzuwickeln und zu entflechten suchen
Vergangenheit, Zukunft zusammenzuflicken,
Zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn Vergangenheit Täuschung ist,
Zukunft ohne Gestalt, vor der Morgenwache
Wenn die Zeit stockt und Zeit niemals endet;
Und die Dünung, die ist und vor dem Anfang war,
Die Glocke
Hallt.»

«Die Salvages sind eine Felsengruppe vor Cape Ann (Massachusetts), die nur bei Ebbe zu sehen ist und in deren Nähe Eliot in seiner Jugend ‹riskante Segeltörns› unternahm. Die Erfahrung der rauen See, der Urgewalt des Meeres, ein im Zusammenhang mit Eliots Dichtung treffendes Vokabular, schlägt sich in The Dry Salvages entsprechend nieder. Da wird die auf dem Wasser schaukelnde Boje zur Schicksalsglocke, eine sorgenvolle akustische Begleitung für die implizite Frage: Kehren die Seeleute wieder nach Hause zurück?» [Mario Osterland zu T. S. Eliot]

[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Mit dem Herzen horchen› (2021), 18f.

T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe Stillehalten:

«the moment in and out of time»

[4] Psalm 95,7f.; Regel des hl. Benedikt (RB Prolog 10)

[5] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe Stillehalten:

«For most of us, this is the aim
Never here to be realised;
Who are only undefeated
Because we have gone on trying»

[6] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Die Umwelt als Guru› (2021), 26, 28-30

T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V:

«For us, there is only the trying. The rest is not our business.»

[7] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, III:

«For liberation ‒ not less of love but expanding
Of love beyond desire, and so liberation
From the future as well as the past.»

[8] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II; gesprochen von Reinhard Glemnitz (26:00) im Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription (26:00) und Anm. 3, ebenso Stillehalten

[9] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III:

«Shall I say it again? In order to arrive there,
To arrive where you are, to get from
where you are not,
You must go by a way wherein there is no ecstasy.»

[10] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, I:

«The time of the seasons and the constellations
The time of milking and the time of harvest»

[11] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, siehe Stillehalten:

«A condition of complete simplicity
(Costing not less than erytheing
)»

[12] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Spiegel des Herzens› (2021), 123-126

T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III:

«In order to possess what you do not possess
You must go by the way of dispossession.
In order to arrive at what your are not
You must go through the way in which you are not.»



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger 

In seinen «Four quartets» spricht T.S. Eliot von dem Paradox,

«still sein und dennoch vorangehen»

dem Paradox der Hoffnung.[1]

Als Pilger haben wir ein Ziel. Aber der Sinn unserer Pilgerfahrt hängt nicht davon ab, dass wir dieses Ziel erreichen.

Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.

In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern.

Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille mit Bewegung.

Das «in Hoffnung ruhen» (Psalm 16,9) ist ganz gewiss nicht jenen vorbehalten, die am Ende des Weges sind. Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt das Ziel, denn das Ende geht dem Anfang voraus.

Ruhen wir in der Hoffnung, dann bewegen wir uns laut T. S. Eliot in dynamischer Stille:

... wie eine chinesische Vase
Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist.
Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt,
Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein,
Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht,
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher
Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende.

Dass alles immer jetzt ist. ...[2]

Die Spannung der Hoffnung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht ist die Grundlage für ein Verständnis von Pilgerschaft.

Wann immer wir auf etwas stoßen, das Sinn hat, dann ist dieser Sinn schon jetzt und doch noch nicht gegeben. Er ist da, aber er führt immer noch weiter.

Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nachhause nehmen und im Einsiedlerglas aufbewahren kann. Sinn ist immer etwas Frisches. Er leuchtet uns plötzlich ein, so wie die Strahlen der Nachmittagssonne plötzlich auf unsere Waldlichtung fallen. So oft wir hinschauen, können wir in diesem Licht immer neue Wunder entdecken.

Was Glaube ist, kann man am besten dadurch deutlich machen, dass man gläubig lebt. Ebenso ist es mit der Hoffnung. Nichts wird uns mehr helfen, Hoffnung zu verstehen, als ein Pilgerleben, als «still sein und dennoch voran(zu)gehen», Tag für Tag.

Die Furcht vor den Gefahren, die uns auf dem Weg begegnen könnten, ist groß und berechtigt; das trifft in noch größerem Maße auf die Furcht vor dem Wagnis der Bindung zu.

Es bedarf großen Mutes, diese doppelte Furcht durch den Glauben zu überwinden.

Wir schaffen es, indem wir den Wagemut des Nomaden mit dem des Siedlers verbinden, und das gibt uns den Mut des Pilgers.

Der zwanghafte Siedler in uns wagt es, sich zu binden, fürchtet sich aber davor, unterwegs zu sein.

Der unstete Nomade in uns wagt den Weg, fürchtet sich aber vor der Bindung.

Nur der Pilger in uns kann diesen Zwiespalt überwinden.

Der Pilger weiß, dass sich jeder Schritt auf dem Weg als das Ziel herausstellen kann, andererseits kann sich das vermeintliche Ziel als doch nur ein Schritt auf dem Weg erweisen.

Dies hält den Pilger offen für Überraschungen. Hoffnung kennzeichnet den Pilger.[3]

Die Pilgerfahrt ist nicht eine Reise.

Der Unterschied ist vielen nicht klar: Die Pilgerfahrt hat unendlich viele Gipfelpunkte, die Reise hat ein Ziel.

Die Pilgerfahrt hat immer dort den Gipfelpunkt, wo ich bin. Jeder Schritt ist sozusagen das Ziel.

Wenn man eine Reise nach Rom oder Jerusalem macht und nicht in Rom ankommt, dann hat man das Ziel der Reise verfehlt, und dann war es eine verfehlte Reise. Aber wenn man eine Pilgerfahrt nach Jerusalem macht, dann kommt man unter Umständen gar nicht hin oder kommt schon mit dem ersten Schritt an sozusagen.

Leo Tolstoi erzählt die Geschichte von zwei alten russischen Bauern, die sich auf eine Pilgerfahrt nach Jerusalem machen. Wochenlang wandern Sie von Dorf zu Dorf, immer in Richtung auf das Schwarze Meer, wo Sie hoffen, ein Schiff in das Heilige Land zu finden. Aber bevor Sie den Hafen erreichen, werden Sie voneinander getrennt.

Während der eine an einem Häuschen anhält, um seinen Wasserschlauch zu füllen, geht der andere noch ein Stück weiter, lässt sich dann im Schatten nieder und ist bald eingeschlafen. Als er aufwacht, fragt er sich: «Ist mein Freund noch hinter mir? Nein, er muss mich überholt haben, als ich hier schlief.»

In der Hoffnung, seinen Freund einzuholen, geht er weiter. «Spätestens beim Warten auf das Schiff werden wir uns wiederfinden», denkt er.

Aber im Hafen findet sich keine Spur des Freundes. Tagelang wartet er, dann segelt er allein ins Heilige Land.

Erst in Jerusalem holt unser Pilger doch noch den anderen ein. Er sieht ihn ganz vorne beim Altar, aber bevor er sich einen Weg durch die Menge der Pilger bahnen kann, verliert er seinen Freund wieder aus den Augen. Er fragt nach ihm, doch niemand weiß, wo er wohnt.

Ein weiteres Mal sieht er ihn in der Menge, und noch ein drittes Mal, näher den heiligen Stätten, als er selbst herankommt. Aber niemals holt er ihn ein, und als die Zeit kommt, Jerusalem zu verlassen, da muss er sich allein auf die Heimreise machen.

Viele Monate später kehrt er heim ins Dorf. Und da ist auch sein verlorengegangener Reisebegleiter. Er war ja gar nicht in Jerusalem gewesen. In jenem Häuschen, bei dem er angehalten hatte, um etwas Wasser zu bekommen, fand er eine ganze Familie, die im Sterben lag. Sie war arm und verschuldet, krank, fast verhungert und sogar zu schwach, um sich selbst Wasser zu holen. Mitleid überwältigte ihn. Er machte sich auf und brachte ihnen Wasser, kaufte Lebensmittel und pflegte Sie gesund. Jeden Tag dachte er: «Morgen werde ich meine Pilgerfahrt fortsetzen.»

Als er ihnen aber geholfen hatte, ihre Schulden zu bezahlen, da blieb ihm gerade genug Geld, um nachhause zurückzukehren.

Der andere Alte, der ihn in Jerusalem gesehen hatte, fragte sich nun, wer von ihnen das wahre Ziel der Pilgerfahrt erreicht habe.[4]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f.]

[Ergänzend:

1. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(05:46) Pilgerfahrt im Unterschied zur Reise: ‹Die beiden Alten› (Leo N. Tolstoi) ‒ (11:16) ‹Das Leben ist ja Pilgerschaft, wenn man es richtig versteht, und es kommt nur darauf an, im gegebenen Augenblick das zu tun, was das Leben uns aufgibt›

2. Common Sense: Was dem Common Sense im Weg steht (2014), 94f.:

«In jedem von uns steckt einer, der sesshaft werden möchte, und einer, der suchend unterwegs bleiben will.

Hinter beiden Antrieben steckt ein Stück Angst. Der Sesshafte hat Angst vor Veränderung; der Sucher und Entdecker hat Angst vor Langeweile.

Als Abenteurer können wir derart vom Suchen besessen sein, dass wir auf keinen Fall etwas finden wollen, denn damit hätte ja unser Suchen ein Ende.

Als Sesshafte dagegen können wir so sehr auf das Finden aus sein, dass wir das Suchen vorschnell abbrechen.

In Wirklichkeit sind wir dazu bestimmt, Pilger zu sein. lm Pilgern sind der Sesshafte und der Sucher vereint.

Pilger brauchen zweierlei Art von Mut: den Mut des Abenteurers, über das Vertraute hinauszugehen, und den Mut des Sesshaften, sich in der Gegenwart daheim zu fühlen.

Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt schon ein Ziel und jedes Ziel kann sich wiederum als Schritt auf einem Weg erweisen, der immer wieder weiter führt.

Als Pilger müssen wir überall und zugleich nirgends daheim sein; genau aus diesem Grund dürfen wir uns an nichts endgültig klammern.

Dieses Anklammern ist unser eigentliches Hindernis auf der Pilgerfahrt durchs Leben. Wir klammern uns immer dann spontan an etwas, wenn wir Angst haben.

Das ist ein naturgegebener und gesunder Reflex. Wenn Sie erschreckt werden, versuchen bereits neugeborene Kinder, sich mit Armen und Beinen an die Mutter zu klammern.

Dieser Instinkt resultiert womöglich aus einer Zeit, in der es überlebenswichtig war, sich an die Mutter zu klammern, die von Ast zu Ast sprang. Diesen Instinkt behalten wir zeitlebens bei.

Sobald Gefahr droht, greifen wir nach etwas und klammern uns daran, nicht nur physisch, sondern auch mental.

Alles Neue wirkt zunächst immer gefährlich.

Wir brauchen eine gewisse Zeit, um unsere rein instinktive Reaktion überwinden zu lernen.

Wollen wir reifer und weiter werden und neues Gelände betreten, dann müssen wir zwangsläufig lernen, Altes und Vertrautes loszulassen.»

3. Audio und Texte zum Pilger-Ritual

3.1. Audio Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift:
Die Mystische Erfahrung ist religionsschöpferisch (04
Mitschrift):

(08:56) «Und Sie selbst auch wieder in ihrer eigenen Privatreligion, wenn Sie wollen, feiern Sie Ihre mystischen Erlebnisse. Nehmen wir an, Sie haben so ein mystisches Erlebnis auf einem bestimmten Berg erfahren, ein Gipfelerlebnis:

Es ist sehr leicht möglich, dass Sie immer wieder einmal ‒ sagen wir zu einem besonders festlichen Anlass ‒ zu diesem Berg zurückwandern. Sie wollen das wiedererleben.

Sie können es vielleicht nicht einmal mehr wiedererleben, aber Sie machen eine Pilgerfahrt oder Sie erinnern sich an diesen Tag: Sie haben schon einen rituellen Kalender begonnen: Es ist nur der Beginn, aber der Beginn ist da.»

3.2. Schönheit aus: Auf dem Weg der Stille (2016), 137f.:

«Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.

Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.

Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!

Je stärker Sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern.

Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte.

Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.»

3.3. Religionen ‒ drei Ausdrucksformen, in Ergänzend: 3.5., aus Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 180:

«Überprüfen Sie dies anhand Ihrer eigenen Erfahrung.

Manche Rituale da draußen, in den traditionellen historischen Religionen, mögen bizarr anmuten.

Doch vielleicht zelebrieren Sie alle Jahre wieder eine tiefe spirituelle Erfahrung. Nun, dann haben Sie einen rituellen Kalender, so wie die meisten Religionen.

Vielleicht kehren Sie ständig an den Ort zurück, an dem diese Erfahrung Sie überwältigt hat.

Nun, dies ist dann das Ritual des Pilgerns.

Angenommen, Sie haben dieses Erlebnis an einem Strand gehabt, dann ist jeder Strand auf dieser Welt nun ein heiliger Ort für Sie, weil er Sie immer an diese Erfahrung denken lässt.

Auch ein Baum kann auf diese Weise für Sie ein heiliger Baum werden. Das Ritual ‒ das lebendige Ritual ‒ ist die Zelebrierung des mystischen Erlebnisses. Es ist ein Gedenken an dieses Erlebnis.»]

__________________________

[1] T. S. Eliot: Four quartets: East Coker, V; siehe auch in Stillehalten

[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten

[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114-116, 118, 112f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 114-116, 118, 112f.]

[4] Audio in Ergänzend: 1 und Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 113f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 113f.]: ‹Die beiden Alten› (Novelle von Leo Tolstoi)



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Georg Stahl

Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.

Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.

Eine hervorragende Metapher für die sinnliche Erfahrung dessen, was in seiner Sinnfülle unsere Sinne unendlich übersteigt, ist der brennende Dornbusch.[1]

Das wüstentrockene Dorngestrüpp steht in Flammen, trägt die Flammen und erträgt sie; es hat inmitten der Flammen Bestand.

«Wie kommt es, dass dieser Busch brennt und doch nicht verbrennt?»

Mit diesem «großen Gesicht» beginnt die Offenbarung eines unerschöpflichen Geheimnisses: Gottes Gegenwart in der Welt ‒ «non commixtionem passus, neque divisionem», wie die Antiphon der Weihnachtszeit[2] staunend singt:

«Unvermischt und doch untrennbar»,

wird das Göttliche uns zugänglich im Sinnlichen.[3]

Zwei Haltungen neigen dazu, uns für diese Begegnung blind zu machen: Weltlichkeit und Weltentrücktheit. Weltlichkeit sieht bloß den Strauch; Weltentrücktheit sieht bloß das Feuer.

Aber zu sehen, mit den Augen des Herzens, eines inmitten des andern, das ist das Geheimnis von Sakramentalität.

Das Geheimnis ist das Geheimnis von Sakramentalität, das Mysterium, dass das göttliche Leben sich durch alle Dinge vermittelt, genauso wie Sinn durch Worte vermittelt wird.

Die zwei gehören zusammen, Sinn und Wort, Gott und die Welt. Die zwei gehören zusammen, ohne Wenn und Aber, sind untrennbar: Sinn und Wort, Gott und die Welt.

Sakramentalität ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.

Die vielen Gemeinschaften, Kirchen, Kommunen weisen lediglich auf diese eine große Familie Gottes hin, mit mehr oder weniger erfolgreichen Modellen und bruchstückhaften Erkenntnissen davon. Ihre Feiern des Lebens sind auch auf eine Art Sakramente, weil das Leben selbst sakramental ist.

Richtig verstanden sind die Sakramente der christlichen Kirchen nicht in sich abgeschlossene Schachteln göttliche Gnaden vermittelnd.

Sie sind Brennpunkte dieses göttlichen Feuers, das alles Leben sakramental macht.

Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:

«Zieh’ deine Schuhe aus!»[4]

Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.

Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.

Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.

Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.

Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.

Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[5]

Es ist nicht so, als ob wir von weit her zum Ort der göttlichen Gegenwart hinpilgern müssten.

Von alters her geheiligte Orte wollen Pilger nur daran erinnern, dass auch jeder andere Ort heilig ist.

Schon mit dem ersten Schritt einer Pilgerfahrt betreten wir heiligen Boden.

Darum ruft die Stimme aus dem brennenden Busch Moses zu:

«Tritt nicht herzu!»
Komm nicht näher!

Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.

«Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.»

Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort.
Werde dir dessen bewusst!

«Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!»

Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.

Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen.

Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.

Auch «an den Flüssen Babylons», oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.

Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.[6]

Die Askese des Raumes fördert die Loslösung in Bezug auf den Ort, wo immer wir auch seien. Ihr Ziel ist,

da wirklich gegenwärtig zu sein,
wo wir gerade sind.

Dies ist der erste Schritt ‒ und wie oft gelingt er uns nicht!

Wir sind uns selbst voraus oder bleiben hinter uns zurück. Vielleicht aber schauen wir weder voraus in eine Zukunft, die noch nicht da ist, noch halten wir an einer Vergangenheit fest, die schon vorbei ist ‒ und sind doch nicht in der Gegenwart.

Wir sind hier und doch nicht hier, weil wir nicht wach sind.

Gegenwärtig zu sein, bedeutet,
zur Wirklichkeit des Ortes aufzuwachen.

«Die Schuhe ausziehen» ‒ das ist die Askese des Raumes.

«Die Schuhe auszuziehen» bedeutet, wirklich dazustehen, in voller Lebendigkeit.

Die Schuhe oder Sandalen, die wir ausziehen, sind aus der Haut toter Tiere gefertigt.

Solange wir sie tragen, ist etwas Totes zwischen den lebendigen Sohlen unserer Füße und dem Boden, auf dem wir stehen.

Dieses Tote abzustreifen bedeutet, Gewohnheit abzustreifen, jenes Gewohntsein, das Gleichgültigkeit und Langeweile mit sich bringt.

Es bedeutet, in ursprünglicher Frische für den Ort wach zu werden, an dem wir stehen.

Zuerst ist dies ein ganz besonderer Ort, der heilige Bezirk, den wir barfuß betreten.

Aber dann kommt der nächste entscheidende Schritt: Wir erkennen, dass wir auf heiligem Boden stehen, wo immer wir die Schuhe ausziehen.

«Rundum in jeder Richtung, soweit Raum reicht, reicht das Heiligtum.»[7]

Pater Damasus[8] wurde nie müde, diese Bibelstelle seinen Mönchen zu zitieren. Wir müssen nur einfach unsere Schuhe ausziehen, dann werden wir dies verstehen.

Ganz deutlich wird dies, wenn der Heilige Benedikt sagt, dass jeder Topf und jede Pfanne im Kloster wie ein heiliges Altargefäß behandelt werden sollte.[9]

Das heißt soviel wie:

«Zieht eure Schuhe aus und erkennt, dass ihr auf heiligem Boden steht; allerorten ist Gottes Tempel.»

Jeder Ort ist heiliger Boden, denn jeder Ort kann Stätte der Begegnung werden, der Begegnung mit göttlicher Gegenwart.

Sobald wir die Schuhe des Daran-Gewöhnt-Seins ausziehen und zum Leben erwachen, erkennen wir:

Wenn nicht hier, wo sonst?
Wann, wenn nicht jetzt?

Jetzt, hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.[10]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 5f., 10]

[Ergänzend:

Audio Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›]

___________________________

[1] Exodus 3,1-5 (Lutherbibel 2017):

«Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!»

[2] «Mirabile mysterium declaratur hodie:
innovantur nature,
Deus homo factus est;
id quod fuit permansit,
et quod non erat assumpsit:
non commixtionem passus, neque divisionem.»

«Ein wunderbares Geheimnis wird heute verkündet:
Die Natur erneuert sich,
Gott wurde Mensch.
Das, was er war, blieb er,
und das, was er nicht war, nahm er auf.
Er erlitt keine Vermischung und keine Teilung.»

[3] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 69f.

[4] Exodus 3,5

[5] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119

[6] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 70f.

[7] Ezechiel 43,12

[8] Pater Damasus Winzen, der Gründer des Klosters Mount Savour

[9] Siehe auch Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2018):

«Darum scheint mir manchmal, dass «dankbar leben» sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird - und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).»

[10] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 26f.



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - Arijana Somolanji Kurbanović

«Zauberkraft begegnet uns auf Schritt und Tritt, daran zweifle ich keinen Augenblick. Wie oft habe ich sie doch erlebt. Zuerst mein ganz automatisches Dahintrotten auf dem heißen Gehsteig, dann ein kühler Zugwind aus einer Seitenpassage ‒ und plötzlich hat das Straßenbild Farben, Klänge, Bewegung.

Oder bei Tisch: Mein unaufmerksames Hinunterlöffeln wird durch das Klirren eines Wasserglases in wache Freude an der warmen Suppe verwandelt. Sogar ein untätiges Daliegen im Bett kann durch ich weiß nicht, was, auf einmal zum wohligen Wahrnehmen von Decke und Polster werden, zu einem letzten Aufleuchten aller Sinne vor dem Einschlafen.

Ich weiß wirklich nicht, was diese geheimnisvolle Kraft ist, die da so unvermittelt alles verzaubert ‒ ja, die eigentlich  m i c h  bezaubert, indem sie mich belebt.

Jedenfalls nehme ich sie dankbar an; sie muss ja von Dir kommen.

Und Dankbarkeit legt mir auch das Zauberwort in den Mund, das Zauberwort, das mich und die Welt belebt: ‹Danke!› ‒ Amen.»[1]

In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug’ in Auge mit einem Tier können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen.

Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen übermittelt werden kann.

Die Welt, in der wir leben, ist so entfremdend, dass wir buchstäblich nicht mehr in Berührung miteinander sind.

Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet.

Das schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein Gefühl, dass wir Schwestern und Brüder sind in dieser Welt, in unserem gemeinsamen Zuhause.[2]

«Mein Fuß spricht mit den Steinen, die er betritt»,

sagt Rilkes Blinde,[3] und das sollten auch unsere Füße tun. Sobald wir die Gewöhnung abgelegt haben, mehr noch als die Schuhe, dann ist schon die Möglichkeit gegeben für diese Zwiesprache.

Rasen spricht anders mit unseren Füßen als sonnenwarme Felsplatten am Fluss; ein Holzboden wieder anders. Kork, Kiesel, Kokosläufer, feuchter Sand am Meer, oder das Herbstlaub, durch das wir als Kinder so gerne wirbelnd wateten; diese und so viele andere Sprachen sind unseren Fußsohlen bereits geläufig.

Leinen, Leder, Luffa, wie verschieden sie unsere Schultern berühren. Strohhut und Wollmütze, Tropenhelm und Schleier. Kühles, Bauschiges, das den Wind einfängt, oder enganliegendes Warmes und Weiches um Hüften und Beine.

Wie so verschiedentlich uns all das anspricht, wenn wir nur darauf achten. Wie unsere Haut an jeder Stelle des Körpers anders darauf antwortet. Welche Freude argloser Dankbarkeit man daran erleben kann.

Und dann erst die Hände. Für mich ist nicht nur das Streicheln der Katze («Gypsie» heißt sie, «Zigeunerin»), für mich ist auch das Abstauben der paar Möbel in der Einsiedelei ein liebkosendes Berühren; oder das Stutzen der Sträucher im Garten; oder das Aufkehren.

«So geht man nicht mit dem Staub um», erklärte Soen Nakagawa Roshi jungen Mönchen, die das Saubermachen praktisch, schnell und gründlich erledigt haben wollten. «S o  geht das nicht. Wenn ihr den Besen in der Hand habt, soll die Hand zum Staub sagen: ‹Verzeih, aber du bist zur Zeit am falschen Platz. Erlaube, dass wir dir weiterhelfen, wo du hingehörst›»

Hände haben höfliche und unhöfliche Redeweisen. Sie lassen sich erziehen.

Hände reden, Sie können aber auch horchen.

Das hat mich Sen Soshitsu gelehrt, der Groß-Teemeister Japans, dessen Urahne Sen Rikyu, im 16. Jahrhundert der Teezeremonie ihre klassische Form gab.

In einer vornehmen Privatwohnung in New York wurde das Ehepaar Sen an jenem Abend mit einem Empfang geehrt. Man wollte den Gästen aus dem Osten das Beste westlicher Kultur darbieten. Ein berühmter Cembalist sollte auf einem Instrument spielen, das eigens für diese Gelegenheit ausgeliehen worden war.

Da stand es in seiner schlichten Schönheit, glänzend im Licht der vielen Kerzen, aber versperrt. Der Schlüssel zum Deckel der Tastatur war einfach unauffindbar.

Verwirrung, Geflüster, peinliche Stille.

Mit heiterer Gelassenheit geht Sen Soshitsu auf das Cembalo zu, lässt seine Hand bewundernd über das seidige Holz gleiten.

Völlig gesammelt scheint er dankbar zu sagen:

«Ist das nicht schon mehr als genug?»

Dann lächelt er, und alle atmen auf.

Alle nur mögliche Musik war aus dem Instrument durch seine horchende Hand in dieses Lächeln gestiegen und darin Wirklichkeit geworden.

Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden und so mit allen Sinnen. Aber niemand kann berühren, ohne berührt zu werden. Daher kommt die Ehrfurcht, die echter, wacher, dankbarer Berührung eignet.

Rilke sieht diese Ehrfurcht in der Art, wie die Figuren im Bildwerk griechischer Grabsäulen einander berühren:

«Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs,
d i e s e s  ist unser, uns  s o  zu  berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.»[4]

Wer ehrfürchtig an-greift, wird zugleich ergriffen vom göttlichen Gegenüber, mit jener bräutlichen Ergriffenheit, die weise macht.

Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.
Wir finden das eine im anderen.

Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.

Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:

Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin.

Ihre Beschaffenheit, für Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.

Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist.

Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?

Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht.

Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft.

Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.

Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.

Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.[5]

Sakramentales Leben ist das Geheimnis, dass in unserem riesigen Erd-Haushalt alles mit allem in Verbindung steht, in Myriaden von verschiedenen Wegen, das Leben des heiligen Einen mitten in uns.

Es gibt nur eine Bedingung, um das Leben sakramental sehen zu können:

«Zieh’ deine Schuhe aus!»[6]

Erkenne, dass der Boden, auf dem wir stehen, heiliger Boden ist. Die Schuhe ausziehen ist eine Geste der Dankbarkeit und durch Dankbarkeit kommen wir in sakramentales Leben hinein.

Barfuß gehen hilft wirklich! Es gibt keinen direkteren Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen als durch den direkten physischen Kontakt.

Zu fühlen wie verschieden es ist, ob man auf Sand geht oder auf Gras, auf glattem, von der Sonne erwärmten Granit, auf dem Waldboden; sich durch die Kieselsteine etwas wehtun lassen, Schlamm durch die Zehen quetschen.

Es gibt so viele Wege, durch die Erde Gottes heilende Kraft dankbar zu spüren.

Immer wenn wir die Abgestumpftheit des Gewöhntseins wegnehmen oder aufhören, Dinge als selbstverständlich zu nehmen, berührt uns das Leben mit seiner ganzen Frische und wir erkennen, dass alles Leben sakramental ist.

Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[7]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden. Amen»
[8]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 5, 7f.]

[Ergänzend:

1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:

(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.

(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.

Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.

(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.

Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(01:01:13) ‹Dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind› (Rilke, Schmargendorfer Tagebuch) – ‹Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht menschlicher Geste?› (Rilke, Die zweite Elegie) – Das empfängliche Tasten ist das Behüten ‒ letztlich, das Geheimnis hegen: ‹Meine Hand ist dir viel zu breit› (Rilke,
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 76f.) – ‹Ich habe dich bei deiner Hand gefasst und habe dich behütet.› (Jes 42,6)

Rilke in einem Brief: Arco, am 10. März 1899 (Schmargendorfer Tagebuch):

«… denn in unserem Schauen liegt unser wahrstes Erwerben. Wollte Gott, dass unsere Hände wären, wie unsere Augen sind: so bereit im Erfassen, so hell im Halten, so sorglos im Loslassen aller Dinge; dann könnten wir wahrhaft reich werden. Reich aber werden wir nicht dadurch, dass etwas in unseren Händen wohnt und welkt, sondern es soll alles durch ihren Griff hindurchströmen wie durch das festliche Tor des Einzugs und der Heimkehr. Nicht wie ein Sarg sollen uns die Hände sein: ein Bett nur, darin die Dinge dämmernden Schlafes pflegen und Träume tun, aus deren Dunkel heraus ihre liebsten Verborgenheiten reden. Jenseits der Hände aber sollen die Dinge weiterwandern, stämmig und stark, und wir sollen von ihnen nichts behalten als das mutige Morgenlied, das hinter ihren verhallenden Schritten schwebt und schimmert.»

Denn Besitz ist Armut und Angst, Besessenhaben allein ist unbesorgtes Besitzen.

2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(26:54) Spüren, tasten ‒ Der brennende Dornbusch: ‹Zieh’ deine Schuhe aus› ‒
Deutung des Exils als ‹Gewöhnung›, ‹Abstumpfung›:

«‹Tritt nicht herzu!› Komm nicht näher. Eine rabbinische Auslegung sieht darin eine Zurückweisung unserer Neigung, Gott an diesen oder jenen Ort zu binden.

‹Der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.›

Wo immer es auch sei, du stehst auf geheiligtem Ort. Werde dir dessen bewusst!

‹Zieh’ deine Schuhe aus von deinen Füßen!›

Der Schuh aus toter Tierhaut bedeutet für diese Auslegung: Gewöhnung, Abstumpfung.

Nichts sonst kann uns von Gottes Gegenwart trennen. Im Exil sein, verbannt vom heiligen Land, heißt vergessen zu haben, dass wir auf heiligem Boden stehen.

Auch ‹an den Flüssen Babylons›, oder wo auch sonst, stehen wir auf heiligem Boden, solange uns nicht Abstumpfung davon trennt.

Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.»[9]

2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 2:

(13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen

2.4. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Tasten, greifen, begreifen, Begriffe im Unterschied zu Ergriffenheit, Rührung ‒ gerührt sein, berühren ‒ berührt sein]

__________________

[1] Erwachende Worte (2023): ‹55 Zauberkraft›, 127

[2] Musik der Stille (2023), 8 und 61

[3] R. M. Rilke: ‹Die Blinde› (Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)

[4] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Zweite Elegie

[5] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 71-73, 69, 16; siehe auch Horchen und Gehorchen

[6] Moses und der brennende Dornbusch in Exodus 3,1-6

[7] Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 112-119

[8] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 71

[9] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 70f.



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

kreuz b kraehmer titelCopyright © - pixabay – Mimosa pudica

Gerüche der Kindheit fallen mir viele ein, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

Da ist zum Beispiel der Lavendelgeruch in der Wäschelade meiner Mutter. Sie hat immer Lavendel zur Wäsche gelegt, und beim Öffnen der Lade hatte man sofort diesen Lavendelduft in der Nase.

Oder der Geruch von Lindenblüten. Wir hatten zwei große Linden vor dem Haus, vor unserem Fenster. Das ist ein unvergesslicher Duft, der Duft von Lindenblüten.

Ein Geruch, der gar nicht so typisch ist, aber der mir auch sofort einfällt: der Geruch von zertretenem Unkraut, hinter dem Haus, hinter dem Stall. Ich bin zum Teil auf dem Land aufgewachsen, unser Nachbar hatte einen Bauernhof, und wenn wir da hinter dem Haus herumgerannt sind, bei unseren Schleichwegen, da kam immer wider der Geruch von zertretenem Unkraut. Die Brennnesseln riechen ja stark, und auch alle anderen Pflanzen haben ihren eigenen Geruch.

Der Kuhmist im Stall, der Heuboden, der Geruch der frischen, warmen Milch! Und dann erst die Jahreszeiten!

«Es riecht nach Schnee!»

Dieser Schneegeruch. Und der frische Luft-Geruch, dieser frische kalte Luft-Geruch in den Windjacken, wenn man sie in der Stube aufhängt im Winter!

Der Geruch der Bratäpfel auf dem Herd, der Geruch der Maroni!

Ein wichtiger Geruch für mich, das ist der Geruch von Mimosen. Früher hat man zu den Rosen immer Mimosen getan.

Bei allen Tanten- und Verwandten-Besuchen haben wir Blumen mitgebracht, und da waren auch diese kleinen gelben Mimosen dabei. Das ist für mich so ein Besuchs-Geruch von Mimosen.

Zu Ostern haben wir uns aus kleinen Blechdosen so Weihrauch-Schwinger gebastelt, mit glühenden Baumschwämmen als Holzkohle, darauf kam der Weihrauch, so sind wir umhergezogen, das war unser Ostergeruch.

Ich weiß bis heute, wie verschieden verschiedene Menschen riechen können. Ich hatte da ein interessantes Erlebnis mit so einem Geruch. Men Beichtvater in Heiligenkreuz, Pater Walter, der hatte einen eigenen Geruch, da war Weihrauch dabei, und auch der Geruch von altem Stoff. Die Gewänder hängen ja in so einem feuchten Raum, das riecht ein wenig stockig. Jedenfalls hatte mein Beichtvater einen eigenen, für ihn typischen Geruch, der mir sehr vertraut war.

Ich war dann schon jahrelang weg, weit weg, ich lebte schon in Amerika, da ist es mir ‒ zwei-, dreimal ‒ passiert, und zwar immer in Krisensituationen, dass ich ihn plötzlich gerochen habe.

Noch bevor ich überhaupt an ihn gedacht habe, war sein Geruch schon da. Dieser Pater Walter war so ein Seelenführer, ein Seelenhelfer für mich. Und komisch, immer in Krisensituationen war plötzlich sein Geruch da, als ob er gegenwärtig gewesen wäre im Zimmer.

So ein Geruch kann sehr tröstlich sein. Seine Anwesenheit zu spüren ‒ allein über den Geruch ‒, das hat mir schon geholfen.[1]

Die linden Lüfte sind erwacht,
sie säuseln und wehen Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch werden mag,
das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden!

Ludwig Uhland[2]

Gott ist zu einfach, um mehr als ein einziges Wort zu sprechen. Es ist wie bei Liebenden. Alles, was sie einander letztlich zu sagen haben, ist:

«Ich liebe dich.»

Das aber will wiederholt werden.

Gottes Botschaft ist immer die gleiche. Aber die Sprachen, in denen das ewige Wort ausgedrückt wird, sind unendlich vielfältig.

Vielleicht hörst du die Botschaft in einem Apfelgarten, der in voller Blüte steht. Doch die gleiche Botschaft spricht sich auch in einem Waldbrand aus.

Der Unterschied kann erschreckend sein, aber das gleiche Wort immer wieder in neuen Sprachen zu hören, macht aus dem Leben ein herrliches Spiel, ein göttliches Wortspiel.

Das auf der Wiese spielende Pferd spricht Gottes Wort aus, die auf meinem Schoß schlafende Katze tut dasselbe, nur anders.

Alles und jedes ist einzigartig und unübertragbar.

Gedichte können nicht übersetzt werden; im besten Fall kann man sich ihnen in einer anderen Sprache annähern.

In einem Gedicht zählt die Sprache so sehr wie die Botschaft.

Gott ist Dichter. Wenn wir wissen wollen, was Gott in einer Tomate sagt, dann müssen wir uns eine Tomate anschauen, sie fühlen, riechen, in sie hineinbeißen, den Saft und die Samen über uns spritzen lassen, wenn sie platzt.

Wir müssen sie auskosten und dieses Tomatengedicht in unser Herz aufnehmen.

Was aber Gott zu sagen hat, kann in Tomatensprache nicht erschöpfend zum Ausdruck gebracht werden.

Also gibt uns Gott auch Zitronen und spricht auf zitronesisch.

«Vom Wort Gottes leben» bedeutet, ein Leben lang Gottes Sprachen eine nach der anderen zu erlernen.[3]

ROSE, du thronende, denen im Altertume
warst du ein Kelch mit einfachem Rand.
Uns aber bist du die volle zahllose Blume,
der unerschöpfliche Gegenstand.

In deinem Reichtum scheinst du wie Kleidung um Kleidung
um einen Leib aus nichts als Glanz;
aber dein einzelnes Blatt ist zugleich die Vermeidung
und die Verleugnung jedes Gewands.

Seit Jahrhunderten ruft uns dein Duft
seine süßesten Namen herüber;
plötzlich liegt er wie Ruhm in der Luft.

Dennoch, wir wissen ihn nicht zu nennen, raten ...
Und Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.

Rainer Maria Rilke[4]

Es heißt immer, dass in der Erinnerung besonders Düfte sehr heftig Erinnerungen auslösen: Wer kennt nicht viele, viele Kindheitserinnerungen, die mit Düften zu tun haben. Die Lade [Schublade] der Großmutter und die vielen Speisen zu besonderen Festzeiten. Das heißt doch, dass die Erinnerung zusammenhängt mit dem Geruchssinn. Das ist weitgehend bekannt. Aber hier geht’s noch um etwas Anderes:

Seit Jahrhunderten ruft uns dein Duft
seine süßesten Namen herüber ‒

das ist auch interessant ‒

plötzlich liegt er wie Ruhm in der Luft.
Dennoch, wir wissen ihn nicht zu nennen, wir raten …

Das ist der Augenblick, wo es wirklich wortlos ist.

Es ist nur die Begegnung mit dem Geheimnis durch das verkörperte Geheimnis in der Rose oder in irgendeinem anderen Gegenstand:

wir wissen ihn nicht zu nennen, wir raten …

Und dann kommt der nächste Schritt:

Und Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.

Erinnerung ist dann eine rufbare Stunde, eine Erinnerung ist dann etwas, was wir benennen können und wir geben dem Duft dann einen Namen, aber eigentlich wissen wir nicht zu nennen, wir raten.

Und das ist oft sehr gut, diesen Augenblick einzuschieben: wenn man irgendetwas riecht: nicht es gleich benennen!

[Bruder David berichtet von einem Experiment in einer Gruppe von jungen Leuten, die über die Sinne und Sinneserfahrungen sprachen und über diesen Punkt]:

In mehreren, vielleicht so ein halbes Duzend oder mehr, kleinen Schüsseln ‒ das hat alles gleich ausgeschaut, war so eine Sauce oder so was, ‒ die haben aber ganz verschiedene Geschmäcker gehabt. Und dann konnte man mit einem Löffel von einer zur anderen Schüssel gehen und kosten. Solange man dem nicht einen Namen gegeben hat, war es ein großes Erlebnis.

Und dann sagt man «pille!»[5] und aus ist es, abgestempelt.

Aber solange man nicht benennt, hat es einen ungeheuren Effekt. Und so ist es auch nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Geruch. Und das sollte man immer wieder mal ausprobieren: nicht benennen: — erleben! — und dann ist es gut:

Erinnerung geht zu ihm über,
die wir von rufbaren Stunden erbaten.»
[6]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Ein riesiges Feld meiner Sinneserfahrungen liegt fast völlig brach: die Welt der Gerüche. Die meisten lege ich fast unbeachtet in einer der beiden Karteimappen ab ‒ riecht gut; riecht schlecht.

Was ich schlecht nenne, war für mich als Kind spannend.

Meine kindliche Freude am Riechen möchte ich wiederfinden, um dem Fest, das Du unseren Sinnen bereitest, gerecht zu werden. Erst dann kann ich hoffen, auch im übertragenen Sinn ‹eine gute Nase zu haben› ‒ feines Gespür, Vorahnung, Urteilsvermögen.

Heute will ich wenigstens drei Gerüche bewusst feiern. Amen.»[7]

Woher kommt es eigentlich, dass unser Geruchsinn uns leicht zum Lachen reizt? Vielleicht hat es damit zu tun, dass im Bereich des Riechens Kindheitserinnerungen überall die Etikette der Erwachsenen durchbrechen. Gerüche zu erwähnen, gehört ja nicht zum guten Ton. Ich denke, dieses Lachen ist ein befreiendes Lachen. Das Kind in uns wird einen Augenblick lang frei und lacht; lacht uns vielleicht sogar aus.

Wir verdienen ja schon deshalb, ausgelacht zu werden, weil unsere Nasen so abgestumpft sind, unsere Sprache so verarmt. Umgeben von Salbei und Kamille und Kinderwindeln und Salzwind vom Meer; vom Fischmarkt am Mittag, von Nelken und neuem Sattelleder; vom Geruch alter Bücher und frischgebackenen Brotes; von Blumenläden und Auspuffgasen; von Wachs und Honig in der Imkerhütte, Leintüchern, die an der Sonne trocknen, Heringen im Fass, Heuschobern und Holzrauch in der Schneeluft; vertraut mit Kuhstall und zahnärztlichem Wartezimmer, mit Schweiß- und Sonnenölgeruch im Schwimmbad und mit dem Geruch der Kulissen, wenn der Vorhang aufgeht im Theater; umgeben von so unerschöpflichem Reichtum der Gerüche, haben die meisten von uns nur zwei Antworten gelernt: «Ah, das riecht gut!» oder «Pfui, das stinkt!»

Wir können uns gegen Sehen, Schmecken und Hören wehren, indem wir Augen und Mund schließen und uns die Ohren zuhalten. Aber wie lange können wir uns die Nase zuhalten? Sehr bald müssen wir ja doch nach Luft schnappen. Das wird zum Bild dafür, dass niemand sich der allesdurchdringenden göttlichen Gegenwart für immer verschließen kann.

So haben Mystiker es immer wieder verstanden, wenn die Braut im Hohelied dem Bräutigam zuruft:

Es riechen deine Salben köstlich;
dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe,
darum lieben dich die Jungfrauen.
[8]

Und der Bräutigam preist die Braut mit ähnlichen Worten:

Wie schön ist deine Liebe,
meine Schwester, liebe Braut!
Deine Liebe ist lieblicher denn Wein,
und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Würz
e.

Deine Lippen, meine Braut, sind wie triefender Honigseim;
Honig und Milch ist unter deiner Zunge,

und deiner Kleider Geruch ist wie der Geruch des Libanon.[9]

Begegnung mit Schönheit verwandelt. Und auch hier ist es bräutliche Begegnung.

Am berühmtesten ist wohl der mystische Vergleich der Braut mit einem Garten. Wenn auch die mittelalterliche Malerei nicht müde wurde, verschlossenen Garten und versiegelten Born bildlich darzustellen, in der Dichtung des Hoheliedes liegt die Betonung auf den Düften.

Meine Schwester, liebe Braut,
du bist ein verschlossener Garten,
eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.

Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln
mit edlen Früchten,

Zyperblumen mit Narden,

Narde und Safran, Kalmus und Zimt,
mit allerlei Bäumen des Weihrauchs,
Myrrhen und Aloe

mit allen besten Würzen.

Ein Gartenbrunnen bist du,
ein Born lebendiger Wasser,
die vom Libanon fließen.

Stehe auf, Nordwind, und komm Südwind
und wehe durch meinen Garten,

dass seine Würzen triefen! [10]

Der Vergleich mit durchdringendem Duft wird im Neuen Testament bewusst wieder aufgenommen, wenn es in der Johannespassion heißt:

«Das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe»,

mit der Maria von Bethanien den Leib Jesu im Voraus für sein Begräbnis vorbereitet (Joh. 12,3).

Eine Vielzahl dichterischer und mystischer Themen klingen hier an, besonders aber das Motiv der göttlichen Weisheit,[11] die von sich sagt:

Wohlgeruch wie von Zimt und Akazien
hauche ich aus,

den Duft von feinster Myrrhe,
von Balsam, Stakte und Galban,

wie Weihrauch im Heiligtume.[12]

Für Paulus, wie für Johannes, ist Jesus Christus Gottes Weisheit in Menschengestalt und hat «sich selbst dargegeben für uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch.»[13]

«Wir selber aber», sagt Paulus, «sind Gott ein guter Geruch Christi». Denn Gott «offenbart den Geruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten. Darum sind wir denen, die Christi Frohbotschaft nicht ausstehen können, ein tödlicher Gestank; denen aber, die sich daran freuen, ein lebenspendender Wohlgeruch.»[14]

Wer sich so sinnlich ausdrückt, hat offenbar nicht in Entfremdung von seinen Sinnen so tiefen Sinn gefunden.

Auch hier geht der Weg von argloser Sinnenfreudigkeit, für die jeder Geruch Geschenk ist, über die ehrfürchtige Begegnung mit dem Geber, den die Gabe versinnbildet, zur bräutlichen Vereinigung, wenn der Salbtiegel in Scherben liegt und der Duft das ganze Haus erfüllt, die ganze Welt, «wo immer die Frohbotschaft gepredigt wird».

Es ist unmöglich, Sinnliches und Übersinnliches
säuberlich auseinanderzuhalten.

Wir finden das eine im anderen. Das Hohelied ist zugleich erotische Dichtung und mystisches Bekenntnis, Zeugnis vergeistigter Sinnlichkeit und sinnlicher Geistigkeit. Nur glühend dankbare Lebensfreude kann diese Verschmelzung zustande bringen.[15]

«Duft ‒ unfassbarste aller Formen von Gegenwart, einer Gegenwart, die uns doch unausweichlich angeht.

Im Rauch herbstlicher Feuer weht er von Feldern herüber und stimmt mich schwermütig.

Unter der Jasminlaube berauscht er mich.

An blühenden Ligusterhecken und unter dem Lindenbaum am Juniabend weckt er Heimweh in mir.

Bitter steigt er von den Chrysanthemen auf und mir wird bang.

Mit Kinderfreude aber erfüllt er mich noch heute, wenn Leintücher an der Sonne bleichen oder beim Bleistiftspitzen.

Und immer noch lässt mich der Duft des Lavendelkissens sorglos einschlafen.

So flüchtig ist auch Deine Gegenwart in all ihren Formen, Du großes Geheimnis, und unnachgiebiger, als duftschwere Lüfte es sind in ihrem Anspruch an mich. Mach mein Herz bereit. Amen.»[16]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 6f., 15f.]

[Ergänzend:

1. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993); siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 5 ‹Gott durch die Sinne finden›, 82-90:

«Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?»

«Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!»

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(43:44) ‹Der Duft› (Rilke, aus dem Nachlass) – ‹Rose, du thronende› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, VI) /
(51:09) Erinnerung und Ritual – ‹Köstlich ist der Duft deiner Salben. Dein Name: hingegossenes Salböl› (Hohelied 1,3):

Wer bist du, Unbegreiflicher: du Geist,
wie weißt du mich von wo und wann zu finden,
der du das Innere (wie ein Erblinden)
so innig machst, dass es sich schließt und kreist.
Der Liebende, der eine an sich reißt,
hat sie nicht nah; nur du allein bist Nähe.
Wen hast du nicht durchtränkt als ob du jähe
die Farbe seiner Augen seist.

Ach, wer Musik in einem Spiegel sähe,
der sähe dich und wüßte, wie du heißst.

Rilke, ‹Der Duft›

2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25:57) Riechen ‒ Duft im Hohelied. ‒ ‹Wir sind ein Wohlgeruch› (2 Kor 2,15)

2.3. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Riechen, Ahnen, Mörikes Frühlingsgedicht: ‹Er ist‘s›:

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
‒ Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab’ ich vernommen!]

________________________

[1] Ein Geruch kann sehr tröstlich sein, Beitrag von Bruder David im Buch Salbei und Brot: Gerüche aus der Kindheit (1992), 86-88

[2] Ludwig Uhland: ‹Frühlingsglaube› in Osterbotschaft 2021

[3] Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)

[4] R. M. Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, VI

[5] engl. für ‹bitter›

[6] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 45-48

[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 88

[8] Hohelied 1,3 (Lutherbibel 1912); Zürcher Bibel: ‹Ausgegossenes Salböl ist dein Name›

[9] Hohelied 4,10f. (Lutherbibel 1912);

[10] Hohelied 4,12-16 (Lutherbibel 1912)

[11] Siehe auch Weihnachtsgrüße 2017

[12] Jesus Sirach 24,15

[13] Eph 5,2

[14] 2 Kor 2,14-16

[15] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 64f., 67-70

[16] Erwachende Worte (2023), ‹32 Duft›, 81



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

erloesung originalCopyright © - Barbara Krähmer

Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen.

Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen:

«Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin»?

Oder: «Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Person, die ich liebe, und doch bin ich mir selbst entfremdet»?

Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins.

Dann haben wir die Entfremdung überwunden.

Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte.

Der zeitgenössische Begriff für Heil ist Zugehörigkeit.

Der Weg von der Entfremdung zur Zugehörigkeit ist der Erlösungsweg von der Sünde zum Heil.

Zugehörigkeit ist andererseits genau das, wonach sich unser ganzes Wesen sehnt.

Ein älteres Wort nannte dies «Erlösung».

«Erlösung» stand einmal für jene Verwirklichung allumfassender Ganzheit, die das Wort Zugehörigkeit für uns hier bedeutet.

Im Innersten unseres Herzens wissen wir, dass Ganzheit grundsätzlicher, ursprünglicher ist als Entfremdung, und so verlieren wir niemals ganz ein eingeborenes Vertrauen darauf, dass wir am Ende ganz und beieinander ‒ eins sein werden.

Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.

Er findet Gott

«die Stelle welche heilt»,[1]

während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.

Entfremdung und Zugehörigkeit sind die zwei Pole unserer allergrundsätzlichsten Wahl, Synonyme für Sünde und Erlösung.

Das Wort «Sünde» wird heute so leicht missverstanden, dass es schon fast unbrauchbar wird.

Die Wirklichkeit jedoch, die einst Sünde genannt wurde, gibt es noch immer, und so musste unsere Zeit ihren eigenen Terminus dafür finden.

Was in anderen Zeiten Sünde genannt wurde, nennen wir Entfremdung. Die Lebendige Sprache hat ein passendes Wort gefunden.

Entfremdung suggeriert eine Entwurzelung vom eigenen wahren Selbst, von anderen, von Gott (oder was sonst von fundamentaler Bedeutung ist), und all das mit einem einzigen Wort.

Auch das Wort «Sünde» suggeriert Entwurzelung und Absonderung.

Es hat den gleichen Wortstamm wie das mittelhochdeutsche «sunder» und das gotische «sundro», die beide «abseits, gesondert, für sich» bedeuten; ein Wortstamm, der heute noch im Wort «Sund», die Meerenge, gefunden wird, die einmal als «das, was Land und Inseln trennt» aufgefasst wurde.

Eine Handlung ist in dem Maße sündig, in dem sie Absonderung, Entfremdung verursacht.

Was aber nicht Entfremdung verursacht, ist keine Sünde.

Daraus die Konsequenzen zu ziehen, könnte sich für viele als befreiend, für andere als beschuldigend erweisen.

Es könnte eine signifikante Gewichtsverlagerung in der Ethik von privater Perfektion zu sozialer Verantwortung bedeuten.

Es könnte uns sehen helfen, dass heute «an unserer Erlösung arbeiten» bedeutet, Entfremdung in all ihren Formen zu überwinden.[2]

«Vergib uns unsere Schuld, bete ich und bemerke, dass ich oft ‹Schuld› sage, aber eigentlich ‹Sünde› meine ‒ also einen Verstoß gegen dein Gebot, gegen deinen ‹Willen›.

Dass ich tief im Herzen weiß, was du eigentlich ‹willst›, das beweist mir mein Schamgefühl beim Anblick der Ungerechtigkeit dieser Welt, wo Kinder hungern und Millionen ein menschenwürdiges Leben verwehrt wird. Doch du willst ‹Leben in Fülle›.

Meine Scham lässt mich fühlen, dass mein Versagen die zarte Vernetzung zerreißt, durch die alles mit allem verbunden ist ‒ verbunden auch mit dir.

Das Wort ‹Sünde› kommt ursprünglich von ‹absondern›.

Sünde meint einen Riss im Gewebe des Ganzen. Sie trennt, was zusammengehört, und das ist buchstäblich herzzerreißend.

Denn das Herz ist ‒ wie Rilke das so wunderbar ausdrückt ‒

‹das ins Ganze Geborne›.[3]

Wenn wir aus unserm Herzen leben, dann gehören wir dem Ganzen, dann werden wir ganz, dann werden wir auch das, was uns am Ganzen so schwierig erscheint, in uns aufnehmen, dann werden wir mit dem Ganzen auskommen.

Das Herz ist jener Bereich, wo wir am tiefsten und innigsten mit allem und allen und mit dem Göttlichen verbunden sind.

Darum findet sich das Herz nicht ab mit der Trennung und es mahnt uns, die Trennung zu überwinden.

Aber auch dort, wo unser Herz uns anklagt, dürfen wir dir vertrauen, denn du bist ‹größer als unser Herz und kennst uns durch und durch› (1 Joh 3,20).

Auf dein grenzenloses Verzeihen lass mich vertrauen und es freigebig weiterschenken. Amen.»[4]

Oft wird gesunder Menschenverstand gebraucht, um herkömmliche Annahmen zu bezeichnen, das genaue Gegenteil von voller Lebendigkeit.

Aber der gesunde Menschenverstand, von dem wir jetzt sprechen, ist so dynamisch, so lebendig, so weit, dass es allem, was wir tun und sind, eine neue Farbe, eine neue Note gibt.

Es ist ein sinnliches Wissen und es entspringt dem, was wir mit der ganzen Schöpfung gemein haben.

Unseren Erfahrungen wohnt die Erkenntnis inne, dass wir nicht getrennte Leiber sind, sondern dass in diesem Universum alles zusammenhängt, alles ist Teil von allem.

Aus diesem Bewusstsein entspringt das einzige Wissen, das Sinn macht.

Dieses Wissen geht so tief, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen hat.

Es ist dem ganzen Universum gemeinsam. Wir müssen uns nur anschließen.

Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun.

Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden.

So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.

Er ist eine vibrierende Lebendigkeit zur Welt, in der Welt und für die Welt.

Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit.

Gesunder Menschenverstand ‒ gerade, weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben ‒, zieht keine Grenzen.

Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschließt.

Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört.

Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten:

Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschließen.

Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein.

Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden.

Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden-Familie sind.

Diese globale, alles einschließende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem «Reich Gottes» meinte.

Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt.

Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff Autorität.[5]

Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.

Laotse bezeichnete sie als Dao[6] und Heraklit nannte sie Logos.

In dem Satz «Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort» (Markus 4,33) verwendet Markus für «Wort» diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.

Wäre der Begriff «Heiliger Geist» nicht die altehrwürdige Bezeichnung einer für uns ganz wesentlichen Erfahrungswirklichkeit, wir würden ihr heute sicher einen anderen, für uns aussagekräftigeren Namen geben.[7]

«Geist» intendiert schnell die Bedeutung Gespenst und das Wort «heilig» hat heute zu viele Anklänge an «scheinheilig»; es lässt kaum noch an «Heil-» und «Ganzsein» denken, es weckt auch nicht mehr das Empfinden des Überwältigenden und Atemberaubenden einer numinosen Wirklichkeit.

Wollten wir heute einen neuen Begriff für jene unendlich schöpferische Lebenskraft und Harmonie finden, die alles mit allem verknüpft und die Quelle des Lebens schlechthin ist, so würde sich die Bezeichnung Common Sense dafür sehr gut eignen.

Auf jeden Fall wäre es eine inspirierende Übung, überall dort, wo man den Begriff «Heiliger Geist» liest oder hört, stattdessen einmal Common Sense einzusetzen. Dann wäre die Tragweite des Gemeinten wieder deutlicher spürbar.

Jesus hielt sich an seine jüdische Überlieferung und sprach von seiner Vision einer neuen, harmonischen Weltordnung als dem «Reich Gottes».

«Reiche» kommen heutzutage fast nur noch in Märchen vor.

Die Vorstellung von Gott als einem im Himmel thronenden «König aller Königreiche» spricht uns nicht mehr an.

Für unser Weltverständnis ist die Autoritätspyramide mit einem König oder Gott an der Spitze ein nicht mehr nachvollziehbares Modell; dem neu aufdämmernden Weltverständnis entspricht eher der Begriff, den der amerikanische Dichter Cary Snyder prägte: Earth Household ‒ «Erd-Haushalt».[8]

In diesem Erd- oder Welt-Haushalt ist Autorität nicht etwas, was von außen und oben einwirkt, sondern sich von innen her meldet:

Der Common Sense gewährleistet, dass alle mit allen harmonisch zusammenarbeiten. Das «Reich Gottes», in das Jesus uns ruft, ist der «Gottes-Haushalt».

Tatsächlich spricht er ja von Gott nicht als unserem König, sondern von Gott als unserem Vater; und der mütterliche Geist (im Hebräischen ist «Geist» weiblichen Geschlechts) ist der alles durchwaltende, kosmische Familiensinn, der Common Sense.

lm Gottes-Haushalt muss die Liebe zur Macht der Macht der Liebe weichen.

«Je kleiner die Eidechse, desto größer ihr Ehrgeiz, ein Krokodil zu werden», sagt ein äthiopisches Sprichwort.

Ob das für Eidechsen stimmt, weiß ich nicht sicher, aber auf uns Menschen trifft das Streben nach mehr jedenfalls zu.

Je mehr Macht einer hat, desto höher steht er in der Autoritätspyramide der ehrgeizigen Welt.

Aber im Himmelreich, im Gottes-Haushalt, gelten die Autoritätsstrukturen eines Haushalts.

Hier bekommt Autorität, wer dient:

«Der Größte unter euch soll der Geringste sein und der Höchste der Diener aller» (Lukas 22,26).

Wer im Gottes-Haushalt Autorität besitzt, muss seine Macht dazu nutzen, alle ihm Untergebenen zu fördern, damit sie eigenständig werden.[9]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 4f., 9]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Spiritualiltät und
Ökologie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott / (07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes / (39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)

1.2. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(37:38) Was ist unsere Aufgabe in einer Welt, in der sich die Machtpyramide durchsetzt? Da gibt es nur Widerstand in einer Welt, in dem die Mächtigen ein Klima der Angst schaffen: ‹Fürchtet euch nicht›: Jesus lebt diese völlige Furchtlosigkeit, weil er in Gott eingebettet ist. Und wir sind furchtlos in dem Maß, in dem wir in Gott eingebettet sind. Sünde meint Absonderung, was uns trennt von Gott, von unserer eigenen Tiefe und den Andern, und äußert sich am meisten in Furcht

1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Fragerunde nach dem Vortrag:
Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 3: «Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht» (Angelus Silesius):
(11:51) In der Schule der Wüstenväter und Wüstenmütter: Drei Hauptsünden: 1. Ungeduld, Zorn ‒ 2. Lust im Sinn von ‹sich anklammern› ‒ 3. Faulheit, Acedia, Traurigkeit

1.4. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag;
siehe auch die Mitschrift des Vortrags:
(12:17) ‹Das Herz, das ins Ganze geborne› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
Diskussion:
(00:00) Das Herz ausschütten – heil, heilen, heilig ist nicht dasselbe wie Gesundheit, sondern ein Ganzmachen
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(00:28) ‹Immer wieder von uns aufgerissen, ist der Gott die Stelle, welche heilt› (Rilke, Die Sonette an Orpheus, 2. Teil, XVI)

1.5. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
Wir sind erlöst! – der andere Blick auf Gewohntes

1.6. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
4.1 Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche (siehe auch Text Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche):
(50:31) Ursprüngliches Heilsein und Erbsünde
4.2 Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Heilsein, Dukkha, Sündenfall, der Klammergriff der Angst

1.7. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(14:56) Die Entscheidung für das Leben oder für Tod im Mythos vom Sündenfall. Der Baum des Lebens im Paradies und das Kreuz an dem sich die Geister scheiden: ‹Wenn wir uns fürs Leben entscheiden, werden wir von der Welt, die tot ist, aber sehr mächtig, getötet werden früher oder später›
(18:35) ‹Da ging ein Riss durch deine reifen Kreise› (Rilke, Ich lese es heraus aus deinem Wort, Das Stunden-Buch)
(20:12) Der neue Adam hat das Gottgleichsein nicht wie der alte an sich gerissen: Bruder David liest und deutet Phil 2,6-11

2. Das Vaterunser (2022): ‹Schuld als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 80f.:

Brigitte Kwizda-Gredler: «In unseren Gesprächen haben wir immer wieder das Bild des Tanzens zur großen kosmischen Musik verwendet. Da wird dann die Verfehlung zum Nicht-auf-die-Musik-Hören und deshalb zum Schritt, der nicht dem Takt folgt.»

Bruder David: «Diese drei Bilder von Sünde als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen weisen auch recht deutlich darauf hin, wie wir die Verfehlung gutmachen können: durch das sorgfältige Wiederverweben von Beziehungen; durch Wiederherstellung eines ausgewogenen Austausches; durch achtsames Hinhorchen auf die Musik des Lebens.»

Brigitte Kwizda-Gredler: «Und wo passt da die christliche Lehre von der ‹Erbsünde› herein?

Bruder David: «Das Wort ‹Erbsünde› ist entschieden obsolet, schon deshalb, weil es einfach irreführend ist. Die schmerzliche Erfahrung aber, die zur Vorstellung der Erbsünde geführt hat, ist keineswegs auf das Christentum beschränkt. Buddhisten verwenden dafür das Wort ‹dukkha›, hinter dem ursprünglich das Bild von einem Rad steht, das nicht richtig auf der Achse sitzt.

Für Buddhisten bedeutet es, dass das menschliche Dasein seit undenklichen Zeiten gründlich aus der Bahn geworfen ist. Und in diese Situation werden wir hineingeboren. Wir ererben sie, sozusagen. Heute würden wir eher sagen: Wir nehmen am systemischen Übel der Welt teil, ob wir es verschulden oder nicht! Als Einzelne sind wir dem System nicht gewachsen. Darum ist die Antwort der christlichen Tradition: Du musst aussteigen aus dem tödlichen System und einsteigen in das lebensspendende Reich Gottes.»]

_____________________

[1] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI; siehe den Text in Stille leben: Anmerkung 1

[2] Der Text ist eine Komposition von Passagen in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 33f. mit 184f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 31f. und 185f.]

[3] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II; siehe die Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.

[4] Das Vaterunser (2022): ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern›, 75f.

[5] Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 4

[6] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:

«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»

[7] Auf dem Weg der Stille (2016), 72f.; siehe auch Hausverstand, Ergänzend: 2.:

«Der Begriff ‹spirit› (‹Geist›) ist schon derart missbraucht worden, dass ich überglücklich wäre, wenn man ihn vollständig fallen lassen und stattdessen immer von ‹common sense› sprechen würde. In unserer heutigen Umgangssprache bezeichnet dieser Ausdruck das Gemeinte viel besser. Er ergibt Sinn; er ist über die Sinne mit dem Körper verbunden; er ist gemeinschaftlich (common), grenzenlos gemeinschaftlich.»

[8] ERDHAUSHALT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134f.:

«Erdhaushalt ist ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (*1930) geprägt hat. Dieses Wort veranschaulicht, dass unsre Umwelt zugleich Mitwelt ist, der wir uns verwandt fühlen dürfen und von der wir ernährt werden. Statt Umwelt Erdhaushalt zu denken und zu sagen, verändert ganz von selbst unsre Haltung, was zugleich zeigt, welche Wirkkraft Worte besitzen.»

[9] Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 55, 59-61



Quellenangaben

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Wenn wir uns eingehender damit befassen wollen, was Erlösung im christlichen Sinn bedeutet, müssen wir bei der Aussage beginnen, dass Jesus die Menschen rettete, lange bevor das Kreuz in Sicht war.

Er rettete die Menschen, indem er sie dazu brachte, auf eigenen Füßen zu stehen.

In diesem Sinn verstanden seine Zeitgenossen ihn als Retter.

Er gab ihnen ihre Selbstachtung und ihre tiefste Beziehung zurück ‒ die Beziehung zu Gott, zum Allerhöchsten ‒, indem er sie daran erinnerte, dass sie nie verloren gegangen war.

Jesus sagte nicht: «Hier hast du etwas, ich gebe es dir» oder: «Ich vergebe dir deine Sünden.»

Jesus sagte: «Deine Sünden sind vergeben», mit der implizit darin enthaltenen Frage: «Weißt du das denn nicht?»

Es waren seine Gegner, die sagten: «Wer ist dieser Kerl, der den Leuten die Sünden vergibt? Nur Gott kann Sünden vergeben.»

Natürlich sahen die politischen und autoritären religiösen Obrigkeiten seiner Zeit nicht gerne, dass er Menschen auf diese Weise rettete, genauso wenig, wie ihre heutigen Entsprechungen in Mittelamerika keinen gerne sehen, der den Menschen dort hilft, auf eigenen Füßen zu stehen.

Auch wenn man die Evangelien als spätere Berichte über Geschehnisse, die sich eine geraume Zeit davor zugetragen hatten, betrachten muss, so geht doch ziemlich deutlich daraus hervor, dass seine rettende Aktivität zum Kreuz führte und dass Jesus das Kreuz willentlich als ein freies, bereitwilliges Opfer für seine Sache, für das, wofür er einstand, und auch als Geste des Gottvertrauens auf sich nahm.

Nachdem er von der etablierten Gesellschaft aus dem Weg geräumt worden war, erkannten seine Nachfolger ‒ auch wenn sie zuerst tief bestürzt waren und in alle Winde zerstreut wurden ‒, dass ein solches Leben nicht mehr auszulöschen war.

Und das nennen wir die Auferstehung.

Sie wird uns in mythischen Bildern überliefert, und wir können den Geschehnissen nicht nachgehen, um festzustellen, was historisch wirklich geschah; um das geht es uns auch nicht.

Wichtig ist offensichtlich, dass er starb und dennoch lebt.

Wir können das nicht dadurch belegen, dass wir zweitausend Jahre zurückgehen, sondern es ist vielmehr etwas, das heute in zahllosen Lebensgeschichten geschieht und erfahrbar ist:

Er hat uns befreit.

Christus lebt in denen, die seinem Weg folgen, und sie leben in ihm.

Das ist die höchste Art der Rettung. Sie leben durch sein Leben und werden ihrerseits Retter für andere.

Heutzutage ist mir noch keiner begegnet, dem es Schwierigkeiten gemacht hätte, das zu verstehen, aber viele haben enorme Probleme mit der Auffassung, dass «er für unsere Sünden gestorben ist», wie man im Kindergottesdienst lehrt.

Jesus lebte und starb, um der Entfremdung von unserem wahren Selbst ein Ende zu setzen, der Entfremdung von anderen und von der allerhöchsten Wahrheit. Er hat für dieses Ziel gelebt und musste sterben, weil er entsprechend lebte. In diesem Sinn ist er «für unsere Sünden» gestorben».

Unglücklicherweise ist das über die Jahrhunderte hinweg in einer beinahe juristischen Sprache übermittelt worden; als wäre es eine Art Transaktion oder ein Handel mit Gott:

Es gab einen Graben zwischen uns und Gott, und jemand musste dafür aufkommen.

Diese ganzen Geschichten können wir vergessen.

Das juristische Bild scheint anderen Generationen geholfen zu haben. Schön und gut. Alles, was hilft, ist in Ordnung. Aber wenn es zum Hindernis wird wie heute, sollten wir es vergessen. Wir brauchen diese Sprache nicht zu sprechen. Wir können die Dinge ruhig so beschreiben, wie ich es eben getan habe.

[Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast, Teil 1: ‹Der Erlöser und der Weise›, 75-77; siehe auch ST 37-39 unter dem Titel ‹Erlösung›]

[Ergänzung:

Audios

1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»:
(00:00) Warum musste Jesus Christus am Kreuz sterben? Und: Wie hat das uns erlöst? Die Antwort von Anselm von Canterbury (1033-1109)[1] / (04:20) ‹Weil Gott der Vater es so wollte› ‒ diese Antwort ist ungenügend, weil die Frage zunächst eine geschichtliche Frage ist, die man geschichtlich beantworten muss. / (05:43) Die Antwort von Bruder David: Das Leben Jesu steht für die entscheidende Wende in der Religionsgeschichte: Jesus verlegt die göttliche Autorität in die Herzen seiner Zuhörer[2]
/ (09:38) Die Pointe der Gleichnisse Jesu: ‹Ihr wisst es doch: Warum handelt ihr nicht danach›? / (11:19) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Schriftgelehrten› ‒ ‹Deine Sünden sind dir vergeben›: Jesus ermächtigt die Menschen ‒ Konflikt mit den autoritären Autoritäten / (13:14) Zuviel Verantwortung: Die Massen lassen ihn fallen / (15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung / (17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen

2. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition

3. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
‹Wir sind erlöst!› – der andere Blick auf Gewohnte: ‹Das Kreuz auf sich nehmen›, ‹Bekehrung›, ‹Busse›

4. Audio Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Transkription
Teil II, 13f.:
(19:44) Erlösung in biblischer Schau:

«Das ist das Urwesen des Christlichen, dass Gott uns nicht so von außen erlöst, sonst müsste man ja diese ganze christliche Geschichte gar nicht haben, sondern, dass die Erlösung von innen kommt, durch einen, der uns gleich ist in allem. Das ist ausdrücklich gesagt von Christus:

Jesus Christus ist uns in allem gleich außer in dieser Entfremdung, in der Sünde ‒ richtig verstanden ‒ in der Vereinzelung, in der Verelendung, in der inneren Abspaltung von unserem göttlichen Kern, von unserem innersten göttlichen Wesen.»]

______________________

[1] Bruder David erklärt die Satisfaktionslehre, die Anselm von Canterbury in seinem Buch «Cur Deus homo» vertritt: «Wie Anselm von Canterbury für seine Zeit gesprochen hat, müssen wir heute das für unsere Zeit sagen können.»

[2] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):

«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»



Quellenangaben

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Noch bevor die Christen als solche bezeichnet wurden, waren sie als die «Weggemeinschaft» oder «die Leute, die auf dem Weg sind» bekannt.

Damit war der Weg der Erlösung gemeint.

Sie nannten ja auch Jesus nicht nur den «Erlöser», sondern auch den «Weg» ‒ den Weg in die Freiheit, könnten wir sagen. Das Ziel dabei ist die Freiheit.

Dieses Wort drückt besser aus, was mit Erlösung eigentlich gemeint ist, nämlich Befreiung.

Schon sich auf den Weg machen, wirkt bereits befreiend.

Stetig voranzuschreiten führt uns aber zu immer größerer Freiheit.

Verbundenheit befreit.

Und gläubiges Vertrauen verbindet uns mit dem Großen Geheimnis.

Hoffnungsvolle Bereitschaft, Schritt für Schritt authentischer zu werden, verbindet uns mit unserem wahren Selbst.

Und unser liebendes Ja zur Zugehörigkeit verbindet uns mit allen Lebewesen.

Diese drei Bande der Verbundenheit aber zerreißt die Sünde.

Erlösung aber erleben wir ‒ als Gabe und Aufgabe zugleich ‒ in drei Formen der Verbundenheit.

Der Glaube befreit unser Herz durch Vertrauen auf die absolute Vertrauenswürdigkeit Gottes.

Die Hoffnung erlöst uns durch die Offenheit für Überraschung auf jedem Schritt des Weges.

Und die Liebe heilt uns durch die Herzenswärme, mit der wir das Ja Gottes empfangen und tatkräftig weiterschenken.

Letztlich geht es um das «Wirklichwerden», dieses Wort fasst eigentlich das Wesen von Erlösung am besten zusammen.[1]

Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.

Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.

Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.

Deshalb sagte Rilke: «Jeder Engel ist schrecklich.»

Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel?

Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.

«Denn das Schöne», sagt Rilke, «ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.»[2]

Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben.

Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.

T. S. Eliot bemerkt: «Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.»[3]

Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben?

Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch «Der Plüschhase»:[4]

Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:

«Tut Wirklichwerden weh?»

Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh?

Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:

«Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.»[5]

Unsere Erlösung beginnt mit der Besinnung und Rückbindung auf das Große Geheimnis, das uns alle verbindet. Aus dieser Verbundenheit heraus erwächst die Kraft des Guten zur Heilung unserer Umwelt sowie auch unserer Mitwelt.

Im privaten Leben heißt das:

Ich muss Verschuldung durch Vergebung gleichsam «auffüllen»,
Unversöhnlichkeit durch Verzeihung
Missmut durch Freudigkeit.

Auch Diskriminierung ist letztlich auf einen Mangel zurückzuführen, den Mangel an Einfühlungsvermögen.

Hier braucht es Aufklärung und Herzensbildung, aber die können wir wohl nur einer neuen Generation durch entsprechende Schulbildung vermitteln.

Erlösung vom Bösen fordert jedenfalls unseren ganzen Einsatz nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern ganz besonders auf der gesellschaftlichen.

Wenn wir mit der gleichen Herzenswärme die uns am nächsten ebenso wie die uns am fernsten Stehenden umarmen, dann schenkt uns das eine ungeahnte innere Weite und Freiheit.

In diesem Sinne können wir alle Vermittler der heilenden Kraft des Großen Geheimnisses sein, einer Kraft, die durch den ganzen Kosmos fließt. Und in diesem Sinne sind wir alle Priesterinnen und Priester.

Je mehr ich diese heilende, erlösende Kraft durch mich selbst hindurchfließen lasse, umso mehr macht mich das auch selbst mehr und mehr heil.

Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn wir diese erlösende Kraft fließen lassen und weitergeben, werden wir also ganz durchlässig für das Große Geheimnis.»

Bruder David: «Dazu fällt mir ein berührendes Beispiel ein. Zur Zeit, als die Schifffahrt noch die einzige Reisemöglichkeit zwischen Amerika und Europa war, stand meine Mutter im Hafen von New York an Deck der «Bremen». Unten am Pier bemerkte sie den tränenreichen Abschied einer großen italienischen Familie, die eine schwerbehinderte junge Frau im Rollstuhl einer Gruppe von Mitreisenden anvertraute. Im Laufe der Überfahrt nahm sich meine Mutter der jungen Frau an, die ihre winzige und überhitzte Kabine am untersten Deck nur mit großer Mühe verlassen konnte. Dabei erfuhr sie, dass sich die Familie nur ein einziges Ticket leisten konnte, und darum musste die Tochter alleine nach Lourdes reisen. In Frankreich angekommen, schiffte sich die Pilgergruppe, der Teresa anvertraut war, mit ihr in Le Havre aus. Meine Mutter blieb noch bis Hamburg an Bord, konnte aber lange nicht vergessen, mit welcher felsenfesten Hoffnung die Kranke um Heilung am Gnadenort gebetet hatte. Nach vielen Monaten kam ein Brief von Teresa: Sie hatte Lourdes nie erreicht. Kein Wort darüber, unter welchen Umständen sie alleine in einem Pariser Hotelzimmer zurückgelassen wurde. Doch schon das armselige Briefpapier schien zu strahlen: Aus dem Brief sprach nichts als überströmende Dankbarkeit für all die Hilfe und Segnungen, die Teresa von unzähligen hilfsbereiten Menschen erfahren hatte. Nichts als Freude, nun wieder mit ihrer Familie in den USA vereint zu sein. Der Brief sprach überhaupt nicht von Vergebung oder Heilung, aber er gab Zeugnis von Erlösung durch Liebe. Und bei Erlösung kommt es letztlich nur auf die Liebe an.[6]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!

Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.

Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:

Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.

Ich bleibe dem Leben etwas schuldig: mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.

Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.

Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒ an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.

Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[7]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5-7]

[Ergänzend:

1. Fließweg und Entscheidung

2. Audios

2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(00:49) Verlässlichkeit und Lebensvertrauen in Extremsituationen

2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen / (20:22) Das Glaubensleben ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung / (23:22) Um den Glauben beten heißt, um Lebensvertrauen zu beten: Erlebnisberichte / (27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)

2.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(11:25) ‹Blumenmuskel, der der Anemone Wiesenmorgen› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V) ‒ ‹Meine Seele ist ein Weib vor dir› (Rilke, Das Stunden-Buch) ‒ ‹Was lehrt, was nährt das Leben? Lebendigkeit, Was lehrt, was nährt das Lebendigsein? Das Leben: Dieser Kreis der Liebe: Liebe ist das Ja zum Leben, das Ja zur Zugehörigkeit, das Ja zur Gemeinsamkeit ‒ Die Bekehrung ist der Übergang von der Gewalttätigsein zum Mitspielen, zum Mit-dem-Strich-des Lebens gehen, zur Offenheit, zur Empfänglichkeit›

(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
(17:20) ‹O erst dann, wenn der Flug› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXIII): Das ‹reine Wohin› ist, was wir hier Leben genannt haben oder Hl. Geist. Wenn wir mit dem ‹reinen Wohin› gehen, dann gehen wir mit dem Strich, mit dem Fluss, mit dem Strom des Lebens. Und die Bekehrung ist der Übergang von dem gegen den Strich gehen, vom ‹unreinen Wohin› zu dem ‹reinen Wohin›

3. Weitere Texte

3.1. Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 4 «Mit Körper, Denken und Geist lebendig sein», 68f.; siehe auch in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht, Ergänzend: 3.3.:

«Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an die Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.

T. S. Eliot sagte: ‹Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit aushalten.›[8] Aber in verschiedenen Graden können wir die Wirklichkeit aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Wirklichkeit auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen, mit der ganzen Wirklichkeit, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen.»

3.2. Musik der Stille (2023): ‹Vesper: Das Lichteranzünden›, 122f.:

«Der Höhepunkt der Vesper[9] ist das Singen des Magnifikat, jenes Liedes im Lukas-Evangelium, das Maria zur Begrüßung ihrer Base Elisabeth singt:

‹Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.›

Dieses Lied, das Gott für unsere Rettung und letztendliche Versöhnung preist, wird jeden Tag das ganze Jahr hindurch zur Vesper gesungen. Der Abendgottesdienst sieht in der mütterlichen Gestalt Mariens die Mütterlichkeit Gottes, der uns bedingungslos liebt wie eine Mutter. Das Magnifikat zur Vesper entspricht der Hymne des Zacharias, die sich im selben Kapitel bei Lukas findet und in den Laudes gesungen wird. Dort verkündet Zacharias:

‹Gepriesen sei der Herr ... Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.›

Diese beiden großen Hymnen sind die Pfeiler des Morgens und des Abends, die den Tag stützen, und in beiden feiern wir unsere Erlösung.

Die Wurzel der Erlösung ist die Heilung des Grabens, der sich durch die Welt zieht, jener Spaltung, die wir als Entfremdung uns selbst und anderen gegenüber erleben und die uns von unserem Wesenskern fernhält; wir empfinden die Gesänge intuitiv als Gegenmittel.

Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln.

Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns.

Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.»]

 _____________________

[1] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizia-Gredler mit Bruder David, 105f.

[2] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Erste Elegie

[3] «Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.

Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.»

(T. S. Eliot, Four Quartets, Burnt Norton, I)

[4] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106:

«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Tedybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»

[5] Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 26f.; ebenso in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4.

[6] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 107-109

[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 23

[8] Bernardin Schellenberger übersetzt «reality» mit «Realität». Aber es geht um die numinose Wirklichkeit im Unterschied zu Realität im gängigen Sprachgebrauch des Wortes.

[9] Unter der ‹Vesper› (vom Lateinischen ‹vespera›: Abend) wird das kirchliche Abendlob verstanden. Die Vesper ist jenes Gebet, das nach Abschluss der Arbeit des Tages verrichtet wird.



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Beginnen wir mit einer Art von Erfahrung, die mehr Beachtung verdient, als man ihr gewöhnlich schenkt.

Es handelt sich dabei um oft dramatische Ereignisse, bei denen wir gar nicht Zeit haben, Entscheidungen zu treffen, und doch spontan genau das tun, was die Situation verlangt ‒ manchmal mit ganz außergewöhnlicher Kraft und Geschwindigkeit:

Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem heranrasenden Schnellzug von den Schienen.

Später weisen beide jede Anerkennung zurück:

«Es war schon geschehen,
bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken»,

sagen sie.

«Sie hatten nicht Zeit» nachzudenken.

Das ist der erste springende Punkt.

Wir dürfen den Satz auch umkehren und sagen:

«Die Zeit hatte sie nicht»

in ihrem Netz, denn sie waren ganz im Jetzt. Darum war die Entscheidung einfach da.

Und das ist der zweite springende Punkt: Wenn wir im Jetzt sind, ist die Entscheidung schon Tatsache ‒ auch in dem Sinn, dass die Scheidung von Ich und Selbst, die mich zum Ego macht, aufgehoben ist.

Sobald ich im Jetzt bin, kann die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließen.

Das ist wahre Freiheit.

Sobald ich im Jetzt bin, steht die angemessene Vorgehensweise klar vor mir und ich bin dafür bereit.

Was im entscheidenden Augenblick der Feuerwehrmann und die Mutter auf so außergewöhnliche Weise erlebten, das können wir alle, wenn auch weniger auffällig, im Alltag erleben, wann immer wir wirklich im Jetzt sind:

Ich und Selbst handeln dann als eine Einheit ‒ die Entscheidung entspringt wie von selbst den Gegebenheiten.

«Wie ist das gemeint?», wird sicherlich jemand fragen.

«Muss ich überhaupt noch entscheiden, wenn die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließt?»

Die Lebenskraft bewerkstelligt täglich tausende lebenswichtige Aufgaben für dich, die weit über deinen Verstand hinausreichen.

Sie reguliert deine Körpertemperatur, deinen Blutdruck, deinen Stoffwechsel und trifft unzählige andre dir unbewusste Entscheidungen.

Dich bei bewussten Entscheidungen in diese Wirkkraft einzublenden, kann Mühe kosten.

Wenn es sich um gewichtige Entscheidungen handelt, kann es sogar schwierige Erwägungen erfordern und langwierige Besprechungen mit andren, die von deiner Entscheidung betroffen werden.

Aber die eigentliche Entscheidung ist schon getroffen. Sie lautet:

«Ich will mich auf die Weisheit des Lebens verlassen.»

Daher geht es nun nur noch um ein fragendes Hinhorchen:

«Was will das Leben jetzt von mir?» ‒

Es geht um ein vertrauensvolles Sich-Verlassen auf die Weisheit des Lebens.

Und es geht darum, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren.

Wenn du deine Aufgabe so verstehst, kannst du die «Qual der Wahl» dem Leben überlassen und die Last der Entscheidung fällt von deinen Schultern.

«Sich auf die Weisheit des Lebens verlassen»
und «ins Jetzt zurückkehren» ist ein und dasselbe.

Denn was du verlässt, wenn du «dich verlässt», ist das Ego.

Es gibt freie und unfreie Handlungen.

Ich-Selbst bin immer frei; mein Ego nie.

Das Ego will mit Gewalt starr und eigensinnig seine Pläne durchsetzen, wird dabei aber von der Strömung des Lebens überrollt.

Das «lch-Selbst» schwimmt in dieser Strömung, sie vertrauensvoll, zielbewusst, geschickt und vor allem gewaltfrei nutzend.

Die einzig wahre Freiheit ist Gewaltfreiheit ‒ das lch-Selbst tut der Wirklichkeit keine Gewalt an.

Die einzig freie Entscheidung ist die Heimkehr des Ich zum Selbst ‒ seine Befreiung aus der Scheidung zwischen den beiden, die es zum Ego machte.

Furcht will sich an die Vergangenheit klammern, Wunschträume schweben in der Zukunft herum, aber nur im Jetzt können wir uns nüchtern den Forderungen des Lebens stellen.

Das Ego ist niemals im Jetzt; es ist immer in Vergangenheit oder Zukunft verfangen.

Aber indem ich mich im Jetzt sammle, komme ich heim zu mir selbst ‒ zum lch-Selbst.

Das Selbst ist eins und macht uns alle eins.

Als «lch-Selbst» handle ich aus dem Bewusstsein dieses Eins-Seins mit allen.

Aber dieses «radikale Ja zur Zugehörigkeit» ist unsre Definition für Liebe.

Kein Wunder also, dass das Wort «frei» ‒ wie auch «Freund» ‒ von einer indogermanischen Wurzel stammt, die «lieben» bedeutet.

Und kein Wunder, dass der heilige Augustinus sagen kann:

«Liebe und tue, was du willst.»

Freiheit ist nicht die Fähigkeit des Egos, das zu tun, was ihm in den Sinn kommt ‒ willkürlich.

Echte Freiheit stellt sich ‒ bereitwillig ‒ auf das innerste Leitprinzip des Lebens ein.

Sie sagt in Liebe «ja» zur Gemeinschaft aller mit allen und kann daher tun, was sie will.

Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das Tao.

«Watercourse Way» nennt Alan Watts das Tao auf Englisch.

Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden, obwohl es nur Fachwörterbücher zu kennen scheinen.

Um mit dem Tao zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum «Anfängergeist» des Kindes zurückfinden.

Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt.

«Du hast noch kein lch, das sich von dem,
was geschieht, unterscheidet»,

wie Alan Watts es ausdrückt.

«Deshalb geschieht dir auch nichts. Es geschieht einfach.»

Du nimmst teil, sagt er, an

«den wundervollen Tanzfiguren... fließenden Wassers.»

Später gewinnen wir ein reflektiertes Bewusstsein von Ich und Selbst, aber gleichzeitig verlieren wir dieses Im-Fluss-Sein.

Dieser Verlust lässt sich jedoch vermeiden.

Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im «Fließweg».

Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.

Wie beim Baby «geschieht einfach» das Lebensbejahende, aber wie bei der oben erwähnten Mutter und dem Feuerwehrmann geschieht es mit unsrer Zustimmung.

Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.

Wie können wir aber sicher sein, dass wir im Einklang mit dem Universum entschieden haben?

Leider lautet die ernüchternde Antwort: 100% sicher zu sein, können wir niemals erwarten.

Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, wie vieles in jede Entscheidung hineinspielt und wie geschickt wir uns selber, beeinflusst von schlechten Gewohnheiten, etwas vormachen können, dann werden unsre Erwartungen bescheidener ausfallen.

Wir werden uns ehrlich bemühen, unser Bestes zu tun, und alles Übrige vertrauensvoll dem Leben überlassen. Erst dann sind wir wahrhaft frei.

Diesen Befreiungsprozess immer besser verstehen und ihm immer getreuer folgen zu lernen, ist eine lebenslange Aufgabe.[1]

«Und was du über die Zeit gesagt hast, das gibt den meisten Menschen einen verhältnismäßig leichten Einstieg zu dem, denn wir sind uns dessen bewusst, dass wir sehr selten wirklich im gegenwärtigen Augenblick sind.

Wir hängen an der Vergangenheit und wir strecken uns auch aus auf die Zukunft und es bleibt sehr wenig von unserem Bewusstsein übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.

Wenn wir lernen können, einfach hier zu sein, nicht viel zu denken, — unser Denken führt uns nicht dorthin, unser Denken lenkt uns ständig ab vom Bewusst-sein.

Wir sprechen vom Bewusstsein und denken ans Denken, wir sollten die Betonung auf das Sein legen, das bewusste Sein, wo das Denken keine große Rolle mehr spielt.

Wir können das Denken verwenden wie ein Werkzeug, aber jetzt ‒ wie die meisten von uns das erleben ‒ werden wir das Werkzeug des Denkens.

Alle großen Erfindungen werden gemacht, ohne dass der Erfinder denkt.

Er denkt sehr viel vorher und nachher, aber die wirkliche Erfindung bricht durch in einem Augenblick, in dem man nicht denkt.

Alle großen künstlerischen Schöpfungen kommen von irgendwo, aber jedenfalls nicht aus dem Denken.

Und so auch für uns.

Wenn wir lernen können, das Denken als Werkzeug zu gebrauchen, und nicht immer vom Denken versklavt zu sein, dann können wir auch im gegenwärtigen Augenblick bewusst sein.»[2]

(Eröffnungsvortrag 24:59:) Und die Lebensreise ist das Leid. ‒

Das überrascht uns ‒ vielleicht ‒, besonders, wenn wir noch jung sind. Es ist aber auch in der Philosophie, die in unserer Sprache enthalten ist, völlig klar angelegt.

Denn «Leiden» heißt ursprünglich: «gehen», «fahren», «reisen».

Leiden hat ursprünglich überhaupt nichts zu tun mit erleiden.

Und wenn das Leben der Leib[3] ist, dann gehen die, die wirklich im Leib leben weiter und erfahren in ihrer Lebendigkeit das Leben.

Die aber nicht im Leib leben, die bleiben nur am Leben picken und sind die noch nicht Gestorbenen: Die pickenbleiben.[4]

Und das bringt uns zu der weiteren Frage: Was ist denn dann eigentlich das Leidige am Leid?

Und da zeigt sich, dass «Leid» im Sinn von «das Leidige» überhaupt nicht verwandt ist mit dem Wort «Leiden». Das sind zwei völlig verschiedene Wortwurzeln.

Das «Leiden», das ursprünglich «leben», «fahren», «reisen» bedeutet ‒ «gehen» auch ‒, kommt von einer Wurzel her, und das «Leid» ist ein anderes Wort, das ursprünglich das «Widerwärtige» bedeutet.

Und erst langsam, langsam vermischen sich die beiden, denn heute, wenn jemand sagt das «Leiden» und das «Leid», so ist das fast nur ein stilistischer Unterschied. Man kann das vollkommen mischen.

Wir haben die beiden eben irrtümlich so vermischt. Und erst, wenn wir die wieder auseinandernehmen, und sehen, dass «leiden» gar nicht unbedingt etwas Leidiges sein muss, weil es ursprünglich nicht das «Leidige» bedeutet, dann beginnen wir darüber nachzudenken, was denn eigentlich das Leiden leidig macht.

Das Wort «leidig» bedeutet ursprünglich «hässlich», «ungut», «unangenehm», hauptsächlich aber «widerwärtig».

Und «leider» ‒ wenn wir sagen «leider» ‒, das ist eine Steigerungsstufe: «Leid und noch Leider». Das gehört alles zusammen.

Und das «Widerwärtige»«wider» heißt «gegen» und «wärtig» ist so wie wir sagen «ostwärts» und «westwärts»: das ist die Richtung ‒ das «Widerwärtige», also das «Leid», ist das, was gegen den Strich geht.

«Leidig» ist alles, was gegen den Strich geht, was uns widerwärtig ist.

«Leiden» ‒ gehen, fahren, reisen, erfahren, erleiden ‒, ist das mit dem Strich gehen.

Das ist unsere große Herausforderung:

Wir können im Leben entweder mit der Maserung hobeln oder gegen die Maserung hobeln.

Wir können mit dem Strich gehen oder gegen den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:

Wir können mit dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.

Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die mit dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben gegen den Strom schwimmen müssen.

Und darum schwimmen so wenige mit dem Strom des Lebens.

Zu dem Wort «Leid», «leidig» ‒, wenn wir sagen: «Das tut mir leid» oder «ich hab‘s leidig» ‒, gehört die «Widerwärtigkeit». ‒

Zu dem Wort «leiden»: leben, erfahren, fahren, gehört das Veranlassungswort «leiten», das auch zu «Lotse» gehört:

Eigentlich heißt das «gehen machen»«Leiten» ist «gehen-machen», veranlasst uns zu gehen.

Und da, wenn wir sehen, dass etwas uns leiten kann im Leiden ‒ durch das Leben gehen und das Leben erleiden ‒, dann müssen wir uns fragen:

Was ist denn dann die leitende Kraft?

Und da ist die Antwort:

Die leitende Kraft ist das Leben selbst.

Wenn wir wirklich uns dem Leben hingeben, dem Lebensstrom, der in der Quelle des Herzens aufspringt, dann werden wir durch das Leben geleitet.

Das Leben selbst leitet uns, wenn wir uns nicht diesem Lebensstrom verschließen, abkapseln, stehenbleiben, steckenbleiben und unser Herz verschließen.[5]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f. und 5]

[Ergänzend:

1. Krise

2. Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019) und Mitschrift 10f.:

(47:43) «Eine Frage, die man sich stellen könnte ‒ so wie:

Habe ich das Leben oder hat das Leben mich? ‒

Führe ich mein Leben oder führt mich etwas im Leben?

Und natürlich die ganze Idee von Augenblick für Augenblick hinhorchen, stillwerden ‒ hinhorchen und dann antworten.

Und das heißt, dass das Leben mich führt.

Und Lebensvertrauen ist das Vertrauen darauf, dass das Leben mich führt.

Je älter ich werde, umso klarer ist es mir, dass alles Pläne machen, ungeheuer gefährlich ist.

Augenblick für Augenblick gibt uns das Leben ja schon alles, was wir brauchen für den nächsten Augenblick, und wenn wir da unsere eigenen Ideen haben, kommen die so leicht in den Weg.

Alan Watts ‒ vielleicht kennt Ihr seine Bücher ‒, er hat auch sehr viel getan, den Buddhismus im Westen verständlich zu machen, und er hat seine Autobiographie genannt: In my own way:

Das kann einerseits heißen: Ich bin meinen eigenen Weg gegangen, aber es kann auch heißen: Ich bin mir ständig in den Weg gekommen. ‒ Absichtlich hat er so formuliert.

Also sich vom Leben führen lassen: Wie kann man das?

Das ist so ein leuchtendes Beispiel: Menschen, die sich vom Leben führen lassen: Das führt dann viele andere einfach durch die Leuchtkraft schon.»

3. Audios

Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:
(01:32:46) Das Leben durch uns fließen lassen, dann ereignet sich Lebensbejahendes ‒ Sehr häufig kommt das zustande, was wir wollen, wenn wir nicht mehr drücken ‒ Situationen, in denen wir nicht Zeit gehabt haben, uns etwas zu überlegen und ganz genau das Richtige getan haben
(01:36:02) Was will jetzt das Leben? ‒ Gerade die Bemühungen können in den Weg kommen: Vielleicht hat das Leben etwas anderes vor ‒ Tun, was wir freudig tun, wozu wir begabt sind ‒ Was bietet mir das Leben für eine Gelegenheit an? ‒ Bruder David bringt ein witziges Beispiel und lobt den Willen und die Hingabe von Menschen, die im Leben immer wieder anstoßen

Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
‹Jeden Tag stehen wir vor der Entscheidung›]

________________________

[1] Orientierung finden: ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 86-89

[2] Transkription des Gesprächs  von Willigis Jäger mit Bruder David  im Film 1 der DVD ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Aurum Verlag in
J. Kamphausen Verlag & Distribution  GmbH und Benediktushof 2006

[3] Siehe im Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(19:04) leben, kleben und Leben, Leib

[4] Sitzen bleiben, zurück bleiben, hängen bleiben, kleben bleiben (Bruder David sagt: «bickenbleiben»)

[5] Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(24:59) Was die Sprache uns lehrt anhand der beiden Wortwurzeln ‹Leid› im Sinn von ‹gehen›, ‹fahren›, ‹reisen› und ‹Leid› im Sinn von ‹das Leidige›, ‹Widerwärtige›

Siehe auch die Mitschrift des Vortrags im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 23f.

 

Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - Barbara Krähmer

Jesus verkündet die unter uns wirksame erlösende Kraft Gottes, und er appelliert an den gesunden Menschenverstand, an den Gemeinsinn.

Es ist unser Gemeinsinn, er ist uns allen gemein.

Und er hat etwas zu tun mit der Sinneserfahrung.

Es gibt zwei sehr wichtige Aspekte der christlichen Mystik: die Betonung der Gemeinschaft und die Betonung der Sinneserfahrung. Beide sind in dem Begriff Gemeinsinn enthalten.

Auf diesen Gemeinsinn beruft sich Jesus stets.

Diese Tatsache ist wichtig, wenn wir Jesus und den mystischen Durchbruch, der sich bei ihm und durch ihn einstellte, verstehen wollen.[1]

Fragen Sie sich selbst: Auf welche Autorität  berief sich Jesus?

Die Antwort lautet: Auf den Gemeinsinn.

Wenn Sie in die Kirche gehen und Predigten hören, gewinnen Sie unter Umständen den Eindruck, Jesus habe sich auf die Autorität Gottes berufen, so wie seit alters die Propheten.

Doch bei genauerer Betrachtung stellen wir fest, dass Jesus nie die typische prophetische Formel benutzte: «Also sprach der Herr …»

Er berief sich nicht einfach auf die Autorität Gottes und am allerwenigsten auf seine eigene. (Leute, die das tun, können kaum jemanden für sich gewinnen. Schon aus diesem Grund können wir überzeugt sein, dass er es nie tat.)

Er berief sich auf die göttliche Autorität in den Herzen seiner Zuhörer, auf den Gemeinsinn.

Aus diesem Grund geriet Jesus auch in Schwierigkeiten, kam es zu der historischen Krise in seinem Leben.

Jemand, der sich auf den Gemeinsinn beruft, gerät zwangsläufig in Konflikt mit den Autoritäten.

Sowohl für die religiösen als auch für die politischen Autoritäten ist niemand verdächtiger als jemand, der gelernt hat, auf seinen eigenen Füßen zu stehen, und der dies anderen vermittelt.

So jemand war Jesus, und solche Menschen sind auch die Mystiker. Die Mystiker geraten ständig in Schwierigkeiten mit religiösen Autoritäten, häufig auch mit politischen Autoritäten.

Durch seine Lehre und sein Leben trieb Jesus einen Keil zwischen den Gemeinsinn und die öffentliche Meinung. Er berief sich auf den Gemeinsinn und machte dadurch den Anspruch der öffentlichen Meinung völlig zunichte.

Aus diesem Grund berichtet Markus auch, dass die einfachen Leute sagten:

«Donnerwetter, dieser Mann spricht mit Autorität, nicht so wie unsere Autoritäten.»

Sie können sich vorstellen, was die Autoritäten davon hielten und wie sie reagierten, nämlich: Dieser Mann muss sterben.

So teilen es uns auch die Evangelien mit.

Wir sagten ‒ Sie erinnern sich -, dass Religion mit der Mystik beginnt und sich schließlich zu Lehre, Moral und Ritual verfestigt.[2]

Aus diesem Grund wird Jesus auch in den Evangelien etwas schematisch gegen drei Gruppen von Autoritäten abgesetzt: gegen die Schriftgelehrten (stellvertretend für die Lehre), die Rechtsgelehrten (stellvertretend für das Gesetz), und die Pharisäer (stellvertretend für das Ritual).

Die Evangelien selbst und auch das übrige Neue Testament beweisen ‒ sonst würden wir es ja gar nicht wissen ‒, dass es hervorragende heilige Schriftgelehrte, Rechtsgelehrte und Pharisäer gab.

Doch sie werden jeweils als Typus dargestellt, und als solche gibt es sie auch heute noch. In jeder Kirche kann man den Schriftgelehrten, den Rechtsgelehrten und den Pharisäern begegnen.

Wir finden sie aber auch in unserem eigenen Inneren. Sie stehen für den toten Buchstaben im Gegensatz zur persönlichen Erfahrung, für den Legalismus im Gegensatz zu einem Handeln, das aus einem lebendigen Zugehörigkeitsgefühl entspringt, und für den Ritualismus im Gegensatz zu einer Feier des Lebens als Ganzes.

Jesus bekam aber nicht nur Schwierigkeiten mit den religiösen, sondern auch mit den politischen Autoritäten.

Am Ende machten sie gemeinsame Sache und löschten ihn aus.

An diesem Punkt trat das Kreuz in das Leben Jesu.

Wir können das Kreuz ‒ wie in der christlichen Tradition geschehen ‒ auf vielfache Weise interpretieren, doch wir gehen am Wesentlichen vorbei, wenn wir nicht beachten, welche historische Rolle es spielte.

Jesus musste sterben, weil er die Grenzen des Bewusstseins durchbrach, weil er die Grenzen dessen durchbrach, was es bedeutet, religiös zu sein.

Wir sollten uns selbst lieber fragen, ob wir den Mut besitzen, uns für den Gemeinsinn gegen die öffentliche Meinung einzusetzen.

Wir gehen ein großes Risiko ein, wenn wir uns von den Gleichnissen mitreißen lassen.[3]

Wenn ich einmal «Ja» zum Gemeinsinn gesagt habe, warum lebe ich dann nicht danach?

Warum lebe ich nicht mit der Lebendigkeit meiner größten Augenblicke?

Warum mache ich all diese Konzessionen an die öffentliche Meinung?

Warum lasse ich mich nicht von der Autorität Gottes in mir leiten?

Warum beuge ich mich anderen Autoritäten?

Und es gibt viele verborgene Autoritäten.

Denken Sie an den Druck, der von Ihren Altersgenossen ausgeht. Da finden wir alle möglichen Autoritäten, denen wir uns beugen.

Und warum? Wenn man es nicht tut, endet man unweigerlich da, wo Jesus endete, an seinem eigenen Kreuz.[4]

Dies ist das erschütternde Ende des Lebens Jesu.

Dieser Mensch übt immer noch in einigen der frühesten Schriften eine gewaltige Wirkung auf uns aus, als jemand, von dem andere sagen würden:

«Ja, genau so würden wir gerne sein, wenn wir wirklich wir selbst wären.»

Er lebte aus diesen mystischen Augenblicken heraus, und wir tun es nicht.

Wir haben sie immer wieder einmal, und dann verraten wir sie wieder.

Er lebte aus dieser Realität.

Deshalb wurde er ausgelöscht, musste er sterben.

Historisch ist dies das Ende der Geschichte.

Doch dann kommt ein Ereignis, das sich nicht innerhalb und nicht außerhalb der Geschichte befindet, sondern den Rand der Geschichte markiert, das Ereignis, das Auferstehung genannt wird.

Man kann die Geschichte Jesu nicht angemessen erzählen, ohne über die Auferstehung zu sprechen.

Sie ist nicht lediglich ein Anhang zum Leben Jesu. Ohne sie gäbe nichts, was seitdem geschehen ist, ja nicht einmal das Bild, das wir von Jesus haben, einen Sinn.

Aber was ist diese Auferstehung?

Wie können wir rekonstruieren, was wirklich geschehen ist?

Halten wir uns an den frühesten Bericht. Nach diesem starb Jesus am Kreuz. Sie nahmen ihn vom Kreuz ab, begruben ihn hastig, weil es der Vorabend des großen Festes war, und bald nach dem Fest fanden Frauen das Grab leer.

Der Umstand, dass es ausgerechnet Frauen waren, brachte die Kirche der Anfangszeit sehr in Verlegenheit, denn Frauen hatten kein Recht, Zeugnis abzulegen. Frauen hatten vor Gericht keine Stimme. So etwas wie eine Zeugin gab es nicht. Und doch waren Frauen die ersten Zeugen der Auferstehung, und ihr Zeugnis wurde akzeptiert.

Dies markiert einen Wandel im ganzen Status der Frauen. Sie mussten (und müssen immer noch) einen langen Weg gehen, aber seit Anbeginn heißt es in der Überlieferung, dass Frauen als erste das Grab leer vorfanden. Und sie glaubten, dass Jesus, den sie als Sterbenden und als Leichnam gesehen hatten, lebendig war. Dies ging über jeden Bericht, wonach das Grab leer war, weit hinaus. Damals waren sogar diejenigen, die sagten, der Leichnam Jesu sei gestohlen worden, bereit zuzugeben, dass das Grab leer war.

Manche Leute schauen heute auf dieses Grab, sehen, dass es leer ist, und sagen: «Der Leichnam muss gestohlen worden sein, kein Zweifel.»

Andere sehen dasselbe leere Grab und glauben dennoch, dass Jesus auferstanden ist. Sie sagen:

«Jetzt verstehen wir! Warum sollten wir auch den Lebenden unter den Toten suchen?! Dieser Mann verkörperte das Leben selbst.

Er zeigte uns, was es bedeutet, lebendig zu sein.

Es ist jedem Vernünftigdenkenden klar, dass er sich nicht unter den Toten befindet.»

Und dann kommt die Frage: Wenn er nicht hier ist, wo ist er dann?

«Er ist verborgen in Gott»

lautet eine frühe Antwort (Kolosser 3,3).

Gott ist ebenfalls verborgen. Und dennoch erfahren wir die Macht Gottes. Jesus ist mit Gott, er ist verborgen in ihm, und er verleiht uns auch weiterhin Gottes Kraft.

So gelangten die erschütterten Nachfolger Jesu zu der Erkenntnis, dass das Leben, das er führte, stärker war als der Tod.

Noch heute, zweitausend Jahre später, spürt die Welt die Auswirkungen der Druckwelle, die ihr Glaube an seine Auferstehung ausgelöst hat.

Was Jesus als das Kommen des Reichs Gottes ankündigte, verkündigt die Kirche durch die Jahrhunderte als die Auferstehung Jesu Christi.

Beide Verkündigungen haben denselben Inhalt: Gottes manifest gewordene erlösende Kraft.

Hier haben wir den mystischen Kern der christlichen Religion, den vulkanischen Ausbruch eines neuen Beginns.

Und nun fängt der ganze Prozess unweigerlich wieder von vorn an.[5]

Die Begegnung mit Jesus wird interpretiert und die Erfahrung verfestigt sich zur Lehre. Die Implikationen der alles umfassenden Liebe Jesu werden formalisiert und verfestigen sich zu moralischen Regeln.

Sie erinnern sich, wie sie das Leben zelebrierten, als er mit ihnen aß und mit ihnen trank, und sie machen das Brechen des Brots zum Ritual.

Und so haben Sie immer wieder die christusähnlichen Figuren in der Kirche, die in dieselben Schwierigkeiten geraten, die Jesus mit seinen religiösen Autoritäten bekam.

Und doch wird uns die «frohe Botschaft» durch die Kirche, in ihr und trotz ihr vermittelt.

In der Kirche finden Sie alle die Heiligen, die durch die Jahrhunderte bis heute ein Christus ähnliches Leben geführt haben.

In derselben Kirche finden Sie aber auch die Pharisäer, die Rechtsgelehrten und die Schriftgelehrten.

Als wir fragten: «Was soll jemand, der seinen mystischen Weg akzeptiert, mit der Religion anfangen?», lautete meine Antwort:

«Sie tragen die Verantwortung dafür, die Religion religiös zu machen, weil sie, sich selbst überlassen, zu etwas Irreligiösem verkommt.»

Nun fragen wir: «Was soll ein Christ tun, der die volle Bedeutung Christi erkennt?»

Die Antwort ist. «Nun, er soll den Rest seines Lebens damit verbringen, die Kirche christlich zu machen.»

Sie wird die Kirche der Heiligen und der Sünder genannt.

Sie ist aber auch die Kirche der Mystiker und zugleich die Kirche, die es den Mystikern schwer macht.

An diesem Punkt befinden wir uns jetzt, wenn wir realistisch sein wollen.

Doch im Herzen dieser Kirche ist das mystische Element, das sie am Leben hält, das Erbe Jesu.

Zu diesem mystischen Keim immer wieder vorandringen ‒ das ist die letzte Grenzerfahrung der christlichen Mystik.[6]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 6]

[Ergänzend:

1. Seele

2.. Audios

2.1. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
‹Der verleugne sich selbst› ‒ das Kreuz

2.2. Vertrauen in das Leben (2014)
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde›: Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke)[7] – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)

2.3. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag: [8]
(06:20) Die Begegnung von Jesus mit seiner Mutter auf dem Kreuzweg ‒ Abschied von dem unverstandenen Kind
(07:20) Die Kreuzigung ‒ Abschied vom vertrauten Gottesbild: Jesus stirbt mit den Worten: ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?› ‒ ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist›
(09:21) Der Schmerz der Kreuzabnahme, der Schmerz der Pietà: Maria hat das Kind auf dem Schoss ‒ der Abschied vom Kind im Tod ‒ ‹Jetzt wird mein Elend voll, und namenlos› (Rilke, Pietà, Das Marien-Leben)
(11:10) Die Grablegung Jesu ‒ ein Abschied voll Hoffnung ‒ ‹Stillung Mariae mit dem Auferstandenen› (Rilke, Das Marien-Leben)

2.4. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen: Bruder David erklärt die literarische Form von Gleichnissen. Ohne ihre Kenntnis verfehlen wir den springenden Punkt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37).[9] Jesus lehrt in Witzen: Er stellt eine Frage, wir sagen: «Das wissen wir ja alle!» «Warum handelt ihr nicht danach?» der Witz ist auf unsere Kosten / (22:13) Er weist hin, wie die Gleichnisse Jesu eine religionsgeschichtliche Wende bedeuten: Jesus spricht nicht wie ein Prophet mit der Autorität Gottes, er nimmt auch nicht charismatisch seine eigene Autorität in Anspruch, sondern verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer: «Ihr wisst das doch!» / (23:41) Und damit kommen wir zur Christus Erfahrung, die mystische Erfahrung Jesu, die wir selber machen können

2.5. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort /
(17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen

2.6. Audio-Seminar Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag;
siehe auch die Mitschrift des Vortrags
(22:47) Verleiblichen des Geistigen und Vergeistigen des Leiblichen: Durch die Sinne Sinn finden – Wir sind die Bienen des Unsichtbaren (Rilke)[10] – Das Fronleichnamsfest ist das Fest der Verleiblichung des Göttlichen und der Vergöttlichung des Leiblichen
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(37:00) Weltgeschichtliche Wende: Jesus verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer und unsere Aufgabe in der Kirche / (42:48) ‹Bisher hat die Kirche den Glauben getragen, jetzt müssen die Gläubigen die Kirche tragen› (Karl Rahner) / (51:35) Jesus: voll Mensch und daher voll göttlich, und das Ziel des christlichen Lebens: voll menschlich zu werden und daher völlig vergöttlicht / (54:07) Kreuzesnachfolge: Im Lebensstrom schwimmen gegen den Strom der Gesellschaft ‒ Unser Ego besitzen und es aufgeben / (56:22) Einer Gesellschaft, die aus der Angst und Unterdrückung lebt, stellt Jesus das Reich Gottes entgegen, er ist nicht nur Mystiker, er ist auch Sozialreformer / (58:37) Bekehrung, Umkehr im Alltag ‒ die Kreuzigung nicht suchen, aber sie nicht scheuen
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut

2.7. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(29:12) Autoritätskrise und wie ‒ am Beispiel der Gleichnisse Jesu ersichtlich ‒ Jesus die Autorität Gottes in die Herzen seiner Zuhörer verlegt / (33:14) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten›: Wie Jesus die Menschen ermächtigt und der unvermeidliche Konflikt mit autoritären Autoritäten bis zur Kreuzigung / (35:49) Die Angst vor authentischer Autorität: Selbst seine Jünger verlassen ihn / (36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition

2.8 Vater Unser (1992)
Teil 1 in Themen aufgeteilt:
Jesus als Mystiker verstehen
Jesus ‒ Mystiker und Sozialreformer[11]
Teil 3 in Themen aufgeteilt:
Auferstehung, Vergebung, ‹Honig aus des Löwen Munde›[12]

2.9. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Geistliches Leben, das Maß nimmt an der Gestalt Jesu:
(19:29) ‹Auferstanden von den Toten›: Ein geschichtliches Ereignis über das man nur in mythischer Sprache reden kann ‒ Fragen und Diskussion
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›

2.10. Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Transkription
Teil II, 2f.:
(04:47) Kreuz und Auferstehung ist nur vom Leben Jesu her zu verstehen:

«Alles steht und fällt im Christentum mit der Auferstehung. Das sagte schon Paulus: ‹Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann sind wir die elendesten aller Menschen› (1 Kor 15,19).

Was ich eigentlich zu Kreuz und Auferstehung zu sagen habe, und zwar nur deshalb, weil es nicht genügend betont wird, ist, dass wir das Leiden und Sterben und die Auferstehung Jesu ‒ das gehört alles zusammen ‒ nicht, wie das so oft getan wird, abgetrennt von seinem Leben betrachten dürfen.»

3. Weitere Texte

3.1. Wendezeit im Christentum, Teil I (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 95-97:

Fritjof Capra: «Aber wie steht es um die Auferstehung? Vorhin sagten Sie so ganz beiläufig ‹nach seinem Tod und seiner Auferstehung›.

Im Katholizismus, wie ich ihn in der Schule gelernt habe, galt die Auferstehung als Beweis dafür, dass Jesus Gott ist. Er stand von den Toten auf.»

Thomas Matus: «Das ist keine Theologie, sondern Apologetik. Und kein verantwortungsbewusster Theologe wird das heute noch einmal ausgraben. Das gehört zum alten Paradigma. Das neue würde es ungefähr so ausdrücken: Die Erfahrung Jesu mit der Auferstehung vom Tode ist ein unkommunizierbares, ganz persönliches Erlebnis.

Was die Apostel erfuhren, war folgendes: Jesus war ihnen auf eine Weise gegenwärtig, die sie erkennen ließ, dass sie ebenfalls auferstanden waren und mit ihm und in ihm von den Toten auferstehen würden.

Anders ausgedrückt: Seine Auferstehung ist allgemein gültig und die Ursache unserer eigenen Auferstehung.

Das großartige Argument des hl. Paulus lautet daher: ‹Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden.»

Fritjof Capra: «Das ist doch praktisch dasselbe wie Gott sein.»

Thomas Matus: «Es ist eine Parallele dazu. Wichtig ist hierbei, dass die frühesten Ausdrucksformen christlichen Glaubens sich auf das Geschehen konzentrierten, das auf den Tod Jesu am Kreuz folgte.

Das ist der Schlüssel zum Verständnis seines Todes als Manifestation der erlösenden Kraft Gottes.

Die Tatsache, dass ein großartiger Lehrmeister, ein wunderbarer, liebenswerter Mensch aufgrund zweifelhafter Anschuldigungen zum Tode verurteilt wird, kann einem intelligenten Menschen wohl kaum als Manifestation der erlösenden Kraft Gottes gelten.

Es ist eine Manifestation menschlicher Gewalttätigkeit, von Brutalität, von Unwissenheit.

Und dennoch wird sie zur Manifestation der erlösenden Kraft durch eine nicht vermittelbare, grundlegend undefinierbare und auf jeden Fall mystische Erfahrung: die Apostel erleben Jesus als den Auferstandenen.»

David Steindl-Rast: «Wie wäre es, wenn ich es folgendermaßen formuliere:

Es macht von vornherein keinen Sinn, über Tod und Auferstehung Jesu zu sprechen ‒ wie es leider oft getan wird ‒, ohne über sein Leben zu sprechen.»

Thomas Matus: «Die Kreuzigung beendet ein wunderbares Leben, aber sie teilt uns dieses nicht mit.

Das Erlebnis, den auferstandenen Jesus sehen und berühren zu können, überzeugte die Apostel, dass dieses außergewöhnliche Leben nicht nur in ihrer Erinnerung weiterbestehen konnte, sondern auch zu einem Teil ihrer selbst wurde, dass sie es selbst leben konnten.

Mit anderen Worten ‒ das Königreich wird durch die Auferstehung zu Jesus.»

David Steindl-Rast: «Daher ist das Leben Jesu so wichtig. Sein irdisches Wirken, das aus seinem mystischen Einssein mit Gott erwächst, ist der Grund für die besondere Stellung, die Jesus in der Welt einnimmt.

Ein Blick auf Jesus zeigt uns, wie man lebt, wenn man auf diese Weise mystisch eins ist mit Gott, wenn man ja sagt zum grenzenlosen Zugehören.

Er hat es uns vorgelebt. Lebt man derart in dieser von uns geschaffenen Welt, dann wird man vernichtet oder auf die eine oder andere Weise gekreuzigt. Genauso wie es ihm widerfahren ist.

Und dann stellt sich die Frage: Ist das das Ende? Die Lehre von der Auferstehung gibt uns die Bestätigung, dass dies nicht das Ende ist.

Diese Art der Lebendigkeit kann nicht ausgelöscht werden.

Er starb, starb wirklich. Und siehe da ‒ er lebt.

Wo lebt er?

Verfallen wir nicht in den Fehler zu sagen, er ist hier oder dort. Nein.

Eine selten zitierte urchristliche Antwort lautet:

Paulus sagt es nicht mit diesen Worten, sondern spricht:

«Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen m i t C h r i s t u s in Gott» (Kol. 3,3).

Das impliziert jedoch, dass Christi Leben in Gott verborgen ist.

Gottes Gegenwart in dieser Welt ist verborgen.

Dennoch ist sie jedem, der das Leben eines Mystikers führt, absolut greifbar ‒ Gott ist allgegenwärtig.

Er starb und ist dennoch am Leben, doch ist sein Leben verborgen in Gott. Er ist in uns allen lebendig.

Es hat keinen Sinn, mit dem Finger zu deuten und zu sagen ‹Dort ist er› oder ‹Wutsch! Er ist aus dem Grab gestiegen›.

Auferstehung heißt nicht Wiederbelebung.

Es ist kein Überleben, nichts, zu dem man sagen kann: ‹Da ist er!›

Es ist eine verborgene Wirklichkeit, aber es ist eine Wirklichkeit, und wir können in ihr leben. Und das ist alles, was wir über die Auferstehung wissen müssen.»

3.2. Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 53-61:

«Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.

Laotse bezeichnete sie als Dao[13] und Heraklit nannte sie Logos.

In dem Satz ‹Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort› (Markus 4,33) verwendet Markus für ‹Wort› diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.

Auf diesen Punkt möchte ich nachdrücklich hinweisen: Jesus beruft sich nicht auf die Autorität Gottes in der Heiligen Schrift, wie das die Priester und Schriftgelehrten mit der Aussage taten: ‹So steht es geschrieben ...›

Er beruft sich auch nicht auf die göttliche Autorität, die aus seinen eigenen Worten spricht, wie es die Propheten taten, die ihre Aussagen mit der Formel begannen: ‹So spricht Cott, der Herr ...›

Wenn Jesus seine Gesprächspartner mit dem Argument ‹Ihr wisst alle, dass ...› infrage stellt, appelliert er an die göttliche Autorität in den Herzen seiner Zuhörer.

Die Priester, Schriftgelehrten und Propheten reden von der hohen Warte göttlicher Autorität herab zum Volk; Jesus stellt sich auf die Ebene seiner Zuhörer und ermächtigt sie, sich auf ihre eigenen Füße zu stellen, indem er die göttliche Autorität ihres ihnen angeborenen Common Sense ernst nimmt, zu der sie sozusagen von innen her Zugang haben. Das ist ein entscheidender Wendepunkt; die Konsequenzen daraus sind Schwindel erregend.» (55f.)

«Auf einen autoritären Geist wirkt nichts bedrohlicher als die Berufung auf die Autorität des Common Sense. Religiös und politisch autoritäre Instanzen sind mit aller Gewalt darauf aus, jeden auszumerzen, der unter dem gemeinen Volk den Common Sense zu mobilisieren versucht. Aus diesem Grund musste Jesus sterben.» (56)

«Es ist unvermeidlich, dass unfähige Menschen sich der Autorität bemächtigen. Sie üben Macht aus, ohne über die nötige Weisheit und das erforderliche Mitgefühl zu verfügen. Solche autoritären Machthaber sind Todfeinde authentischer Autorität, die im Common Sense wurzelt.» (59)

«Unsere Furcht hindert uns daran, dem Common Sense zu folgen. Mit besonderer Klarheit empfanden das die daoistischen Weisen. In dem Maß, in dem sie sich in Einklang mit dem Rhythmus der Natur brachten, steigerte sich ihr Spott darüber, dass die Gesellschaft sich nicht an Dao hielt, an den Common Sense. Jesus stellt dieser Welt, die sich damit dem Tod statt dem Leben verschreibt, eine Welt gegenüber, die von Gottes lebendigem Atem belebt ist und dank dem Heiligen Geist ein «Leben in Fülle» führt.» (58f.)]

__________________________________

[1] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):

«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»

[2] Ausführlich in Religionen ‒ drei Ausdruckformen, Ergänzend: 3.5

[3] Bruder David erklärt in Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 186-189, den dreiteiligen Aufbau der Gleichnisse Jesu und ihre Pointe:

«Aha, das weiß jeder, in Ordnung. Aber warum handelt ihr nicht danach?»

[4] Prophetischer Gehorsam

«Zufällig passt das Kreuz sehr gut zur christlichen Tradition, doch das Kreuz des Propheten erscheint in jeder Tradition.»

[5] Siehe Anm. 2

[6] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 189-194

[7] Das Wort von Rilke verdeutlicht, was Bruder David ‹Anreicherung› nennt im Unterschied zu ‹Entwicklung›; siehe dazu Sterben und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107

[8] Der Vortrag folgt den sieben Schmerzen Mariens:
1. Darstellung Jesu im Tempel mit Weissagung Simeons
2. Flucht nach Ägypten vor dem Kindermörder Herodes
3. Verlust des zwölfjährigen Jesus im Tempel
4. Jesus begegnet seiner Mutter auf dem Kreuzweg (unbiblische Szene)
5. Kreuzigung und Sterben Christi
6. Kreuzabnahme und Übergabe des Leichnams an Maria (Beweinung Christi)
7. Grablegung Christi

[9] Bruder David geht im Beitrag Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 188f., ausführlich ein auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37), ebenso in seinem Buch Common Sense (2014), 47-51, siehe auch in Nächstenliebe

[10] Siehe auch Audio in Ergänzend: 2.2. und Anm. 7

[11] Weiterführend in Hausverstand

[12] Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 38:

«Wenn wir uns aber öffnen, wenn wir wirklich lernen, vom Worte Gottes zu leben als Speise, dann wird diese wunderschöne Stelle der berühmten Bachkantate auf unseren Tod zutreffen:

‹Komm, o süße Todesstunde, da mein Geist Honig speist aus des Löwen Munde.›

Die biblischen Bilder, die dahinter stehen, sind ziemlich unbekannt und dunkel: Samson, der im Kadaver eines Löwen eine Honigwabe findet. Aber in der christlichen Tradition wird das Bild durchsichtig: In dem Augenblick, in dem der Löwe, der Tod, uns verschlingt, speist uns Honig aus des Löwen Munde. Wir leben davon, wir leben vom Sterben, weil wir gelernt haben, von jedem Worte Gottes zu leben. Nur wenn wir auch vom Tod leben lernen, jetzt, nicht nur in der Stunde unseres Todes, können wir wahrlich leben.»

[13] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:

«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Wenn etwas gut Gewürztes mir schmeckt, frage ich mich selten, warum. Und doch liegt in jedem einzelnen Gewürz nicht nur ein Geheimnis der Kochkunst, sondern die ganze Freude schenkende und heilende Kraft von Mutter Erde. Jedes legt uns einen Einfall von Dir in den Mund, auf den ihre Namen nur von Ferne hinweisen können. Deine Idee in Dillkraut, Ingwer oder Pfeffer zu erschmecken, heißt, immer neue Sprachen zu entdecken, in denen du zu mir sprichst. Heute will ich Dich in wenigstens einem Gewürz zu mir reden hören. Amen»[1]

Wie Ergriffenheit ursprünglich auf den Tastsinn zurückweist, so Weisheit auf den Geschmackssinn.

Hier ist das allerdings nicht so offensichtlich. Im Lateinischen ist es deutlicher. Da ist «sapientia», die Weisheit, jene Tugend, die wir durch «sapere» erwarben, durch ein verfeinertes, überhöhtes Schmecken.

Sehen können wir in große Entfernung, in unvorstellbar große Entfernung, wenn wir nachts unter dem Sternenhimmel stehen. Auch hören können wir noch weit. Riechen schon kaum mehr. Betasten setzt nächste Nähe voraus, bleibt aber doch immer oberflächlich, äußerlich.

Von allen unseren Sinnen ist der Geschmackssinn der innerlichste. So erschmeckt Weisheit den innersten Sinn einer Sache.

Wie aber sollen wir je dieses Ziel erlangen, wenn wir nicht damit beginnen, unseren Geschmack auf der sinnlichen Ebene zu entwickeln?

«Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist!» ruft der Psalmist uns zu (Ps.34,9).

Werden wir aber Übersinnliches zu schätzen wissen, wenn wir für Sinnliches undankbar sind?

«Mund auf! Augen zu!» spielten wir gern als Kinder. Solange wir dem Geschmeckten noch keinen Namen geben, wird es zum unmittelbaren Erlebnis:

«Wo sonst Worte waren, fließen Funde.»

Rilke fordert uns heraus in seinem Sonett: «Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.»[2]

Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns «langsam namenlos im Munde».

Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere …
Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund … Ich ahne …
Lest es einem Kind vom Angesicht,

wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?

Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.

Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,

klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig
:
O Erfahrung, Fühlung, Freude , riesig!

«Lest es einem Kind vom Angesicht.»

Dem Kind in uns selbst. Was wir an jedem unserer Sinne verfolgen konnten, wird am Geschmackssinn vielleicht besonders deutlich: die Entfaltung der Dankbarkeit von kindlich arglosem Erkennen der Gabe, über ehrfürchtiges Anerkennen des Gebers, zum Bekennen der Gnade in Weisheit.

Die göttliche Weisheit hat ein Festmahl bereitet

Das ganze Erdenrund, auf seinen sieben Säulen ruhend, wird zur Festhalle. Alles, was unsere Sinne erfreuen kann, ist uns aufgetischt.

Alle Welt ist willkommen.

Die Weisheit baute ihr Haus
und hieb sieben Säulen,
schlachtete ihr Vieh,

und trug ihren Wein auf,
und bereitete ihren Tisch,
und sandte ihre Dirnen aus, zu rufen

oben auf den Höhen der Stadt;
Wer unverständig ist, der mache sich hierher!›
und zum Narren sprach sie:

‹Kommet, zehret von meinem Brot,
und trinkt den Wein, den ich schenke.›
[3]

«Frucht ist mir schon seit langem ein wichtiges Wort. In seiner einen Silbe ballt es die Kraft, die schon in Frühling und Sommer anklingt, mit gesteigerter Wucht zusammen. Frucht weist auf Fülle und Erfüllung hin ‒ als Gabe und als Aufgabe. Als Gabe schenkst du mir diese Verkörperung vollkommener Reife, sooft ich eine plumpe Frucht in Händen halten und ihren süßen Saft verkosten darf. Aber auch als Hinweis auf meine eigene Aufgabe werden mir Früchte zum Bild eigenen Reifens und Fruchtbringens.

Lass mich jede Frucht bewusst und dankbar wie aus Deinen Händen empfangen, als reines Geschenk dieses Jahres. Und schenk mir Zeit und Gelassenheit, Frucht zu bringen für andere und in Herzensfrieden auszureifen, Dir entgegen. Amen.»[4]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3f.]

[Ergänzend:

1. Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 104-106, 117:

«Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet. Dazu lädt Rilke in einem seiner ‹Sonette an Orpheus› unsren Geschmacksinn ein.

Mit der Herausforderung ‹Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt›, will er uns bewusstmachen, wie leichtfertig und anmaßend wir oft annehmen, etwas zu kennen, nur weil wir es benennen können.

Wenn wir uns stattdessen darauf einlassen, es wie Kinder einfach zu erschmecken, dann fragt uns der Dichter:

‹Wird euch langsam namenlos im Munde?›

Und wir werden zugeben müssen:

‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde.›

‹Doppeldeutig› sind diese Funde und darum ‹hiesig›, denn wir leben ja hier im Doppelbereich ‒ im Doppelbereich auch von ‹Tod und Leben›.[5]

Dieser Apfel, diese Birne, sie sind lebendig und sie sterben im gleichen Augenblick, in dem wir von ihnen leben.

Schon mit dieser Erfahrung, wenn wir sie auch nur ‹ahnen›, stehen wir mitten im großen Geheimnis.

Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere ... Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund ... Ich ahne ...
Lest es einem Kind vom Angesicht,

wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.

Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,

klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig ‒ :
O Erfahrung, Fühlung, Freude ‒ riesig!

Das beseligte Stammeln der letzten Zeilen zeugt von Ergriffenheit.

Wer mit solcher Intensität ‹offen und Empfänger› wird ‒ der Ausdruck entstammt einem andren der ‹Sonette an Orpheus›[6] ‒, mit welchem der Sinne auch immer, den ergreift das Geheimnis, das der Dichter hier im Erschmecken der Früchte erahnt.

Es spricht ihn an, es ‹spricht (ihm) ... in den Mund›, wie er es so gewagt ausdrückt, aber nicht mit Worten:

‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›:

Jetzt erwachen unsre Sinne und bemerken mit Staunen und Freude die unzähligen Gelegenheiten, aus Freudenquellen zu trinken: Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, betasten ‒ Gelegenheiten, uns zu freuen, auf die wir bisher kaum geachtet haben. Unsre Sinne erwachen. Wir entdecken zunehmend mehr von der Fülle unsrer Lebendigkeit.»

2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 48-50 und 40, 81

3. Audios

Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›[7]
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal
(59:56) ‹Kostet und seht, wie gut der Herr ist› (Ps 34,9) ‒ Das Wort ‹Sapientia› ‒ Weisheit ‒ kommt von ‹sapere›: schmecken, Geschmack für das Geheimnisvolle. Und das beginnt mit dem Schmecken lernen: sich Zeit lassen zum Essen

Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott
Ökologische Grundprinzipien:
(07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes
(39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)

Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(40:29) «Das tägliche Brot ist nicht nur, was wir essen ‒ das tägliche Brot ist alles, was uns täglich zukommt. Das Gott will uns nähren mit allem, was uns täglich begegnet: Jeder Augenblick, jeder Mensch, jeder Gegenstand, alles, was uns begegnet ist Wort Gottes, auf das wir horchen können. Da kommt das Gehorchen herein, dieses tiefe Hinhorchen, aus dem die Antwort entspringt. Und das nährt uns: Wir können ‹vom Worte Gottes leben›. Und zu dieser Bitte ‹gib uns heute unser tägliches Brot› gehört die Geistgabe der Weisheit, ‹sapientia› vom lat. ‹sapere›, schmecken, und ist eigentlich der richtige Geschmack, das ‹Geschmeck› für das Wort Gottes, für die Gabe Gottes.»

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(05:29) Voller Apfel, Birne und Banane‘ (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIII): Br. David liest und deutet das Sonett Zeile für Zeile

Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt
Schmecken, Auskosten ‒ ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette)]

__________________

[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 100

[2] R. M. Rilke: ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (Die Sonette, 1. Teil, XIII)

[3] Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Durch die Sinne Sinn finden› (2021), 73-76; der Bibeltext nach der Lutherbibel 1912 ist aus Spr 9,1-5

[4] Erwachende Worte (2023): ‹14 Frucht›, 45

[5] DOPPELBEREICH, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 132f.:

«Ursprünglich bedeutet der Doppelbereich bei Rilke, der diesen Begriff prägte, die ‹Nicht-Zweiheit› (A-Dwaita) der Bereiche von Lebenden und Verstorbenen. In den ‹Sonetten an Orpheus› entwickelt der Dichter dieses Thema, zum Beispiel unter dem Bild der ‹Spieglung im Teich›. Das schöne deutsche Wort ‹Doppelbereich› lässt sich aber auf viele andre Gebiete anwenden. Was durch die Beziehung von ‹A-Dwaita› entsteht, ist immer ein Doppelbereich»

Bruder David geht auf die ‹Spieglung im Teich› ein in Orientierung finden (2021): ‹Innen / Aussen ‒ Zwei Aspekte der Wirklichkeit›, 76 und in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II,  99-101

[6] «Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,

in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs

kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von 
w i e viel  Welten!

Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber w a n n, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?»

R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V

Siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I,  81 und TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II,  86

[7] Orientierung finden (2021), 42:

«Nur durch Ergriffenheit verstehen wir Musik, und auch das Geheimnis verstehen wir nur in Augenblicken von Ergriffenheit. Beides wird uns geschenkt: Wir müssen uns nur willig ergreifen lassen.

‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›,

sagt der große mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Weisheit ist das Ziel unsrer Bemühungen um Orientierung. Dabei wird es also letztlich um unsre Beziehung zum Geheimnis gehen.»



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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«Bewegung in zahllosen Formen, das ist doch eigentlich, was wir das Leben nennen. Vom Kreisen der Galaxien, Sonnen und Planeten zum Kreisen der Falken, ihrem Hinabsausen und dem Zappeln der Maus; vom plötzlichen Aufblühen der Feuerwerksraketen zum sachten Entfalten der Wiesenblumen; vom Flug des Pfeiles zum Fallen plumper Pflaumen. Bewegung von Fliehen und Erhaschen, von Mühe und Entspannung, Einschlafen und Erwachen.

Aber auch die Bewegung aufsteigender Dankbarkeit, sprießenden Verliebtseins, stiller Verinnerlichung. Verinnerlichung hinein in eine Stille, die nicht Stillstand bedeutet, sondern bis zum scheinbaren Stillstand geballte Bewegung ‒ wie der Flügelschlag des Kolibris.

Aus dieser Mitte lass jede meiner Bewegungen kommen; dann wird jede letztlich ein Empfangen und Weiterschenken werden, ein Geben und Nehmen zwischen dir und mir. Amen.»[1]

Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.

Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, «gute Arbeit» ist wie ein kosmisches Ballspiel, «wie ein heiliger Tanz».

Der taoistische Philosoph Huang Tsu (369-286 v. Chr.) verwendet diese Bilder vom heiligen Tanz und von guter Arbeit in seinem Gedicht «Einen Ochsen zerteilen».

Fleischer und ihre Arbeit waren zu Prinz Wen Huis Zeiten in der chinesischen Gesellschaft verachtet. Trotzdem aber schaut der Prinz seinem Koch eines Tages beim Zerteilen eines Ochsen zu und ruft zuletzt begeistert aus:

«Das ist es! Mein Koch hat mir gezeigt, wie ich mein Leben leben sollte!»

Weit mehr als zwei Jahrtausende später können auch wir das ausrufen, denn Huang Tsus Beschreibung zeigt beispielhaft, was immer gültig bleibt:

Rechtes Tun folgt dem Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt».

«Ja, es gibt schon manchmal zähe Gelenke», aber der Koch lehrt uns, wie wir damit umgehen sollen.

«Ich spüre sie kommen, ich werde langsamer» ‒ also geht er zurück zu Stop ‒ «ich schaue genau» ‒ er geht zurück zu Look. Und dann: Ich «halte mich zurück», bewege kaum die Klinge» ‒ sein Go fließt jetzt «mühelos» mit der Energie des Lebens selbst:

«Das Gespür tut die Arbeit ohne Planung; frei folgt es seinem Instinkt.»

Aber geben wir Huang Tsu das Wort:

Der Koch des Prinzen Wen Hui
zerteilte einen Ochsen.
Arm gestreckt,
Schulter gebeugt;
er setzt den Fuß fest auf,
er stemmt sein Knie an,
schon liegt das Tier
in Stücken da.
Das blanke Beil
flüstert wie ein Windhauch.
Rhythmisch! Gemessen!
Wie ein heiliger Tanz ist's,
 wie ein Kinderreigen,
wie uralte Harmonien.

«Das nenne ich gute Arbeit!»
ruft der Prinz, «perfekte Methode».
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
Ich folge dem Tao;
jenseits jeder Methode!

Als ich anfing,
Ochsen zu zerteilen,
sah ich das ganze,
schwere Tier vor mir:
eine einzige Masse.

Nach drei Jahren
sah ich statt dieser Masse
die feinen Trennungslinien.
Jetzt aber sehe ich nichts
mit meinen Augen. Mein Inneres
erfasst einfach das Ganze.
Meine Sinne sind müßig. Das Gespür
tut die Arbeit ohne Planung; frei
folgt es seinem Instinkt.
So findet mein Beil mühelos
den verborgenen Spalt, den geheimen Weg,
wie die Natur ihn bahnt.
Ich  haue durch kein Gelenk, hacke auf keinen Knochen.

Ein guter Koch braucht jedes Jahr
ein neues Beil. Er hackt.
Ein schlechter Koch braucht jeden Monat
ein neues Beil. Er haut drauflos.
Dieses Beil benutze ich
schon neunzehn Jahre,
tausend Ochsen
hat es zerlegt.
Es ist so scharf
wie am ersten Tag.

Die Gelenke haben Zwischenräume;
die Klinge ist dünn und scharf:
Sie findet diese Zwischenräume.
Mehr Raum braucht es nicht!
Dann geht's widerstandslos.
Deshalb bleibt die Klinge neunzehn Jahre lang
wie frisch geschliffen.

Ja, es gibt schon manchmal
zähe Gelenke. Ich spüre sie kommen,
ich werde langsamer, ich schaue genau,
halte mich zurück, bewege kaum die Klinge,
und plumps! Das Fleischstück fällt herunter
wie ein Klumpen Lehm.

Dann lasse ich die Klinge ruhen,
ich halte inne
und lasse die Freude an der Arbeit
mich ganz durchdringen.
Ich mache die Klinge sauber und verstaue sie.»

«Das ist es!», rief Prinz Wen Hui,
«mein Koch hat mir gezeigt
wie ich mein Leben
leben sollte.»
[2]

Auf einer tagelangen Busreise war es mir einmal geschenkt, neben einem Metzger zu sitzen, der mir von seiner Arbeit erzählte. Er hatte sicherlich noch nie vom Taoismus gehört, geschweige denn von Huang Tsus Gedicht, aber ich traute meinen Ohren kaum, so ähnlich war die stolze Beschreibung seiner Fähigkeiten der von Prinz Wen Huis Koch, seines taoistischen Kollegen von vor so langer Zeit. Jetzt überrascht mich das nicht mehr.

Mir ist klargeworden, dass unser Stop ‒ Look ‒ Go  keine Methode ist, die jemand erfunden hat, sondern die Gestalt, die allen klassischen spirituellen Methoden zugrunde liegt ‒ der zeitlose Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt», damit wir in Harmonie mit dem Universum leben lernen.

«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
«Ich folge dem Tao
jenseits jeder Methode!»

Am Anfang können wir freilich das «Stop ‒ Look ‒ Go» auch als Methode anwenden.

Das Ziel ist aber, dass es uns durch Übung zur zweiten Natur wird.

Dann folgt unser Gespür ohne Planung frei seinem Instinkt und findet den Fließweg «jenseits jeder Methode».

Dazu bedarf es freilich der Übung ‒ wie bei jeder andren spirituellen Praxis.

Alle spirituellen Wege haben dasselbe Ziel: im Jetzt leben. Dieses Ziel will auch «Stop ‒ Look ‒ Go» erreichen.

Ein sehr einfacher Weg, aber einfach ist nicht gleichbedeutend mit leicht, besonders am Anfang nicht.

Dennoch bietet seine Einfachheit einen großen Vorteil im Vergleich mit andren spirituellen Praktiken:

Wir können «Stop ‒ Look Go» an jedem Ort und zu jeder Zeit üben:

am Arbeitsplatz genausogut wie an einem Ort der Stille; in der U-Bahn genauso gut wie bei einer Wanderung in den Bergen.

Und wann immer wir diesen einfachen Dreischritt üben, bringt er uns ins Jetzt. Und warum ist das so wichtig?

Weil im Jetzt das Ego nicht überleben kann. Das Ego ist immer in die Vergangenheit verwickelt, fühlt sich als Opfer, müht sich ab mit vergangener Schuld oder sehnt sich nach der «guten alten Zeit».

Oder es ist in der Zukunft verfangen und wartet ungeduldig auf sie oder hat Angst vor ihr.

Um ins Jetzt zu finden, muss ich mein über Vergangenheit und Zukunft zerstreutes Ego in meine «Mitte des Immer»[3] sammeln.

Weil das «Stop ‒ Look ‒ Go» mich ins Jetzt bringt, bringt es mich zu mir selbst.

Ich komme aus der Ego-Illusion in die Wirklichkeit des Ich-Selbst zurück.

Dadurch wird jetzt Orientierung möglich: Orientierung in Bezug auf die Wirklichkeit und dadurch auch auf die letzte Wirklichkeit, das große Geheimnis.

So oft wir innehalten, sei's auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis als Schweigen.

So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unsres Herzens für das Geheimnis als Wort.

Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.

Im Tanzen kommt unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» ins Fließen ‒ er zeigt sich als Fließweg.[4]

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Erst, wenn ich auf den großen Tanz der Dinge achte, wird mir bewusst, wie steif ich innerlich bin. Selbst leblose Dinge rollen, fließen, gleiten; auch wo sie knirschen, holpern, sich spießen, sind sie gemeinsam dem Gesetz der Gegenseitigkeit gehorsam. Tiere erst recht. Noch bei ihrem letzten Sprung tanzt die Maus mit der Katze.

Nur wir ‒ teilnahmslos gegeneinander. Um so mehr bewundere ich Menschen, deren jede kleinste Geste Begegnungsbereitschaft ausdrückt, Hinhorchen, Hilfsbereitschaft, Aufforderung zum Tanz. Das muss von innen kommen. Mach mein Herz tanzbereit. Amen.»[5]

In höchster sprachlicher Verdichtung hat Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) in seinem Gedicht «Der römische Brunnen» das Ruhen im Fließen in ein Bild gefasst.

Wenn wir – ohne es intellektuell zu analysieren ‒ diesem Sinnbild gestatten, uns zu ergreifen, dann kann uns bewusstwerden, dass der Fließweg durch die drei Schalen zugleich der Weg der Sinnfindung ist, denn «jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht.»

Sinn aber ist das, worin das Herz Ruhe findet.

Auf steigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Im Strömen das Ruhen finden, das heißt auch Sinn finden.[6]

«Weg und Ziel zeigst du mir nicht nur an, DU großes Geheimnis im Herzen des Lebens, du  b i s t  mir beides.

Als Weg erfahre ich dich am richtungweisenden Fließweg des Lebens, dem ich mich anvertrauen darf wie ein Schwimmer dem Strom.

Als Ziel erkennt dich die Strömung in meinem Inneren mit ihrem geheimnisvollen Sog, der mir zuraunt:

‹Heim zum Vater!›

Lass mich nicht erschlaffen beim Schwimmen, nicht schlapp dahintreiben wie Schwemmholz, sondern wendig werden wie ein Fisch.

Mach mich achtsam für den leisesten Hinweis, den mir das Leben ‒ den du mir gibst. Und lass mich täglich fröhlicher werden, weil ich ja auf dem Heimweg bin zu dir. Amen.»[7]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4-7]

[Ergänzend:

1. FLIESSWEG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 136:

«Fließweg ist ein schönes, aber nur selten, meist in technischer Fachliteratur gebrauchtes deutsches Wort. Es bietet sich an, um im übertragenen Sinn die Grundhaltung des Taoismus zu kennzeichnen: die Bereitschaft, sich bewusst und bereitwillig dem Fluss des Lebens zu überlassen. Die Silbe «Weg» hat dann in diesem zusammengesetzten Wort eine Doppelbedeutung. Einerseits weist sie auf die Wegrichtung fließenden Wassers hin, den Fluss des Lebens, andererseits auf den Lebensweg des Weisen, der sich wie ein Schwimmer, keineswegs wie Treibholz, dem richtungweisend fließenden Strom des Lebens anvertraut.»

2. Audio zu: ‹Die Mitte des Immer›

Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(39:16) ‹Von der Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (R. M. Rilke, Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)

3. Audios zu: ‹Der römische Brunnen›

Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(55:30) ‹Der römische Brunnen› (C. F. Meyer) und ‹Römische Fontäne› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)

Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(01:12:38) ‹Der römische Brunnen› (C.F. Meyer)

Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag

4. Audio zu ‹Heim zum Vater›

Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(31:54) «In ihm und durch ihn und mit ihm ‒ Jesus Christus ‒ gehen wir wieder zurück zum Vater: Wir als Christen drücken das so aus und erleben das so, aber alle Menschen erleben das so, können es verstehen, wenn man es ihnen nahebringt. … Einer der ganz frühen Kirchenväter sagt: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater.› Das ist etwas, das jeder Mensch erlebt, einfach als Mensch. Diese Quelle haben wir in unserem Herzen und hören diese Stimme, die sagt: ‹Heim zum Vater.›»
]

______________________

[1] Erwachende Worte (2023): ‹44 Bewegung›, 105

[2] Thomas Merton (Hrsg.): ‹Sinfonie für einen Seevogel und andere Texte des Tschuang-tse›; mit einem Vorwort von Bernardin Schellenberger. Neuausgabe, Düsseldorf, Patmos Verlag, 1984, 23-25; siehe auch die Übersetzung des Altmeisters der klassischen chinesischen Texte Richard Wilhelm: Dschuang Dsi: ‹Das wahre Buch vom südlichen Blütenland›; aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm (= Diederichs Gelbe Reihe; 14: China), Kreuzlingen / München, Hugendubel 112000: Buch III. Pflege des Lebensprinzips, 2. Der Koch, 54f.

«1960 stieß der amerikanische Mönch und Schriftsteller Thomas Merton auf die Schriften des großen Chinesen Tschuang-tse († um 300 v. Chr.), der gegen Ende der Blütezeit der chinesischen Philosophie lebte und als der spirituellste unter den chinesischen Philosophen gilt. Nach jahrelanger, intensiver Beschäftigung mit seinen Schriften legte Merton diese Sammlung charakteristischer Texte vor, wobei er auf höchst persönliche Weise Übersetzung und Interpretation miteinander verband. So gelingt in diesem Büchlein ein Brückenschlag: Tschuang-tse mit den Augen eines modernen Amerikaners gesehen, aber auch den Augen eines modernen Mystikers betrachtet, der bei dem alten chinesischen Philosophen Elemente entdeckte, die allen meditierenden Geistern aller Zeiten gemeinsam sind.» (aus dem Klappentext des Buches von Thomas Merton)

[3] R. M. Rilke: ‹Elegie an Marina Zwetajewa-Efron› (Aus dem Nachlass, Widmungen)

[4] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 108-113

[5] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 33

[6] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 114

[7] Erwachende Worte (2023): ‹11 Weg›, 39

 

Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - Arijana Somolanji Kurbanović

Kinder in den USA lernen mit «Stop ‒ Look ‒ Go» gefahrfrei die Straße zu überqueren.

Diese drei Wörter sind auch die einfachste Formel, dankbares Leben immer wieder einzuüben. [Siehe die kurze Einführung zum Thema in Dein Herz ist gefragt (2022)]

Schauen wir sie uns hier einzeln an.

Stop ‒ alles Weitere hängt von diesem ersten Schritt ab. Innehalten und Stillwerden sind unbedingt notwendig, bevor wir hinhorchen können auf das Leben, um voll und dankbar unsre Antwort zu geben.

Was dieses Innehalten bewirken will, ist innere Ruhe.

Schweigen hilft uns dabei.

Aber viele Menschen sind heute Lärm und Getue so gewohnt, dass sie sich bei Schweigen und Stille zunächst unbehaglich fühlen. Das ist Gewohnheitssache. Wir können Schweigen und Stillwerden üben ‒ jeden Tag ein bisschen länger. Mit etwas Übung werden wir uns bald darin zuhause fühlen. Dann wird die stille Mitte in uns zu einer Quelle tiefer Freude werden.

Schweigen macht «das Ohr des Herzens», wie der heilige Benedikt es nennt, hellhörig für alles, was das Leben uns zuspricht. Dann erst können wir entsprechend antworten.

Daraus ergeben sich die beiden nächsten Schritte: hellhöriges Innewerden ist das «Look» und unsre Antwort ist das «Go».

In einem Gedicht von nicht mehr als zehn Zeilen führt uns Rilke durch diese drei Schritte ‒ vom Innehalten in der Stille («Stop») über das Innewerden («Look») zum freudigen Tun («Go»).

Der Dichter betet um eine von äußeren und inneren Störungen freie Stille, damit er in ihr einen so hohen Grad von Sammlung erlangen kann, dass seine Empfänglichkeit «bis an den Rand» des großen Geheimnisses reicht.

Dann hofft er, das Geschaute sogar «besitzen» zu können ‒ freilich «nur ein Lächeln lang», denn er muss wohl selber lächeln über die Idee, das Geheimnis zu besitzen. Im Gegenteil, das Geheimnis ergreift Besitz von uns im Augenblick, in dem wir «nur einmal so ganz stille» werden.

Diese Stille ‒ «Stop» in seiner tiefsten Bedeutung ‒ ist ja selbst ein Aspekt des großen Geheimnisses in seiner schweigenden Tiefe.

Aus ihr muss unser Innewerden kommen, damit es zum freudigen Tun führen kann, zur Bereitschaft, alles, was unser Herz vom Geschauten halten kann, «an alles Leben zu verschenken wie einen Dank».

Zunächst aber geht es um den ersten Schritt, ums Innehalten, ums «Stop», ums Stillwerden:

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒ :

Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.
[1]

Look ‒ in unsrer inneren Stille verankert, können wir jetzt, als zweiten Schritt, mit allen Sinnen wach werden für alles, was es gibt.

Das «Stop» ‒ der Bruchteil eines Augenblickes, in dem wir innehalten ‒ genügte, um unser Schauen «reifen» zu lassen, und jetzt kann wahr werden, was unser Dichter in eines seiner schönsten Bilder fasst:

Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
[2]

Alles, dessen wir innewerden, kommt wie eine Braut auf uns zu. Und wie begegnen wir diesem bräutlichen Entgegenkommen des Lebens?

Meist wird uns gar nicht bewusst, wie unsanft, ungeduldig, ja geradezu unverschämt und gewalttätig wir alles, was uns unter die Augen kommt, an uns reißen, einfach durch die Härte, mit der wir es anblicken.

Wir können jedoch lernen, mit sanften Blicken alles, was wir sehen, zu umarmen, wie ein Bräutigam die Braut umarmt ‒ und sich von ihr umarmen lässt.

Dann werden wir die Gelegenheit, nach der wir mit unsrem «Look» Ausschau halten, nicht in erster Linie als Möglichkeit verstehen, alles, was das Leben uns in diesem Augenblick schenkt, auszunutzen.

Es würde uns vielmehr darum gehen, es auszukosten.

Hier stoßen wir wieder auf eine oft übersehene Unterscheidung, die im abendländischen Denken unter dem lateinischen Begriffspaar «uti» (nutzen) und «frui» (auskosten) schon lange eine wichtige Rolle spielt.

Wenn wir lernen, diese beiden Lebenshaltungen ‒ denn das sind sie letztlich ‒ zu unterscheiden und zugleich zu verbinden, dann kann unser «Look», unser Innewerden, sich zu einem wahren Fest entfalten: zur Feier des Lebens.

Nicht nur unsre Augen können diese Haltung erlernen. Das «Look» hier nur aufs Schauen zu beschränken, wäre ein Missverständnis. Jeder unsrer Sinne kann aus verschlafener Stumpfheit aufwachen und sich an dem Reichtum freuen, den das Leben festlich vor uns ausbreitet.

Go ‒ auch zum Verständnis dieses dritten Schrittes kann ein Gedicht Rilkes uns helfen. Der Dichter stellt am Bild des Ballspielens dar, worum es beim echten Tun, das Innehalten und Innewerden voraussetzt, letztlich geht. Mit sich allein Ballspielen ist nicht echtes «gültiges» Tun in diesem Sinn, sondern nur Übung in «Geschicklichkeit»; und was es zustande bringt, ist «lässlich» ‒ das heißt, es zählt nicht.

Echt wird das Tun erst,

wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf
.

Diese «Mit-Spielerin» steht hier für das große Geheimnis.

Das erkennen wir daran, dass sie «ewig» genannt wird und weil die Beziehung, die durch ihr Zuwerfen entsteht, «aus Gottes großem Brücken-Bau» stammt.

Dass diese «Mit-Spielerin» weiblich ist, erinnert daran, dass alles, dessen wir mit offenem Herzen innewerden, uns «wie eine Braut» entgegenkommt.

Wenn wir alles uns vom Schicksal Zugeworfene umarmen ‒ wie Braut oder Ball ‒ dann ist unser «Fangen-Können» nicht mehr Übung, sondern Vermögen im Sinne von Können.

So spielt das Geheimnis im All mit dem Geheimnis in dir ‒ letztlich das eine Geheimnis mit sich selbst.

«Lila» nennt der Hinduismus dieses Spiel.[3]

Um völlig in dieses Spiel einzutreten, musst du aber «zurückzuwerfen Kraft und Mut» besitzen ‒ und noch mehr: Du sollst dabei deine mutige Entscheidung und deinen Kraftaufwand völlig vergessen «und schon geworfen» haben ‒ wie von selbst.

Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem herannahenden Schnellzug von den Schienen. Später weisen beide jede Anerkennung zurück: «Es war schon geschehen, bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken», sagen sie.

Das Beispiel, auf das der Dichter hinweist, sind «die Wandervogelschwärme», die instinktiv tun, was bei uns Menschen willige Bereitschaft verlangt. Durch diese können aber auch wir «gültig» mitspielen und unser alltägliches Tun wird dann ‒ ganz unauffällig ‒ zu einem kosmischen Ereignis: Der Ball wird nun zum «Meteor und rast in seine Räume ...»

Nicht mehr nur unsre Räume sind es, in denen sich nun unser Tun abspielt; unser Alltag nimmt teil am großen Geheimnis, das im Kosmos spielt.

Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichheit und lässlicher Gewinn ‒ ;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, ‒
nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest ... (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältere einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere ‒) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit.
Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst
dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt
das Meteor und rast in seine Räume ...
[4]

Das gelingt uns aber nicht ein für alle Mal. Wir müssen uns wieder und wieder darum bemühen, bevor es uns zur zweiten Natur wird.

Der Dichter weiß, was es uns so schwermacht, an diesem Ballspiel teilzunehmen. In der 4. Duineser Elegie finden wir die Ursache ‒ und auch hier im Bild der Zugvögel:

Wir sind nicht einig.

Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-
vögel verständigt. Überholt und spät,
so drängen wir uns plötzlich Winden auf
und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.

«Wir sind nicht einig» mit uns selbst, weil wir im Ego stecken, also auch «nicht einig» untereinander und wegen unsrer Eigenwilligkeit auch «nicht einig» mit dem Fließweg  des Lebens.

Weil wir nicht stillwerden und hinhorchen, versäumen wir den rechten Augenblick.

Dann «drängen wir uns plötzlich» dem Geschehen auf, anstatt mit ihm zu fließen.

Und doch ist das Einzige, worauf es ankommt, Harmonie mit dem Leben.

Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.

Und dabei geht es um die grundlegenden Haltungen zum Leben ‒ und zum großen Geheimnis. Unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» lässt uns diese Haltungen klarer erkennen.

1. Durch «Stop» üben wir das für alle andren Haltungen grundlegende Lebensvertrauen.

Unsre hektischen Aktivitäten sind oft vergebliche Versuche, diese Haltung stillen Vertrauens durch Kontrolle zu ersetzen. In der Sprache spiritueller Traditionen heißt radikales Lebensvertrauen: Glauben.

2. Durch »Look» üben wir eine Haltung, die traditionell Hoffnung genannt wird.

Hoffnung unterscheidet sich von unsren Hoffnungen, denn diese sind immer auf etwas gerichtet, das wir uns vorstellen können.

Hoffnung aber ist radikale Offenheit für Überraschung ‒ für das Unvorstellbare. Wenn dies die Einstellung ist, mit der wir schauen, hinhorchen und alle andren Sinne öffnen, dann kommt zum Lebensvertrauen eine neue Dimension hinzu: Bereitschaft für die Anforderungen, die das Leben an uns stellt.

3. Durch «Go» antworten wir dann auf diese Anforderungen. Dadurch treten wir bereitwillig in Beziehung zu dem ganzen unendlich weit verzweigten Netzwerk des Lebens.

Durch diese Bereitwilligkeit sagen wir ein radikales Ja zur Zugehörigkeit ‒ nicht mit unsren Lippen, sondern durch unser Tun.

Dies aber kennen wir schon als die Definition für Liebe.

So wie sich die Haltung des Glaubens vom Für-wahr-Halten unterscheidet und die Hoffnung von den Hoffnungen, so unterscheidet sich die Liebe von unsren Vorlieben, unsrem Verlangen.

Durch «Stop ‒ Look ‒ Go» können wir die Haltungen von Glauben, Hoffnung und Liebe ‒ also unsre Beziehung zum Geheimnis als Mitte unsrer grundlegenden Orientierung im Leben ‒ immer wieder erneuern und so Sinn finden.

Sogar jedes Kind kann unsrem einfachen Dreischritt «Stop ‒ Look ‒ Go» folgen und so bleibende Lebensfreude finden durch dankbares Leben. Denn «Stop ‒ Look ‒ Go» ist der Dreischritt der Dankbarkeit.[5]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 4]

[Ergänzend:

1. Musik der Stille (2023) 72-74

«In der Prim[6] verpflichten wir uns, heute alles so zu tun, als würden wir Kindern beibringen, die Straße zu überqueren: anhalten, hinschauen und dann gehen.

Um den Tag richtig gut zu beginnen, ist der erste Schritt: anhalten. Es ist so leicht, sich unverzüglich mitten in irgendetwas hineinzustürzen, das man sich vorgenommen hat, ohne bewusst damit zu beginnen. Jeder bewusste Anfang beginnt mit einem Innehalten, auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde ist. Tun wir das nicht, werden wir einfach mitgerissen, wie dies nur allzu oft vorkommt.

Dieser bewusste Beginn findet seinen Ausdruck in den Gesängen, wo alles davon abhängt, im richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Um im richtigen Moment einzusetzen, müssen wir zuerst innehalten.

Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.

Der zweite Schritt ist Hinschauen. Wenn wir nicht hinschauen, dann nützt uns auch das Anhalten nichts. Der Chor muss auf den Kantor schauen und auf sein Zeichen zum Einsatz achten. Bei jeder Tätigkeit ist es wichtig, zunächst auf alles zu achten, was diese Handlung betrifft: Wurde uns diese Aufgabe vielleicht schon früher einmal gestellt? Wie haben wir sie damals gelöst? Was ist uns dabei gelungen? Was haben wir versäumt? So vermeiden wir, den gleichen Fehler allzu oft zu wiederholen.

Es heißt, ein Narr begehe immer wieder denselben Fehler, ein Weiser hingegen jedes Mal einen neuen. Wir können nicht vermeiden, Fehler zu machen, aber wir können diejenigen vermeiden, die wir schon einmal begangen haben. Dummerweise neigen wir dazu, geflissentlich zu übersehen, was wir nicht sehen wollen. Ehrliches Hinschauen kann aber gelernt werden.

Zum Dritten müssen wir gehen. Es hilft uns nicht, anzuhalten, wenn wir nicht hinschauen, und es nützt nichts, anzuhalten und hinzuschauen, wenn wir nicht auch gehen. Schlussendlich müssen wir handeln. Die drei gehören zusammen, und der Trommelschlag des Engels signalisiert: ‹Halt an, schau hin, geh voran!› Lass uns aufbrechen.»

2. Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 82-89

3. Film und Audios zu Stop ‒ Look ‒ Go

Film Was am Ende wirklich zählt (2022), siehe auch Transkription, 3f.:

(09:20) «Was würdest Du denn sagen, Bruder David: Was ist ein ganz wichtiges Werkzeug, um das in sich zu erschaffen, wenn’s nicht schon da ist oder wenn wir’s einfach nicht sehen können. Ich denke, so viele wünschen sich ja diesen Zustand des Vertrauens und der Liebe und der Dankbarkeit und sich Wohlfühlen. Sie erahnen, wie schön das wäre, wenn es in ihnen wach wäre und finden trotzdem nicht dahin. Gibt’s ein Werkzeug?»

David Steindl-Rast: «Und da kommt wieder die Dankbarkeit herein. Und die Übung der Dankbarkeit ist ein ganz einfacher Dreischritt:

Stop ‒ Look ‒ Go.

Also ein Innehalten, Innewerden und dann Tun.

Und das heißt immer wieder im Laufe des Tages ‒ und das kann man üben ‒, immer wieder innezuhalten, einen kleinen Augenblick der Stille dieses automatische Dahinleben unterbrechen und einen Augenblick lang still zu werden. Und in dieser Stille: die schafft jetzt Raum zu sehen. Und zwar hinzuschauen: Was gibt mir jetzt das Leben in diesem Augenblick für eine Gelegenheit? Und das ist das ‹Look›.

Jetzt kommt das ‹Go›: Das ‹Go› heißt: Mach jetzt etwas aus dieser Gelegenheit.»

Lebendige Spiritualität (2015)
Die Themen des Gesprächs:
‹Stop ‒ Look ‒ Go› leben

Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(29:24) Die Methode: Stop ‒ Look ‒ Go, Innehalten ‒ Innewerden ‒ Tun: Unsere täglichen buddhistischen Augenblicke, unsere ‹amunah›-Spiritualität und unser Yoga

4. Audios zu Gedichten

Fragen, die uns bewegen (2005)
Vortrag:
(37:46) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)

Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag:
Was fördert gesundes spirituelles Wachstum (siehe auch
Mitschrift):
(05:14) ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (R. M. Rilke, Das Stunden-Buch)

Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Fragerunde:
‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (R. M. Rilke)

Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast:
Teil 1:
(11:04) Stufen im Gedicht von R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst›

Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996):
(01:47) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus unsern Herrn:
(20:21) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Duineser Elegie)

5. Weitere Texte und Interviews

Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelin Gander mit Bruder David:

«Haben Sie vielleicht einen Tipp wie wir uns in Achtsamkeit üben können?»

«Als beliebtester Tipp hat sich eine Merkhilfe eingebürgert. Sie besteht aus drei englischen Wörtern, die man Kindern einprägt, wenn sie lernen, an einer Kreuzung ohne Verkehrsampel gefahrlos die Straße zu überqueren: ‹Stop / Look / Go!› — innehalten / rechts und links schauen / und dann rasch machen, bevor die Verkehrslage sich ändert.

Aufs Üben von Dankbarkeit übertragen, bedeutet das: innehalten, denn sonst läufst du an der Gelegenheit vorbei, die dieser Augenblick dir schenkt; / Ausschau halten nach der Gelegenheit, die du ergreifen willst; / und sie dann auch wirklich beim Schopf packen, denn im nächsten Augenblick kann sich die Lage schon ändern.

Meist ist, was uns geboten wird, die Gelegenheit uns einfach zu freuen, an dem was dieser Augenblick bringt. Das klingt zu gut, um wahr zu sein, bis wir das Stop ‒ Look ‒ Go selber ausprobieren.

Wir halten ja so selten inne, sondern laufen wie Schlafwandler an der Gelegenheit uns zu freuen vorbei und wachen erst auf, wenn etwas Unangenehmes uns wachrüttelt. So oft wir aber dieses Stop ‒ Look ‒ Go üben, lassen wir dieses Roboterdasein einen Schritt zurück und kommen näher heran an das wache, erfüllte Leben dankbarer Menschen. So werden Selbstfindung und Selbstverwirklichung gerade denen geschenkt, die diese Werte nicht als ausdrückliches Ziel anstreben.»

Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Ester Platzer mit Bruder David:

«Wie kann man lernen, jeden Augenblick zu genießen?»

«Ich habe da eine kleine Methode entwickelt, die lautet: ‹Stop. Look. Go.› Mit ‹Stop› meine ich: Kurz innehalten, still werden, ins Jetzt kommen, um einen Augenblick zu erkennen. ‹Look› heißt: schauen, welche Gelegenheit das Leben gerade offenbart. ‹Go› bedeutet: etwas aus der Situation machen, handeln, sich erfreuen oder etwas lernen.»

Die drei Schritte der Dankbarkeit (2020) von in KARUNA-Straßenzeitung (Text 2001 erschienen)

Die Innehalten ‒ Schauen ‒ Handeln-Technik (2018):

«INNEHALTEN – präsent, wach, bewusst, empfänglich werden
SCHAUEN – bemerken, beobachten, betrachten, eine direkte Erfahrung machen
HANDELN – anerkennen, etwas in die Hand nehmen, etwas mit den Möglichkeiten und dem Bewusstsein tun, die durch Dankbarkeit entstehen»
]

________________

[1] R. M. Rilke: ‹Wenn es doch nur einmal so ganz stille wäre› (Das Stunden-Buch) ‒ Siehe auch Stille leben

[2] «Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann ‒
und ich fasse den plastischen Tag.

Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.

Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...»

Mit diesem Gedicht eröffnet Rilke Das Stunden-Buch.

[3] LILA, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147f.:

«Lila ist ein Sanskrit-Wort, das ‹Spiel› bedeutet, und steht im Hinduismus für die Vorstellung, dass das gesamte Weltgeschehen letztlich Spiel des Großen Geheimnisses ist: göttliches Kinderspiel, der große Reigentanz des Universums.

Auch für Nicht-Hindus kann dieses Bild große Bedeutung haben: Sinn unsres Lebens ist es, mit dem kosmischen Tanz im Schritt zu sein.»

[4] R. M. Rilke: ‹Solang du Selbstgeworfnes fängst› (Aus dem Nachlass)

[5] Orientierung finden (2021), 102-104, 106f., 86, 107f.

[6] Musik der Stille (2023), 66:

«Die Prim ist die Stunde der Arbeitsverteilung. … Der Ort der Prim ist der Kapitelsaal, wo die Mönche zusammenkommen, um die praktischen Fragen der Gemeinschaft zu besprechen. Die Arbeit wird gemeinsam verteilt.»

 

Quellenangaben

Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - Thorsten Scheu

Die klösterliche Stunde der Laudes[1] führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.

In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte.

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:

Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.

Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.

Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.

Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.

Gieb mir die Hand.

Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht.

Von deinen Sinnen hinausgesandt,
weist er uns an,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.

Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.

Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:

Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken ...
Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.

Und zum Abschied sagt er uns:

Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.

Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.

Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen: an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung. Oft gehen wir wie im Schlaf durchs Leben, bis etwas kommt, an dem wir keine Freude haben: Erst dann werden wir wachgerüttelt.

Wenn wir lernen, die zahllosen Gelegenheiten wahrzunehmen, die uns Grund geben zur Freude am Geschenk des Lebendigseins, dann sind wir vorbereitet, wenn die Zeit kommt, die etwas Schwieriges von uns verlangt. Dann werden wir auch in dieser Herausforderung eine Gelegenheit erkennen und ihr dankbar gerecht werden.

Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzig passende Antwort.

Freude ist jene Art von Glück,
das nicht davon abhängt,
was uns zustößt.

Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt.

Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist?

Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein?

Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade Jetzt geschenkt ist.

Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.

Selbstverständlich ist es oft schwierig, diese Haltung einzunehmen, wenn wir uns plötzlich in einer unangenehmen oder gar tragischen Situation befinden. Wenn wir aber mit einfachen Dingen beginnen, dann wird uns die Haltung der Dankbarkeit nach und nach zur zweiten Natur.

Haben wir nicht Augen, die wir im Morgenlicht öffnen können? Haben wir nicht Ohren, um auf Geräusche zu hören, und Füße; um zu gehen, und Lungen, um zu atmen? Was für Geschenke! Sollten wir nicht dankbar sein und uns an ihnen erfreuen?

Ich verbinde die Laudes immer mit den hohen Fenstern des Oratoriums. Wenn die Gesänge der Laudes an einem Wintermorgen erklingen, sind die Fenster noch immer völlig dunkel. Kaum aber dämmert das erste Licht, beginnen die Farben in den Scheiben zu leuchten und langsam treten Formen und Figuren hervor und werden erkennbar. Diese Klosterfenster in der Dämmerstunde sind für mich ein kraftvolles Bild für das, was geschieht, wenn wir unsere Augen in Dankbarkeit für alles öffnen, was uns begegnet: Wir sehen göttliches Licht durch alles, was ist, hindurchleuchten.

Was für ein Geschenk, jeden Morgen irgendeinem Teil der Natur zu begegnen. Vielleicht haben wir gar nie richtig darauf geachtet auf den Morgenhimmel, auf wiegende Bäume im Wind, auf singende Vögel, oder auf Blumen, die soeben erblühen.

Die Natur ist einfach da; sie hat keinen unmittelbaren Nutzen; sie ist ein reines Geschenk der Schönheit und des Lebens.

Gerard Manley Hopkins sagt:

Tief drinnen in den Dingen lebt die kostbarste Frische.[2]

Und diese ursprüngliche Frische wird jeden Morgen erneuert.

Solange wir unsere Wege gehen und die Dinge als selbstverständlich hinnehmen, werden wir das Licht nie sehen; die Wirklichkeit bleibt undurchlässig wie die Klosterfenster, bevor die Sonnenstrahlen sie zu Wänden aus Licht machen.

In dem Maß, in dem wir Überraschungen in unser Leben hereinfließen lassen, wird unser ganzes Leben lichtdurchlässig. Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran.

Wenn das Licht des frühen Morgens auf das Geschenk des Daseins aufmerksam macht, so durchdringt dieses Mysterium jede Antwort, die wir geben können. Und diese Transzendenz, diese Überfülle ist ein wesentlicher Bestandteil der göttlichen, freizügig geschenkten Gabe, die eine tägliche Einladung zu einer neuen Antwort aus ganzem Herzen ist und zum spontanen Lobpreis ‒ dem Choral ‒ inspiriert.

Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.

Die Freude äußert sich im Lobpreis Gottes und durchzieht sogar die klagenden Melodien der Gesänge.

Freude ist etwas, das wir pflegen können: wenn wir erst einmal diese dankbare Freude in den Gesängen hören und ihre Schönheit unser Herz ergreift, dann können wir auf leichte und natürliche Weise anfangen, Dankbarkeit zu üben.

Die schlanken melodischen Linien des Gregorianischen Chorals in ihrer Einfachheit und überirdischen Schönheit wecken unsere volle Aufmerksamkeit.

Sie entspringen einer tiefen Stille, und haben die Kraft, uns selbst still werden zu lassen, wenn wir sie nicht nur mit den Ohren aufnehmen, sondern mit dem Herzen.

Diese Musik stumpft niemals unser Gehör ab, sondern verfeinert es.

Ihre «asketische» Schönheit und ihre lautere Sinnlichkeit vermitteln den Hörenden mühelos Sammlung und jene besondere Lebenshaltung, die daraus entspringt.[3]

Wach auf!

heißt es in einer ganz frühen christlichen Hymne:

Wach auf, der du schläfst,
steh auf von den Toten,
so wird dich Christus erleuchten.
[4]

Das bedeutet zwar mehr, als dass unsere Sinne wach werden müssen, setzt es aber zumindest unbedingt voraus.

Wie soll unser Herz hellhörig sein, solange unsere Sinne abgestumpft bleiben?

Ist nicht schon das Wiederlebendigwerden unserer halbtoten Sinnlichkeit ein Aufstehen von den Toten?

Auf also endlich!

ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:

«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:

Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.

Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:

Heute, wenn ihr seine Stimme hört,
verhärtet nicht eure Herzen!

Das Wort vom «Licht, das uns göttlich macht» ist eines der kühnsten im Schrifttum der christlichen Überlieferung.

Nur solche Kühnheit aber wird der Frohbotschaft gerecht.

Christus ist das Licht der Welt. In ihm, durch ihn und auf ihn hin ist alles erschaffen ‒ vom «es werde Licht», bis zum «es war sehr gut».

In seinem Lichte sehen wir das Licht und in diesem Licht finden wir ihn als Urgrund alles Geschaffenen.

Indem wir ihn da finden, finden wir zugleich den Sinn alles Geschaffenen und uns selbst.

Sinn aller Schöpfung ist es ja, Gottes Liebe zu offenbaren.

Christus ist Offenbarung von Gottes Liebe; und das müssen auch wir selber werden.

Er ist Ebenbild des unsichtbaren Gottes.

Da wir als Gottes Ebenbild geschaffen sind, finden wir unser wahres Selbst, wenn wir im Herzen aller Dinge ihn finden.

Dem kühnen Wort des Heiligen Benedikt entspricht das berühmte Wort Meister Eckeharts:

Das Auge, mit dem ich Gott anschaue,
ist das Auge, mit dem mich Gott anschaut.
[5]

Das findet seine Vollendung in der visio beatifica des Himmels.

Es beginnt aber mit unserer dankbaren Sinnlichkeit hier auf Erden.[6]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3, 6]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(55:55) Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (Das Stunden-Buch)

1.2. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn
(20:46) ‹Wach auf, du Schläfer› (Eph 5,14)
(46:03) ‹Öffnen wir also unsere Augen für das Licht, das uns göttlich macht› (RB prol 9)

2. Weitere Texte

2.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268f.: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35f.:

«In unserem Herzen ist Gott uns näher, als wir uns selber sind. Der Heilige Augustinus versichert uns dies aus seiner mystischen Erfahrung, und wir ahnen es aus unserer eigenen. Zugleich weiß Augustinus aber auch (und wir wissen es), dass unser Herz ruhelos sei, bis es heimfinde zu seinem Ausgangspunkt, heim zur göttlichen Mitte.

Vom Ursprung unserer Ruhelosigkeit sagt Rilke:

Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand …

Was aber ist diese Sehnsucht? Ist sie nicht letztlich Heimweh? Heimweh nach jenem Urquell von Sinn, den wir Gott nennen. Und der quillt in unserem innersten Herzen auf. Die Sinne senden uns hinaus. Und nur so können wir dahin kommen, wo wir immer schon sind. Unsere Ausfahrt zum äußersten Rand unserer Sehnsucht ist Heimkehr zur Herzmitte. Sinn finden wir, wenn wir mit dem Herzen horchen lernen.»

2.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):

«Wenn der heilige Benedikt seinen Mönchen als Ziel setzt, ‹dass in allem Gott verherrlicht werde›, dann geht es ihm um mehr als darum, Gott Ehre zu erweisen. Er zitiert ja hier den ersten Petrusbrief (4,11) – ‹dass in allen Dingen Gott geehrt werde› – ersetzt aber ‹geehrt werde› (honorificetur) durch ‹verherrlicht werde› (glorificetur). Es geht ihm also nicht so sehr um die Ehrerbietung, die wir Gott erweisen, sondern umgekehrt: um die Herrlichkeit, die Gott vor uns erstrahlen lässt. So gut und wichtig unser menschliches ‹Alles-meinem-Gott-zu-Ehren› auch ist, im Vergleich zum Donnerschlag der göttlichen Glorie ist es kaum eine Knallerbse. Wir Menschen können Gott ehren, aber nur Gott selbst kann Herrlichkeit wie Wetterleuchten aufblitzen lassen. Und das ereignet sich in Augenblicken dankbaren Gehorsams, wenn wir, ‹attonitis auribus› (RB Prol 9) – mit dem Donnerkrachen der Gottesstimme in unseren Ohren – auf diesen Ruf hören und darauf antworten. Der Gehorsam und die Dankbarkeit öffnen unsere Augen für das ‹lumen deificum› (RB Prol 9), jenes Taborlicht (Mt 17; Mk 9; Lk 9), das die ganze Schöpfung verklärt, indem es sie durchscheinend macht für Gottes Herrlichkeit.»

2.3. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 26f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 23f.]:

«Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche.

‹Natur ist niemals verbraucht›, sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe. ‹Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.›[7]

Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals. Bei Regenbogen ist das offensichtlich. Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, ‹ein Schleier aus dem Atem eines Windes›, wie Robert Frost das nennt, ‹ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht.›

Wir können uns dazu trainieren, uns für jenen Hauch von Überraschung empfänglich zu machen, indem wir ihn zunächst dort entdecken, wo wir ihn am leichtesten finden. Das Kind in uns bleibt immer lebendig, immer offen für Überraschungen; nie hört es auf, vom einen oder anderen erstaunt zu sein.

Vielleicht sah ich ‹an diesem Morgen des Morgens Liebling›, Gerard Manley Hopkins ‹vom Morgengrauen gezogenen Falken schweben›[8], oder einfach die zwei Zentimeter Zahnpasta auf meiner Zahnbürste.

Für das Auge des Herzens sind sie alle gleich erstaunlich, denn die allergrößte Überraschung ist die, dass es überhaupt etwas gibt ‒ dass wir hier sind.

Den Geschmack unseres Intellekts für Überraschung können wir kultivieren. Und alles, was uns erstaunt aufschauen lässt, öffnet ‹die Augen unserer Augen›.

Wir fangen an, alles als Geschenk zu betrachten. Ein paar Zentimeter Überraschung können zu Meilen von Dankbarkeit führen.»

2.4. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 32-35]

__________________

[1] Die Laudes (Plural von lat. laus‚ Lob, Lobgesang) sind das Morgengebet der Mönche bei Tagesanbruch

[2] «God’s Grandeur

The world is charged with the grandeur of God.
It will flame out, like shining from shook foil;
It gathers to a greatness, like the ooze of oil
Crushed. Why do men then now not reck his rod?

Generations have trod, have trod, have trod;
And all is seared with trade; bleared, smeared with toil;
And wears man's smudge and shares man's smell: the soil
Is bare now, nor can foot feel, being shod.

And for all this, nature is never spent;
There lives the dearest freshness deep down things;
And though the last lights off the black West went

Oh, morning, at the brown brink eastward, springs ‒
Because the Holy Ghost over the bent
World broods with warm breast and with ah! bright wings.»

«Gottes Größe

Die Welt ist erfüllt von Gottes Größe.
Ihr Feuer bricht auf wie aus Spiegelscherben.
Sie strömt ins Große wie gepresstes Öl aus den Kerben.
Warum kniet vor ihr nicht des Menschen Blöße?

Menschenalter immerfort in neuen Gleisen reisen und kreisen.
Und alles verdorrt vom Getriebe, verrucht, verflucht von Qualen.
Alles starrt von Menschenschmutz, riecht nach Menschenschweiß: ohne Schalen
liegt die Erde nackt, kein Fuß kann fühlen mit Sohlen aus Eisen.

Und doch ist von alldem Natur nicht ganz zuschanden.
Es ist noch aus Lebenstiefen köstlichste Frische zu trinken.
Auch wenn die letzten Schimmer im schwarzen Westen verschwanden,

o Morgen, über dem braunen Saum gen Osten, dein Winken ‒
denn der Heilige Geist brütet über den Banden
der Welt mit warmem Flaum und ah! seine Flügel blinken.»

Gerard Manley Hopkins: ‹Poems and Prose› (Penguin Classics, 1985); übersetzt von Detlev Wilhelm Klee

[3] Auszüge aus Musik der Stille (2023), 48-56, 58: Laudes: Tagesanbruch

[4] Eph 5,14

[5] «Soll mein Auge die Farbe sehen, so muss es ledig sein aller Farbe. Sehe ich blaue oder weiße Farbe, so ist das Sehen meines Auges, das die Farbe sieht ‒ ist eben das, was da sieht, dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.» (Meister Eckhart: Predigt ‹Qui audit me›)

[6] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 279f.: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 51f.

[7] Siehe Anm. 2

[8] «The windhover

I caught this morning morning's minion, king-
dom of daylight's dauphin, dapple-dawn-drawn Falcon, in his riding
Of the rolling level underneath him steady air, and striding
High there, how he rung upon the rein of a wimpling wing

In his ecstasy! then off, off forth on swing,
As a skate's heel sweeps smooth on a bow-bend: the hurl and gliding
Rebuffed the big wind. My heart in hiding
Stirred for a bird, – the achieve of, the mastery of the thing!

Brute beauty and valour and act, oh, air, pride, plume, here
Buckle AND the fire that breaks from thee then, a billion
Times told lovelier, more dangerous, O my chevalier!

No wonder of it: shéer plód makes plough down sillion
Shine, and blue-bleak embers, ah my dear,
Fall, gall themselves, and gash gold-vermilion.»

«Der Windgleiter

Ich fing heut Morgen des Morgens Liebling, den Königssohn
im Reich des Tageslichts, den Falken im getupften Dämmerkleid, er ritt
übers Hügelland, unter ihm die stille Luft, und schritt
hoch daher, wie flog über Flatterflügels Zügel der schrille Ton

in seinem Rausch! Dann weg, weit weg im Schwunge schon,
wie ein Schlittschuh sanft die Schleife saust: Sturz und Gleiten
stieß vor sich her der große Wind. Meines Herzens stumme Saiten,
ein Vogel schlug sie wach ‒ ihn zu erlangen, Ihn zu fangen war mein Lohn!

Wüste Schönheit und Mut und Tat, o Luft Stolz, Gefieder,
hier knicke ein! Und die Feier, die da aus dir brechen ohne Zahl,
ihren Zauber, ihre Fährnis, o mein Troubadour, fassten besser deine Lieder!

Wen nimmt es wunder: Schiere Schufterei pflügt tausendmal
die Lichter unter, und blau-graue Aschenglut fällt hernieder,
mein Teurer, sie sauert ein, und Goldrubine sickern aus dem Wundenmal.»

Gerard Manley Hopkins: ‹Poems and Prose› (Penguin Classics, 1985); übersetzt von Detlev Wilhelm Klee



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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«Hören, DU großes Geheimnis, ist Dein Geschenk. Dich hören zu können, ist deine große Gabe an mich; auf dich zu horchen ist meine große Aufgabe vor dir. Öffne DU die Ohren meines Herzens. Mach mich ganz Ohr.

In den Singenden singst DU; in den Weinenden weinst DU; in den Schweigenden schweigst DU ‒ mit beredtem Schweigen. Lass mich so still werden, dass auch deine Stille deutlich zu mir redet. In deinem Schweigen darf ich schweigend ruhen.

Lass mich so hellhörig werden, dass am Wendepunkt, an dem deine Gegenwart mir entgegenwartet, mein Horchen zum Gehorchen wird und mein Hören zum dir Angehören. Amen.»[1]

Das Schlüsselwort für meinen Zugang zum geistlichen Leben heißt Horchen.

Damit ist eine besondere Art des Horchens gemeint, ein Hinhorchen des Herzens.

So zu horchen, ist das Rückgrat der mönchischen Tradition, in der ich stehe.

Das allererste Wort der Regel des heiligen Benedikt lautet: «Horch!»«Ausculta!»[2] ‒, und aus dieser ersten Geste des Horchens aus ganzem Herzen erwächst die gesamte Disziplin der Benediktiner, wie eine Sonnenblume aus ihrem Samen wächst.[3]

Die Spiritualität der Benediktiner geht ihrerseits auf die umfassendere und ältere Disziplin der Bibel zurück.

Aber hier ist der Begriff des Horchens von grundlegender Bedeutung. Aus biblischer Sicht kommen alle Dinge durch Gottes schöpferisches Wort in die Welt; die gesamte Geschichte ist ein Dialog mit Gott, der zum Herzen der Menschen spricht.

Die Bibel verkündet mit großer Klarheit, dass Gott eins ist und transzendent.

Bewundernswert ist die Einsicht des religiösen Geistes, der in der biblischen Literatur seinen Ausdruck gefunden hat, dass Gott zu uns spricht.

Der transzendente Gott spricht in Natur und Geschichte. Das menschliche Herz ist dazu aufgerufen, zu horchen und zu antworten.

Horchen und Antworten ‒ das ist die Form, welche die Bibel unserem grundlegenden religiösen Streben als menschliche Wesen vorzeichnet: dem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, dem Streben nach Sinn.

Unser Glücklichsein gründet sich nicht auf Glücksgefühle, sondern auf inneren Frieden, den Frieden des Herzens.

Selbst inmitten einer sogenannten Pechsträhne, inmitten von Leid und Schmerz können wir unseren inneren Frieden finden, wenn wir aus all dem Sinn heraushören.

Die biblische Überlieferung zeigt uns den Weg, indem sie verkündet, dass Gott selbst in der schlimmsten Notlage und durch sie zu uns spricht.

Indem ich mich der Botschaft des Augenblicks ganz öffne, kann ich zur Quelle der Sinnhaftigkeit vorstoßen und den Sinn des Lebens erkennen.

So zu horchen heißt, mit dem Herzen horchen, mit dem ganzen Wesen.

Herz bedeutet das Zentrum unseres Wesens, in dem wir wahrhaftig eins sind. Eins mit uns selbst, nicht aufgespalten in Verstand, Wille, Gefühle, Körper und Geist, eins mit allen anderen Geschöpfen.

Denn das Herz ist der Bereich, in dem wir nicht nur mit unserem innersten Selbst in Berührung sind, sondern gleichzeitig mit dem ganzen Dasein innigst vereint sind.

Hier sind wir auch vereint mit Gott, der Quelle des Lebens, welche im Herzen entspringt. Um mit dem Herzen zu horchen, müssen wir immer wieder zu unserem Herzen zurückkehren, indem wir uns die Dinge zu Herzen nehmen.

Wenn wir mit dem Herzen horchen, werden wir Sinn finden, denn so wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Geräusche, ist das Herz das Organ für Sinn.

Die Disziplin des täglichen Horchens und Antwortens auf den Sinn wird Gehorsam genannt

Dieser Begriff von Gehorsam ist viel umfassender als die beschränkte Vorstellung von Gehorsam als Tun-was-einem-gesagt-wird.

Gehorsam, im umfassendsten Sinn, heißt, sein Herz auf den einfachen Ruf einstimmen, der in der Vielfalt und Vielschichtigkeit einer gegebenen Situation enthalten ist.

Die einzige Alternative dazu ist Absurdität, Ab-surdus bedeutet wörtlich «absolut taub».

Wenn ich eine Situation absurd nenne, gebe ich zu, dass ich taub für ihren Sinn bin. Ich gestehe indirekt ein, dass ich ob-audiens werden muss ‒ aufmerksam horchend, gehorsam.

Ich muss mein Ohr, mich selbst, so völlig dem Wort, das mich erreicht, hingeben, dass es mir zum Auftrag wird.

Vom Wort gesandt, werde ich meiner Sendung gehorchen und so, durch liebevolles und wahrhaftiges Handeln, nicht durch eine Analyse der Wahrheit, fange ich an zu verstehen.

Was aus all dem für mein Handeln folgt, liegt auf der Hand.

Umso wichtiger ist es, im Auge zu behalten, dass es uns hier nicht vornehmlich um ethische, sondern um religiöse Erwägungen geht, nicht um Zweckbestimmung ‒ selbst dann nicht, wenn es sich um die edelsten Zwecke handelt ‒, sondern um jene religiöse Dimension, aus der jeder Zweck seinen Sinn ableiten muss.

Die Bibel nennt das Horchen und Antworten des Gehorsams «vom Wort Gottes leben», und das bedeutet viel mehr, als nur Gottes Willen tun.

Es bedeutet, sich vom Wort Gottes zu nähren wie von Speis und Trank ‒ vom Wort Gottes in jedem Menschen, jedem Ding, jedem Ereignis, dem wir begegnen.

Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:

Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin. Ihre Beschaffenheit, ihr Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.

Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist. Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?

Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht. Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft. Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.

Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.

Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.

Aber auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. Im Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen.

Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebenspendendes Wort?

Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.

Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt.

Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit.

Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.

Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube.

Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebers nicht offenbar ist, heißt, den Weg zum Herzensfrieden finden.

Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.

Übung im Horchen mit dem Herzen lehrt uns in einem lebenslangen Prozess, unterschiedslos nach jedem Wort zu leben, das aus dem Munde Gottes kommt.[4]

Wir lernen es, indem wir in allen Dingen unsere Dankbarkeit bezeugen.

Die klösterliche Umgebung soll genau dies erleichtern. Die Methode ist Losgelöstheit.[5]

Ich kenne zwei alte Schwestern, die ihre eigene Methode haben: Jedes Mal, wenn die Pendeluhr schlägt, sagt eine von den beiden:

«Denk an Gottes Gegenwart!»,
und die andere antwortet:
«Und sei allzeit dankbar!»[6]

Das mag manchen ein bisschen verschroben anmuten. Man braucht es aber nur selbst zu versuchen, um zu entdecken, was sich da ereignet:

Kronos verwandelt sich in Kairos,
Uhrzeit in einmalige Gelegenheit,
ein unpersönlicher Zeitpunkt
in tief persönliche Begegnung
mit dem Geber aller Gaben.

Wenn wir nur einmal anfangen, wach zu sein für die Gelegenheit, die ein gegebener Augenblick uns bietet, dann ist es nur ein kleiner Schritt von sinnenfroher Aufgewecktheit zur wachen Antwort ernster Verantwortlichkeit.

Meistens, ja fast immer, ist die Gelegenheit, die uns geboten wird, Gelegenheit zu sinnlicher Freude.

In dem Maß, in dem wir lernen, diese Gelegenheiten dankbar freudig zu ergreifen, werden wir auch ganz da sein, wenn ein gegebener Augenblick Schwieriges von uns verlangt ‒ etwa für unsere Überzeugung einzutreten.

So gesehen, zeigen sich traditionelle Elemente christlicher Askese von einer neuen Seite. Wenn der Heilige Bernhard zum Beispiel von der Nützlichkeit des Fastens spricht, erwähnt er an erster Stelle, dass Hunger uns lehrt, den Geschmack der Speisen erst so recht zu würdigen.

Auch die «lectio divina» der Benediktinermönche gehört hierher. Es handelt sich dabei ja keineswegs nur um «geistliche Lesung» im engen Sinn, sondern um ein waches «Lesen» der Botschaft, die jeder Augenblick bringt. Nur so ist die zentrale Stellung von «lectio» in der benediktinischen Askese zu verstehen.

Einmal liest der Mönch mit gesammelter Aufmerksamkeit die Worte der Heiligen Schrift, ein andermal mit derselben Konzentration die Zeichen der Maserung im Holz, mit dem er arbeitet, oder die Zeichen der Zeit in der er lebt.

Ein und dieselbe innere Haltung kennzeichnen das «Lesen» in all diesen Bereichen. Wer die Zeichen der Zeit nicht lesen kann oder die Schrift der Eisblumen an den Fensterscheiben, der liest vielleicht die Buchstaben in der Bibel, bleibt aber doch geistlicher Analphabet.

Um Botschaft und Antwort dreht sich alles in der christlichen Askese, um Gelegenheit und Bereitschaft, um Horchen und Gehorchen.[7]

«Gehorchen will ich letztlich nur DIR, DU ‹sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen›.[8]

Wie Jakob eine ganze Nacht lang rang mit deiner dunklen Gegenwart, so rang und ringt die Menschheit in der Nacht der Zeit mit dir schon von Anbeginn.[9]

Mein Ringen ist mein Nicht-horchen-Wollen, obwohl ich dich hören kann tief im Herzen.

Siege DU über mich ‒ in mir.

Nicht nur horchen will ich dann, sondern so hingegeben horchen, dass mein Horchen zum Gehorchen wird ‒ und zum Überschreiten: zum Überschreiten meiner eigenen begrenzten Einsichten und Absichten; zum Überschreiten aller Hindernisse durch gehorsames Tun; zum Überschreiten auch ‒ im Vertrauen auf dich ‒ von allem, was ich mir selber je zugetraut hätte.

Als ‹sanftestes Gesetz› lass mich dich erkennen.

In wahrhaft wachen Augenblicken ist mir ja klar, dass DU die Freiheit bist, nach der ich mich sehne. Amen.»[10]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5, 7, 10]

[Ergänzend:

1. Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:

(06.45) «Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.

Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.

(10:01) Dieses Horchen mit dem Herzen ist keineswegs etwas Abstraktes, sondern ist ganz konkret mit dem Horchen mit den Ohren verbunden. Es beginnt mit einem intensiven Horchen lernen. Wie können wir uns denn einbilden, mit dem Herzen horchen zu können, wenn wir nicht einmal mit den Ohren eingeblendet sind auf die vielen wundervollen Geräusche, die uns ständig umgeben.

(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.»

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(32:33) Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten (Rilke, Die erste Elegie) – Die Gestalt des Orpheus – Da schufst du ihnen Tempel im Gehör (Die Sonette 1. Teil, I) – Jeden Morgen weckt er mein Ohr (Jes 50,4)
(41:22) Eine Linie zum völlig offenen Horchen über das Hören ‒ Horchen ‒ Hinhorchen ‒ Gehorchen. Unterschied von Gehorchen und Dressur. Das erste Wort der Benediktinerregel: Horche! Ausculta! – Ohr und inneres Gleichgewicht in den Forschungen von Alfred A. Tomatis

2.2. Horchen ‒ die Kunst des Betens (2002): Interview von Johannes Kaup mit Bruder David:
(06:37) Wir horchen auf das Wort, das uns jeder Augenblick zuspricht. Dieses ES, das alles gibt, darauf horchen wir hin. Jede Gelegenheit, jeder Augenblick, jedes Ding, jede Begegnung, jede Situation ist Wort und hat Sinn, will uns etwas sagen. Und wenn wir uns darauf einlassen und darauf hinhorchen, dann hören wir auch etwas, und was wir hören, ist, dass wir zu einer Entscheidung aufgerufen werden. Jeder Augenblick ist in gewissem Sinn Entscheidung.
(10:42) Im Kloster gehört zur ‹lectio divina›, zur heiligen Lesung, nicht nur die Schriftlesung. Eine meiner liebsten Formen der heiligen Lesung ist Biologiebücher zu lesen: die Evolution der Pflanzen, der Tiere; die Komplexität dieser Vorgänge, die Schönheit der Blüten usw.. Das ist für mich sehr erhebend und kann ebenso spirituelle Lesung sein.

2.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25.11) Öffne die Ohren ‒ ‹neige Dein Ohr› ‒ Gott spricht in jedem Augenblick

2.4. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(00:00) Mit dem Herzen horchen fällt uns nicht leicht ‒ Erlauben wir uns eine halbe Minute der Stille (02:04) Wie können wir von Herz zu Herz sprechen? Die Dichtung gibt uns eine helfende Hand

2.5. Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
Gesammelt horchen
Gelassen horchen
Gläubig horchen
Verantwortlich horchen
Dankbar horchen

3. Weitere Texte

3.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 265: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 18f.:

«Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist›, wie T. S. Eliot es ausdrückt.[11]

In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist› zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒

‹jetzt und in der Stunde unseres Todes.›

‹Und die Todesstunde ist jeder Augenblick›, sagt T. S. Eliot, denn der Augenblick, in dem wir wirklich hinhorchen, ist ‹Augenblick in und außer der Zeit.›[12]

Eine Methode, mit deren Hilfe man Augenblick für Augenblick in dieses Mysterium eindringen kann, ist die Disziplin des Jesus-Gebetes, Training im Herzensgebet, wie es auch heißt.»

3.2. Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 23f. [derselbe Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille : Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein» (2016), 103]:

«Um im Rhythmus zu bleiben, muss man hinhorchen. Um den Weg zu sehen, muss man hinschauen. Das Kloster ist deshalb ein Ort, an dem man lernt, Augen und Ohren offen zu halten. ‹Höre!› ist das erste Wort der Klosterregel des Heiligen Benedikt. Ein weiteres Schlüsselwort lautet: ‹Betrachte!› (lateinisch: considera, von sidus = das Sternbild/Gestirn, also wörtlich: seinen Kurs nach den Sternen bestimmen).

Der Heilige Benedikt, Vater des abendländischen Mönchtums, will, dass die Mönche ‹apertis oculis› und ‹attonitis auribus› leben, d. h. mit so offenen Augen und so horchenden Ohren, dass die Stille göttlicher Gegenwart sie wie Donner trifft.

Deshalb ist ein Benediktinerkloster ‹schola Dominici servitii›, eine Schule, in der man lernt, sich auf die höchste Ordnung einzustimmen.»

3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:

Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)

Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)

3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben›. Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben.» (38)]

_________________

[1] Leseprobe aus dem Buch Erwachende Worte (2023), 19

[2] Für Bruder David ist der Ausdruck «Ausculta»von «auscultare: horchen, lauschen, gehorchen» ‒ geläufig, obwohl in den lateinischen Ausgaben der RB «Obsculta»«Höre» steht.

[3] Bruder David übersetzt RB Prol 8f. in Sinne und Sinnlichkeit (1996), 280, dem Auszug aus Die Achtsamkeit des Herzens: Der Dreischritt des horchenden Herzens (2021), 51:

«Auf also endlich!» ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:

«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:

‹Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.›

Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:

‹Heute, wenn ihr seine Stimme hört,
verhärtet nicht eure Herzen!›»

Siehe auch Sinnenfreudiges Morgenlob: Haupttext und Ergänzend: 2.2

[4] Siehe das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Gebet ‒ drei Innenwelten

[5] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 261-264: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 13-17

[6] In Musik der Stille (2023), 89:

«Ich habe zwei Schwestern gekannt, deren Standuhr jede Viertelstunde schlug. Jedes Mal, wenn die Uhr schlug, sagte die eine: ‹Denk an Gottes Gegenwart› und die andere antwortete: ‹und sei allzeit dankbar›.

Es ist so einfach, sich ein paar Mal am Tag oder jeweils zur vollen Stunde daran zu erinnern, dass wir in Gottes Gegenwart stehen. Der heilige Benedikt betonte, dass eben dies das Wesen des Gebets ausmacht. Drum freue ich mich immer, wenn ich in Europa die Kirchenglocken höre. Sie tauchen die ganze Landschaft in klösterliche Schwingungen.»

[7] Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 84-86

[8] R. M. Rilke: ‹Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz› (Das Stunden-Buch: ‹Vom mönchischen Leben›)

[9] Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 94f.

[10] Erwachende Worte (2023), 27

[11] Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:

(25:01) «T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.»

[12] Siehe Auszüge aus T. S. Eliot: Four Quartets in Stillehalten


Quellenangaben

Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - Robert Graf

(Film 00:24) Lebendig sein: darauf kommt’s schließlich im Letzten an. Das geistliche Leben heißt ja, ein überaus lebendiges Leben führen. Dass wir noch nicht gestorben sind, bedeutet nicht, dass wir wirklich lebendig sind. Wir leben oft so halbtot dahin. Der Geist ist der Lebensatem Gottes in unserer christlichen Tradition, in der ganzen biblischen Tradition. Daher bedeutet ein geistliches Leben führen, völlig lebendig zu sein. Mit allen Sinnen. Und darauf kommt es schließlich im Letzten an: Lebendigkeit.

(04:00) Wenn wir vom Sinn finden sprechen, dann kommen natürlich die Sinne in das Spiel. Denn es ist ja kein Zufall, dass Sinn und Sinne dem Wort nach zusammenhängen. Rilke hat das so wunderbar in seinem Gedicht zusammengefasst in einem der Sonette an Orpheus:

Sei in dieser Nacht aus Übermass
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne.
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Sei Sinn! Denn Sinn finden, heißt ja eigentlich Sinn werden. Das heißt so zu leben, dass wir in jedem Augenblick uns dem stellen ‒ mit allen unsern Sinnen ‒, was uns entgegenkommt.

(06.45) Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.

Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.

Ursprünglich in unserer natürlichen Frömmigkeit denken wir noch nicht notwendigerweise an einen persönlichen Gott. Sondern wir erleben in unsern besten, lebendigsten Augenblicken eine tiefe Geborgenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Daheimsein in der Welt. Wir sind hier nicht verweist, wir wurden erwartet, wir sind eingebettet, die Welt ist für uns vorbereitet, wir sind hier zu Hause.

Und von diesem Zugehörigkeitsgefühl ist kein sehr weiter Weg zu der Gegenseitigkeit der Zugehörigkeit. Und da kommt dann die persönliche Bezogenheit zum Göttlichen herein, und das ist der Gesichtspunkt des Religiösen, der in der biblischen Tradition besonders unterstrichen wird, auf den die biblischen Autoren besonders ansprechen.

Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: «Gott sprach und es ward Licht.» Und «Gott sprach», und da war ein Firmament», und «Gott sprach», und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.

Aber wie spricht Gott? Durch alles, was es gibt. Jeder Gegenstand, jede Person, jede Situation ist letztlich WORT. Das Wort sagt mir etwas und fordert mich auf zu antworten. Jeder Augenblick mit allem, was er enthält, spricht das große Ja auf neue und einzigartige Weise aus. Indem ich darauf anspreche, Augenblick für Augenblick, Wort für Wort, werde ich das WORT, das Gott in mir und zu mir und durch mich spricht.

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Du hast mich mit Augen beschenkt und du beschenkst meine Augen mit Farben ‒
von den Farben, die im Morgengrauen stillschweigend zu sich finden,
bis zu den lauten Farben am Mittag
und den jubelnden beim Sonnenuntergang.
Jede Farbe hat ihren eigenen Ton.
Mit jeder Farbe sprichst du mir ein Wort zu,
das sich nicht in Worte fassen lässt.
Mach mich heute hellhörig für Farben,
besonders für leise Farbtöne, die ich nicht nennen kann,
die mich Ehrfurcht lehren vor allem, was unnennbar ist wie du.

Amen»

Deshalb ist Achtsamkeit eine so überaus wichtige Aufgabe. Wie kann ich auf diesen jetzigen Augenblick ganz ansprechen, wenn ich nicht wach bin für seine Botschaft? Und wie kann ich wach sein, wenn nicht alle meine Sinne hell wach sind?

Gottes unerschöpfliche Poesie kommt mir in fünf Sprachen entgegen: Gesicht, Gehör, Geruch, Gespür und Geschmack. Alles Übrige ist Deutung – genau genommen Textkritik, nicht die Poesie selbst, denn Poesie entzieht sich der Übersetzung. Sie kann nur in ihrer Originalsprache ganz erfahren werden, was für die göttliche Poesie der Sinnlichkeit umso mehr gilt. Wie kann ich also den Sinn des Lebens verstehen, wenn nicht durch meine Sinne?

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Alles soll heute Begegnung werden mit dir
durch Wort und Bild ‒ durch alles, was meine Sinne anspricht,
durch alles, was dabei in meinem Herzen aufleuchtet.
‹Quellgrund›? ‹Meer›? Bilder und Worte, von mir gefunden.
Aber was dahintersteht, ihre Bedeutung, ist nicht Erfindung, sondern Fund. Nur im Erfinden kann ich dich finden.
‹Wir dürfen jenen erhorchen›, sagt der Dichter von dir, ‹der uns am Ende erhört›.
Lass mich heute dich erhorchen in allem, was ich mit Ohr und Herz höre!
Und erhöre du dieses Gebet.

Amen»

Wann und worauf reagieren unsere Sinne am bereitwilligsten? Wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich sofort an die Arbeit in meinem kleinen Garten. Wegen ihres Duftes habe ich dort Jasmin, Minze, Salbei, Thymian und acht Arten Lavendel. Welch eine Fülle köstlicher Düfte auf einem so kleinen Stück Erde!

Und welche Vielfalt von Tönen: Der Frühlingsregen, der Herbstwind, die Vögel im ganzen Jahr – Trauertaube, Blauhäher und Zaunkönig; der scharfe Ruf des Falken zur Mittagszeit und die Rufe der Eule zur Nacht –, das Geräusch der Ginsterruten auf dem Kies, das Spiel des Windes und die knarrende Gartentür.

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!

Öffne du mir heute die Ohren meines Herzens, damit ich nicht nur Geräusche höre und Töne, sondern ‒ darüber hinaus ‒ dich? Ja, dich!
Dich in Vogelstimmen mitzuhören ‒
im Singen der Amseln,
im Zwitschern der Spatzen,
im nächtlichen Schrei der Zugvögel ‒
das ist leicht.
Mach mich aber bereit, auch in Stimmen,
die mir nicht so angenehm sind, dich mitzuhören ‒
in Sirenen und Kreissägen,
in den Abendnachrichten,
vor allem aber in allem Unausgesprochenen,
das um liebendes Hinhorchen fleht.
Darum bitte ich dich heute, du, mein ‹Darüber-Hinaus›!

Amen.»

Wer könnte den Geschmack einer Erdbeere oder Feige in Worte übersetzen?

Und welch endlose Auswahl von Dingen, die man berühren kann, vom taunassen Gras unter meinen nackten Füßen bis zu den sonnen-durchwärmten Felsen, an die ich mich lehnen kann, wenn die Abende kühl werden.

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Zu den schönsten Morgenstunden meines Lebens
gehört das Barfußlaufen durch taufrisches Gras.
Zwar hab ich das gar nicht so oft erlebt,
in meiner Erinnerung aber steigt es immer wieder auf
und ich freue mich daran.
Könnte ich das eigentlich nicht täglich tun?
Du schenkst mir Fantasie genug, die Heilkraft zu fühlen,
die aus dem kühlen, feuchten Rasen aufsteigt;
jeder Grashalm weckt frische Lebendigkeit in meinen Fußsohlen.
Heute soll meine Fantasie mir dienlich sein:
Taufrisches Barfußlaufen (auf dem Bettvorleger)
soll mein freudiges Morgenlob werden.

Amen.»

Meine Augen gehen vor und zurück zwischen Fernem und Nahem: der goldgrüne, metallisch glänzende Käfer zwischen den Blütenblättern einer Rose, die unermessliche Weite des Pazifischen Ozeans zwischen der Küste tief unten und dem weiten Horizont, wo Meer und Himmel sich im Dunst begegnen.

Ja, ich gebe es zu: Einen solchen Platz zu haben, ist ein unschätzbares Geschenk. Es lässt das Herz aufgehen, die Sinne erwachen, einen nach dem anderen von neuer Vitalität lebendig werden. Wie auch immer die Umstände beschaffen sein mögen: Wir brauchen Zeit und Ort, um uns dieser Art von Erlebnis zu widmen. Es ist eine Notwendigkeit im Leben eines jeden, kein Luxus.

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Erst, wenn ich mich so recht in Vögel einfühle, wird mir bewusst, dass ja auch wir ohne Hände auskommen müssten, wenn uns keine geschenkt wären.
Wo immer man im Freien isst, nie fehlen Spatzen unter den Tischen.
Um wieviel geschickter diese Spatzen Krümchen aufzupicken verstehen, als Kinder beim Wettspiel mit gefesselten Händen in den Apfel zu beißen, der im Wasser schwimmt!
Sie schauen mich an wie beim Fahrradfahren-Lernen: «Schau! Freihändig kann ich's!»
Was ich alles mit Händen tun kann, will ich heute beachten.

Amen.»

Was in solchen Momenten zum Leben erwacht, ist mehr als Augen und Ohren: unsere Herzen lauschen und öffnen sich.

Bevor ich nicht meine Sinne eingestimmt habe, bleibt mein Herz düster, schläfrig, halbtot. In dem Maße, in dem mein Herz erwacht, vernehme ich die Aufforderung, mich meiner Verantwortung zu stellen. Wir übersehen leicht die enge Verbindung zwischen Antwortbereitschaft und Verantwortlichkeit, zwischen Sinnlichkeit und gesellschaftlicher Herausforderung.

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Mit verschlafenen Augen sehe ich die Welt weit anders als später am Tag. Auch darin liegt ein Geschenk:
Beim Aufwachen greifen meine Augen noch nicht nach dem, was ich sehe, sondern empfangen es einfach, ohne scharf zu unterscheiden,
ohne zu benennen, ohne zu wählen.
Wie viel reicher ist da die Ernte meines Blickfeldes als die karge Auswahl,
die ich dann später treffe.
Hilf mir heute, mich bewusst einzulassen auf diese bereitwillige  Empfänglichkeit des Schauens, und so erst wahrhaft wach
durch diesen Tag zu gehen.

Amen.»

Wenn wir lernen, wirklich mit unseren Augen zu sehen, beginnen wir auch mit dem Herzen zu schauen. Wir fangen an, uns dem zu stellen, das wir lieber übersehen, um zu bemerken, was auf dieser unserer Welt geschieht.

Wenn wir lernen, mit unseren Ohren zu lauschen, beginnt unser Herz den Schrei der Unterdrückten zu vernehmen. Mit dem eigenen Körper in Kontakt zu sein heißt, mit der Welt in Verbindung zu sein – und dazu gehören auch die Dritte Welt und alle anderen Bereiche, derer sich unsere stumpfen Herzen bequemer Weise nicht bewusst sind.

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Jeden Morgen erwache ich zum Geschenk eines neuen Tages, aber auch zu allem E1end der Welt.
Unheil, das wir Menschen anrichten, ist entsetzlich genug.
Aber Erdbeben, Epidemien, Tsunamikatastrophen, wo kommen die her?
Ich will keine rosa Brille, will dich nicht nach meinen Wunschträumen erfinden.
Ich möchte dich kennenlernen, wie du bist.
Lebensfülle und Vernichtung ‒ beides stammt von dir, du Unergründlicher. Mich schaudert.
Ich kann verzweifeln oder vertrauen. Ich wähle vertrauen.
Alles Böse ist das Noch-nicht-Gute.
Mit diesem Vertrauen will ich heute Schreckensnachrichten hören.

Amen.»

Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht man seine Achtsamkeit verliert. Die Übersättigung unserer Sinne neigt dazu, die Wachheit zu dämpfen. Eine Flut von Sinneseindrücken lenkt das Herz leicht von der gesammelten Aufmerksamkeit ab.

Aber der Einsiedler in jedem von uns läuft nicht vor der Welt davon; er sucht das Zentrum der Stille im Innern, wo der Pulsschlag der Welt zu hören ist.

Wir alle – jeder in anderem Maße – brauchen Einsamkeit, weil die Pflege unserer Achtsamkeit notwendig ist.

Wie sollen wir dies praktisch durchführen? Gibt es eine Methode zur Pflege der Achtsamkeit?

Es gibt viele Methoden. Der Weg, den ich gewählt habe, ist Dankbarkeit; man kann sie üben, pflegen, lernen. Je mehr wir in der Dankbarkeit wachsen, desto mehr wachsen wir in der Achtsamkeit. Bevor ich des Morgens meine Augen öffne, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe zu sehen, während Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind – die meisten aufgrund von Umständen, die man bessern könnte, wenn die Menschheitsfamilie zur Vernunft käme und ihren Reichtum sinnvoll, das heißt gleichmäßig, verteilte.

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!»

Wenn ich bewusst und hellwach schauen lerne, wächst meine Lebensfreude, meine Dankbarkeit fürs Sehen-Können, aber auch Bestürzung darüber, dass mehr als 40 Millionen meiner Mitmenschen blind sind ‒ Hauptursache: Mangelernährung und Hunger bei Kindern. Dabei würden die weltweiten Aufrüstungskosten von nur drei Tagen genügen, Hunger aus der Welt zu schaffen.
Heute will ich wenigstens einem Menschen diese erschütternden Statistiken bewusst machen und fragen: ‹Was können wir tun?›
Solche Fragen können weite Kreise ziehen und Menschen aufwecken. Statt zu verzweifeln, lass mich also wach hinterfragen.

Amen»

Wenn ich meine Augen mit diesem Gedanken öffne, bin ich höchstwahrscheinlich dankbarer für die Gabe des Sehens und wacher für die Bedürfnisse jener, die dieser Gabe ermangeln. Bevor ich am Abend das Licht ausschalte, notiere ich mir etwas, für das ich noch niemals dankbar gewesen bin. Das übe ich nun seit Jahren, und der Vorrat scheint unerschöpflich zu sein.

Dankbarkeit bringt Freude in mein Leben. Wie könnte ich Freude finden in Dingen, die ich für selbstverständlich halte? Also höre ich auf, etwas für «selbstverständlich» zu halten, und schon ist kein Ende mehr der Überraschungen, die mir begegnen.

Eine dankbare Haltung ist schöpferisch, denn letzten Endes ist Gelegenheit das Geschenk, das verborgen ist in dem Geschenk eines jeden Augenblicks – die Gelegenheit, mit Vergnügen zu sehen, zu hören, zu riechen, zu berühren und zu schmecken.

Es gibt kein engeres Band als jenes der Dankbarkeit, die Verbindung zwischen dem Gebenden und dem Dankenden. Alles ist Geschenk. Dankbares Leben ist ein Fest des universellen Gebens und Nehmens im Leben, ein grenzenloses Ja zur Zugehörigkeit.

Kann unsere Welt ohne Dankbarkeit überleben? Wie die Antwort auch lauten mag - ein bedingungsloses Ja zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller Wesen bringt mehr Freude in diese Welt.

Aus diesem Grunde ist Ja mein Lieblings-Synonym für Gott. [[1]]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1]

[Ergänzend:

1. Film Wir sind daheim in dieser Welt  (1975) und Transkription:

(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.

(13:55) Für jemanden, der wirklich mit dem Herzen fühlen lernt, der wirklich mit dem Herzen der Wirklichkeit begegnet, besteht kein Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen.

Der Rausch aus dem Räucherstäbchen ist nicht heiliger als der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt. Auch der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt, ist eine Geste des Gebetes.

(14:30) Zu der großen Aufgabe des geistlichen Lebens, durch die Sinne Sinn zu finden, gehört natürlich auch das Riechen und der Geruchsinn. Aber das ist für die meisten von uns ‒ oder zumindest bei sehr vielen Menschen ‒ eine traurige Angelegenheit. Für die gibt es nur zweierlei Gerüche: gut und schlecht. Und das ist eine große Verschwendung unseres Geruchsinns: All diese wunderbaren Gerüche, die es in der Welt gibt. Wenn wir uns einmal darauf eingestellt haben, gar keine Gerüche als schlecht abzuschreiben, sondern uns einmal ihnen auszusetzen, dann finden wir, dass Dinge einen ganz eigenen Geruch haben, denen wir vorher gar keinen Geruch zugeschrieben haben. Holz hat einen ganz eigenen Geruch und verschiedene Holzarten ganz verschiedene Gerüche. Bücher: ein neues Buch, ein altes Buch. Für viele Menschen ist nur das Aufschlagen eines Buches schon mit einem gewissen Geruch verbunden und sogar gewisse Bücher mit der Erinnerung an gewisse Gerüche.

Überhaupt ist ja der Geruchsinn am engsten mit unserer Erinnerung verbunden. Wenn wir nur an die vielen Kindheitserinnerungen denken, die mit Gerüchen verbunden sind: eine Wäschelade, in der Lavendel ist, oder ein Fischmarkt oder das Meer oder Weihrauch: für wie viele Menschen Weihrauch ganz mit dem religiösen Kindheitserleben verbunden ist. Darum soll es uns auch gar nicht wundern, wenn in der Bibel und in vielen andern Traditionen der Geruchsinn eine ganz wichtige Rolle spielt.

(18:34) Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.

Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: «Überrasche mich!», dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.

(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne so viel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.

(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.

(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.

(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.

Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.

(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.

(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.

Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.

(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.

Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.

(36:46) Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ spientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.

Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.

Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.

(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.

Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.

(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.

(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss.

Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten.

Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein.

Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.[2]

Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: ‹Gott›, wenn wir es so nennen wollen.

(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen.

In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür.

Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen.

Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.

(47:50) Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.[[3]]

Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken.

Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.

Die Sinnoffenheit von der wir hier sprechen: mit dem Herzen fühlen, das ist nicht nur eine sinnliche Angelegenheit.

Das hat sehr viel zu tun mit sozialen Problemen.

Mit der Ganzheit der Welt.

Wir öffnen uns der Welt als Ganzes. Das heißt: Wenn wir wirklich schauen lernen mit dem Herzen, dann schauen wir auf die Welt wie sie ist und schauen nicht weg, wenn es uns nicht gefällt.

Wir müssen Dinge ins Auge fassen, die wir eigentlich nicht gerne sehen.

Wir werden vielleicht das Weinen der Welt hören.

Das Weinen der Unterdrückten.

Wir werden vielleicht riechen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark.

Wir werden, wenn wir uns zu Tisch setzen, das Salz der Tränen kosten, das mit aus der Dritten Welt importiert wird mit unsern Lebensmitteln.

Wir werden ‒ wenn wir wirklich ehrfürchtig fühlen lernen, das heißt, uns auch wirklich berühren lassen von dem, was wir berühren ‒, dann werden wir zutiefst berührt werden von dem Elend der Welt auch.

Nicht nur von allem Schönen. Von allem Schönen und von allem Schweren und allem Schrecklichen das es in unserer Welt gibt.

Und das fällt uns sehr schwer. Es ist aber eine große Aufgabe für uns alle.

2. Audios

2.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag und Fragerunde: Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 4: Antworten aus «einem Stück» ‒ Mystik in Tabuzonen von Theologie, Gesellschaft und Kirche

2.2. Im Paradoxen Sinn erfahren (1989)
Vortrag und Dialog:
Teil 3:
(15:31) ‹Es ging um Opfer bringen, Leibfeindlichkeit und Abwehr von zu viel Freude› / (16:59) Manichäische Unterströmung unter dem Einfluss von Augustinus

3. Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021)
Der Dreischritt des horchenden Herzens, 32-52
Die Dankbarkeit der fünf Sinne, 53-79
Sinnlichkeit und christliche Askese, 80-99]

_____________________________

[[1]] Dieser Text ist eine Zusammenstellung aus der Transkription des Films Wir sind daheim in dieser Welt (1975), dem Text von Bruder David Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993) und Gebeten aus seinem Buch DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 10, 19, 18, 71, 54, 17, 12, 11

[[2]]: Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 56f.

«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.

‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›

Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»

[[3]] Stillehalten und Transkription  Anm. 3; siehe auch: Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 112 und 127f.:

… den Punkt erreichen, «den T. S. Eliot den ‹ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt› nennt, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel, ‹wo Vergangenes und Zukunft vereint sind›.

‹Weder Fortgehen noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht ‒
und es gibt nichts als den Tanz.›»

«Diese Erfahrung des Einklangs mit sich selbst und mit allem, ein Einklang, im Herzen der Welt gefunden, im ruhenden Punkt, diese Erfahrung ist immer Geschenk. Aber es ist eine Sache, spontan im ‹Augenblick des Glücks, … dem Blitz der Erleuchtung› davon überrascht zu werden, und eine ganz andere, sein ganzes Leben auf diesem Ruhepunkt aufzubauen und es auf ihn auszurichten. Dazu brauchen wir die Unterstützung anderer, die dasselbe Ziel verfolgen.»



Quellenangaben

Film, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - pixabay

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn
.[1]

Kreuzweg unserer Sinne ist das Herz.

Herz bedeutet den Schnittpunkt unserer geistigen und unserer leiblichen Wirklichkeit.

Herz bedeutet jenen Mittelpunkt unserer individuellen Innerlichkeit, wo wir zugleich eins sind mit allen anderen Menschen, Tieren, Pflanzen ‒ mit dem ganzen Kosmos.

Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen. Wenn wir Sinn finden wollen im Leben, so müssen wir mit den Sinnen beginnen.

Um mit dem Herzen horchen zu lernen, müssen wir zuerst lernen, mit den Ohren wirklich zu lauschen. Und so mit allen Sinnen.

Wie aber sollen wir dies angehen? Aus meiner eigenen Erfahrung glaube ich, drei Schritte unterscheiden zu können, die vielleicht Allgemeingültigkeit besitzen.

Den ersten Schritt nenne ich «Kindliche Sinnlichkeit», eine Haltung, die wir als Kinder besitzen, die wir aber im späteren Leben erst wieder erwerben müssen. Wesentlich daran ist das ungetrübte Vertrauen, mit dem wir uns dem Sinnlichen hingeben.

Diese Hingabe führt uns, wenn sie echt ist, zu einer Begegnung: Überrascht begegnen wir ‒ ich kann es nicht besser ausdrücken ‒ einem Gegenüber, das sich uns gibt, in dem Maß, in dem wir uns selber geben.

Diesen Schritt möchte ich mit Rilkes oben angeführten Ausdruck «Die seltsame Begegnung» nennen.

Im dritten Schritt wird uns zur Erfahrung, dass das ganz andere, das unseren Sinnen da begegnet, zugleich unser eigenstes Selbst ist. Wir sind selber der Sinn dessen, was wir sinnlich erfahren. Wenn uns das klar wird, erst dann finden wir durch unsere Sinne Sinn.

Sinn wird, wenn wir selber Sinn werden. Beides klingt an, wenn wir diesen dritten Schritt «Sinnwerdung» nennen.

Scheint das allzu philosophisch? Wir dürfen uns nicht abschrecken lassen. In Wirklichkeit ist es ganz einfach. In unserer Kindheit waren uns diese drei Schritte durchaus vertraut, wenn wir auch nicht darüber nachdachten. Wenn der Dichter sagt:

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraut am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn
.

so ist das unserem Herzen verständlich, wenn unser Verstand auch nachhinkt.

Sobald wir aber nur einmal damit anfangen, führt schon ein Schritt zum nächsten. Wir dürfen uns da auf unser eigenes Erleben verlassen. Darauf kommt es ja schließlich an.

Die meisten von uns sind mehr Augen- als Ohrenmenschen. Wir stoßen also wohl auf den geringsten Widerstand, wenn wir die Beispiele für unsere drei Schritte zunächst aus dem Bereich des Schauens wählen.

Gewöhnung und Übersättigung machen es andererseits gerade unseren Augen schwer, kindliche Frische zu bewahren.

Vielleicht bemerken das schon die Kinder. Sie unterhalten sich manchmal damit, Daumen und Zeigefinger zum Rahmen eines Guckloches zu machen, durch das die Welt auf einmal ganz anders aussieht. In den entlegensten Teilen der Welt erfinden Kinder dieses Spiel offenbar immer wieder von neuem. Dahinter steckt die Tatsache, dass ein ungewohnter Ausschnitt des allzu oft Gesehenen uns überraschend neu erscheinen kann.

Es gibt da in Spielwarenhandlungen neuartige Kaleidoskope, die nicht in einer Mattscheibe mit bunten Glasstückchen enden, wie die altmodischen, sondern in einer Linse. Man kann sie also wie ein Fernrohr ringsum auf Gegenstände richten, die dann die Prismen im Rohr zu sechs- oder achteckigen Sternen umgestalten. Plötzlich ist uns die alltägliche Umwelt verzaubert. Wir sehen sie wie zum ersten Mal.

Noch einfacher lässt sich das erreichen, indem wir in ein Blatt Papier ein winziges Guckloch stechen. Da brauche ich nur auf meine eigene Hand zu schauen. Weil ich nun nicht mehr die ganze Hand in den Blick bekomme, ja nicht einmal einen ganzen Finger, lässt sich, was ich sehe, nicht mehr einfach mit «Hand» oder «Finger» abtun. Was ist das denn eigentlich, dieses knollig gerunzelte Braune mit ein paar borstigen Haaren? In dem Bruchteil eines Augenblickes, bevor mir «Fingergelenk» in den Sinn kommt, habe ich endlich einmal wirklich hingeschaut.

Das lässt sich lernen. Und das Lernen wird uns Spaß machen, sobald das Kind in uns nur einmal wach wird.

Nichts ist wichtiger als das. Nur wenn wir das Kind in uns wiederentdecken und befreien, dürfen wir hoffen, Sinnenfreudigkeit wiederzufinden.

Das aber ist der erste Schritt auf dem Weg, im Leben Sinn zu finden.

Wieviel uns doch verlorengeht, nur weil wir so abgestumpft durchs Leben gehen.

Wieviel uns doch verlorengeht an Freuden, an Überraschungen, die uns überall umgeben und nur darauf warten, entdeckt zu werden.

Aber es muss nicht so sein. Wir können unser fortschreitendes Stumpfwerden aufhalten wie einen Krankheitsprozess.

Wir können den Ablauf umkehren, können lernen, jeden Tag noch nie Gewürdigtes neu zu erleben.

Am Morgen, noch bevor wir die Augen öffnen, können wir schon damit anfangen. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, was für ein Geschenk unsere Augen doch sind.

Der Blinde in einem Gedicht Rilkes kennt das Geschenk, weil es ihm fehlt. «Euch», sagt er zu uns, «kommt jeden Morgen das neue Licht warm in die Wohnung.»[2]

Würden wir nicht unsere Augen ganz anders öffnen, wenn wir es dankbar täten?

Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Lebensfreude. Wir halten diesen Schlüssel in unseren eigenen Händen.

Wir sagen «blau». Aber was heißt schon «blau»? Wir schauen ja kaum hin. Wir kleben dem Ding nur schnell eine Freimarke auf. Fertig. Wir drücken ihm einen Stempel auf: «Blau. ‒ Erledigt. Nächste Nummer!»

Was unser Verstand mit kalter Ungenauigkeit blau nennt, das kennt unser Herz als die Farbe von Taubenflügeln und von Wiesenenzian, von Stahl und Lavendel, von kleinen Schmetterlingen, die am Feldweg um eine Pfütze tanzen, und vom Sommerhimmel, der sich im Braun der Pfütze dennoch blau spiegelt.

Das Kind in uns weiß noch, wieviel tausenderlei Blau es gibt.

Das Kind in uns ist Dichter.

Unser Herz bleibt zeitlebens dichterisch, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Und Dichter wissen, wie vielschichtig, wie nahezu unerschöpflich das ist, was wir so einfachhin «blau» nennen. Wie Rilke etwa tiefer und tiefer taucht, wo an der Oberfläche nichts zu sehen ist, als eine «Blaue Hortensie».

So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.

Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;

Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.

Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.
[3]

Können Kinder wirklich all das sehen? Nein. Aber Kinder können so schauen.

Und unser Leben ist nicht lang genug, um auszuschöpfen, was wir sehen können, wenn wir wie Kinder schauen; so offen, so hingegeben, so tapfer vertrauend.

Ja, es gehört Tapferkeit dazu, sich etwa dem Blau einer Hortensie auszusetzen und «eines kleinen Lebens Kürze» zu erleiden.

Als Kinder hatten wir noch den Mut dazu, aber seitdem sind wir feige geworden.

Goethe wundert sich in einem seiner Aussprüche, warum denn aus so vielversprechenden Kindern immer wieder nichts würde als langweilige Erwachsene. Die Antwort ist einfach: aus Feigheit.

Darum ist Dichtung so wichtig.

Dass Dichter Gedichte machen, ist halb so wichtig, als dass sie uns dadurch Mut machen, Mut, unsere Sinne zu öffnen.

Unsere Kindheit ist viel zu kurz, um die Versprechen zu erfüllen, die sie enthält. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus.

Kindwerden liegt immer in der Zukunft, wie das Himmelreich, «das Land der tausend Sinne», wie Walter Flex es nennt.[4]

Kindwerden kostet uns den Panzer aus eisernen Ringen, mit dem wir unser Herz unverwundbar machen, aber auch gefühllos.

Wir können Kinder werden, wenn wir uns getrauen, unser Herz dem Leben auszusetzen, ungesichert, unverwundbar, aber wahrhaftig lebendig.

Dichter wagen es. Sie haben ihr Leben ‒ und wieder hat Rilke das rechte Wort gefunden ‒

ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.[5]

Kindwerden will geübt sein. Wir müssen nur irgendwo anfangen, und heute noch.

Vielleicht sollten wir unsere geistige Ernährung aufbessern, etwa mit einem Gedicht pro Tag.

Oder wir könnten es uns leisten, täglich fünf Minuten lang etwas anzuschauen, ganz gleich was, nur einfach um der Freude des Anschauens willen.

Ein Museum erlaubt uns das, wenn wir nicht im Studieren steckenbleiben. Freilich, wir dürfen und sollen Museen auch zum Studieren benützen. Noch wichtiger ist aber, dass wir lernen, darüber hinauszugehen; dass wir die reine Freude des Anschauens lernen. Und dazu bedarf es gar keines Museums. Wir Kinder kannten ein Weidengestrüpp am Preinerbach, das wir «Bachmuseum» nannten. Nach jedem Wolkenbruch schwemmte dort das Wasser neue Sehenswürdigkeiten an. Da war ein rostiger Vogelkäfig, halb im Sand vergraben. Ein lederner Stiefel mit Löchern in der Sohle lag halb im Wasser. Noch grüne Äpfel schwammen wieder und wieder im Kreis in einer seichten Bucht. Und Fetzen von einem gestreiften Hemd hingen im von der Strömung kahlgespülten Wurzelwerk.

Stundenlang konnten wir da auf dem Schulweg am Bachrand stehen und schauen.

Wenn ich heutzutage wenigstens vor einem Werk Picassos oder El Grecos so stehen könnte und so schauen. Wenn es uns aber einmal geschenkt wird ‒ so sehr wir uns nämlich bemühen müssen, es bleibt letztlich doch Geschenk ‒, wenn wir einmal ganz Auge sind, dann ereignet sich etwas Seltsames.

Wieder ist es Rilke, der uns dies in Erinnerung ruft. Wir haben es ja alle erlebt. Aber es ist uns irgendwie unheimlich, und da ziehen wir uns furchtsam ins Vergessen zurück.

In seinem Sonett «Archaischer Torso Apollos», feiert der Dichter jene seltsame Begegnung.

Zwölf Zeilen genügen ihm, um uns völlig in den Bann dieses griechischen Bildwerks zu ziehen. Wir stehen wie geblendet vor diesem Torso aus flimmerndem Marmor. Wir sind ganz Auge. Und das ist der Punkt, an dem sich das Seltsame ereignet. Völlig ins Anschauen versunken, sind wir plötzlich die Angeschauten, Mitten in der vorletzten Zeile dreht sich unvermittelt alles um:

denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.

Die wir uns für Kenner hielten, sind erkannt. Wir, die als Richter kamen, stehen vor Gericht. Dann fällt der Richtspruch.

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter den Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.
[6]

Der letzte Satz, ganz am Ende der letzten Zeile, spricht das Urteil über uns aus. Dass dieser Richtspruch uns zu dem verurteilt, was wir uns im Geheimen ersehnen, wird noch zu zeigen sein.

Hier wollen wir zunächst die seltsame Begegnung ins Auge fassen, aus der das Urteil mit innerer Notwendigkeit fließt.

Wenn unser befeuertes Schauen jenen Grad erreicht, den wir den Schmelzpunkt nennen könnten, dann sind wir endlich völlig gesammelt. Was sich sonst an Vergangenes klammert oder nach Zukünftigem ausstreckt, ist jetzt in Sammlung gegenwärtig.

Und da ereignet es sich dann, dass uns etwas Geheimnisvolles «entgegenwartet».[7]

Ob wir es das Schöne nennen, das Wahre, das Gute, oder einfach die treue Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge ‒ was uns da begegnet, erwartet etwas von uns, erwartet alles von uns:

Du musst dein Leben ändern.

Unser gesammeltes Herz erlebt, dass Gegenwart etwas von uns erwartet.

Wir mögen von der Forderung betroffen sein. Was aber von uns gefordert wird, ist etwas, wonach unser Herz sich im Grunde sehnt.

Das Kind in uns sehnt sich danach. Immer wieder erfinden Kinder ein Spiel, in dem das Ausdruck findet. Das Kind schließt die Augen und springt von einer Bank oder vom Treppenabsatz dem Vater in die Arme. «Papa, fang mich auf!»

Was die Verlässlichkeit auf dem Grund aller Dinge von uns verlangt, ist, dass wir uns darauf verlassen. Treue fordert Vertrauen.[8]

Darin liegt immer ein Wagnis.

Wie aber sollen wir ohne Wagnis verwandelt werden?

Und auf Verwandlung läuft alles hinaus.

Verwandlung ist das Wesen
des dritten Schrittes im Dreischritt des horchenden Herzens.

Kindliche Sinnlichkeit, unser erster Schritt, führt zu einem Höhepunkt im zweiten, in der seltsamen Begegnung.

Aber diese Begegnung verwandelt uns.

In seinem Gedicht «Spaziergang» spricht Rilke mit seltener Klarheit von der Verwandlung, die sich in unserem dritten Schritt vollzieht.

Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an ‒

und wandelt uns, auch wenn wir's nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …
Wir aber spüren nur den Gegenwind.
[9]

Schau wird hier zur Wandlung.

Schönheit ergreift und macht die Ergriffenen selber schön.

Das Erlebnis von Erhabenem ist erhebend.

Mehr noch: der Anblick dieses blühenden Mandelbäumchens (im Garten oder auf van Goghs Leinwand) lässt mich ganz klar fühlen, dass ich dadurch jetzt mehr ich selbst bin, als ich vorher war.

Die Begegnung mit dem Unfasslichen am Rande unserer Sehnsucht verwandelt uns aber nicht in Fremdes, sondern

in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind.

Von hier aus rückblickend, können wir den Dreischritt des schauenden, horchenden Herzens überall dort entdecken, wo es darum geht, im Leben Sinn zu finden.

Wir Menschen sind ja so angelegt, dass Zweck allein uns nicht genügt. Kein Zweck kann uns befriedigen, wenn wir ihn nicht sinnvoll finden. Und wenn wir im Leben keinen Sinn mehr finden, dann ist es um uns geschehen. Was für Tiere der Selbsterhaltungstrieb ist, das ist für uns Menschen die Sehnsucht nach Sinn. Darum können wir ja unseren Selbsterhaltungstrieb, den wir mit den Tieren gemeinsam haben, opfern, so stark er auch immer sei. Wir können unser Leben hingeben, wenn uns das sinnvoll erscheint.

Wir können freiwillig sterben. Jeder weiß das.

Was nur wenige wissen, ist dies: Wir können auch freiwillig leben.

Die innere Gebärde ist die gleiche. Unser Leben (täglich) hingeben, das heißt Sinn finden. Das aber heißt, wahrhaft leben.

Wem fällt da nicht Goethes «Selige Sehnsucht» ein, und besonders die letzte Strophe?

Und solange du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
[10]

Rilke sagt es mit einer einzigen Zeile. Und die stammt aus dem Sonett, dem wir die Überschrift für diese Erwägungen entnommen haben:

Geh in der Verwandlung aus und ein.

Ist das der Sinn unseres Lebens? Seit Urzeiten fragt das Kind in unserem Herzen nach dem Sinn des Lebens. Seit Urzeiten gibt unser Herz die Antwort, gibt sie in der Form des Heldenmythos.

Es ist daher gar nicht schwer, im typischen Heldenmythos den Dreischritt des horchenden Herzens wiederzufinden.

Kindliche Sinnlichkeit hat doch etwas von der Tapferkeit an sich, mit der ein jugendlicher Held in die Welt hinauszieht, bereit für Abenteuer.

In der seltsamen Begegnung

fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,

es ergreift uns Ergriffene.

Auch der Held muss sich am Höhepunkt des Mythos dem Unfassbaren stellen, dem Geheimnis von Liebe und Tod. Liebe und Tod verlangen letztlich vom Helden, was die seltsame Begegnung von uns verlangt: Bereitschaft, unser Leben hinzugeben.

Das ist es ja, was wir innerlich tun, wenn wir uns vertrauend verlassen auf die Treue und Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge ‒ wenn wir uns (uns selbst) verlassen.[11]

Aber diese innere Gebärde verwandelt. Den Helden, wie uns, verwandelt sie.

Der Held wird durch die Begegnung mit dem Unfasslichen zum Lebensbringer, das heißt, zum Sinnträger.

An uns wird das Wort wahr:

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Dass wir selber Sinn werden, wenn wir Sinn finden, das ist vielleicht am schwersten zu verstehen. Das christliche Verständnis unserer drei Schritte kann uns da vielleicht weiterhelfen.

In christlicher Schau entspricht die kindliche Sinnlichkeit dem Glauben. Mit gläubig tapferem Vertrauen geht sie auf Gottes Welt zu, verlässt sich auf die göttliche Güte.

Grundzug der seltsamen Begegnung ist dann die Hoffnung. Wie kindliche Sinnlichkeit zur seltsamen Begegnung führt, so der Glaube zur Hoffnung. Hoffnung ist ja völlige Offenheit für Überraschung, und die ist nur im Vertrauen des Glaubens möglich.

Hoffnung kann sich ergreifen lassen vom Ergreifenden; sie kann sich verlassen, weil sie um die Verlässlichkeit weiß, die jedem Ding und jedem Augenblick zuinnerst eignet. Sie kann sich fallenlassen, weil sie weiß, dass einer

dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.[12]

So aufgefangen zu werden im Fallen und dazu «ja» zu sagen, das ist der Liebe eigen.

Es ist zugleich die innerliche Gebärde der Sinnfindung, der Sinnwerdung.

Nur durch Liebe finden wir Sinn. Indem wir in Liebe aufgehen, werden wir Sinn.[13]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 13]

[Ergänzend:

1. Film (1975) und Transkription:

(20:33) «In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.»

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2016)
Wort
(20:08) ‹Archaïscher Torso Apollos›

2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Audio ‹Sehen lernen›:
(01:02:35) Mit den Augen des Herzens sehen, was die Augen nicht sehen können: ‹Hast du deine Schwester, deinen Bruder gesehen, dann hast du deinen Gott gesehen› ‒ Einander wie mit den Augen einer Mutter anschauen: ‹Das kannst du doch› schafft Raum, in den wir hineinwachsen können ‒ Sich an Träume erinnern
(01:11:10) Augen und Ohren ‒ sehen und hören
(01:14:07) Das Kind werden, das wir sind

2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
Audio: Das Kind in uns und das mönchische Leben

2.4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen ‒ Die Themen des Gesprächs:
Audio ‹Und wandelt uns ...› (R. M. Rilke, ‹Spaziergang›)

2.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(16:08) Franziskus und Eigenschaften des Kindes: Wenn ein Kind vor Freude strahlt, ist das schon Dankgebet. Milch! Die Szene im Film von François Truffaut ‹L’enfant sauvage› (1970): Unsere Kindheit ist zu kurz für uns, um die Kinder zu werden, auf die hin wir angelegt sind
(22:03) Sich an einen Geschmack erinnern, der die ganze Kindheit zurückbringt, Schmecken und Kosten wirklich erleben

3. Weiter Texte

3.1. Musik der Stille (2023), 55f.:

«Die kleine Tochter eines Freundes sagte eines Morgens zu ihrem Vater: ‹Papi, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?› Kinder wissen intuitiv, wie erstaunlich und erfreulich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Und das Kind in uns stirbt nie. Wir können es einsperren, wir können es vergessen oder stark vernachlässigen, aber solange wir leben, bleibt es am Leben. Es ist eine unserer großen Aufgaben, dieses Kind wieder zu befreien und es zu ermutigen, solche tiefsinnigen Fragen zu stellen. Dann schauen wir alles durch staunende Augen an und nehmen alles mit einem offenen Herzen auf.

Dieses Erwecken des Kindes in uns ist nicht einfältige Sentimentalität; es macht den Kern der mönchischen Bemühungen und jeder Spiritualität aus.

Das eigentliche Ziel ist das, was der Philosoph Paul Ricœur die ‹zweite Naivität› nennt: die Verbindung der hellen Begeisterung kindlicher Unschuld mit jener Weisheit, die sich aufgrund von Erfahrung einstellt.

Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken.»

3.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 128
Gedicht ‹Blaue Hortensie›

TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I,, 45-50:
Gedicht ‹Archaïscher Torso Apollos›

3.3. Der Mönch in uns (1978) [der Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger findet sich auch in Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63]

«Im Kind gibt es eine riesige Neugierde herauszufinden, wie die Dinge funktionieren, und einen starken Ansatz zur Zweckgerichtetheit; und dies ist der einzige Antrieb, den wir in der Regel fördern. Aber es gibt auch ein großes Verlangen nach Kontemplation, das wir in der Regel nicht fördern. Wenn wir heutzutage ein Kind auf der Straße sehen, so wird es meistens an einem langen Arm entlanggezogen, und wer immer es zieht, sagt: ‹Komm, wir müssen weiter! Wir haben keine Zeit! Wir müssen nach Hause (oder sonst wohin). Steh da nicht einfach herum! Tu was!› So sieht der Kern der Sache aus. Aber es gab andere Kulturen, zum Beispiel viele amerikanische Indianerstämme, die ein gänzlich anderes Erziehungsideal hatten:

‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und schauen können, wenn es nichts zu schauen gibt.› Und: ‹Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und zuhören können, wenn es nichts zu hören gibt.›

Das ist zwar eine Einstellung, die völlig anders ist als unsere, doch wird sie dem Wesen der Kinder viel gerechter. Genau das möchten sie nämlich tun: einfach nur herumstehen und schauen und völlig in dem aufgehen, was sie sehen oder hören oder lutschen oder lecken oder womit sie gerade spielen. Und natürlich zerstören wir diese Fähigkeit zum Offensein für Sinn bereits sehr früh; indem wir sie zu Sachen zwingen und die Dinge in die Hand nehmen, steuern wir sie ausschließlich in die Zweckbezogenheit hinein.»

3.4. Kind und Kunst (1948):

«Je mehr wir uns in diesen anspruchsvollen Vortrag von Franz Kuno vertiefen, umso mehr verstehen wir, wie sehr er von einem archimedischen Punkt aus spricht, der weit entfernt ist vom damaligen wie auch heutigen Zeitgeist. Es geht um das Einüben einer kindlichen Haltung: Bereitschaft lernen, staunen, unvoreingenommen Kunst zu betrachten»]

________________________

[1] R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIX, siehe Transkription

[2] ‹Das Lied des Blinden› (R. M. Rilke: ‹Das Buch der Bilder, 2. Buch, 2. Teil)

[3] ‹Blaue Hortensie› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)

[4] Walter Flex (1887-1917): ‹Das Weihnachtsmärchen des fünfzigsten Regiments› (1918):

«‹Was ist das, das Reich der tausend Sinne?› fragte das Weib, und der graue Führer antwortete: ‹Es ist das, was ihr auf Erden den Himmel nennt. Ihr auf Erden dürft nur mit fünf armen Sinnen den Reichtum der Welt fühlen, sehen, hören, riechen und schmecken. Danach aber kommt ihr in das Reich der tausend Sinne und werdet mit Kräften begabt, die sich mit Menschenworten nicht nennen lassen. Darüber sind noch tausend Reiche, in denen die Seelen wohnen werden auf ihrer Wanderung zu Gott wie in Gasthäusern am Wege.»

[5] «Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewusstseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung. ‒ Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens ...»

R. M. Rilke, Aus dem Nachlass

[6] ‹Archaïscher Torso Apollos› (R. M. Rilke, Der Neuen Gedichte anderer Teil)

[7] Das Wort stammt auch von Rilke: «Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten.»
(R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)

[8] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]

[9] ‹Spaziergang› (R. M. Rilke, Aus dem Nachlass)

[10] ‹Selige Sehnsucht› (J. W. Goethe, West-östlicher Divan)

[11] Mich-Verlieren ‒ Finden

[12] ‹Herbst› (R. M. Rilke, ‹Das Buch der Bilder›); Bruder David spricht das Gedicht im Audio Wähle das Leben (1992)
Vortrag:
(03:59) Sich in Gottes Hände fallen lassen / (05:21) Die Blätter fallen‘ (Rilke)

[13] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 268, 271-279: Der Text ist aus «Der Dreischritt des horchenden Herzens» im Buch
Die Achtsamkeit des Herzens: Durch die Sinne Sinn finden (2021), 35, 38-51



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - Barbara Krähmer

Was ist denn eigentlich «Friede»? Ist es nicht, wie die abendländische Philosophie des Mittelalters diesen Begriff verstand «tranquillitas ordinis», Stille, die aus Ordnung entspringt?

Freilich dürfen wir da nicht an Friedhofsstille denken und nicht an ein schulmeisterliches «Ordnung muss sein!»

FRIEDE ähnelt mehr der dynamischen Stille einer ruhig brennenden Kerzenflamme und wurzelt in jener allumfassenden Ordnung, deren Ordnungsprinzip die Liebe ist:

Liebe als gelebtes «Ja» zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller mit allen. Friede, so verstanden, bezeichnet weit mehr als eine geschichtliche Periode ohne Krieg. Wahrer FRIEDE bedeutet die harmonische Entfaltung der ganzen Fülle des Daseins. So wie in der Musik das Können eines Komponisten dissonante und konsonante Akkorde zu einer höheren Harmonie verbindet, so überbrückt und versöhnt der göttliche FRIEDE alle Widersprüche. Selbst Zwist und Eintracht dienen gemeinsam einem höheren Ganzen. Aus dieser Sicht können wir Gott den FRIEDEN nennen.

Und wir können diesen Frieden nicht nur in geruhsamen Zeiten erleben, sondern gerade auch dann, wenn im persönlichen wie im öffentlichen Leben «Blitz aus Blitz sich reißt», wie Joseph von Eichendorff singt:

«Schlag mit den flamm'gen Flügeln!
Wenn Blitz aus Blitz sich reißt:
steht wie in Rossesbügeln
so ritterlich mein Geist.

Waldesrauschen, Wetterblicken
macht recht die Seele los,
da grüßt sie mit Entzücken,
was wahrhaft, ernst und groß.

Es schiffen die Gedanken
fern wie auf weitem Meer,
wie auch die Wogen schwanken:
die Segel schwellen mehr.

Herr Gott, es wacht Dein Wille,
ob Tag und Lust verwehn,
mein Herz wird mir so stille
und wird nicht untergehn.»

Wenn ich fühle, «mein Herz wird mir so stille», dann habe ich meinen persönlichen Bootssteg gefunden fürs Hineinsegeln in den FRIEDEN Gottes. Mögen auch die Wogen dann schwanken, die Segel schwellen: Wo kann ich in meinem Alltag solche Bootsstege finden? Sie sind leicht zu übersehen und doch ist es so wertvoll, wenn wir sie entdecken.[1]

«So wünsche ich Euch also tiefe innere Stille.

Stille, tief genug, um zu hören, wie Erdreich sich zurechtlegt für die lange Winterruhe; dann wird auch Euer Seelengrund fest und ruhig werden.

Stille, tief genug, um zu hören, wie Wasser rieselt und in den Boden sickert; dann wird auch Euer Sinn sanft werden, gefügig und geheilt.

Stille, tief genug, um zu hören, wie von Sternen am Winterhimmel Silberfunken stieben und tief im Erdinneren Feuer tost; dann wird auch Euer Innerstes erglühen.

Stille, tief genug, um das Fallen einer einzigen Schneeflocke durch die stille Winterluft zu hören; dann wird die Stille in Euch sich verwandeln in eine große Erwartung.

‹Frieden!› verkündigte der Engel, aber Frieden nicht nur als Gabe, sondern als Aufgabe.

Nur wenn Stille uns beständig macht wie Erde,
wendig wie Wasser
und glühend wie Feuer
werden wir uns der Aufgabe stellen können, Frieden zu schaffen, und die Luft um uns wird rauschen von Flügeln helfender Engel.

Deshalb wünsche ich Euch jene tiefe innere Stille, die allein es uns erlaubt, ohne Ironie ‹Frieden auf Erden› zu erhoffen und uns ohne Verzweiflung dafür einzusetzen.»[2]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]

[Ergänzend:

1. Stillehalten, Stille zulassen, Tanz, der Sinn des Ganzen [Ergänzend: 3.2], und Ordnung, mit Auszügen aus Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Die Umwelt als Guru», 30f. und Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein», 103-105, 109:

«Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als ‹tranquillitas ordinis›, die Stille der Ordnung.»

2. Audios

2.1. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen (Königsfeld im Schwarzwald)
Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben und Diskussion

2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2:
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort

2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition

2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›

3. Weitere Texte

3.1. «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Film Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]

3.2, Kann man die Bergpredigt in Realpolitik umsetzen?: Bruder David im Gespräch mit Maio Quintana im Buch Ambivalenzen: Im Spannungsfeld zwischen Kirche und Gesellschaft (2021):

«Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes heißen» (84f.)

«Freut euch, ihr Friedensstifter, denn ihr werdet Gottes Kinder heißen» (85f.)

3.3.. Bruder Davids Vorwort im Buch Brot und Gesetze brechen (2021):

«Die Sterne der Pflugscharbewegung, die in diesem Buch aufleuchten, können uns auf dem Weg zum Überleben der Menschheit zu Leitsternen werden, denn dazu brauchen wir heute dreierlei, und das verkörpern diese oft ganz einfachen Menschen vorbildlich: Einsicht, Betroffenheit und tatkräftigen Einsatz.»

3.4.. Der menschliche Geist ist eins (2021): Meditation von Bruder David 1975 im Dag Hammarskjöld-Auditorium der UN in Anwesenheit von führenden Persönlichkeiten der Weltreligionen; der Text ist dem Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Meditation «Der menschliche Geist ist eins», 147-152, entnommen:

«‹Einer ist der Menschen Geist›, aber der Menschengeist ist mehr als nur menschlich, denn das Herz des Menschen ist unauslotbar. In diese Tiefe lasst uns still unsere Wurzeln senken. Darin liegt unsere einzige Quelle des Friedens.

Nach einem kurzen Augenblick werde ich Sie einladen, wieder die Augen zu öffnen, und zugleich auch, sich in diesem Geist der Ihnen am nächsten stehenden Person zuzuwenden und ihr den Friedensgruß zu entrichten. Lasst unsere Feier in dieser Geste gipfeln und zum Abschluss kommen. Wir ermächtigen einander mit dem Friedensgruß in der Welt als Botschafter des Friedens zu wirken.

Der Friede sei mit Ihnen allen!»

3.5. Innerer und äusserer Frieden: Vortrag mit anschließendem Gespräch in Königsfeld (1992):

«Das wäre der erste Schritt: Was ist eigentlich Frieden im Verständnis unserer westlichen Tradition?

Der zweite Punkt wäre: Was steht dem Frieden entgegen? Was steht ihm gerade heute entgegen in der spezifischen Situation, in der wir uns heute befinden, in der Welt und in unserer Kultur, in unserer Welterfahrung, in unserem Welterleben?

Dann kommen wir zum dritten Punkt, und das ist eigentlich unsere Hauptfrage: Lässt sich der Frieden doch verwirklichen? Und wenn ja, dann wie?

Und wie gesagt, die Fragezeichen bleiben bestehen, aber durch Nachdenken können wir denen wahrscheinlich schon näherkommen.»]

___________________

[1] 99 Namen Gottes (2019), 5 as-Salām, der FRIEDE, die Quelle des Friedens, 16f

[2] Weihnachtsgrüße 2004; der Text ist auch abgedruckt in Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Ein Wunsch», 160




Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

geheimnisCopyright © - Barbara Krähmer

Was meinen wir eigentlich, wenn wir Gott sagen?

Ich vermeide so weit wie möglich dieses Wort, denn es wurde auf vielerlei Weise missbraucht und führt daher allzu leicht zu Missverständnissen. Was aber kann es ‒ richtig verstanden ‒ für Menschen heute noch bedeuten?

Eigentlich das, was von Anfang an damit gemeint war. Das kennt jeder Mensch aus eigener Erfahrung:

Das Wort «Gott» weist auf das Geheimnis hin, mit dem unser menschliches Bewusstsein unumgänglich konfrontiert ist.

Was «Geheimnis» bedeutet, das lässt sich recht klar umschreiben:

Es ist jene Wirklichkeit, die wir nicht begreifen, nicht in den Griff bekommen, die wir aber verstehen können, indem wir uns von ihr ergreifen lassen.

Der Unterschied zwischen begreifen und verstehen kann uns vielleicht am Beispiel von Musik bewusst werden. Es ist zugleich der Unterschied zwischen wissen und erleben.

Was wir über ein Musikstück wissen ‒ etwa wer es wann und unter welchen Umständen komponiert hat und wie es musiktheoretisch aufgebaut ist -, das kann uns in mancher Hinsicht nützlich sein, das Eigentliche der Musik aber bekommt solches Wissen nie in den Griff. Wir können ein Stück nur verstehen, wenn wir es hören und davon ergriffen werden.[1]

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.

DU rührst mich an durch alles, was mich berührt, am tiefsten aber berührt mich Musik. Sie lässt mich auch am deutlichsten erfahren, was es heißt, dich zu verstehen, DU unbegreifliches Geheimnis.

Begriffliches Begreifen ist etwas ganz anderes als dieses Ergriffenwerden durch Musik, das mich sie verstehen lässt, mich ganz drinstehen lässt durch meine Ergriffenheit.

Ich will heute wenigstens kurz irgendwann Musik anhören.

Letztlich ist aber alles, was es gibt, geheimnisvoll wie Musik.

Gib mir Mut, meine Rüstung abzulegen und mich ergreifen zu lassen.

Amen.»[2]

Was uns so in Bezug auf Musik bewusst werden kann, das gilt auch für das Leben als Ganzes:

Es bleibt unbegreiflich, aber in Augenblicken der Ergriffenheit - zum Beispiel bei Gipfelerlebnissen ‒ können wir den Sinn ahnend verstehen, weil wir mittendrin stehen und nicht als Beobachter davon abgesetzt. In dieser Hinsicht ist das Leben zugleich Bild für das große Geheimnis und mehr als Bild ‒ es ist unsere Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Geheimnis schlechthin, also mit Gott.

Weil ich wissen wollte, wie weit verbreitet ein solches Verständnis ist, machte ich ein Experiment: Ich gab bei Google die Worte ein: «Leben heißt …»

Dadurch ließ ich sozusagen einfach irgendjemanden zu Wort kommen. Was ich fand, waren Eintragungen wie «Leben heißt Veränderung», «Leben heißt kämpfen, leiden, lieben, loslassen, nicht zu warten, sterben lernen.»

Sind nicht all diese Erfahrungen Begegnungen mit einem letzten Geheimnis?

Wer das Wort Gott richtig verwendet, meint damit eben dieses überragende Geheimnis.

In diesem Sinn ist unser menschliches Leben unvermeidlich Gottesbegegnung, ganz gleich, ob wir das Wort «Gott» verwenden oder nicht.

An Gott glauben heißt ja nicht, für wahr halten, dass es Gott gibt. Welcher Mensch könnte denn das Geheimnis (und damit Gott) überhaupt leugnen?

Beim Glauben geht es nicht um die Frage, ob es Gott (= das Geheimnis) gibt.

Es geht vielmehr darum, ob Lebensvertrauen unsere Lebensangst überwindet.

Glaube ist ein Sich-Verlassen auf das Geheimnis ‒ auf Gott, auf das Leben.

Dieses Urvertrauen können wir aus Furcht verweigern, oder wir können es mutig verwirklichen durch ein immer neu gelebtes Ja zum Leben.[3]

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.

Mit dir bin ich untrennbar verbunden und durch dich mit allem, was es gibt.

Doch ich erlebe Versuchung ‒ Bedrohung dieses Eingebettet-Seins:

Ich vergesse es manchmal. Aus Vergessen wird Entfremdung und die nimmt mir mein Lebensvertrauen.

Dann klammere ich mich aus Furcht an Vergangenes oder Zukünftiges.

Aber Lebensfülle ist nur in der Gegenwart.

Lass mich heute mangelnde Achtsamkeit schnell als Faulheit erkennen, rüttle mich wach und führe mich ins Jetzt zurück, wo DU mir entgegenwartest, um ‒ mitten im Alltag ‒ Leben in Fülle zu feiern.

Amen.»[4]

Das Ja zum Leben ist zugleich ein Ja zum DU ‒ zu jedem DU, das uns im Alltag begegnet, und darüber hinaus zum Geheimnis als dem großen letzten DU.

Ein Gottesverständnis, das nicht von Spekulation ausgeht, sondern von tiefster menschlicher Erfahrung, überwindet den Dualismus ‒ wir hüben, Gott drüben ‒, fällt aber deshalb nicht notwendigerweise in das Missverständnis des Monismus, der für liebende Beziehung zu Gott keinen Raum lässt, weil alles eins ist.[5]

Richtig verstanden ist menschliche Gotteserfahrung weder monistisch noch dualistisch, sondern trinitarisch.[6]

Gipfelerlebnisse, in denen uns bewusst wird, dass wir mit allem eins sind, können zugleich Höhepunkte unserer tiefsten DU-Bezogenheit sein.

So erleben wir das große Paradoxon: Das Eine hat in sich Platz für Beziehung.

Schon mein Ich-Sagen setzt ja ein DU voraus, das mir ebenso unergründlich ist wie mein Ich. Beide sind im Geheimnis verwurzelt.

Diese innerste Bezogenheit auf das Geheimnis als DU gehört zu unseren menschlichen Grunderfahrungen. Sie ist nicht an irgendeine Periode der Geschichte gebunden.

Bei Bruder Klaus drückt diese Erfahrung sich so aus, dass er Gott als DU anruft.[7]

Das ist auch für uns heutige Menschen erlebnismäßig nachvollziehbar.

Unsere DU-Beziehung zum göttlichen Geheimnis hat zeitlose Gültigkeit.[8]

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.

Unergründlich bist DU mir. Darf ich dich trotzdem so vertraulich DU nennen?

Aber auch engste Freunde bleiben mir ja geheimnisvoll und letztlich unergründlich.

Und doch: Freunde stehen mir gegenüber; in dich aber bin ich ganz eingetaucht ‒ nicht nur wie der Fisch im Wasser, sondern wie der Tropfen im Meer.

Macht dies eine DU-Beziehung nicht unmöglich?

Logik bricht da zusammen Mein Ich-Sagen setzt dich voraus als mein Ur-DU.

Heute will ich also manchmal innehalten und einfach ‹DU!› sagen ins unbegreifliche Geheimnis als mein Gebet.

Amen.»[9]

Nun ist aber neben «Gott» und «DU» «bitten» ein drittes Schlüsselwort im ersten Satz des Gebetes von Bruder Klaus.

Da stellt sich die Frage: Können auch wir noch mit der gleichen, nicht hinterfragten Ursprünglichkeit Gott um etwas bitten?

Ich glaube, das können wir, solange wir dabei nicht in den Irrtum verfallen, dass Gottes Geben von unserem Bitten abhängig ist.

Echtes Bitten drückt eigentlich unser vertrauensvoll vorweggenommenes Danken aus.

Das zeigt sich schon, wenn wir einen Mitmenschen um etwas bitten. Wir sagen damit eigentlich: Ich vertraue darauf, dass du meine Bitte gewähren wirst, aber ich nehme das nicht als gegeben hin, sondern ich weiß es zu schätzen.

Mit der gleichen Haltung können wir das große DU um etwas bitten.

Alles, was «ES gibt», schenkt uns ja das große Geheimnis.

Denn worauf verweist das Wörtchen «ES», wenn nicht auf den geheimnisvollen Urgrund, der uns alles schenkt, was «ES gibt»?

Im Hinblick auf unsere persönliche Beziehung zum Geheimnis sehen wir es als DU an; im Hinblick auf alles, was es gibt, sprechen wir vom Geheimnis als Quellgrund und Mutterschoß von allem, was uns zufließt, zuwächst und geschenkt wird.

Ein und dasselbe Geheimnis (auch Gott genannt) begegnet uns als DU und als ES.

So leuchtet es ein, dass wir dem DU danken für alles, was ES gibt, und es, den Dank vorwegnehmend, um alles bitten.[10]

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.

Schon beim Aufwachen rufe ich spontan Deine Hilfe an, wenn mir das Aufstehen schwerfällt.

Aber was meine ich damit eigentlich?

Ich weiß doch, dass DU mir alles schenkst, auch wenn ich nicht darum bitte.

Mein Vertrauen auf Deine Hilfe will ich ausdrücken.

Und Deine Hilfe ist nicht Mithilfe mit meiner Kraft.

Was ich meine Kraft nenne, ist nur mein Durchfließen-Lassen Deiner Kraft.

DU Lebensstrom meiner Lebendigkeit. Ströme DU also heute in allem, was ich tue, durch mich und durch alle, die mir begegnen.

Amen.»[11]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4, 8-11]

[Ergänzend:

1. Film Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4:

(16:10) «Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind:

Ich beginne mit der Einsicht – und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind.

Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens.

Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.

Und wenn ich sage: das große Geheimnis, so meine ich nicht irgendetwas Vages, sondern etwas, was jeder Mensch kennt und mit dem jeder Mensch täglich umgeht, und es kann fast definiert werden auf diese Weise – natürlich keine echte Definition, sondern eine Beschreibung:

Wir müssen uns täglich mit etwas auseinandersetzen, was man nicht begreifen kann, was man aber verstehen kann, wenn es einen ergreift.

Also da muss man zunächst auch die wichtige Unterscheidung zwischen Verstehen und Begreifen machen: Begreifen heißt in den Griff bekommen. Durch Begriffe machen wir uns die Welt untertan: Wir wollen begreifen.

Wir können aber – so groß auch unsere Hände sind – immer nur einen begrenzten Teil der Wirklichkeit in den Griff bekommen.

Die ganze Wirklichkeit, das Ganze, können wir aber verstehen, wenn es uns ergreift.

Und das Beispiel, das vielen Menschen leicht zugänglich ist, ist das Beispiel von Musik:

Niemand kann begrifflich das Wesen von Musik analysieren.

Wir können vieles über Musik sagen, aber was Musik wirklich ist, geht weit über alles hinaus, was man begrifflich erfassen kann.

Aber jeder von uns – oder gottseidank die meisten von uns – können Musik verstehen und sagen ganz ehrlich: Das verstehe ich – und sogleich: Das ergreift mich.

Wenn die Musik mich nicht ergreift, verstehe ich sie auch nicht.

Also, was mich ergreift, verstehe ich, und Musik ist ein gutes Beispiel unserer Begegnung mit diesem großen Geheimnis.

Es ist nur ein Teil, ist nur ein Beispiel, aber das ereignet sich in unzähligen Varianten jeden Tag und das lebenslang, dass wir immer wieder auf etwas stoßen, besonders natürlich in der Begegnung mit andern Menschen, was wir unter keinen Umständen begreifen, aber zutiefst verstehen können, wenn wir uns davon ergreifen lassen.

Und diese Auseinandersetzung mit dem Geheimnis also ist, was ich Religiosität nenne. Und die drückt sich jetzt in Religionen aus.

Und zwar kommen im Lauf der Geschichte tiefreligiöse Menschen immer wieder, die ihre – unsere – Begegnung mit dem großen Geheimnis durch Worte, durch eine Lehre, durch Moral – eine Ethik – und durch Rituale ihren Zeitgenossen zugänglich machen.

Und eine Religion ist die kulturelle Zugänglichmachung unserer allgemeinmenschlichen Religiosität durch eine Religion eben.»

2. Audios

2.1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018)
Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:

(11:26) «Jeder Mensch ist auf die Begegnung mit dem großen Geheimnis angelegt. Und das große Geheimnis begegnet uns zum Beispiel im Leben: Das Leben selber. Wir müssen das Leben meistern. Das heißt, wir müssen irgendwie auskommen mit diesem geheimnisvollen Ding, das uns da begegnet.

Und geheimnisvoll heißt: Wir können es nicht begreifen ‒ sonst ist’s nicht Geheimnis ‒, wir können es nicht begreifen: Kein Mensch kann das Leben begreifen, das heißt in den Griff bekommen, analysieren, begrifflich erfassen, aber wir müssen uns bemühen, das Leben zu verstehen: Das Geheimnis kann nicht begriffen, aber verstanden werden, und verstehen heißt, sich hineinstellen und sich ergreifen lassen.

Begriffe ergreifen. Und Bernhard von Clairvaux sagt ja: ‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.›

Und diese Ergriffenheit vom göttlichen Geheimnis erleben viele Menschen in der Natur, viele auch im Ritual in der Kirche, und sehr viele in der Musik.»

(13:52) «Wir verstehen das Unbegreifliche. Das erfahren wir und erlebt jeder Mensch an der Musik. Also eine wichtige Unterscheidung zwischen begreifen und verstehen.

Und mit jedem Menschen kann man darauf hin kommen zum Beispiel im Gespräch: Was ergreift dich?

Sehr häufig ist es die Natur, sehr häufig. Natürlich in unsern Gipfelerlebnissen: die Geburt eines Kindes, der Tod eines nahestehenden Menschen, Freundschaft usw..»

(18:02-21:09) «Und das erlebt aber jeder Mensch:

Das Leben spricht zu mir, wenn ich nur die Ohren aufmache.

Das Leben brüllt mich an, aber ich habe andere Ideen oder andere Pläne oder so.

Es schreit mich nur so an.

Und jetzt hinzuhorchen und zu antworten; und auf Gott hinhorchen ist immer ein Thema von der Bibel: auf Gott horchen: ‹Verhärtet Eure Herzen nicht.› Immer geht’s darum. ‹So spricht der Herr›, sagt jeder Prophet immer wieder: ‹Spruch des Herrn›: Also sich ansprechen lassen und sich diesem Anruf zu stellen, verantwortlich zu stellen, darum geht’s im Leben. Das Leben ist unser persönliches Leben ‒ also nicht so abstrakt ‒, unser persönliches lebendig sein, und Leben ist die Form, in der jeder Mensch die Gottesbegegnung erlebt.

(19:05) Wenn man sagt ‹Gott› ist man schon auf dem falschen Weg eigentlich ‒ meistens ‒, weil man dann oft immer dran denkt, das ist sowas da draußen. Und die wichtigste Aussage über Gott macht Paulus auf dem Areopag, im 17. Kp. der Apostelgeschichte, wo zu den Athenern sagt: ‹Eure eigenen Dichter haben Euch das ja schon gesagt› ‒ also nicht was Christliches oder Jüdisches: Das ist menschlich. Der Dichter hat Euch das gesagt: ‹In Gott leben wir, bewegen uns und sind›.

Also wenn irgendjemand von uns ‒ mich eingeschlossen, ich muss mich auch bemühen ‒, das Wort ‹Gott› hört:

Dass wir in Gott leben, uns bewegen und sind, fällt uns nicht als Erstes ein. Als Erstes ist das irgendwer da draußen. Da kann man sich nicht helfen. Aber wenn man ‹Leben› sagt, weiß man: ‹Im Leben leben wir, bewegen uns und sind›. Und das ist es, worum es geht, wenn Paulus über Gott spricht. So begegnen wir Gott, nicht irgendwo draußen. In allem, was wir erleben.

(20:27-21:09) Indem ich das gesagt habe, habe ich schon irgendwie gezeigt, wie die Religiosität ‒ also die Auseinandersetzung mit dem Geheimnis, typisch durch das Leben ‒, wie das verbunden ist und uns erst so richtig aufmerken lässt auf ganz wichtige Bilder und Einsichten aus unserer jüdisch-christlichen Tradition. Und so geht das Leuten mit anderen Religionen auch. Aber diese Auseinandersetzung mit dem Leben, die bleibt keinem Menschen erspart. Das hat man mit allen Menschen gemeinsam.»

(21:37) Frage: «Diese persönliche Beziehung zu diesem Geheimnis, zu diesem Gott: Ist sie mir geschenkt ‒ oder?»

Bruder David: «Nein, alles ist geschenkt, sagt ja auch Augustinus: ‹Alles ist geschenkt›, sagt er.»

Frage: «Und warum kriegen es dann manche nicht geschenkt?»

Bruder David: «Das gehört zum Geheimnis.»

2.2. Audio-Interview Das glauben wir – Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Gott nicht begreifen, aber verstehen
Gott mit Blick auf das Leben
Gott mit Blick auf Beziehung – das ‹ES›
Große Fragen: warum ‒ was ‒wie?
Gott ‒ ein DU
Sich diesen Fragen stellen!

3. Texte

3.1. Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 43, 45:

«Es gibt drei existenzielle Fragen, um die wir Menschen nicht herumkommen. Früher oder später müssen wir uns ihnen stellen: Warum? Was? und Wie?» (43)

«Alle drei werden uns also, wenn wir beharrlich genug fragen, ins Geheimnis hineinführen, aber auf drei verschiedenen Wegen. Das Warum fragt nach den Wurzeln, dem Ursprung von allem und führt uns so hinunter in den unaussprechlichen Abgrund des Seins ‒ ins Geheimnis als Schweigen.

Das Was fragt nach dem innersten Wesen der Dinge und hört es am Ende heraus aus der geheimnisvollen Art und Weise, in der jedes Ding seine Einmaligkeit ausspricht, indem es ‹selbstet›[12] ‒ Geheimnis als Wort.

Das Wie fragt nach dem dynamischen Aspekt, nach der Kraft, die das Leben antreibt. Aber diese Kraft lässt sich von außen nur beobachten. Verstehen können wir sie nur, indem wir sie in uns selbst erfahren, indem wir ‹das Leben leben› ‒ Geheimnis als Verstehen durch Tun.

Diese drei Zugangswege zum Geheimnis werden aufmerksame LeserInnen in diesem Buch in immer neuen Abwandlungen wiederfinden.» (45)

3. 2. Ethik oder Religion (2018), 2f., die Antwort von Bruder David auf den Appell S. H. des Dalai Lama im Buch Ethik ist wichtiger als Religion (2014):

«Es gehört zum Geheimnisvollsten am Geheimnis, dass wir Menschen es als Gegenüber erfahren können, obwohl wir ihm angehören.

Paulus zitiert einen griechischen Dichter, wenn er von Gott sagt, ‹in ihm leben wir, weben wir und sind› (Apg. 7,27). Und nicht nur wie Fische im Wasser sind wir in Gott, sondern wie Wassertropfen im Meer.

Zugleich aber verstehen wir unter Gott unser Ur-DU, unser Ur-Gegenüber, das uns erst ermöglicht, ‹ich› zu sagen.»

«‹Gott› ist gleichbedeutend mit ‹Geheimnis› unter dem Gesichtspunkt unserer persönlichen ‒ gegenseitigen - Beziehung zur letzten Wirklichkeit. Und diese Beziehung ist unsere Religiosität.

(Obwohl wir schon gesehen haben, dass es bei Spiritualität um das Selbe geht, hat es Vorteile, hier von Religiosität zu sprechen, weil dadurch der innige Zusammenhang mit den Religionen anklingt.)»

3.3. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 23f.:

«Das Wort ‹heimlich› hängt eng mit Geheimnis zusammen. Wir als Menschen sind im Geheimnis beheimatet. Das macht uns zu Menschen.[13]

Geheimnis in diesem Sinn hat nichts mit Geheimnistuerei zu tun, mit Geheimhaltung, sondern mit dem, was uns so heimlich vertraut ist, dass man nicht darüber sprechen muss.

In jeder Familie, in jedem Heim gibt es Dinge, die einfach so, ohne erklärt zu werden, verstanden sind.

Und darum geht es beim Geheimnis: Es ist etwas, das man auch kaum sagen könnte, das eben diese Familie zu dieser Familie macht, das ist ihr Geheimnis, nicht das Skelett im Kasten, (das ist wieder anders! Jede Familie hat ihr Skelett im Kasten, worüber niemand sprechen darf, das ist so ganz geheim).

Was uns daheim fühlen lässt, warum man sich dort daheim fühlt, und woanders nicht ganz so, und das lässt sich nicht in Worten ausdrücken und das große Geheimnis ist das im Wort nicht Aussprechbare, das zum Daheimsein in der Welt gehört, zum Daheimsein im Leben und daher zum Daheimsein im Geheimnis des Lebens, im Geheimnis des Seins.

Rilke spricht da von einer ‹heimlichen leisen Gewahrung, die uns im Innern schweigend gewinnt›.[14]

Die gewinnt uns, diese heimliche leise Gewahrung, diese Stille.

Diese Stille, diese Dunkelheit, in die wir uns hinunterlassen, sie ergreift uns.

Das wäre auch so eine Anweisung, etwas, das man heute machen könnte:

Eine Blume, einen Berg, die eigene Hand, seinen Fuß lange anschauen, dass da etwas uns ergreift.

Das Leben ist ergreifend, nicht weil irgendetwas Besonderes geschieht, sondern … ganz still innehält und sich hinein versenkt, wird es ergreifend, kann bis zu Tränen rühren.

In Filmen manchmal, ist es nicht die Handlung, die uns zu Tränen rührt, sondern einfach die Darstellung des Lebens, und da braucht man so Milchkannen oder ein gedeckter Tisch und plötzlich kommen einem die Tränen, wirklich:

Das Daheimsein im Geheimnis berührt und ergreift.»]

__________________________

[1] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 112f.

[2] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 35

[3] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 113f.

[4] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 81

[5] TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL III, 99:

«Der Dualismus wird der Welt, wird dem Leben nicht gerecht und der Monismus wird auch dem Leben nicht gerecht.»

[6] Siehe Abschnitt «Bruder Klaus: Dreifaltigkeitsmystiker», 120-122

[7] Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu dir.

Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich fördert zu dir.

Mein Herr und mein Gott
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen dir.

[8] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 114

[9] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 13

[10] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 115

[11] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 51

[12] Bruder David bezieht sich auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889), in welchem der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache prägt ‒ «to selve›, was man Deutsch mit «selbsten» wiedergeben kann. Etwas «selbstet», indem es durch sei Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede langezupfte Saite «selbstet» so durch ihren ganz eigenen Ton. [Credo: «Ein Glaube, der alle verbindet» (2012), 66]

[13] Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 46:

«‹Geheim› bedeutet ursprünglich ‹zum Heim gehörig›.

Geheimnis bezeichnet dann, was der Hausgemeinschaft selbstverständlich ist, Fremden oder Entfremdeten aber unverständlich bleibt, also ‹geheim›.

Das Wort eignet sich dazu, auf jenes allverbindende Unaussprechliche hinzuweisen, das uns Menschen zuinnerst vertraut ist, uns aber nur in dem Maße bewusst wird, in dem wir als Angehörige des allumfassenden Erdhaushaltes denken, fühlen und handeln. Ein solches Denken ist nichts andres als gesunder Menschenverstand und heißt im süddeutschen Sprachraum mit einem treffenden Wort auch Hausverstand: Spirituell gesunde Menschen verstehen den geheimnisvollen Kosmos, in dem wir leben, als ihr Zuhause, ihr Daheim.»

[14] Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 4: «Rühmt euch, ihr Richtenden, nicht der entbehrlichen Folter» (Rilke, Die Sonette 2. Teil IX)



Quellenangaben

Text, Film, Audios und Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB

loslassen titelCopyright © - Barbara Krähmer

In seinem Buch, Ethik ist wichtiger als Religion  richtet S.H. der Dalai-Lama einen Appell an die Menschheit, für den die Stunde geschlagen hat. Diesen Aufruf zu überhören, wäre gefährlich.

Allerdings hat das Buch auch zu Missverständnissen geführt. Diese lassen sich aber durch eindeutige Definitionen der verwendeten Begriffe klären.

Die wichtigste Klarstellung betrifft den Begriff Religion. Bedeutet er Religion als Religiosität, oder als eine der Religionen?

In den vielen verschiedenen Religionen drückt sich (mehr oder weniger erfolgreich) die eine, allen Menschen gemeinsame Religiosität aus ‒ «unsere elementare menschliche Spiritualität» nennt sie S.H. der Dalai-Lama, «eine in uns Menschen angelegte Neigung zur Liebe, Güte und Zuneigung unabhängig davon, welcher Religion wir angehören.»

Wir sprechen heute meist lieber von Spiritualität als von Religiosität, es handelt sich aber (unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten) um das Gleiche: um unsere Beziehung zur letzten Wirklichkeit.

Spiritualität - vom lateinischen spiritus, Lebensatem ‒ verweist auf die wache Lebendigkeit, die diese Beziehung kennzeichnet.

Religiosität - vom lateinischen re-ligare, wiederverbinden ‒ weist auf das Wesen dieser Beziehung hin: auf die Heilung unserer gestörten Verbindung zum Urgrund, zu Um- und Mitwelt und zu unserem wahren Selbst.

Unsere Beziehung zur letzten Wirklichkeit, zum abgründigen Geheimnis ‒ mögen wir sie Spiritualität nennen oder Religiosität ‒ ist eine Grundgegebenheit unseres Menschseins: Wir sind die spirituellen / religiösen Tiere.

Was uns zu Menschen macht, ist die Tatsache, dass wir uns unvermeidlich mit dem Geheimnis des Lebens auseinandersetzen müssen.

Spiritualität / Religiosität ist, kurzgefasst, die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Geheimnis.

Ein zentraler Aspekt der uns allen gemeinsamen Religiosität ist Ethik.

«Wir kommen nicht als Mitglieder einer bestimmten Religion auf die Welt», sagt S.H. der Dalai-Lama, «aber Ethik ist uns angeboren.»

Wieso angeboren? Weil Ethik untrennbar zum Bewusstsein vom großen Geheimnis gehört, einem Bewusstsein, das uns angeboren ist, ja, das uns als Menschen kennzeichnet:

Ethik entspringt aus unserer Begegnung mit dem Geheimnis, also unsrer Religiosität.

Ethische Verantwortlichkeit ist die positive Antwort auf den Anruf des Geheimnisses: unser Ja zum Leben.

Unter Ethik verstehen wir die Gesamtheit von Grundsätzen und Richtlinien, die einer verantwortungsbewussten Haltung und Tätigkeit zugrunde liegen.

In dieser Definition verdient das Wort «verantwortungsbewusst» besondere Beachtung.

Es weist auf zwei Wurzeln der Ethik hin: auf Bewusstheit und Antwort - Bewusstheit eines Anspruchs an uns und unsere Antwort darauf.

Verantwortungsbewusstsein entspringt aus unserer wach bewussten Begegnung mit dem Geheimnis des Lebens.

Diesem Bewusstsein unserer Verantwortlichkeit entspringt ethisches Verhalten.

Es stellt (im Gegensatz zu unverantwortlichem Verhalten) die positive Antwort auf den Anruf des Geheimnisses dar. Diese Antwort ist das «Ja!» zum Leben.

Wir können uns dessen bewusstwerden, dass das Leben eine Richtung hat: es will etwa Vielfalt, freie Entfaltung und das Wohlergehen aller seiner Glieder im Zusammenspiel aller mit allen.

Dieser Strömungsrichtung des Lebens können wir zustimmen, können uns ihr anvertrauen, uns von ihr tragen lassen. Darin besteht unser Ja.

Dieses gelebte Ja heißt Lebensvertrauen.

Wir können aber auch Nein sagen und uns gegen die Richtung des Lebens sträuben ‒ etwa aus kurzsichtiger Gewinnsucht oder aus Ungeduld.

Dieses Nein heißt Furcht. Aus unserem Ja entspringt ethisches, aus dem Nein unethisches Verhalten.

Ethik ist deshalb wichtiger als diese oder jene Religion, weil sie zu unserer Religiosität gehört, aus der alle Religionen entspringen. und weil im Fall des Widerspruches zwischen den beiden, die Religiosität den verlässlicheren Kompass darstellt.

Ein Beispiel: Papst Franziskus spielt die Ethik der Religiosität gegen deren bisherige Interpretation innerhalb seiner eigenen Religion aus, indem er ‒ nach Jahrhunderten von Ketzer- und Hexenverbrennungen ‒ dem Kirchenrecht zum Trotz, die Todesstrafe für grundsätzlich unerlaubt erklärt.

In Zweifelsfällen kann und muss eben jede Religion sich immer wieder neu an Religiosität orientieren, muss unter Umständen auch ein althergebrachtes Rechtsverständnis neu hinterfragen und aufgrund der in Religiosität verankerten Ethik berichtigen.

S.H. der Dalai Lama schreibt:

«Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine fundamentale ethische Urquelle in uns.»

Diese «ethische Urquelle» ist unsere Religiosität, die zugleich die Urquelle aller Religionen ist.

Aus dieser Quelle fließt Ethik auch in die einzelnen Religionen ein, drückt sich aber in jeder Religion (entsprechend deren kultureller Eigenart) unterschiedlich aus. [1]

(26:28) Da muss man sehr vorsichtig unterscheiden zwischen Ethik und ethischen Vorschriften. Die nenne ich lieber Moral. Nur einfach, um ein anderes Wort zu haben.

Wenn sich die Ethik schon in gewisse Sätze, Verhaltensvorschriften usw. entwickelt hat, dann kann man es auch Moral nennen.

Das Wesentliche an der Ethik ist, Augenblick für Augenblick hinzuhorchen: Was will das Leben jetzt von mir? ‒ und verantwortlich das zu tun.

Sehr häufig wird diese Verantwortung nicht so klar gesehen. Aber wenn man das übt, wenn man sich dessen bewusst ist: Also ich möchte in Gott und mit Gott leben, das heißt: in diesem Augenblick begegnet mir Gott, da muss ich ja mich immer wieder bemühen, zunächst einmal aufzuwachen:

Was will jetzt dieses Leben von mir?

Und das ist manchmal nicht so klar zu sehen, das ist auch schwierig. Da muss man halt das Beste tun, und wenn’s ein Fehler war, dann den ändern. Das zeigt ja dann der nächste Augenblick schon, dass es ein Fehler war. Da kann man dann den nächsten Augenblick verwenden.

Aber doch hinhorchen und vertrauen, dass das Leben ‒ da kommt wieder der Glaube herein ‒, etwas von uns verlangt. Jeden Augenblick. Und zwar oft sehr angenehme Sachen.

Das Leben ist ja nicht so ganz ein strenger Lehrer, der jeden Augenblick etwas verlangt. Das Leben verlangt von uns: «Freu dich doch dran!» ‒ und wir sind anderweitig beschäftigt. Das Leben sagt ja fast in jedem Augenblick: «Freu dich doch dran», und auch noch, wenn andere Sachen dazukommen ‒, es sagt ja nicht nur eines ‒:

«Ja das ist wirklich schwierig, aber schließlich kannst du doch noch tief durchatmen. Das ist ja auch ein Geschenk. Viele Menschen können nicht anständig atmen: du kannst jetzt atmen und trotzdem, mit der ganzen Belastung: Tu’s doch!» Das ist auch eine Antwort auf die Herausforderung des Lebens.

(30:26) Wann ist Ethik ethisch? – das ist die Frage. Es gibt eben sehr viele Atheisten, die sich Atheisten nennen, aber sehr ethisch sind, also z. B die Menschenwürde in andern schätzen, und dann kommt eben wieder die Frage: Was macht die Ethik ethisch?

Und meine Antwort wäre ‒ bevor sich‘s noch so ausdrückt in dem Satz: «Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu» ‒, zeigt sich Ethik darin, ob man wirklich auf das Geheimnis hinhorcht ‒, jeden Augenblick, und verantwortlich sich fühlt dem Leben gegenüber, oder ob man vorgefasste Meinungen hat ‒ und das können auch religiöse Lehren sein, die man dann anwendet. Aber die können auch falsch sein. Leider. Irrig. Das erleben wir heute noch.

(32:55) Und so wie sich jede Religion ‒ und meine eigene auch ‒ immer wieder verantworten muss vor meiner Religiosität: Das ist ein wichtiger Satz:

Meine Religion muss sich immer wieder verantworten vor meiner Religiosität ‒ nicht umgekehrt. ‒ Die Formen der Religion ‒ in dem Sinn: überkommene Formen ‒, das muss sich verantworten, das muss mir passen. Wenn das mir nicht passt, darf ich es nicht tun.

Das ist ja auch katholische Lehre: Wir haben‘s halt als Gewissen ausgesprochen: «Du darfst nicht gegen dein Gewissen handeln.»

So wie sich meine Religion vor meiner Religiosität verantworten muss, so muss sich auch meine Ethik vor meiner Religiosität, in der ja die Ethik wurzelt, verantworten.

Und so ein ethisches System: Es gibt ja auch ein katholisches ethisches System, und vieles davon kann ein heute gebildeter Mensch nicht mehr annehmen. Ich gebe nur ein Beispiel: die Haltung zur Homosexualität.[2]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]

[Ergänzend:

1. Film Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 5:

(17:59) «… S.H. der Dalai Lama hat ein Buch geschrieben: ‹Ethik ist wichtiger als Religion›, so heißt das Buch. Das ist seine Botschaft, aber damit meint er mit Ethik, was ich Religiosität nenne. Ich kann das völlig anerkennen, aber ich übersetze es und sage: Religiosität ist wichtiger als Religion. Das heißt: Lebendige Religiosität ist wichtiger als religiöse Formen. Das steht dahinter.»

2. Audios

1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:

(00:26) «Wer von Euch hat dieses Büchlein ‒ es ist kaum ein Buch ‒ gelesen von S.H. dem Dalai Lama, das heißt Ethik ist wichtiger als Religion? Es ist ein Aufruf.

Die Religionen entzweien die Menschheit. Offensichtlich, leider, es müsste ja nicht unbedingt so sein, aber es ist eine Tatsache. Und wir brauchen heute etwas, was uns verbindet als Menschheit. Sonst können wir die Probleme, die auf uns zukommen einfach nicht lösen. Wir können sie nur gemeinsam lösen, und wir brauchen also etwas, was uns verbindet. Und was uns verbindet, ist eine grundlegende Ethik, die uns angeboren ist, sagt auch S.H. der Dalai Lama.

Das Buch ist aber doch sehr problematisch, und ich arbeite gerade an einer kurzen Antwort darauf, Ethik oder Religion, weil eben der Begriff Religion zweideutig ist.

Einerseits bedeutet Religion ‹die Religionen›, und in diesem Sinn verwendet auch S.H. der Dalai Lama dieses Wort, obwohl er meistens Religion sagt ‒ nicht: die Religionen, sondern Religion ‒, meint aber fast immer die Religionen.

Aber Religion hat auch noch eine zweite Bedeutung, nämlich ‹die uns Menschen angeborene Religiosität›.

(09:02) Und nur einmal in diesem Buch spricht S.H. der Dalai Lama von Religion als die uns angeborene Religiosität, und von dieser Religiosität ist die Ethik ein ganz wesentlicher Bestandteil.

Also eigentlich könnte man genauso gut ‒ oder jetzt, nachdem, was wir hier besprochen haben ‒, sagen:

‹Religiosität ist wichtiger als die Religionen.›

Das ist sehr verständlich, und die Gefahr, in der Art, wie S.H. der Dalai Lama sich da ausdrückt, ist, dass manche Leute das Buch gar nicht lesen wollen, weil sie glauben, es ist religionsfeindlich: Ethik ‒ so was weltliches, weltliche Ethik usw.. Davon wollen wir gar nichts wissen. Wir sind religiöse Menschen.

Oder andere, die das lesen und bejahen ‒ man kann ja jedes Wort bejahen, was er drinnen schreibt, begeistern kann man sich dafür ‒, lassen sich in eine religionsfeindliche Einstellung ein: Die Religionen sind Unsinn und so.

Beides ist nicht günstig. Also ich bemühe mich da um Klärung: Immer wieder Unterscheidungen, wie zwischen Religion und Religiosität, damit das klarer wird.»

2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2, 8-11:
«Wie kommen wir von den Religionen jetzt, zu jener Weisheit, die alle verbindet? Denn die Religionen scheinen sich diese Weisheit noch nicht zu eigen gemacht zu haben. Darunter leidet die Menschheit, darunter leidet die ganze Gesellschaft und dadurch bringen wir uns in große Gefahr.»

3. Texte

3.1. Orientierung finden (2021): «Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche», 68:

«Wie Religiosität sich in Religion ausdrückt, drückt Ethik sich in Moral aus.

Ethik, wie wir den Begriff hier verwenden, ist unsre Verantwortung vor dem großen DU, Moral ist der Versuch, unsre ethische Verantwortung in einer konkreten Kultur zum Ausdruck zu bringen.

Wenn S.H. der Dalai Lama sagt, ‹Ethik ist wichtiger als Religion› ‒ Buddhismus als Religion eingeschlossen ‒, so heißt das in der Sprache, die wir hier verwenden:

Religiosität ist wichtiger als Religion.

Dem stimmen wir vollkommen bei, denn ohne Religiosität bleiben die Formen der Religion leere kulturelle Erscheinungen.

Je vollkommener sich Religiosität/Ethik in einer bestimmten Religion ausdrückt, umso lebendiger und lebenspendender ist ihre Moral.»

MORAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 151:

«Moral ist ‒ zusammen mit Lehre und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Willen (im Sinne unsrer Willigkeit) und versucht, Werte allgemein menschlicher Ethik so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zur Zeit der Religionsgründung moralisch verpflichtend werden. Wenn sich zu späteren Zeiten die kulturellen Gegebenheiten ändern, wird die gegebene Religion versuchen müssen, neu entstandene ethische Probleme einzubeziehen, damit ihre Moral weiterhin als Leuchtturm für ethisches Verhalten dienen kann.»

VERANTWORTUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 161f.:

«Verantwortung zu übernehmen, heißt einstehen für ein gegebenes Wort ‒ bereit zu sein, dafür Rechenschaft abzulegen und dafür zu haften. Verantwortung tragen wir aber auch, wenn wir es versäumen, Antwort zu geben, die unerlässlich ist. Die volle Bedeutung von Verantwortung zeigt sich erst, wenn wir bedenken, dass das Leben uns in jedem Augenblick ein Wort zuspricht und unsre Antwort erwartet. Wenn uns ein Kind geboren wird, so ist diese Gabe des Lebens leicht als schicksalsschweres Wort zu erkennen, das uns zugleich die Aufgabe stellt, auf vielerlei Weise darauf zu antworten. Oder wenn ein Freund in Lebensgefahr gerät, so stellt auch dies recht offensichtlich ein Wort dar, auf das zu antworten unsre Verantwortung ist. Aber auch in weit weniger dramatischen Augenblicken ‒ ja, in jedem Augenblick täglichen Lebens ‒ dürfen wir die Gesamtheit aller Gegebenheiten als Wort verstehen und auf sie Antwort geben. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt verantwortungsbewusst zu leben ‒ und das ist ein freudig erfülltes Leben.»

3.2. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:

Anne Voigt: «Welche Rolle spielt die Religion?

Bruder David: «Hans Küng, der große Vertreter des ‹Projekts Weltethos›, betont, dass man eigentlich von Menschenpflichten und nicht nur von Menschenrechten sprechen sollte. Und auch S.H. der Dalai Lama spricht in seinem Buch ‹Ethik ist wichtiger als Religion› von Menschenpflichten. Institutionelle Religion steht ihnen oft im Wege. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist, sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig.»

3.3. Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019):

Bruder David: «S.H. der Dalai Lama sagt, dass Ethik wichtiger ist als Religion. Die Religionen neigen dazu, uns zu trennen, aber wir brauchen eine Ethik, die uns verbindet. Damit stimme ich vollkommen überein, muss aber betonen, dass in unserer Religiosität die Ethik bereits enthalten ist. Das ist der Grund, warum wir heute die Religiosität ernstnehmen müssen, denn sie bietet uns das breiteste Fundament für eine allgemeine Ethik. Wir brauchen eine Spiritualität für alle, nicht nur für diejenigen, die Zeit haben, sich in spirituellen Erfahrungen zu spezialisieren, und genug Geld haben, um Zentren für spirituelle Fortbildung zu besuchen. Die allen zugängliche Religiosität eröffnet uns grundlegende ethische Einsichten ‒ zum Beispiel: ‹Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.› Wäre das nicht ein guter Anfang? Es wäre genug, um die Welt zu verändern.»

3.4. Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017):

«Das griechische Wort ēthos bedeutet in erster Linie unsere menschliche Natur, unsere grundlegende Veranlagung – unsere innerste Ausrichtung also auf das große Geheimnis, unsere Religiosität.

Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität. Aus dieser Erwägung gibt S.H. der Dalai Lama seinem Appell an die Menschheit den Titel ‹Ethik ist wichtiger als Religion›. Er will damit aber das Gleiche sagen wie: Religion [im Sinn von Religiosität] ist wichtiger als die Religionen.

Wenn das Herz jeder Religion die Religion des Herzens ist, dann ist das Herz jeder Ethik die Ethik des Herzens – die Sehnsucht glücklich zu werden und – untrennbar davon – andere glücklich zu machen. In aller Welt drückt die Volksweisheit diese Einsicht ähnlich aus wie bei uns: ‹Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.›

Ob wir es Religion nennen, Ethik oder Spiritualität, immer geht es um ‹die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns›, – wie S.H. der Dalai Lama sie nennt. Aus dieser einen Quelle schöpfen alle Religionen und alle Systeme ethischer Normen.

Darum lehrt jede Religion auf ihre Art: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst›. Und jedes Moralsystem lässt sich zusammenfassen in dem Satz: ‹So verhält man sich denen gegenüber, zu denen man gehört.›

Der Kreis der Zugehörigkeit wurde oft zu eng gezogen. Heute muss er nicht nur alle Menschen umfassen, sondern alle Tiere, Pflanzen, unsere Erde und das ganze Universum. In beiden, Ethik und Religion, geht es also letztlich um Liebe als das grenzenlose Ja zur Zugehörigkeit.»

3.5. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 177-182:

«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.

Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?»]

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[1] Auszug aus Ethik oder Religion (2018), die Antwort von Bruder David auf den Appell S.H. des Dalai Lama im Buch Ethik ist wichtiger als Religion (2014), 2-4

[2] Auszüge aus dem Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast



Quellenangaben

Text, Film, Audios und Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB

religion titelCopyright © -Barbara Krähmer

Raimon Panikkar (1918-2010) vergleicht Religiosität mit dem Sprachvermögen des Menschen. So wie das Sprachvermögen sich in den verschiedenen Sprachen ausdrückt, so drückt die uns allen gemeinsame Religiosität sich in den verschiedenen Religionen aus.

Religiosität verbindet uns, die Religionen unterscheiden uns ‒ und trennen uns sogar leider oft.

Immer wieder neu entspringen aus der ursprünglichen und allen Menschen gemeinsamen Religiosität Religionen in den verschiedensten Formen.

Welcher Reichtum ginge auch verloren, wenn es nur eine Einheitssprache ‒ nur eine einzige Religion ‒ gäbe!

Wir könnten Religiosität auch mit einem einzigen riesigen, unterirdischen Wasserreservoir vergleichen und die Religionen mit einer Vielzahl von Brunnen, die daraus ihr Wasser heraufholen.

Immer wieder einmal im Laufe der Geschichte kommt ein Religionsgründer und gräbt einen neuen Brunnen.

Die Brunnen können sich stark voneinander unterscheiden, je nach der Persönlichkeit des Erbauers, den Gegebenheiten des Ortes, seiner Menschen und ihrer Bedürfnisse zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt.

Wir dürfen uns an der Schönheit der Brunnen in ihrer Verschiedenheit freuen und uns daran erinnern, dass aus jedem von ihnen ein und dasselbe Wasser fließt.

Wenn wir eingebettet in eine religiöse Tradition aufwachsen, werden uns die Lehren, Gebote und Rituale dieser Religion ihre tiefere Bedeutung dadurch erschließen, dass sie unsre erwachende Religiosität zum Mitschwingen bringen und zu ihrem echten Ausdruck werden.

Jede Religion, in der wir aufwachsen, kann die Sprache werden, in der wir über das ‒ letztlich doch unaussprechliche ‒ Geheimnis sprechen, das unsre Religiosität erahnt.

Später im Leben ist es schwieriger, eine neue Sprache zu erlernen. Die Aneignung einer religiösen Sprache beim Aufwachsen stellt ein weit größeres Vermögen dar als ein fettes Sparbuch; sie kann zur unerschöpflichen Freudenquelle fürs ganze Leben werden.

Daher ist es ein schmerzlicher Verlust, wenn wir uns bewusstwerden, dass wir unsre Religiosität nicht mehr in der Sprache der Religion unsrer Kindheit ausdrücken können.

Formen aufzugeben, die nicht mehr echter Ausdruck unsrer Religiosität sind, und nach neuen Ausdrucksformen zu suchen, mag andren und sogar uns selbst als Verrat erscheinen, kann aber gerade unsre Treue zum religiösen Inhalt beweisen, den sowohl die alten wie die neuen Formen ausdrücken.

Wir dürfen bei der Auswahl neuer Formen langsam und wählerisch vorgehen. Es ist nicht nötig, plötzlich allen Halt aufzugeben, den das Vertraute uns bietet.[1]

Religionen neigen jedoch dazu, früher oder später ihre ursprüngliche Kraft zu verlieren.

Ein Grund dafür liegt darin, dass große Gemeinschaften es kaum vermeiden können, Institutionen zu werden. Alle Institutionen haben aber die Tendenz, ihren ursprünglichen Zweck zu vernachlässigen und stattdessen zum Selbstzweck zu werden.

Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass auch politische, akademische, medizinische und andre Institutionen zum Selbstzweck werden, nicht nur religiöse.

Eine weitere Gefahr für Religionen besteht darin, dass sie in den Bann des «Systems»[2] fallen können.

Wenn dies geschieht, friert ihre ICH-DU-Spiritualität zu einer ICH-ES-Ideologie ein: Lehre, Moral und Ritual verwandeln sich in Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus.

Was sollen wir tun, wenn diese Katastrophe unsre eigene Religion befällt und das lebendige Wasser, das einst aus ihrem Brunnen sprudelte, sich in Eis verwandelt?

Wir können dieses Eis immer wieder auftauen ‒ durch die Wärme der Religiosität unsres Herzens.

Das Herz jeder Religion ist die Religiosität des Herzens.

Religiosität kann Religion wiederbeleben.

Wo eben noch Eis war, sprudelt dann wieder lebenspendendes Wasser.

Ist es also nicht die Religiosität unsres Herzens, auf die alles ankommt?[3]

Viel Religionsvergleich und Faktensammeln war nötig, um dies wirklich zu erkennen, aber inzwischen ist es einer erheblichen Anzahl von Menschen bewusst geworden (und wird jedem Menschen auf dieser Erde zunehmend bewusst werden), dass es im Endeffekt nur zweierlei Arten der Religiosität gibt.

Die Grenzlinien, von denen wir annahmen, dass sie zwischen Christen und Buddhisten, zwischen Buddhisten und Hindus und Muslims und Juden verliefen, sind letzten Endes irrelevant.

Es gibt nur eine Linie, die trennt, und die verläuft in einer anderen Richtung, nämlich horizontal. Durch alle Buddhisten, durch alle Hindus, durch alle Christen, und durch jeden Einzelnen von uns, verläuft die Linie zwischen der richtigen Weise, religiös zu sein, und der falschen Weise, religiös zu sein.

Es ist die Linie zwischen Furcht und Glauben.

Furcht in ihrer religiösen Ausdrucksweise nimmt verschiedenste Gestalt an, sei es Dogmatismus, wo es am offensichtlichsten ist, oder Szientismus, der eigentlich nur eine andere Form des Dogmatismus ist, oder sei es Fundamentalismus.

Auch der Moralismus ist eine Gestalt der Furcht; denn er bedeutet, dass man sich an etwas festhält, das man tun kann ‒ es ist das, was Paulus das Gesetz im Gegensatz zur Gnade genannt hat, oder die Werke im Gegensatz zum Glauben.

Man tut etwas: solange man es tun kann, hat man etwas im Griff. Man braucht auf nichts zu vertrauen; man vertraut auf das, was man erreichen und handhaben kann.

Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass es auf der Welt nur noch zwei Arten gibt, religiös zu sein. Wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, dann will ich die eine Art die fundamentalistische nennen, das ist die Religion der Furcht.

Es ist zwar ganz offensichtlich, dass sie in meinem Sinne eigentlich gar keine Religion ist, aber sie wird nun einmal Religion genannt, und so wollen wir es bei diesem falschen Ausdruck belassen: es ist die Affenreligion, die äffende Religion, die Religion der Furcht.

Und im Gegensatz dazu steht die katholische Religion, aber wir wollen katholisch bitte mit einem kleinen «k» schreiben, denn das große Problem der Katholiken besteht darin, dass sie nicht katholisch genug sind. Es gibt katholische Buddhisten, die viel katholischer als die Katholiken mit dem großen «K»[4] sind, und es gibt katholische Juden und katholische Muslime und katholische Hindus. Es gibt sogar katholische Atheisten, aber auch fundamentalistische Atheisten. Hier eben verläuft die Trennungslinie.[5]

Richtig verstanden, ist «katholisch» nicht das Markenzeichen einer bestimmten Gruppe von Christen ‒ «allumfassende Teilgruppe» ist ein offensichtlich widersinniger Begriff ‒, sondern kennzeichnet die Gemeinschaft aller, die mit dem uns Menschen angeborenen Ur-Glauben dem Leben vertrauen.

Wer sollte da ausgeschlossen sein? Selbst Tiere und Pflanzen haben ja auf ihre eigene Art dieses Ur-Vertrauen. Auch wenn dieser Glaube manchmal einem Menschen selber nicht bewusst ist, im tiefsten Herzen bleibt er immer lebendig.[6]

Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn wir behaupten wollten, die großen Traditionen der Spiritualität verhielten sich zueinander komplementär. Ja, es wäre falsch, sich vorzustellen, sie ließen sich alle «zum Richtigen» zusammenfassen. Jede von ihnen ist «das Richtige». Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional. Jede enthält jede, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentuierung. Daher ist jede einmalig.

Jede ist in ihrer Art auch die höchste. Wo bleibt da der christliche Anspruch auf Universalität? Richtig verstanden, ist er nicht eine Art von kolonialem Anspruch, sondern er verweist auf innere Horizonte. Es verlangt nicht von den anderen, sondern von uns Christen, dass wir immer und immer wieder die vernachlässigten Dimensionen unserer eigenen Tradition wiederentdecken, damit wir wahrhaft universal, also wirklich katholisch werden.[7]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3, 5-7]

[Ergänzend:

1. Film Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4-7:

(16:10) «Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind: Ich beginne mit der Einsicht – und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind.

Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens. Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.»

Egbert Amann-Ölz: «Bei dir hat man es auf jeden Fall gespürt: Du bist im Herzen der Katholischen Kirche verankert und hast aber die Fühler ganz weit ausgestreckt. Ja, du hast eine Verbindung zu allen Menschen, unabhängig von der Religion, aber auf dieser Basis der Religiosität, hab ich den Eindruck.»

Bruder David: «Das ist eben die Basis: Die glühende Religiosität, die leider in den meisten Menschen nicht zu glühen ist, aber ein kleiner Funke wenigstens ist, den man wieder zur Flamme entfachen kann: Die sind in uns – unser größtes Interesse! – wenn es nur möglich gemacht wird, uns wirklich damit auseinanderzusetzen.»

2. Audios

2.1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018)
Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(01:57) Der Begriff Religion ist zweideutig: «Einerseits bedeutet Religion ‹die Religionen›. Aber Religion hat auch noch eine zweite Bedeutung, nämlich ‹die uns Menschen angeborene Religiosität›. Und die drückt sich dann in den Religionen aus. So wie wir eine uns Menschen angeborene Sprachbegabung haben, die sich in den verschiedenen Sprachen ausdrückt. Man kann nicht Sprachbegabung sprechen, man kann nur Deutsch, Französisch oder Italienisch sprechen.

Und jede Sprache ist sehr wichtig, weil, wenn man mehrere Sprachen kennt, weiß man, wie schöne Einsichten man einfach gewinnt dadurch, dass man sich so ausdrückt. Man kann das in einer andern Sprache überhaupt nicht sagen. Es gibt viele deutsche Wörter, wo es keine Parallele gibt, z. B. ‹Vorfreude›: In keiner mir bekannten Sprache gibt es das Wort ‹Vorfreude›. Das muss man umschreiben. Das ist ein wunderschönes Wort: ‹Vorfreude ist die schönste Freude›. Das ist nur ein winziges Beispiel. Aber jede Sprache hat ihre Bedeutung und ihre Schönheit und ihre Einzigartigkeit, und so ist es mit den Religionen. Die haben auch jede ihre eigene Schönheit, aber die wachsen alle heraus aus diesem Mutterboden unserer Religiosität.»

(04:12) «Manche Leute nennen es Spiritualität [oder Ethik][8]. Ich nenne es gerne ‹Religiosität›, weil dieses Wort ‹Religion› ein sehr schönes Wort ist und außerdem zeigt es in dem Zusammenhang: aus der Religiosität wachsen die Religionen, das ist einleuchtend.

Und Religiosität heißt ja ‒ das ist nicht unbedingt stichhaltig ‒, aber die meisten Etymologen sagen, dass es mit ‹religare› zu tun hat, und das heißt, wie ‹re› ‒ ‹wieder› und ‹ligare› wie ‹Liga› und ‹Ligamente›, ‹wiederverbinden›.

Also Religion [im Sinn von Religiosität] ist das, was gebrochene Verbindungen wieder verbindet. Und zwar die Verbindung zwischen uns und dem großen Geheimnis Gottes, die Verbindung zwischen den Menschen untereinander und die Verbindung zwischen jedem und jeder von uns und unserm tiefsten wahren Selbst. Also das alles ist Aufgabe der Religion, uns wieder zu verbinden, wo wir zerbrochen sind.

Und diese Religiosität ‒ wenn wir sie pflegen, tut das. Also sie verbindet uns. Weil: es gibt nur eine menschliche Religiosität. Und viele, viele Religionen.

Und die Religionen sind zu ganz verschiedenen Zeiten entstanden und haben sich auf ganz verschiedene Weise fortgepflanzt, ganz verschiedene Geschichten usw.. Das muss man alles in Betracht ziehen und darum ist es nicht sehr leicht, die Religionen als verbindend anzusehen.

(06:09) Da kommt noch etwas dazu: Die Religionen sind alle heutzutage schon Institutionen geworden, und wir wissen alle, dass Institutionen für einen bestimmten Zweck gegründet werden ‒ sagen wir erzieherische Institutionen oder medizinische Institutionen oder politische Institutionen ‒, die werden für einen guten Zweck gegründet. In der kürzesten Zeit denkt niemand mehr an den Zweck, sondern nur mehr an die Institution und will die verwirklichen und verewigen. Und alles dreht sich um die Institution und der Zweck ist schon vergessen.

Das gilt auch für die Religionen als Institutionen. Die sind sehr in sich selbst verfangen. Ich bin ganz dafür, dass man so Begegnungen hat wie die in Assisi[9] usw.. Die Begegnung der Religionen ist äußerst wichtig, aber man darf nicht soviel davon erwarten. Und ich habe viel Erfahrung damit und so kann ich das aus Erfahrung sagen.

Aber von Meditation, wo Menschen sich auf ihre eigene Religiosität einlassen, kann man sehr viel erwarten. Im Augenblick, wo jemand wirklich ein spiritueller Mensch ist, versteht er sich mit allen andern spirituellen Menschen und nicht nur das: ist aufgeschlossen und nicht feindlich gegen andere, die er nicht so gut versteht, oder die sogar gegen uns feindlich sind.

Also das ist eine ganz andere Bewegung: Wir müssen in die Religiosität gehen oder in die Spiritualität, die uns verbindet, und von daher unsere Religionen, die ja sehr wertvoll sein können, immer wieder erneuern.

Wir sind verantwortlich dafür, unsere Religion immer wieder aus den Quellen unserer eigenen persönlichen Religiosität zu erneuern, zu beleben und in ihr das Leben einfließen zu lassen.

Und wenn man das macht, dann sieht man einerseits, wieviel Schönheit in der eigenen Religion … und wieviel Schönheit in den andern ist. Und immer wieder kommt mir unter, dass Leute, die Jahre und Jahrzehnte Buddhismus praktizieren und lange Christen waren, und das schon halbwegs vergessen haben, endlich sagen: Durch meine buddhistische Spiritualität ‒ nicht durch den Buddhismus, sondern durch meine Meditation ‒: endlich verstehe ich, was im Christentum wesentlich ist. Jetzt bin ich wieder offen für das Christentum. Immer wieder kommt das vor. Oder Judentum: genau dasselbe.

(11:08) «Und besonders auch, wenn Leute Schwierigkeiten haben mit ihrer Religion oder mit dem Religionsunterricht oder ihrer religiösen Erziehung usw., ist es ein sehr einfacher Kunstgriff, das einmal still liegen zu lassen und auf die Religiosität zu sprechen zu kommen, die man voraussetzen kann: Jeder Mensch hat diese tiefe Religiosität.

2.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2-5:
«Worum geht es bei der Religiosität? Das ist uns unbedingt wichtig, wenn wir unser Thema beantworten wollen. Worum geht es bei der Religiosität und zwar jetzt, in Ihrem Erleben?»

3. Texte

3.1. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2022): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:

«Mir wurden ungewöhnliche Gelegenheiten geschenkt, andre spirituelle Traditionen aus nächster Nähe kennenzulernen, besonders den Zen Buddhismus. Das gab meinem christlichen Glauben Anstoß, allumfassend, also im Vollsinn des Wortes ‹katholisch› zu werden. Ich sehe jetzt, dass die verschiedenen Religionen – meine eigene eingeschlossen – wie verschiedene Brunnen aus ein und demselben Grundwasser menschlicher Religiosität schöpfen. Diese Religiosität ist die uns als Menschen angeborene Beziehung zu dem großen Geheimnis, das wir Gott nennen. Ein solcher Brunnen, wie unsere christliche Tradition einer ist, stellt ein unermessliches Geschenk dar. ‹Geh nicht von einem zum andern›, warnt Swami Satchidananda: ‹Wenn du einen gefunden hast, grab‘ immer tiefer›. Das habe auch ich mir zu Herzen genommen. Es erweitert den Horizont und ist für das dringend notwendige gegenseitige Verständnis ungemein wichtig, andre Religionen kennenzulernen; es ist aber auch wichtig zu wissen, wo wir zuhause sind.»

3.2. «Die Religion religiös machen», in: Verbunden trotz Abstand (2021), 43-64; siehe auch: Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 195-204

3.3. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview von Evelyn Gander mit Bruder David:

Evelyn Gander: «Osttirol ist eine sehr traditionell katholisch geprägte Region und andere Religionen werden oft als Widerspruch zur eigenen wahrgenommen. Wie kann es gelingen zwischen den Religionen Verbindendes zu erkennen und damit Ängste abzubauen?»

Bruder David: «Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens. Sie ist uns Menschen angeboren, und auf sie allein kommt es letztlich an. Sie wird uns als Ehrfurcht bewusst, wenn wir dem großen Geheimnis der Natur und des menschlichen Lebens begegnen, und drückt sich im Alltag aus durch ehrfürchtigen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen. Die verschiedenen Religionen drücken diese eine uns allen gemeinsame Religiosität auf verschiedene Weise aus, weil sie in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen entstanden sind und von ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt wurden.

Bildlich gesprochen, sind die Religionen wie Brunnen, die alle aus ein und demselben unterirdischen Sammelbecken ihr Wasser heraufpumpen. Wenn es uns auf Äußerlichkeiten ankommt, werden wir uns am Baustil der uns fremden Brunnen stoßen. Wenn uns aber das Trinken das Wichtigste ist, werden wir den Geschmack des Wassers aus dem uns vertrauten Brunnen bei allen anderen wiedererkennen und uns an der vielfältigen Schönheit der verschiedenen Brunnen freuen.»

3.4. Von Augenblick zu Augenblick (2020): Interview von Esther Platzer mit Bruder David:

Esther Platzer: «Es gibt unterschiedliche Religionen auf dieser Welt. Warum stehen sie miteinander in Konkurrenz?»

Bruder David: «Ich möchte mit einer Definitionsfrage beginnen. Wir sollten zwischen Religion im Sinne von Religiosität und Religion als Institution unterscheiden. Auf der Ebene der Institution kann keine Vereinigung stattfinden. Eine Institution – und jede der großen Religionen ist eine Institution geworden – vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Sie verwendet ihre Energie darauf, sich selbst zu verewigen.

Das ist allen Institutionen gemeinsam, sei es politischer, medizinischer oder auch akademischer Natur. Religion ist keine Ausnahme. Auf institutioneller Ebene tauscht man vielleicht freundliche Worte untereinander aus, und wenn wir Glück haben, bekämpft man sich nicht, doch Religionen werden auf institutioneller Ebene sicherlich nicht zusammenfinden.»

«Und worauf setzen Sie dann Ihre Hoffnung?»

«Das Einzige, was den Zwiespalt überwinden kann, ist die Rückbesinnung auf Religiosität. Sie verbindet uns alle, ist angeboren. Menschsein bedeutet, sich mit den Geheimnissen des Lebens zu befassen.»

 «Was meinen Sie genau mit Religiosität?»

«Ich will es mit einem Bild veranschaulichen: Stellen wir uns Religiosität als eine Art Grundwasser vor. Im Laufe der Geschichte bauten die Religionsgründer Brunnen. Gautama Buddha baute einen, Jesus auch. Beide befördern Grundwasser, also Religiosität an die Oberfläche, beide mit Brunnen, die für ihre Kultur und in ihren Kontext passten.»

«Und was folgt daraus?»

«Im interreligiösen Dialog lassen sich entweder die verschiedenen Brunnen miteinander vergleichen, oder wir vergleichen das Wasser, das diese Brunnen ans Tageslicht bringen. Wer das tut, wird bemerken, dass das Wasser immer das Gleiche ist. Es ist also die Aufgabe von Religionszugehörigen, in der Begegnung mit anderen Glaubensrichtungen immer so tief hinunterzugehen, dass sie das lebendige Wasser herausholen. So schafft man es, Gemeinsamkeiten zu erkennen und nicht auf die Unterschiede zu achten.»

3.5. Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern (2019): Interview von Michaela Gründler mit Bruder David:

Michaela Gründler: «Sie haben sich im Laufe Ihres Lebens immer wieder mit Vertretern anderer Religionen vernetzt. Was ist das Verbindende zwischen den Religionen?»

Bruder David: «Da müssen wir zunächst unterscheiden zwischen der allen Menschen angeborenen Religiosität und den Religionen.

Zu der Zeit, wo eine Religion gegründet wird, verfestigt sich eine von den vielen möglichen Ausdrucksformen der allgemein menschlichen Religiosität – der Begegnung mit dem großen Geheimnis.

Aber auf diese Religiosität kann man immer wieder von jeder der Religionen zurückgreifen. Auf dieser Basis kann ein Christ von einem Mohammedaner etwas lernen und umgekehrt, und sie können sogar gemeinsam beten.

Bei der Annäherung der verschiedenen Religionen als Institutionen sehe ich eher schwarz. Sie nähern sich vielleicht unter Druck an oder aus politischen Gründen, vielleicht auch mit guter Absicht, aber jede Institution will sich letztlich von der anderen abgrenzen.

Aber in der allgemein-menschlichen Religiosität, die das Leben als Ganzes sieht und jeder Religion auf verschiedene Weise zugrunde liegt, sind wir von Anfang an verbunden. Sich diese Verbundenheit bewusst zu machen, ist ungeheuer wichtig im interreligiösen Dialog.»

Michaela Gründler: «Worin besteht diese allgemein menschliche Religiosität genau?»

Bruder David: «Darin, dass wir als Menschen gar nicht umhinkönnen, uns mit dem großen Geheimnis des Lebens auseinanderzusetzen. Diese Beschäftigung kann man verschieben, solange man noch jung ist und andere Interessen hat. Aber für ein volles Menschenleben kann man nicht umhin, sich mit dem Warum, dem Was und dem Wie des Lebens auseinanderzusetzen. Warum gibt es uns überhaupt? Was schenkt uns das Leben und was verlangt es von uns? Wie sollen wir miteinander verbunden leben, um glücklich zu sein? Diese Grundfragen, die kein Mensch früher oder später umgehen kann, führen uns in das große Geheimnis hinein.»

3.6. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:

Anne Voigt: «Welche Rolle spielt die Religion?

Bruder David: «Hans Küng, der große Vertreter des ‹Projekts Weltethos›, betont, dass man eigentlich von Menschenpflichten und nicht nur von Menschenrechten sprechen sollte. Und auch der Dalai Lama spricht in seinem Buch ‹Ethik ist wichtiger als Religion› von Menschenpflichten. Institutionelle Religion steht ihnen oft im Wege. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist, sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig.»

«Ist innerhalb dieses Dialogs die Religion also gar nicht so wichtig?»

«Ja, allerdings nicht in dem Sinne, wie es manchmal beschrieben wird. Es geht nicht um die Frage, was wir beispielsweise als Christen, Buddhisten oder Hindus glauben und was nicht. Vielmehr sollte der interreligiöse Dialog als ein Dialog aller Menschen verstanden werden.»

«Stehen religiöse Institutionen dem Dialog im Weg?»

Bruder David: «Die Institution ist dafür da, uns immer wieder an die Quelle zurückzuführen. Aber sie möchte sich als Institution auch selbst verewigen und vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Das ist eine große Gefahr. Das gilt nicht nur für religiöse und spirituelle Institutionen, sondern etwa auch für akademische oder politische. Ich nenne es das Syndrom der rostigen Röhren, denn Institutionen verhalten sich so. Es sind rostige Röhren, die uns aber auch immer wieder das Wasser der ursprünglichen Quelle zuführen.»

3.7.1. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 35f., [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33f.]:

«Ruhelos ist unser Herz.» So drückte Augustinus es aus.

Der Kern unseres Wesens ist ein unerbittliches Fragen, Suchen, Sehnen.

Selbst das Schlagen des Herzens in meiner Brust scheint lediglich das Echo eines tieferen Hämmerns in mir zu sein, eines Klopfens an eine verschlossene Tür.

Noch nicht einmal das ist mir klar: Klopfe ich, um hereinzukommen, oder klopfe ich, um herauszugelangen?

Eins aber ist gewiss: Ruhelos ist unser Herz. Und jene existenzielle Ruhelosigkeit ist das, was Religion religiös macht.

Jede Religion stellt nur den Rahmen für die Suche des Herzens bereit.

Innerhalb jeder Religion gibt es unzählige Wege, religiös zu sein.

Durch persönliches Suchen müssen wir unseren eigenen finden. Das kann niemand anders für uns erledigen.

Diese oder jene Religion mag den historischen, kulturellen, soziologischen Rahmen dazu liefern. Sie mag uns eine Interpretation unserer Erfahrung anbieten, eine Sprache, um darüber zu sprechen. Wenn wir Glück haben, liefert sie uns vielleicht Anreize, die uns bei unserer Suche wach und aufmerksam halten, und Kanäle, die ihre Antriebskraft davor schützen zu versickern, auszulaufen.

All dies ist von unschätzbarem Wert. Und doch sind das äußere Dinge.

Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens.»

Am Schluss des Buches zum Schlüsselbegriff Religion

3.7.2. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 182f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 183f.] der Schlüsselbegriff «Religion»:

«Religionen sind Wege, religiös zu sein. Wir denken an die zugrundeliegende Religiosität, wenn wir von Religion im Gegensatz zu Religionen sprechen. Wir bräuchten ein Tätigkeitswort, ein Verb, um auszudrücken, worum es bei Religion geht. Aber während uns Wörter wie ‹Religion› und ‹religiös› zur Verfügung stehen, ist es nicht möglich zu sagen, jemand ‹religione›.

Beten ist das Tätigkeitswort im Zusammenhang von Religion. Beten (im weitesten Sinne) ist das, was verhindert, dass religiöse Erfahrung in bloßen religiösen Strukturen vertrocknet. Erfahrung ist der Ausgangspunkt von Religion. Es ist nicht zu vermeiden, dass Intellekt, Wille und Emotionen ‒ alle in der ihnen eigenen Weise ‒ mit der Erfahrung fundamentaler Zugehörigkeit ringen. Der Intellekt interpretiert die Erfahrung, und das führt zur religiösen Lehre. Der Wille erkennt die Implikationen an, was die ethische Seite begründet. Die Emotionen feiern die Erfahrung durch das Ritual.

Religion aber ist nicht automatisch religiös. Jene drei Hauptbereiche jeder Religion neigen immer dazu, zu Dogmatismus, Legalismus und Ritualismus zu schrumpfen, wenn sie nicht immer wieder von persönlicher Erfahrung belebt werden. Dieser Prozess ist das Gebet. Gebet in diesem Sinne macht Religionen religiös.»

3.8. Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017):

«Wir müssen unterscheiden zwischen Religion [im Sinn von Religiosität] und den Religionen. Die Religionen sind verschiedene Brunnen, die Wasser heraufholen aus dem allen gemeinsamen Grundwasser der Religion.

Religion, wenn wir dieses Wort vom lateinischen ‹re-ligare› herleiten wollen, ist das Wieder-Verbinden und Heilen zerrissener Beziehungen – zu unserem echten Selbst, zu unserer Mit- und Umwelt und zum großen Geheimnis, mit dem wir uns als Menschen unvermeidlich auseinandersetzen müssen, um Sinn im Leben zu finden.

Geheimnis ist kein vager Begriff, sondern bedeutet jene Wirklichkeit, die wir nicht durch Begriffe in den Griff bekommen können, die uns aber verständlich wird, wenn sie uns ergreift. Wir kennen diese Ergriffenheit von der Musik, deren Wesen sich ja auch unseren Begriffen entzieht.

Dem Geheimnis begegnen wir in allen ergreifenden Lebenserfahrungen, etwa in Gipfelerlebnissen, bei der Geburt eines Kindes, im Angesicht des Todes und vor allem in der Liebe, weil sie das Ja zum Leben ist und so das Ja zum Geheimnis. Das Herz aller Religionen ist die Religion des Herzens: die Liebe.

Das griechische Wort ēthos bedeutet in erster Linie unsere menschliche Natur, unsere grundlegende Veranlagung – unsere innerste Ausrichtung also auf das große Geheimnis, unsere Religiosität.

Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität. Aus dieser Erwägung gibt S.H. der Dalai Lama seinem Appell an die Menschheit den Titel ‹Ethik ist wichtiger als Religion›. Er will damit aber das Gleiche sagen wie: Religion ist wichtiger als die Religionen.

Wenn das Herz jeder Religion die Religion des Herzens ist, dann ist das Herz jeder Ethik die Ethik des Herzens – die Sehnsucht glücklich zu werden und – untrennbar davon – andere glücklich zu machen. In aller Welt drückt die Volksweisheit diese Einsicht ähnlich aus wie bei uns: ‹Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.›

Ob wir es Religion nennen, Ethik oder Spiritualität, immer geht es um ‹die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns›, – wie der Dalai Lama sie nennt. Aus dieser einen Quelle schöpfen alle Religionen und alle Systeme ethischer Normen.»

3.9. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 177-182:

«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.

Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?»]

 ____________________________

[1] Orientierung finden (2021), 64, 65f.

[2] Orientierung finden (2021): «Das System ‒ die Macht, die Leben zerstört», 41:

«Das ‹System› kann nicht lächeln. Es kümmert sich um keinen Menschen. Ihm ist alles egal. Wir haben es ja mit einer völlig unpersönlichen Machtstruktur zu tun, obwohl sie wie von einem irrsinnigen Machthaber gesteuert erscheinen mag. In seinem Wesen ist das ‹System› uneingeschränkte Unpersönlichkeit ‒ Inbegriff eines leeren Nichts mit mörderischer Macht. Wo es eindringt, zerstört es das Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit und die Anerkennung persönlicher Einzigartigkeit ‒ die beiden Voraussetzungen von Menschenwürde. Sich gegen das ‹System› aufzulehnen, heißt also ‒ kurz und positiv auf eine Formel gebracht ‒ für Menschenwürde einzutreten. Menschenwürde entspringt letztlich der Ehrfurcht vor dem Geheimnis.»

[3] Orientierung finden (2021): «Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche», 69f.

[4] Katholisch identisch mit «Römisch-Katholisch»

[5] Der Mönch in uns (1978)

[6] Credo: «Ein Glaube, der alle verbindet» (2012), 189

[7] Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 9 «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 128f.

[8] Siehe Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017) in Ergänzend: 3.8:

«Weil aber die meisten Menschen heute an die Religionen denken, wenn von Religion die Rede ist, liegt es nahe, lieber das Wort Ethik zu verwenden statt Religion oder Religiosität.»

[9] Von 18. bis 20. September 2016 hatten sich in Assisi rund 500 Vertreter von einem Dutzend Religionen versammelt, um den Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften voranzutreiben. An der Zusammenkunft mit knapp 30 Podiumsrunden sowie Vorträgen und Gebeten nahmen insgesamt mehr als 10.000 Menschen teil. Neben dem Dialog der Religionen ging es auch um Themen wie Recht auf Nahrung, Migration und Bewahrung der Schöpfung.

 



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Thorsten Scheu

I want to know what this whole show
is all about, before it's out.

Wüsst‘ ich nur jetzt, um was zuletzt
sich alles dreht, bevor‘s vergeht!

          Piet Hein (19O5-1996)

Jetzt, mitten in meinen 90er-Jahren, frage ich meinen Freund Thomas, der in seinen 20ern ist:

«Wie steht's da eigentlich mit jungen Leuten heute? Wollt auch ihr so leidenschaftlich wie Piet Hein und ich wissen, worum sich letztlich alles dreht?»

«Ja», sagt er, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, «diese Frage beschäftigt auch uns immerfort!»

Tommys Antwort hat mich letztlich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte versuchen, die wichtigsten Orientierungspunkt zu markieren, die ich im Laufe meines Lebens finden konnte.

Denn: Wollen wir unsern Platz im Ganzen finden, dann müssen wir auf die dynamische Vernetzung von allem mit allem schauen. Das kann unsere persönliche Aufgabe im weitesten Zusammenhang erkennen lassen.[1]

Mein ganzes Leben lang wollte ich vor allem wissen, wie alles mit allem zusammenhängt.

Was mich brennend interessiert, ist das Gesamtbild ‒ die Frage nach dem äußersten Horizont, die Frage, worum es letztlich geht.

Karte ist ein zu statisches Bild. Es geht wohl eher um ein Verständnis der Choreografie des Ganzen, dessen wichtigste Merkmale Bewegung und Veränderung sind.

Wenn wir uns tief einfühlen, dann bemerken wir, dass zum Gesamtbild nicht nur verändernde Bewegung gehört, sondern auch ruhendes Bleiben.

Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit ausdrücken können, Bewegung und Ruhe.

Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt.

Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab:

Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.[2]

Beim Tanz dreht sich alles um die Gelegenheit, Augenblick für Augenblick im Schritt zu sein mit denen, die uns am nächsten stehen im Kreis, und durch sie mit allen Tänzern in eine Wechselwirkung zu treten.

Das Ziel ist, völlig eins zu werden mit Rhythmus und Harmonie des Tanzes.

Tanz aber ist hier Sinnbild für Wandel und den Gang des ganzen Universums.

Vergiss das Sinnbild des Reigentanzes nicht!

Es sollte aufleuchten, sooft es um das Gesamtbild geht, und als Hintergrund dienen für alle Erwägungen, auf die wir uns in diesem Buch einlassen werden.

Ringelreigen kennen zwar auch jetzt noch alle vom Kindergarten her, aber der Rundtanz für Erwachsene ist schon fast verlorengegangen. Es freut mich, dass junge Menschen heute diese Urform des Tanzens wiederentdecken.

Kreis und Ring sind unerschöpfliche Sinnbilder für das kosmische Ganze ‒ von den vorgeschichtlichen Steinkreisen bis zum Ensō in der japanischen Kalligraphie.

Oft werden wir sehen, dass es Dichter sind, die uns besonders gut den tieferen Sinn von Wort und Bild erschließen können. Das gilt auch für den Reigentanz.

Dabei ist es bedeutsam, dass wir als bloße Zuschauer das Wichtigste nicht sehen können.

Von außerhalb des Kreises gesehen, muss es uns immer so erscheinen, als ob die uns Fernsten in die entgegengesetzte Richtung jener gehen, die uns am nächsten sind.

Erst wenn wir selber in den Kreis eintreten, links und rechts unsre Partner bei den Händen fassen und mittanzen, wird uns klar, dass alle sich in der gleichen Richtung bewegen.[3]

Beim Bild des Reigentanzes schwingt stets die Vorstellung von Gemeinschaft mit. Wir müssen das betonen, weil beim heutigen Tanzen oft nur die Musik das Verbindende ist, die einzelnen Tänzer aber weitgehend unabhängig voneinander ihre eigenen Tanzschritte und Figuren ausführen.

Beim Rundtanz tanzen sie miteinander, er vereint die Tanzenden zu einer Gemeinschaft.

Dein Leben ist untrennbar verbunden mit dem Leben aller andren ‒ dem ganzen Universum.

Im großen Chor ist jede Stimme unentbehrlich; im großen Tanz  ist jede Tänzerin, jeder Tänzer unersetzlich.

Das allumfassende Leben wird Dir schon zeigen, was du mit deinem Anteil am Ganzen tun sollst. Darauf darfst du dich vertrauensvoll verlassen.[4]

Bei C. S. Lewis (1898-1963) bin ich zum ersten Mal auf das Bild des großen Tanzes gestoßen, den er auch das große Spiel nennt.

In seinem Weltraumroman «Perelandra» heißt es:

«Er hat vor allem Anfang begonnen ... Der Tanz, den wir tanzen, ist die Mitte und um des Tanzes willen wurde alles erschaffen ... Im Plan des großen Tanzes greifen Pläne ohne Zahl ineinander, und jede Figur führt zu ihrer Zeit zum Aufblühen des gesamten Entwurfs, auf den alles hinzielt ... Alles Geschaffene erscheint dem verdunkelten Geist planlos, weil da mehr Pläne im Spiel sind, als er sich vorstellen kann ... Fasse eine Bewegung ins Auge, und sie wird dich durch alle Figuren führen und dir als die Hauptfigur erscheinen. Und das Scheinbare wird wahr sein. Möge kein Mund widersprechen. Alles scheint planlos, weil alles Plan ist: Alles scheint ohne Mitte, weil überall Mitte ist.»

Der amerikanische Schriftsteller T. S. Eliot (1888-1965) spricht von dieser geheimnisvollen Mitte ‒ vom Jetzt ‒ als «dem stillen Punkt der sich drehenden Welt».

«Das Jetzt ist der Augenblick, in dem der Tänzer ‹ruht und immer noch in Bewegung› ist, völlig im Schritt mit dem kosmischen Rhythmus. Es ist der Augenblick, in dem paradoxerweise der Pfeil unsrer Tanzbewegung sein Ziel erreicht, ohne anzuhalten in seinem Flug. An diesem ‹ruhenden Punkt, da ist der Tanz. ... Ohne den Punkt, den Ruhepunkt, gäbe es keinen Tanz, und es gibt nichts als den Tanz.›»[5]

Die Worte des bekannten Kanons «Liebe ist ein Ring. Ein Ring hat kein Ende» könnten gut von einem nachdenklichen Zuschauer bei einem Ringelreigen stammen.

Der Dichter Robert Frost (1874-1963) fügt hinzu:

«Wir tanzen rätselnd rundum im Kreis;
Das Geheimnis sitzt in der Mitte und weiß.»

Zusammengenommen weisen diese beiden kurzen Texte auf das Gleiche hin, was schon Dante (1265-1321) in seinem berühmten Vers angesprochen hat:

«L'amor che move il sole e I'altre stelle ‒ die Liebe, die alles bewegt.»

Das zentrale Geheimnis des kosmischen Rundtanzes ist die Liebe.[6]

Lila ist ein Sanskrit-Wort, das «Spiel» bedeutet, und steht im Hinduismus für die Vorstellung, dass das gesamte Weltgeschehen letztlich Spiel des Großen Geheimnisses ist: göttliches Kinderspiel, der große Reigentanz des Universums.

Auch für Nicht-Hindus kann dieses Bild große Bedeutung haben: Sinn unsres Lebens ist es, mit dem kosmischen Tanz im Schritt zu sein.[7]

Unser wahres Selbst ist nicht das kleine individualistische Selbst neben anderen.

Dies entdecken wir in jenen Augenblicken, in denen wir zu unserer großen Überraschung eine tiefe Kommunion mit allen anderen Wesen erfahren. Diese Momente gibt es in unser aller Leben.

Vielleicht erinnern wir sie als «Hochwassermarken» der Bewusstheit, der Lebendigkeit, als Momente unserer besten Verfassung, als jene Augenblicke, in denen wir am meisten wir selbst waren.

Vielleicht aber versuchen wir auch die Erinnerung an jene Momente zu verdrängen, denn jene Springflut der Kommunion ist eine Bedrohung der defensiven Isolation, in der wir uns geschützt vorkommen.

Die Mauern, hinter denen wir uns verstecken, mögen dem Ansturm des Lebens lange standhalten.

Aber ganz plötzlich, an irgendeinem Tag, wird, wie in dem folgenden Bericht aus «The Protean Body» von Don Johnson, die große Überraschung über uns einbrechen:

«Ich ging hinaus auf eine Mole im Golf von Mexico. Ich hörte auf zu sein. Ich erfuhr mich als Teil des Windes, der von der See hereinkam, als Bestandteil der Bewegung von Wasser und Fischen, der Sonnenstrahlen, der Farben der Palmen und tropischen Blumen. Es gab keine Vorstellung mehr von Vergangenheit oder Zukunft. Und es war kein besonders seliges Erlebnis: es war Furcht erregend. Es war die Art ekstatischer Erfahrung, die ich mit einigem Aufwand an Energie zu vermeiden versucht hätte. Ich erlebte mich nicht als identisch mit Wasser, Wind und Licht, sondern als nähme ich teil am gleichen Bewegungssystem. Wir tanzten alle miteinander...»

In diesem großartigen Tanz sind Gebende und Empfangende eins. Ganz plötzlich können wir erkennen, wie unwesentlich es ist, welche der beiden Rollen man in einem gegebenen Moment zu spielen hat.

Jenseits aller Zeit ruht unser wahres Selbst in vollkommener Stille in sich selbst.

Verwirklicht wird dies in der Zeit durch ein anmutiges Geben-und-Nehmen im Tanz des Lebens.

Wie bei einem sich schnell drehenden Kreisel sind Stille und Tanz eins.

Nur in jenem Einssein von Geben und Nehmen findet sich wahre Selbstständigkeit. Jede andere Selbstständigkeit ist Illusion.

Das Wirkliche aber erweist sich am Ende immer als jeder Illusion überlegen.

Früher oder später wird es durchscheinen wie die Sonne durch den Nebel. Das Leben, unser Lehrer, wird das besorgen.[8]

DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Manchmal fällt es mir schwer, zu vertrauen, dass wirklich alles dazugehört zum großen kosmischen Tanz und daher Sinn hat ‒ sogar meine Depression. In beängstigender Lustlosigkeit verfangen, kann ich bestenfalls an meinem gewohnten Tageslauf festhalten, tief durchatmen, spazieren gehen und abwarten, dass der Nebel sich lichtet.

Wie soll ich mich Dir zuwenden in meiner inneren Lähmung?

So tun als ob, wäre Verlogenheit.

Heute kann ich nur warten ‒ offen bleiben für unvorstellbare Überraschungen.

Dieses hoffnungsvolle Warten ‒ ohne Hoffnung zu fühlen ‒ soll heute mein Gebet sein.

Amen.[9]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3-4, 6-9]

[Ergänzend:

1. Im Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) kommt das Schweigen zu Wort und führt uns wieder zum Schweigen, dem «stillen Punkt der kreisenden Welt.» (T. S. Eliot, Four Quartets: Burnt Norton, II, siehe auch: Stillehalten):

(24:38-27:51) «Die Zeit, um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.»

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(31:00) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst … Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) / (34:52) ‹Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn› (Rilke, Die Sonette 1. Teil, VIII) – ‹Zwischen den Hämmern besteht unser Herz› (Rilke, Die neunte Elegie)

(48:31) … «das heißt: Kehre von der Vielfalt in die Einheit zurück, aus dem Wort ins Schweigen, in das eine Schweigen, was die kappadozischen Väter, die frühen griechischen Väter, schon im 4. Jh. den Reigentanz der Trinität genannt haben: Aus dem Schweigen des Vaters in das Wort des Logos und durch das Verstehen des Hl. Geistes zurück in das Schweigen: Aus der Einheit in die Vielfalt und durch das Tun und Verstehen wieder zurück in die Einheit. Also immer wieder geht es um unser Eingebettet sein in dem Geheimnis.»

2.2. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag
[ebenso weiter unten auch das Audio: «Ich vertraue dem Leben» (Rilke, Augustinus)]:
(01:15:24) ‹Seidener Faden kamst du hinein ins Gewebe› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XXI) ‒ ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)

2.3 Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(16:37) Ordnung als Zustand, in dem jedes Ding dem andern den ihm angemessenen Platz zugesteht ‒ Das Hochzeitsfest in der Natur /
(18:54) Ordo est amoris (Augustinus): Was würde die Liebe dazu sagen?
(38:59) Wie kann Gott Unglück, Leid und Not zulassen? Unsere Vorstellungen verlassen und uns auf das Leben verlassen: ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)

2.4. Audio TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(28:12) «Wenn wir uns vom Wort in das Schweigen führen lassen und vom Schweigen in das Wort ‒ das ist ein Tanz, das ist eine Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort ‒, dann verstehen wir. Wir verstehen erst wirklich, wenn wir uns einem Wort: einer Situation, einem Menschen … diesem Wort, dem, was Sinn hat, so hingeben, dass es uns in die Stille führt ‒, dann verstehen wir. Und wenn wir so in die Stille lauschen, dass die Stille zu Wort kommt, dann verstehen wir auch. Oder wenn wir so uns dem Wort so hingeben, dass es uns in die Stille führt und uns dann sendet sozusagen, hinaussendet, etwas zu tun: In dem Tun verstehen wir dann. Im Tun, nur im Tun können wir richtig verstehen. … Verstehen und Tun gehören engstens zusammen.»

(41:47) ‹Das ist es!›: die Melodie zum Tanz in drei verschiedenen Betonungen – Der Reigentanz der Religionen von außen und von innen her betrachtet: «Wir können es nicht von außen verstehen, nur von innen. Und wenn wir selber aus dieser Mitte heraus leben, dann gibt es Hoffnung für unsere Welt. Denn dann werden wir nicht immer wieder in den Fehler verfallen, zu behaupten, dass die, die uns am weitesten entfernt sind, in der entgegengesetzten Richtung gehen wie die, die uns am nächsten sind. Sondern dann werden wir gemeinsam tanzen ‒ und tanzen! Darauf kommt es eigentlich an: uns freuen, singen, tanzen. Und das ist dann die Gesellschaft der Zukunft, die uns Hoffnung gibt, das TAO der Hoffnung. Das TAO ist ja diese Bewegung, das TAO ist dieser Fluss …»

2.5. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind

2.6. Audio-Vortrag Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat:
(12:17) ‹Das Herz, das ins Ganze geborne› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, II) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)

2.7. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(49:55) «Was könnte sich mehr unterscheiden als Wort, Schweigen und Verständnis, drei Begriffe, für die wir überhaupt keinen Oberbegriff haben. Wir können es kaum ‹drei› nennen, und das ist ja auch sehr passend, denn auch in der Trinität soll man ja eigentlich letztlich nicht von ‹drei› sprechen. Der hl. Augustinus sagt schön: ‹Wenn du anfängst zu zählen, bist du schon in Häresie gefallen. Zu zählen ist da nichts. Aber es handelt sich um drei Grunderlebnisse.»

3. Texte

3.1. Im Buch Orientierung finden (2021):

«‹Ich sprach zu meiner Seele, sei still und warte›, sagt T. S. Eliot.[10] Aber er weiß auch, dass Stille beängstigend werden kann, weil sie uns des Lärms beraubt, mit dem wir uns gerne ablenken von der Dunkelheit, die in uns aufsteigt, wenn wir still werden. Fürchte dich nicht, sagt daher der Dichter, du kannst der inneren Stille und Dunkelheit vertrauen. Und er schließt mit den tröstlichen Worten:

‹Die Dunkelheit wird das Licht sein, und die Stille das Tanzen.›

Wenn wir also ein gesundes Zeitbewusstsein wiederfinden wollen, müssen wir zunächst gewahr werden, dass wir nicht im Schritt sind mit dem großen Tanz.

Rilke weiß: Wir sind nicht einig mit dem Rhythmus des Lebens und darum auch nicht einig mit uns selbst.

Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-
vögel verständigt. Überholt und spät,
so drängen wir uns plötzlich Winden auf
und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.»

[Orientierung finden (2021): Berufung ‒ Folge deinem Stern!, 97; siehe auch Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996)[11]]

‹Wir sind nicht einig› mit uns selbst, weil wir im Ego stecken, also auch ‹nicht einig› untereinander und wegen unsrer Eigenwilligkeit auch ‹nicht einig› mit dem Fließweg des Lebens. Weil wir nicht stillwerden und hinhorchen, versäumen wir den rechten Augenblick. Dann drängen wir uns plötzlich› dem Geschehen auf, anstatt mit ihm zu fließen. Und doch ist das Einzige, worauf es ankommt, Harmonie mit dem Leben. Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns. Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, ‹gute Arbeit› ist wie ein kosmisches Ballspiel, ‹wie ein heiliger Tanz.›»[12]

«So oft wir innehalten, sei's auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis als Schweigen. So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unsres Herzens für das Geheimnis als Wort. Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.» [Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 108f. und 113]

Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun sind grundlegende Schlüsselwörter, die wir unbedingt brauchen, um Sinn zu finden.

Jedes echte Wort muss aus dem Schweigen kommen, sonst ist es nur Geplapper.

Wenn wir dieses Wort schweigend empfangen und tief darauf hinhorchen, wird es uns ergreifen und uns dazu bewegen, durch unser Tun darauf zu antworten.

Dies ist es übrigens, was Gehorsam, richtig verstanden, bedeutet.

Durch intensives Hinhorchen ‒ gehorchen ist ja die Intensivform von horchen ‒ zeigen wir uns bereit, zu tun, was das Wort fordert, und kommen durchs Tun zum Verständnis.

So führt uns das Wort, das uns ergriffen hat, in das Schweigen zurück, aus dem es hervorgegangen ist.

Erkennst du in dieser Bewegung unsren ‹Rundtanz› wieder?

Kein Wunder. Es geht ja bei diesem Orientierungs-Dreischritt von Schweigen, Wort und Verstehen-durch-Tun letztlich um das, worum sich alles dreht ‒ und das ist das Geheimnis.» [Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 45f.]

«Wenn wir nach dem hier Gesagten nun nach dem Sinn des Lebens fragen, so ergibt sich die überraschende Antwort, dass es Spiel sein muss ‒ ‹Lila› nennt es der Hinduismus ‒ der große Tanz.» [SINN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 157]

«Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das TAO. ‹Watercourse Way› nennt Alan Watts das TAO auf English. ‹Fließweg› könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden. Um mit dem TAO zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum ‹Anfängergeist› des Kindes zurückfinden. Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt. ‹Du hast noch kein Ich, das sich von dem, was geschieht, unterscheidet›, wie Alan Watts es ausdrückt. ‹Deshalb geschieht Dir auch nichts. Es geschieht einfach.› Du nimmst teil, sagt er an ‹den wundervollen Tanzfiguren … fließenden Wassers›.

Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im ‹Fließweg›. Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet. Wie beim Baby ‹geschieht einfach› das Lebensbejahende, aber mit unsrer Zustimmung. Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.» [Orientierung finden (2021): «Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?» 88f.]

3.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021)

«Um im Rhythmus zu bleiben, muss man hinhorchen. Um den Weg zu sehen, muss man hinschauen. Das Kloster ist deshalb ein Ort, an dem man lernt, Augen und Ohren offen zu halten.

‹Höre!› ist das erste Wort der Klosterregel des Heiligen Benedikt, ein weiteres Schlüsselwort lautet: ‹Betrachte!› (lateinisch: considera, von sidus: das Sternbild/Gestirn, also wörtlich: seinen Kurs nach den Sternen bestimmen).

Der Heilige Benedikt, Vater des abendländischen Mönchtums, will, dass die Mönche ‹apertis oculis› und ‹attonitis auribus› leben, d. h. mit so offenen Augen und so horchenden Ohren, dass die Stille göttlicher Gegenwart sie wie Donner trifft.[13]

Deshalb ist ein Benediktiner Kloster ‹schola Dominici servitii›, eine Schule, in der man lernt, sich auf die höchste Ordnung einzustimmen.

Eine solche Ordnung ist allerdings keineswegs starr.

Es wäre ein großes Missverständnis, die höchste Ordnung als statisch zu begreifen. Ganz im Gegenteil. Sie ist zuinnerst dynamisch.

Das Einzige, womit wir diese Ordnung vergleichen können, ist der Tanz der Sphären.

Wir sind eingeladen, uns auf diese Harmonie einzustimmen, nach der das ganze Universum tanzt.

Im Kloster können wir dies in einem professionellen Rahmen lernen.

Der Heilige Augustinus drückt die Dynamik der höchsten Ordnung aus, wenn er sagt: ‹Ordo est amoris›, das heißt, Ordnung ist einfach Ausdruck der Liebe, die das All bewegt, Dantes ‹l‘amor che muove il sole e l'altre stelle›.

Während sich jedoch das übrige Universum frei und anmutig in kosmischer Harmonie bewegt, sind wir Menschen nicht ohne weiteres dazu in der Lage.

Es kostet uns Mühe, unser Leben mit der dynamischen Ordnung der Liebe in Einklang zu bringen.

An einem gewissen Punkt müssen wir sogar die ungewohnte Anstrengung machen, uns nicht anzustrengen.

Das mag uns die größte Kraft kosten. Das Hindernis, das es zu überwinden gilt, ist Verhaftetsein, selbst das Verhaftetsein mit unserem eigenen Bemühen.

Die Askese ist professionelles Training zur Überwindung des Verhaftetseins in jeglicher Form.

Das Bild vom Tanz kann uns helfen, dies zu verstehen. Losgelöstheit ‒ der verneinende Aspekt der Askese ‒ befreit unsere Bewegungen, macht uns behende, gelöst.

Der bejahende Aspekt der Askese ist wache Lebendigkeit. Indem wir frei werden, uns gelöst zu bewegen, lernen wir, Schritt für Schritt auf den Rhythmus einzugehen und lauschend mit der Musik lebendig zu werden.» (23-25)

«Wir wollen einander Stille schenken. Lasst uns hier und jetzt damit beginnen. Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.

Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.» (31)

«Die Choreographie des kosmischen Tanzes verlangt von uns den Willen zur Wandlung. Das Planmäßige an der Askese entspringt ja nicht der Willkür menschlichen Planens, sondern letztlich dem Bauplan des Kosmos, der sich wandelnd entfaltet.»

«Das Herz, das wirklich gehorsam hinhorcht auf den Rhythmus des großen Tanzes, steht immer am Wendepunkt, lässt leicht los, nimmt Abschied vorweg.» (94)

FÜNF BLAUE FALTER
SOMMERFEST AM STRASSENRAND
IHR, STIEFEL, STEHT STILL

Auch hier ergibt sich der Sinn aus der Zweideutigkeit der letzten Zeile. Handelt es sich um einen Befehl? Mahnt der Dichter: ‹Schau doch hin! Hier ist er ja, der große Tanz. Alles, was es dazu braucht, ist dies: eine Handvoll der allergewöhnlichsten kleinen Falter, der winzigen blauen, die man nur selten auf Blumen sieht. Sie sind damit zufrieden, ihr Sommerfest in den Spurrillen staubiger Feldwege zu feiern. Hier ist er, der ruhende Punkt des großen Tanzes, ganz für dich allein. Du musst nur stehen bleiben›?

Oder handelt es sich hier wieder um einen vollendeten Augenblick des Sich-Verlierens und Sich-Findens?

Vielleicht ist es die All-Einheit des einsamen Wanderers, dessen staubige Stiefel endlich ‹in dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt› stillstehen ‒ ‹und es gibt nichts als den Tanz›.

DER SEE VERLIERT SICH
IM REGEN DER SICH WIEDER
TIEF IM SEE VERLIERT

SIE BLÜHEN UND DANN
SCHAUEN WIR UND DANN FALLEN
DIE BLÜTEN? UND DANN …

Der Schmerz seligen Alleinsseins und die Seligkeit des einenden Schmerzes verschmelzen auf dem Gipfel des Gipfelerlebnisses, im Ruhepunkt, im Haiku.» (112f.)

3.3. In Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 175f. und 163 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 176f. und 163f.]:

The universe may
Be as great as they say.
But it wouldn't be missed
If it didn't exist.

Das Weltall ist vielleicht
so großartig wie man sagt.
Aber niemand würde es vermissen,
wenn es gar nicht da wäre.

          Piet Hein (19O5-1996)

«Mit einem entwaffnenden Lächeln legt dieser kleine Reim von Piet Hein die Tatsache bloß, dass alle gegebene Wirklichkeit reine Gabe ist. Das Universum ist gratis. Es kann und braucht auch nicht verdient werden.

Dieser einfachen Erfahrungstatsache entspringt dankbares Leben, ein Leben aus Gnade.

Dankbarkeit ist die uneingeschränkte Antwort des Herzens auf eine uns gnädig geschenkte Welt.

Und Dankbarkeit ist Begabung im doppelten Sinn. Durch sie wird uns die Welt, mit der wir begabt sind, erst richtig zur Gabe.

Und unsere Dankbarkeit macht uns begabt, anmutig am großen Tanz des Lebens teilzunehmen.»

«So ist schließlich Dankbarkeit einfach ein Weg, das Leben des Dreieinigen Gottes in uns zu erfahren

Dieses Leben kommt aus dem Vater, dem Quellgrund und unerschöpflichen Born der Göttlichkeit, dem Geber aller Gaben.

Der Vater verschenkt sich rückhaltlos im Sohn.

Der Sohn empfängt sich selbst vom Vater und wird zum Wendepunkt dieses göttlichen Stroms des Gebens.

Denn im Heiligen Geist gibt der Sohn dem Vater sich selbst als höchsten und letzten Dank zurück.

Der Dreieinige Gott ist Geber, Gabe und Dank.

Alles was ist, nimmt; teil an dieser Bewegung vom Vater durch den Sohn und im Heiligen Geiste zurück zum Ursprung.

Das ist es, was der heilige Gregor von Nyssa ‹den Reigen der Heiligen Dreieinigkeit› nannte.

Tanzen, das ist Gottes Art zu beten.

Es ist ein einziges großes Fest des Zusammengehörens im Geben und Danken.

An diesem Fest können wir in unserem Herzen jederzeit teilhaben: durch Dankbarkeit.

Mit welchem anderen Namen könnten wir Leben in Fülle benennen?» (163)

3.4. Das Buch Musik der Stille (2023) 142f. entlässt uns am Schluss wieder in den Alltag:

«Wir haben nun alle mönchischen Tageszeiten durchlaufen, den Kreis geschlossen und sind im großen Schweigen angelangt, der Brücke der Stille zwischen Komplet und Vigil, die erneut den Kreislauf der Stunden eröffnet. …

Die Botschaft der Stunden lädt uns ein, täglich nach dem wirklichen Tagesrhythmus zu leben. Aufmerksam, bewusst und absichtsvoll zu leben, unser Leben von innen heraus zu lenken und uns nicht von den Forderungen der Uhr oder äußeren Terminen oder von bloßen Reaktionen auf irgendwelche Geschehnisse fortreißen zu lassen.

Wenn wir dem wirklichen Rhythmus zufolge leben, werden wir selbst wirklicher.

Wir lernen, auf die Musik dieses Augenblicks zu lauschen, lernen, ihr süßes Flehen und ihre nüchternen Anweisungen zu hören.

Wir lernen, im Herzen ein wenig zu tanzen, unsere inneren Pforten einen Spalt weiter zu öffnen und auf die Musik der Stille, den göttlichen Herzschlag des Universums, zu horchen.»

3.5. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten.

Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen.

Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet.

Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens.

Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. (66)

Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]

_________________________

[1] Orientierung finden (2021): «Vorbemerkungen», 8

[2] «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›» [Der Zen-Christ: David Steindl-Rast im Portrait (2012)]

[3] Orientierung finden (2021): «Auf der Suche nach einem Gesamtbild», 12f.

[4] Orientierung finden (2021): Berufung ‒ Folge deinem Stern!, 99, 93, 100

[5] «At the still point oft he turning world. Neither flesh nor fleshless;
Neither from nor towards; at the still point, there the dance is,
But neither arrest nor movement. And do not call it fixity,
Where past and future are gathered. Neither movement from nor towards,
Neither ascent nor decline. Except for the point, the still point,
There would be no dance, and there is only the dance.»

T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II, in: Stillehalten

[6] Orientierung finden (2021): «Auf der Suche nach einem Gesamtbild», 12-14

[7] LILA, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147f.

[8] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): «Staunen und Dankbarkeit», 27f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 24f.]; siehe auch ST 112-114 unter dem Titel «Selbständigkeit»

[9] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 92

[10] «Wait without thought, for you are
not ready for thought:
So the darkness shall be the light, and the stillness the dancing.»

«Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif,
Dann wird das Dunkel das Licht sein und die Stille der Tanz.»

T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III, siehe auch: Stillehalten

[11] Audio-Vortrag Fülle und Nichts (1996):
(01:47) ‹Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt› (Rilke, Die vierte Elegie) – horchen, gehorchen, Gehorsam als Methode und Ziel)

[12] Rilke verwendet das Bild vom kosmischen Ballspiel im Gedicht «Solang du Selbstgeworfnes fängst» und der taoistische Philosoph Huang Tsu (369-286 v. Chr.) die Bilder vom heiligen Tanz und von guter Arbeit in seinem Gedicht «Einen Ochsen zerteilen» [Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 106-108, 109-112]

[13] «Wir Menschen können Gott ehren, aber nur Gott selbst kann Herrlichkeit wie wetterleuchten aufblitzen lassen.

Und das ereignet sich in Augenblicken dankbaren Gehorsams, wenn wir, attonitis auribus (RB Prol 9) – mit dem Donnerkrachen der Gottesstimme in unseren Ohren – auf diesen Ruf hören und darauf antworten.

Der Gehorsam und die Dankbarkeit öffnen unsere Augen für das lumen deificum (RB prol 9), jenes Taborlicht (Mt 17; Mk 9; Lk 9), das die ganze Schöpfung verklärt, indem es sie durchscheinend macht für Gottes Herrlichkeit.» [Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019)]



Quellenangaben

in der Erfahrung von Stille und Ergriffenheit


STILLE

«Stille hängt nicht davon ab, ob die Umgebung ruhig oder lärmerfüllt ist. Das wird verständlicher, wenn wir die Vorstellung von Lärm und Ruhe durch den Gegensatz Tumult und Gelassenheit ersetzen.

Stille ist eine heiter gelöste, gelassene Haltung des Herzens.

Innere Stille, und um die geht es hier, kann sich auf zweifache Weise bekunden: durch Schweigen und Wort ‒ durch ein Wort, das nicht das Schweigen bricht, sondern ein Wort, in welchem das Schweigen zu Wort kommt.

In unsrem ganzen Alltag sollte unser Schweigen sowie alles, was wir sagen, aus der Stille kommen.

Dies lässt sich üben und Menschen, denen es im täglichen Leben gelingt, strahlen Frieden aus.

Bisher haben wir von Wort und Schweigen gesprochen, die aus unsrer eigenen Stille aufsteigen. Aber auch unsre Antwort auf ein Wort, das wir hören, wird nur dann durch gehorsames Tun zum Verstehen führen, wenn sie aus der Stille kommt.» (157f.)


SCHWEIGEN

«Schweigen ist eine der beiden Weisen, auf welche Stille sich bekundet.

Die zweite Weise ist das Wort. Im Wort äußert sich die Stille ‒ sie drückt sich aus, geht aus sich heraus, indem sie ‹zu Wort kommt›.

Im Schweigen bleibt die Stille bei sich selbst.

Ein Bild kann das veranschaulichen.

Ein Gong, den wir betrachten, bleibt bei sich; ein Gong, den wir anschlagen, ‹äußert sich› ‒ sein innerstes Wesen wird äußerlich offenbar.

Um Stille in ihrem Wesen zu erfahren, müssen wir mit ihr einswerden, dadurch, dass wir uns ins Schweigen versenken, uns ins Schweigen hinablassen.

Schweigen kann zu einem wirkungsvollen Mittel werden, um im Tumult des Alltags immer wieder stille Gelassenheit zu finden, indem wir Schweigepausen in unsren Tagesablauf einbauen.» (155)


WORT

«Wort als spirituelles Phänomen hat zugleich zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Funktionen:

Es definiert einen Begriff und es offenbart eine unbegreifliche Wirklichkeit, die über Begriffe hinausgeht.

Dahinter stehen zwei gegensätzliche Bewegungen. Im Dienste der Wissenschaft fängt das Wort Begriffe ein, im Spiel der Dichtung aber setzt es Sinn frei.

In beiden Bereichen ‒ Verstand und Weisheit ‒ können wir unsre Empfänglichkeit üben. Dann erst werden wir die Macht des Wortes voll zu würdigen wissen.

Die Macht des Wortes zeigt sich aber auch auf einer andren Weise ganz handgreiflich und oft schmerzlich: Worte lassen sich nicht zurückrufen und was sie in Bewegung setzen, lässt sich nicht leicht rückgängig machen.

Darum ist es eine wichtige Aufgabe, schweigen zu lernen, bis für das rechte Wort der rechte Augenblick gekommen ist.» (164)


VERSTEHEN

«Verstehen wird oft irrtümlich gleichbedeutend mit dem Wort ‹begreifen› verwendet.

Diese beiden Formen intellektuellen Erfassens ergänzen einander, entspringen aber zwei unterschiedlichen Haltungen.

Beim Begreifen greifen wir willkürlich und einseitig nach dem zu Erfassenden, beim Verstehen gehen wir aber darüber hinaus und lassen uns selber unwillkürlich ergreifen ‒ in jener gegenseitigen Umarmung, die wir Ergriffenheit nennen.

Beim Begreifen bekommen wir immer nur einen Teil dessen in den Griff, was wir erfassen wollen.

Was uns aber in Ergriffenheit ergreift, ist das Ganze ‒ letztlich das große Geheimnis.» (162)


ERGRIFFENHEIT

«Ergriffenheit ist zunächst ein Zustand, den wir fühlen.

Das schließt aber nicht aus, dass sie auch eine höchst wichtige intellektuelle Komponente hat.

Begreifen und ergriffen werden sind einander entgegengesetzte Bewegungen.

Wie Begriffe zum Begreifen führen, so führt Ergriffenheit zum Verstehen.

‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›, schreibt Bernhard von Clairvaux (1090-1153) in seinem Kommentar zum Hohen Lied.

Ergriffenheit geht über das Begreifliche hinaus, indem sie auch das Unbegreifliche versteht.

Darin besteht Weisheit.

Ergriffenheit und Begreifen dürfen keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden.

Sie ergänzen einander, so wie Emotionen und Intellekt nur gemeinsam unsrer Welterfahrung gerecht werden.

Wo eine anti-intellektuelle Atmosphäre vorherrscht, besteht immer die Gefahr, klares Denken durch sentimentale Schwärmerei ersetzen zu wollen.

Ergriffenheit aber ist, auch wenn sie bis zum Gefühlssturm ansteigen kann, klar und nüchtern.» (135)

[Quelle: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021)]




Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Thorsten Scheu

Leben spielt sich auf allen seinen Stufen als Gegenseitigkeit ab, als Wechselwirkung zwischen DU und ICH und WIR.

Das gilt mit besonderer Intensität vom Leben im Heiligen Geist.

Wir sagten es schon: «Inter-Sein» nennt der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh †  diese Vernetzung alles Lebendigen.

Der Heilige Geist «hält alle Dinge zusammen» (Weish 1,7).

Darum dürfen wir gläubig vertrauen, dass alles Fleisch, alles was hinfällig ist und auf den Tod zugeht, unser sterblicher Leib nicht ausgenommen, in Gott, der jeden Grashalm kennt und liebt und nicht vergessen kann, unzerstörbares Leben hat.

Alles in der Welt ist hinfällig; auch wir selber.

«Wir alle fallen», wie Herbstlaub, sagt Rilke, «und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält.»[1]

In Raum und Zeit vergehen alle Formen wie Seifenblasen; in Gottes ewigem Jetzt aber sind sie gegenwärtig.

«Nichts Vergängliches vergeht», sagt Werner Bergengruen (1892-1964); «Gott ist ein Herr der Dauer / und alles hat Bestand».[2]

Immer wieder kreisen seine Gedichte um die tiefe Einsicht, dass «nichts vergänglich ist, als die Vergänglichkeit».

Vielleicht bist du schon alt genug, um Fotos von Verwandten und Freunden zu besitzen, die du von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod kanntest.

Dann schließt deineee Liebe doch das Nackerpatzerl (liebevolle österreichische Ausdrucksweise für kleines nacktes Kind) in der Badewanne ebenso ein wie den zahnlückigen Volksschüler, den ruppigen Buben auf dem Fahrrad, den zum Abschluss-Ball geschniegelten Maturanten, das junge Ehepaar, und so Bild um Bild bis zum letzten matten Lächeln.

In welchem der Bilder siehst du den von dir geliebten Menschen? Nicht doch in jedem? Musst du wählen?

Dieses Jetzt des Lebens ist gegenwärtig im «Jetzt, das nicht vergeht»[3], das heißt in der Ewigkeit.

Mein Leib ist nicht ein beliebiges Anhängsel an mein Bewusstsein, sondern seine Verkörperung ‒ im Vollsinn des Wortes. Er gehört zu mir, nicht wie meine Kleidung, sondern eher so, wie die Melodie zu einem Lied gehört.

Wenn ich mich im Spiegel sehe, so denke ich nicht: «das ist mein Körper», sondern einfach, «das bin ich».

Und doch war jedes Atom dieses Körpers vor nicht langer Zeit Teil eines anderen Lebewesens oder Dinges, und in absehbarer Zeit wird es das wieder sein.

Selbst jetzt sterben jede Sekunde Millionen meiner roten Blutzellen ab und Millionen neue entstehen ‒ und das gilt auch von den übrigen Zellen meines Körpers in unterschiedlichen Raten.

Was sich nicht verändert, hat man den «Inneren Leib» genannt oder «die Seele».

Meine Freunde erkennen mich noch nach langer Zeit wieder, obwohl inzwischen fast alle physischen «Bestandteile» ausgewechselt wurden, was so alle sieben Jahre der Fall sein soll.

Die «Seele», an der sie mich erkennen, ist nicht ein Homunculus irgendwo in meinem Inneren. Sie ist vielmehr meine Identität, die sich in meinem Leib verkörpert ‒ mein ganz eigener und einzigartiger Ausdruck der allgemeinen Lebenskraft, die auch in mir fließt.

Ich bin ja nicht batteriebetrieben wie ein Spielzeug, sondern mit einem unerschöpflichen Stromnetz verbunden ‒ dem Heiligen Geist, der das Universum füllt.[4]

Es ist ein viel zu harmloses Bild vom Tod zu denken, dass der Körper stirbt, doch die Seele lebt.

Gibt es wirklich eine unabhängige Seele gegenüber einem Körper mit eigener unabhängiger Existenz?

Konkret erfahren wir uns als körperlich-seelische Wesen.

Die ganze Person, erlebt von außen, ist Körper. Erfahren von innen ist dieselbe ganze Person Seele.

Bei dem Ereignis, das wir Tod nennen, kommt die ganze Existenz zu einem Ende. Aber die ganze Person, die jetzt hier sitzt und redet, weiß, dass, wann immer in diesem Leben etwas wirklich stirbt, das nicht Zerstörung bedeutet, sondern immer einen Schritt in ein größeres Leben.

Und deshalb können wir den Glauben zu Hilfe nehmen und sagen: Ja, ich vertraue, dass ich mit diesem endgültigen Tod auch in ein endgültiges Leben gehe.

Und das ist Glaube an die Auferstehung im christlichen Sinn, denn Auferstehung ist nicht Überleben; es ist keine Wiederbelebung oder Rückkehr ins Leben, oder sonst irgend eine Art vom Umkehrung.

Der Fluss des Lebens kann niemals umgekehrt werden. Durch den Glauben sterben wir vorwärts in die Fülle des Lebens hinein.

Auf solche Art können heute auch christliche Theologen auf die Lehre von der unsterblichen Seele verzichten, ohne die Frohbotschaft von der Auferstehung und dem ewigen Leben kompliziert zu machen.

Sobald wir uns nicht länger verpflichtet fühlen, am Satz von der unsterblichen Seele festzuhalten, können wir tatsächlich viel freier und tiefer die existenzielle Haltung einnehmen, auf der die biblischen Äußerungen über die Auferstehung gegründet sind.

Wir können dann mit Überraschung entdecken, dass selbst der christliche Glaube an die Auferstehung des Fleisches einfach auf der Erfahrung basiert, dass Seele und Körper in der menschlichen Person existenziell eine Einheit bilden.

Man kann nicht von einem körperlosen Menschen sprechen, weil das nicht länger ein menschliches Wesen ist. Der Körper gehört absolut dazu.

Deshalb meint Paulus, wenn er vom Leben der Auferstehung spricht (ein Leben jenseits des Todes, wie er sagen würde, eher als eines nach dem Tod ‒ denn wenn der Tod das Ende der Zeit ist, was könnte danach sein?) ‒ dann meint Paulus ein Leben, das in einem Körper ist.

Es geschieht im Laufe unseres Lebens, dass wir zu «jemand» werden.

Wer wir werden hängt ab von unseren Entscheidungen und davon, wie wir sie körperlich umsetzen.

Es wird von den Antworten abhängen, die wir den Anrufungen Gottes geben, die uns in vielen verschiedenen Formen erreichen, und auch diese Antworten werden wir verkörpern.

Dass wir auf diese Art ein «Jemand» werden, ist offensichtlich eine Aussage ebenso über unseren Körper wie über unsere Seele.

Doch der Körper, den wir den unseren nennen, ist in diesem Sinn nicht durch unsere Haut begrenzt.

Er umfasst all die Elemente des Kosmos, durch die wir unsere eigene persönliche Einzigartigkeit ausgedrückt haben: es ist die ganze, vollständige Person, von außen gesehen.

Doch wenn diese vollständige Person gestorben ist, dann muss die Auferstehung des Lebens, wie Paulus es sieht, die Erschaffung einer vollständigen Person sein, mit Seele und Körper, durch Gott, der alleine die Kontinuität vom alten zum neuen Leben herstellt.

Alles, was Paulus über das unsterbliche Leben ‒ das Leben Christi in uns sagen kann, ist , dass es «mit Christus in Gott bewahrt»
(Kol 3,3) ist.

Es bleibt wahr, ob wir gestorben sind oder nicht. In beiden Fällen ist «unser wahres Leben in Christus», wie Paulus an derselben Stelle sagt.

Sätze wie dieser machen deutlich, dass die christliche Anschauung vom unsterblichen Leben den sogenannten «östlichen» Ideen viel näher steht als den populären westlichen Glaubensvorstellungen, die an eine Unsterblichkeit der Seele gebunden sind.

Wenn Christen bei einem Guru des Ostens lernen zu begreifen «Ich bin nicht mein Körper, ich bin nicht meine Seele», dann geben sie Raum für ein Verständnis der Worte des Heiligen Paulus:

«Dein wahres Leben ist in Christus».[5]

Nur zu oft wird dieses Verständnis behindert durch das Missverständnis «Ich bin nicht mein Körper, sondern ich bin meine Seele», eine falsche Vorstellung, die durch die Doktrin der unsterblichen Seele aufrecht erhalten wird.

Doch wir fürchten uns immer, unsere Individualität in jener allumfassenden Wirklichkeit zu verlieren.

Ich denke, wir könnten diese Angst überwinden, wenn wir uns bewusst werden, dass die göttliche All-Einheit uns nicht Gleichförmigkeit aufzwingt, sondern grenzenlose Vielfalt umfasst; in ihr gibt es Raum für alle unsere persönlichen Unterschiede.[6]

Und wie siehst du das? Ist der Leib ‒ dein eigener und der von jemanden, den du liebst ‒ dir wichtig genug, dass die Vorstellung eines entleibten Lebens nach dem Tod dich nicht besonders reizt?

Ist dein über Zeit und Raum erhabenes Selbst dir jemals so tief bewusst geworden, dass es dich nicht mehr stört zu wissen, dass dein Gehirn verwesen muss?

Wie berührt es dich, wenn du von jemandem, der dir lieb ist, Fotos ‒ aus Kindheit, Jugend, Alter ‒ betrachtest?

«Alles ist immer jetzt» (T. S. Eliot)[7]; wie beeinflusst diese Tatsache dein Verständnis von Auferstehung der Toten?[8]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 4, 6, 8]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. «Wähle das Leben» (5. Mose 30,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben (1992)
Vortrag:
(26:02) Wenn jedes Jetzt meines Lebens gegenwärtig ist …
(28:44) «Da kommt die ganze Frage: Werden wir unsere Hunde im Himmel wiedersehen? Unsere Katzen, usw.?
Wenn man das so anpackt, wie das bisher angepackt wurde: Ja haben die eine unsterbliche Seele, haben die keine unsterbliche Seele?
Das ist mein Hund und ich habe eine unsterbliche Seele. Wenn ich in den Himmel komme und der Hund nicht dort ist, dann geh ich wieder. Der Hund ist dort, selbstverständlich, er ist ja Teil meines Lebens.
Und alle andern Menschen, denen ich je begegnet bin, und so Menschen, die man nur einmal kurz gesehen hat. Und dann kann man sich dann ausdenken: Was wäre gewesen, wenn wir uns besser kennengelernt hätten. Es ist alles möglich.
Und nachdem alles mit allem zusammenhängt ‒ das wissen wir auch in unserem Leben schon ‒, reicht unsre Ewigkeit in jeder Richtung auf das Ganze hin. In diesem Ganzen sind wir ein kleiner Punkt, der sozusagen das Ganze beinhaltet und jeder kleine Punkt beinhaltet das Ganze. Und in dieser unglaublichen Facette spiegelt sich die Gegenwart Gottes.»

1.2. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im paradoxen Sinn erfahren
Vortrag und Dialog
Teil 3 in folgende Themen zusammengefasst:
(07:57) Ein Psychotherapeut berichtet / (10:02) Bruder David zum Ausdruck ‹Seele›, zum Thema Reinkarnation im Zusammenhang mit dem Buddhismus

1.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen — Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(20:05-39:47) Bruder David beantwortet Fragen zur Seelenwanderung, Reinkarnationstherapie, Fegefeuer, Hölle, jüngstes Gericht
(39:47) Im Jetzt leben: Deshalb das Desinteresse der jüdischen Propheten an Themen, die in den Religionen ihrer Nachbarvölker einen zentralen Platz einnehmen — «Von einem einzigen Punkt aus, wenn ich wirklich da bin, habe ich zu allem Zugang»:
Bruder David ermutigt zum wissenden Nichtwissen

2. Text

2.1. SEELE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155f.:

«Seele wird in vielerlei Bedeutung, oft mit sehr ungenauer Definition verwendet, zum Beispiel unsre Psyche, unsre Innerlichkeit, der für unsterblich gehaltene Teil unsres Wesens, das Lebensprinzip in uns.

Für uns bedeutet Seele das, was einem Menschen seine Einzigartigkeit gibt.

Diese Definition ‒ eine altehrwürdige in der westlichen Philosophie ‒ versteht Seele nicht als Gegenpol zum Leib, wie etwa in dem Ausdruck ‹mit Leib und Seele›, sondern weist darauf hin, dass jeder Mensch ein Selbst ist, obwohl das eine Selbst doch unteilbar ist.

Das Wort Seele weist auf die überraschende Tatsache hin, dass wir Bekannte nach Jahrzehnten wiedererkennen. Sie bleiben sie selbst.

Wie aber kann das Selbst, das für uns alle ein und dasselbe ist, zugleich unsre Individualität kennzeichnen?

Was unterscheidet uns dann?

Es ist unsre Körperlichkeit.

Aber es ist eben eine beseelte Körperlichkeit, ein menschlicher Leib, der Anteil hat am allen Menschen gemeinsamen Selbst.

Was aber macht unsre Teilnahme am unteilbaren Selbst möglich?

Die Antwort auf diese Frage lautet: unsre Seele!

Antwort, aber nicht Begründung.

Unsre Einzigartigkeit lässt sich nicht begründen, sondern ist eine Gegebenheit, die wir feststellen.

Die Tatsache, dass ein und dasselbe Selbst sich uns in einer unerschöpflich scheinenden Vielfalt darstellt, macht den Begriff Seele notwendig.

Um dies richtig zu verstehen, müssten wir eigentlich mit dem Staunen darüber beginnen, dass das eine unteilbare Selbst uns in einer solchen Vielfalt von Menschen begegnet, von denen jeder mit Recht ‹lch-Selbst› sagen kann.

Seele ist unser Anteil an etwas, was unteilbar ist.

Dieses Paradox ist im abstrakten Begriff ‹Seele› zusammengefasst ‒ und häufig personifiziert.»

2.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 148-150 (siehe auch Audio Tag 5,1)

(38:12) Eine Teilnehmerin: «Bruder David, du hast vom Selbst gesprochen, wie ist der Zusammenhang zur Seele?»

(38:23-44:16) Bruder David: «Das ist eine wichtige Frage: die Beziehung vom Selbst zur Seele. Ich vermeide den Ausdruck Seele soweit wie möglich, und zwar deshalb, weil es so wie Gott so ein Begriff ist, der immer missverstanden wird. Die meisten Menschen stellen sich die Seele als so irgendein kleines weißes Wesen vor: hoffentlich weiß, nicht befleckt, so innen drinnen, und wenn wir sterben kommt’s heraus und fliegt davon. Man sieht das sogar auf mittelalterlichen Bildern: Der Marientod. Maria liegt dort und die kleine Seele kommt heraus und Christus empfängt sie und trägt sie in den Himmel.

Das ist ein gutes Bild, besonders für Kinder, aber es ist in der westlichen Philosophie ganz klar ausgedrückt, was Seele bedeutet:

Es klingt technisch, aber die Definition von Seele ist ‹Forma corporis› — und das heißt: was diesen Leib zu diesem Leib macht.

Forma im Zusammenhang mit den Causae des Aristoteles, den drei Ursachen, für alles, was es gibt und eine davon ist die Forma. Und die Forma ist, was ein Tisch zum Tisch macht, und was eine Feder zur Feder, und was mich zu ‹mich› macht. Und das ist, was diesen Leib zu diesem Leib macht.

Und das ist ja die Schwierigkeit: Das Selbst ist unbegrenzt und ich bin begrenzt.

Im Selbst sind wir alle eins: Buddha-Natur, — Christus lebt in uns, — Atman.

Als Ich sind wir ganz verschieden und kenntlich verschieden, nach einiger Zeit erkennt man uns noch.

Und ich hab gesagt: Wieso erkennt man jemanden noch, warum bin ich noch derselbe nach so vielen Jahren, wenn schon jedes Molekül meines Körpers ausgewechselt ist?

Ich habe gesagt, weil eben das Selbst in mir gleichbleibt.

Aber Seele heißt jetzt: Dass dieses Selbst sich in diesem Ich einzigartig und einmalig ausdrückt. Also Seele ist nicht Etwas, Seele ist sozusagen ein Formular.

Wenn man es so versteht ein wichtiger und hilfreicher Ausdruck: Es ist was mich zu mich selbst macht, dieses Ich zu diesem Ich macht.

Dieser Leib, jede und jeder von uns, ist Verleiblichung des Selbst, aber eine ganz einzigartige Verleiblichung des einen und einzigen Selbst.

Und dieser Zusammenhang — wenn man sich natürlich Gedanken macht — ist ausgedrückt in diesem Formular Seele.

Darum sind wir so verschieden und doch eins, weil jede und jeder von uns eine Seele hat.

Und die Seele ist unsterblich, weil das Selbst nicht sterben kann, darum unsterbliche Seele.

Das heißt, wer ich wirklich bin, was mich zu mich macht, ist nicht vergänglich.

Alles Übrige ist in mir schon mehrmals gestorben. In jeder Sekunde sterben Millionen roter Blutkörperchen und Millionen werden geboren. Es ändert sich alles. Aber doch bleibt es gleich, und das ist die Seele, was mich zu mich macht. Es ist ein schwieriger Begriff, weil das Ganze schwierig ist, aber es sollte klar sein wenigstens! … sagt immer: ‚Es sollte wahr sein, nicht nur klar sein‘. (Lachen). — Es ist wenigstens klar.

(44:26-44:55) Es ist eine wichtige Frage, und wenn wir es so verstehen, hoffe ich auch verständlich, warum man das so im Hintergrund behalten kann und eigentlich nur vom Ich-Selbst und von den traurigen Möglichkeiten des Ich: wenn das Ich das Selbst vergisst, zu sprechen und die Seele nicht ausdrücklich zu erwähnen. Aber ist schon wichtig, zu wissen, was wir damit meinen.»

2.3. Im Buch Wendezeit im Christentum: (2015), TEIL 3: Gespräch von Fritjof Capra mit Bruder David und Thomas Matus, 125-127:

«Fritjof Capra: Was bedeutet es also, dass der Mensch als Abbild Gottes geschaffen wurde? Anscheinend wurden die Tiere nicht als Abbild Gottes geschaffen. Oder doch? Adam gab ihnen Namen, und er erhielt die Herrschaft über sie. Sie kennen ja diese Geschichte. Wie kann man das in der vom neuen Paradigma bestimmten Theologie umformulieren?

Vielleicht könnten wir damit beginnen, dass wir uns auf die Vorstellung einer unsterblichen Seele konzentrieren, die meines Wissens in der christlichen Theologie eine ausschließlich menschliche Eigenschaft ist.

Menschen sollen angeblich eine unsterbliche Seele haben, Tiere und Pflanzen aber nicht.

Thomas Matus: Wer behauptet denn das?

Fritjof Capra: Mein Religionslehrer in der Schule.

Bruder David: Im neuen Paradigma muss man diese Geschichte so verstehen, dass alles durch den Atem Gottes geschaffen wurde. ‹Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen …›

Thomas Matus: ‹… Und du erneuerst das Antlitz der Erde. Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin› (Psalm 104).

Bruder David: Der ‹Geist des Herrn›, sein Atem, ‹erfüllt die Erde und hält alles zusammen›. Das ist eine biblische Aussage. Dementsprechend sind alle Pflanzen und Tiere, ist alles vom Lebensatem Gottes erfüllt.

Der Mensch wird in diesem Zusammenhang besonders erwähnt, weil das uns am meisten betrifft und weil wir es aus unserem Inneren heraus wissen.

Wir Menschen leben durch Gottes eigenes Leben, und wir können Gott erkennen, werden Gott von Angesicht zu Angesicht schauen.

Fritjof Capra: Dann ist also der Geist Gottes, oder die Seele, nicht etwas, was den Menschen von anderen Wesen unterscheidet.

Bruder David: Nicht nach den biblischen Begriffen. ‒ Das ist eine philosophische Vorstellung, die erst viel später aufkommt.

Die Vorstellung einer unsterblichen Seele im landläufigen Sinn ist strenggenommen nicht biblisch.

Fritjof Capra: Wie steht es dann um die Unsterblichkeit und ein Leben nach dem Tode?

Thomas Matus: Das findet man nur in einem Buch der Bibel, im Alten Testament und zwar in ‹Das Buch der Weisheit› (Die Weisheit Salomos), das übrigens weder von jüdischen Gelehrten noch von Protestanten anerkannt wird. Vom römisch-katholischen Standpunkt gehört es zu den kanonischen Büchern der Heiligen Schrift. Genauer gesagt, bezeichnet man es als ‹deuterokanonisch›, ein der hebräischen Bibel nach ihrer Übersetzung ins Griechische hinzugefügtes Buch.

Bruder David: Das ist ein dünnes Rinnsal, und selbst die Auferstehung Jesu hat äußerst wenig, wenn überhaupt etwas, mit der Unsterblichkeit der Seele zu tun.

Das ist eine griechische Vorstellung, die aus der griechischen Philosophie in die christliche Überlieferung übernommen wurde.

Fritjof Capra: Die Auferstehung ist aber doch etwas Menschliches, nicht wahr? Pflanzen erfahren keine Auferstehung.

Thomas Matus: Im Gegenteil. Es gehört zum alten Paradigma, zu sagen, dass unsere Lieblingstiere nicht in den Himmel kommen werden. Das ist eine der schlimmsten Geschichten, die man jemals Kindern erzählt hat. Das ist keine Theologie, sondern kultureller Ballast, ein Sammelsurium von Plunder, aber keine Theologie.

Fritjof Capra: Wie deuten Sie dann das Glaubensbekenntnis, das von der Auferstehung des Fleisches und vom ewigen Leben spricht? Allgemein wird das doch als eine ausschließlich dem Menschen vorbehaltene Zukunft, als die Erlösung verstanden.

Bruder David: Aber nur in der landläufigen Meinung. Richtig verstanden bedeutet es kosmische Erneuerung.»]

_______________________

[1] Bruder David spricht das Gedicht im Audio «Wähle das Leben» (5. Mose 30,19) ‒ Überlegungen zu Tod, Sterben, Leben (1992)
Vortrag
(05:21)
‹Die Blätter fallen› (Rilke, Herbst)

[2] Siehe das Gedicht: «Nichts Vergängliches vergeht», in: Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, im Verlag der Arche 19626, 20; siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 110

[3] «In elegantem Latein definiert Augustinus Ewigkeit als ‹nunc stans›: Das ‹Jetzt›, das nicht vergeht, weil es jenseits aller Zeit ‹steht›. Ewigkeit hebt die Zeit auf.» (Ebd. 223); siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 90f.

[4] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 208, 213, 219, 208f.

[5] «‹Das Angesicht, das wir hatten, vor unserer Geburt›, wie die Buddhisten sagen, ist die Christus-Wirklichkeit. Das bedeutet nicht, eng gesprochen, Jesus von Nazareth; es bedeutet: Christus. Die Christus-Wirklichkeit ist nicht von Jesus zu trennen, ist aber nicht auf ihn beschränkt. Es kommt dem sehr nahe, was die Buddhisten ‹Buddha-Natur› nennen, oder was die Hindus als ‹Atman› bezeichnen, die letztlich bleibende Realität.» [Sterben lernen (2005)]; siehe auch: Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2005)
Vortrag:
(23:41) «Jesus und Christus bilden zwei Pole in einem Spannungsverhältnis: Jesus ohne Christus ist für uns nicht verbindlich, Christus ohne Jesus ist eine mystische Erfahrung ohne Bezugspol in der Außenwelt. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen wird in jeder geschichtlichen Epoche neu und auf verschiedene Weise erlebt.»

[6] Sterben lernen (2005)

[7] Siehe Stillehalten: «All is always now.» T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 83, 90

[8] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 220



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Thorsten Scheu

Wir Menschen werden keinen Frieden finden, solange wir in unserem Leben keinen Sinn finden können. Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet. Sinn wird gefunden, nicht durch harte Arbeit erworben. Er wird einem immer als reines Geschenk zuteil. Und dennoch müssen wir unserem Leben Sinn geben. Wie ist das möglich? Durch Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die innere Haltung, durch die wir unserem Leben Sinn geben, indem wir das Leben als Geschenk empfangen. Was jeden gegebenen Augenblick sinnvoll macht, ist, dass er gegeben ist. Dankbarkeit erkennt diesen Sinn, anerkennt und feiert ihn.[1]

Das mönchische Bestreben wird oft missverstanden als eine Bemühung, überfromm und heiliger zu sein als andere. In Wirklichkeit ist das Grundprinzip des Mönchstums die Bemühung, einfach im Jetzt leben.

Das Kloster ist ein Ort, wo es einem leicht gemacht wird, im Hier und Jetzt zu sein. Alles ist darauf hin angeordnet. Dem natürlichen Rhythmus der Stunden des Tages zu folgen, ist dabei eine große Hilfe. Mönche wissen immer, was sie zu einer bestimmten Zeit zu tun haben. Im Augenblick, in dem die Glocke läutet, lassen sie fallen, was sie in Händen haben, und tun das, wozu es jetzt Zeit ist. Sie wenden sich der neuen Aufgabe bereitwillig und offen zu, weil diese Stunde wie ein Engel ist, der sie ruft und herausfordert zur Antwort, die diesem Augenblick entspricht.

Das zu tun, ist im Kloster leichter als anderswo. Die Haltung, die dahinter steht, können wir aber in jeder Lebenslage zu verwirklichen versuchen. In dem Maß, in dem uns das gelingt, werden wir glücklich.

Der Dichter Rainer Maria Rilke reiste um die Jahrhundertwende in Russland umher und war sehr vom mönchischen Leben beeindruckt, das er dort vorfand. Wie viele, die selbst weder die Neigung haben noch die Berufung verspüren, Mönch zu werden, berührte der Archetyp des Mönchs den jungen, 25jährigen Mann dennoch zutiefst. Er schrieb eine Reihe von Gedichten unter dem Titel «Das Stunden-Buch», und nannte es wie das Buch, aus dem die Mönche in den Gebetsstunden singen.

Im allerersten Gedicht dieser Sammlung beschreibt er, wie die von der Klosterglocke angekündigte Stunde sich neigt und den Dichter berührt, der ausruft: «Mir zittern die Sinne.»[2]

Unsere Sinne mögen wohl zittern, wenn wir uns öffnen und zulassen, dass eine Stunde, eine Zeit, die für uns reif ist, uns wirklich berührt.

Die Glocke erweckt uns zum Jetzt und fordert uns auf, das zu tun, wofür es Zeit ist, weil es jeden Moment Zeit ist, etwas zu tun, auch wenn es bloß Zeit zum Schlafen ist.

Ein altes Motto lautet: «Age quod agis»«Tue, was du tust.»

Freiheit liegt darin, das, was du tust, wirklich zu tun. Gehorsam ist keine Einschränkung, es ist ein liebevolles Zuhören und eine Antwortbereitschaft.

Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt.

Der Gesang lehrt uns noch etwas anderes über das Leben in der Gegenwart. Von einem pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts.

Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht.

Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten.

Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.

Sich auf die Gesänge einzulassen, kann eine Art nüchterner Ekstase auslösen. Ekstase heißt wörtlich außerhalb von sich stehen.

Wenn wir singen oder Gesängen zuhören, haben wir Zugang zu jener Dimension, die außerhalb der Zeit ist: dem Jetzt.

Paradoxerweise brechen wir aus der Uhrzeit genau dann aus, wenn wir ganz im Augenblick sind.

Der Augenblick und die Ekstase gehören zusammen: Wenn wir wirklich hier, jetzt, in diesem Augenblick sind, dann sind wir ganz spontan auch ekstatisch.

T. S. Eliot spricht von «Musik, so innig gehört, dass sie nicht gehört wird, weil man selbst die Musik ist, solange sie forttönt.»[3]

Und in dieser Erfahrung sieht er einen Aspekt vom «Augenblick in und außer der Zeit».[4]

Wenn wir lernen, die beiden miteinander zu verbinden und in und außer der Zeit zu leben, dann lassen wir aus der Polarität zwischen Zeit und Jetzt, zwischen Augenblick und Ekstase eine schöpferische Spannung entstehen.

Dank dieser inneren Einstellung können wir ein volles und schöpferisches Leben leben.[5]

Muße ist ein oft missverstandener Begriff. Verwechseln wir nicht allzuoft Muße mit Müßiggang? Muße ist aber keineswegs Untätigkeit. Wie könnten wir sonst mit Muße arbeiten? Und wir wissen doch, dass die beste Arbeit in Muße geleistet wird. Diese echte Muße ist aber die Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Spiel.

Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fällt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?

Hier liegt der springende Punkt. Wir wagen es einfach nicht, uns ergreifen zu lassen.

Aber Feier ist ergreifend; und so flüchten wir vor dem Feierabend in ununterbrochene Geschäftigkeit. Wir wagen es nicht, uns ansprechen zu lassen.

Aber alles, was wir mit Muße tun, wird ansprechend; und so flüchten wir uns in Geschäftigkeit ohne Muße, in Zweckgerichtetheit, die sich dem Sinn verschließt.

Ist es nicht offensichtlich, wie unmittelbar hier unser tägliches Erleben an das große Thema von Wort und Sinn rührt?

Es scheint zunächst, als ob dieses öffnen für den Sinn, der uns in jedem Ding, in jeder Begegnung und in jedem Ereignis anspricht, das Alleransprechendste sein sollte, das Allerschönste, das Allererfreulichste.

Warum fällt es uns dann so schwer, uns packen zu lassen? Warum wollen wir immer ständig alles selber anpacken? Warum wollen wir alles begreifen, anstatt uns auch zugleich ergreifen zu lassen?

Die Antwort liegt darin, dass Feier immer Wagnis ist, und wir sind einfach zu feig.

Solange wir die Angelegenheit in der Hand behalten, solange wir begreifen, kann uns nicht viel geschehen. Das einzige, das uns dabei nicht so angenehm ist, ist die Tatsache, dass es sehr bald schrecklich langweilig wird; denn in einer Welt, wo alles unter Kontrolle steht, schleicht sich die Langeweile sehr bald ein. Man weiß ja schon, was kommt. ‒ Wir beginnen darum, ein bisschen unseren Griff zu lockern! Wir beginnen, der Welt zu erlauben, uns zu berühren, uns anzusprechen, uns etwa gar zu packen. Und da beginnt das Abenteuer. Es wird ungemein interessant; sofort aber wird es auch gefährlich. Was wäre denn Abenteuer ohne Gefahr? Im Augenblick aber, wo wir der Gefahr dieser Feierhaltung gewahr werden, versperren wir uns wieder und nehmen wieder alles fest in die Hand.

Unser ganzes geistliches Leben als Suche nach Sinn, als Suche nach Glück hängt daran, wieweit wir fähig sind, uns ergreifen zu lassen, während wir zu begreifen suchen.

Die Sicherheit, die wir uns oft vortäuschen, wenn wir alles fest in der Hand halten, ist ja eigentlich keine Sicherheit, sondern eine Scheinsicherheit. Es ist die Sicherheit dessen, der sich vor dem Ertrinken sicher meint, weil er nie dem Wasser nahe kommt. Aber es kann ja geschehen, dass das Wasser ihm nahe kommt. Wer schwimmen lernt, lebt viel sicherer, nur bedeutet das, dass man sich zunächst einmal dem Wasser aussetzen muss und das ist die Sicherheit, die wir eigentlich anstreben, wenn wir nach Glück suchen: die Sicherheit des Schwimmers, in der Abenteuer und Kontrolle in eins verschmelzen.

Das Wagnis der Feier liegt darin, dass wir uns dem, was uns ergreift, aussetzen; dass wir uns dem Worte stellen, dem Worte im weitesten Sinn, der Welt als Wort, das an uns persönlich jetzt und hier gerichtet ist; dass wir uns jeder geschichtlichen Situation, jeder menschlichen Begegnung als einem Wort steilen, uns öffnen für den Sinn des Lebens, der über allen Zweck hinausgeht.[6]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 5f.]

[Ergänzend:

1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Audio «Spiritualität und Ökologie»: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(45:47) Feste feiern: tanzen, singen, spielen, essen und unsere Widerstände: Das Gleichnis vom Festmahl (Lk 14,15-24) ‒ Sabbat: Feierabend und die Eucharistie

2. Im Buch Orientierung finden (2021), 98f.; siehe auch: Impulskontrolle finden (2022):

«Auch wir werden also Zeiten stillen Ausruhens in unsren Alltag einbauen wollen ‒ wenn auch noch so kurze Zeiten, in denen wir alle unsre Bildschirme ausschalten. Vielleicht gelingt es uns, wenigstens am Ende unsres Werktags einen klaren Schlussstrich zu ziehen nach all dem eilenden Treiben, um Dingen von bleibendem Wert den Abend zu weihen.

Mir selber ist dies äußerst wichtig geworden. Als Autor hatte ich die Gewohnheit, wenn ich zu müde wurde, mit ‹Hier morgen weitermachen› im Text anzumerken, wie weit ich gekommen war.

Dann kam mir eines Tages der Einfall, stattdessen das Datum hinzuschreiben und das Wort ‹Feierabend›.

Es erstaunt mich noch heute, welche Freude mir immer wieder dieses wunderschöne Wort ‹Feierabend› schenkt.

Schon wenn ich es niederschreibe, beginne ich, den Abend jetzt wirklich mit Muße zu feiern.»

3. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 233-235:

«Hier beim Parlament der Weltreligionen[7] zeigte sich mir aber etwas Wichtiges: Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn. Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam. Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes[8] drängte sich mir dabei auf und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.»

4. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Wenn Sie jetzt an eine Situation denken, in der Ihnen plötzlich der Sinn von etwas einleuchtet, vielleicht zum ersten Mal ‒ wo kommt da das Begreifen herein? Packen wir dann wirklich etwas an, oder packt es uns?

Bernhard von Clairvaux sagt so schön:

‹Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.›

Es handelt sich um Ergriffenheit, wenn wir uns dem Sinn einer Situation, eines Wortes, einer persönlichen Begegnung stellen.

Wir sagen auch: es rührt mich an, es bewegt mich, es packt mich, ich bin ergriffen.

Die Frage, wie man es anpacken soll, wird hier gar nicht aktuell. Man kann das ganz leicht an irgendeinem kleinen Beispiel illustrieren, etwa an dem Beispiel einer Kerze.

Es gibt so viele Kerzen in den Schaufenstern, dass man sich schon wundert, ob es überhaupt noch elektrisches Licht gibt. Und dabei müssen wir das elektrische Licht abschalten, um die Kerzen überhaupt würdigen zu können; also sind sie nicht so besonders zweckdienlich.

Warum sind sie dann so gesucht und beliebt?

Weil sie sinnvoll sind; weil uns das Kerzenlicht anrührt.

Ja, wenn man eine Kerze machen will, dann muss man wissen, wie man es anpackt. Wenn man aber den Sinn einer Kerze erfahren will, muss man nur einfach hinschauen; man muss die Kerze etwas tun lassen; man muss es der Kerze erlauben, dass sie einen ergreift und ich glaube, dass wir uns so sehr an Kerzen freuen, weil sie so überflüssig sind.

Es gibt schon zuviel Nützliches, zuviel Zweckgerichtetes.

Was uns wirklich etwas bedeutet, ist oft das Überflüssigste.

Ist Tanzen zweckdienlich oder Dichten oder die Musik dieser schönen Stadt, die noch nachschwingt in den steinernen Überflüssen von Torbögen und Balustraden?

Ist nicht der Zweck aller Arbeit letztlich das, was über allen Zweck hinausgeht, der Überfluss von Spiel und Feier?»]

___________________

[1] Schlüsselwort SINN, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 183 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 184]

[2] Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.

Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.

Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...

Mit diesem Gedicht eröffnet Rilke Das Stunden-Buch.

[3] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V, in: Stillhalten

[4] Ebd.

[5] Musik der Stille (2023), 23-26

[6] Vortrag Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 13f.

[7] «Mehr als acht tausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. [Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 232]

[8] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz..» [Vortrag Jesus als Wort Gottes, in: Die Frage nach Jesus (1973), 66]

 

Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Thorsten Scheu

So wie ich den Begriff «religiös» benutze, bezieht er sich auf die Suche nach dem letzten Sinn des Lebens.

Der Tod muss dabei offensichtlich eines der wichtigen Elemente sein, weil er ein Ereignis ist, das den ganzen Sinn des Lebens in Frage stellt.

Wir können beschäftigt sein mit zweckvollen Tätigkeiten, mit der Erledigung von Aufträgen, mit dem Durchführen von Arbeiten ‒ und plötzlich kommt der Tod daher ‒ sei es unser endgültiger Tod oder einer der vielen Tode, durch die wir Tag für Tag gehen.

Der Tod konfrontiert uns mit der Tatsache, dass ein zweckerfülltes Leben nicht genug ist. Wir brauchen Sinn, um wahrhaft zu leben.

Wenn wir dem Tod nahe kommen, und alles was auf Zweck abzielt, uns aus den Händen gleitet, wenn wir die Dinge nicht länger manipulieren und kontrollieren können, um bestimmte Ziele zu erreichen ‒ kann dann unser Leben noch sinnvoll sein?

Wir tendieren dazu, Zweck und Sinn gleichzusetzen, und wenn der Zweck wegfällt, stehen wir da ohne Sinn.

Hier liegt also die Herausforderung: wie kann es, wenn alles Streben nach Zweck zu einem Ende kommt, doch noch Sinn geben?[1]

Was ist also Sinn? Was meinen wir, wenn wir von Sinn sprechen?

Sinn ist zunächst das Ziel des Nachsinnens, das Ziel des Sinnens; und Sinnen, das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung (es ist ein sehr altes Wort in der deutschen Sprache) heißt Auf-dem-Weg-Sein.

Der Sinn ist also das, worin wir zur Ruhe kommen; das Ziel des Auf-dem-Weg-Seins ist das Zur-Ruhe-Kommen.

Der Sinn ist das, worin wir daheim sind.

Wenn etwas für uns Sinn hat, dann sind wir darin zur Ruhe gekommen.

Das brauchen wir nicht weiter zu erörtern, das kann auch nicht weiter bewiesen werden. Wir alle erfahren Sinn im Erlebnis des Daheimseins.

Dem Sinn ist der Zweck gegenüberzustellen.

Zweck ist ein ganz anderes Wort, obwohl wir häufig Sinn mit Zweck verwechseln. Zweck ist auch Ziel, aber von Tätigkeit, nicht von Sinnen, nicht von Nachsinnen. Zweck ist Zielpunkt einer Tätigkeit. Das Wort Zweck hat ursprünglich Nagel bedeutet. Wir haben heute noch das Wort «Zwecke» für Nagel. Den Nagel auf den Kopf zu treffen, das ist der Zweck einer Tätigkeit. Tätigkeit führt aber zu weiterer Tätigkeit, nicht zu der Ruhe des Daheimseins, wo wir Sinn finden.

Es gibt nämlich sinn-volle und sinn-lose, ja sogar widersinnige Tätigkeit.

Eine Tätigkeit wird erst dadurch sinnvoll, dass wir in ihr Sinn finden.

Sinn finden wir aber nicht durch Nachdenken, sondern durch Nachsinnen.

Das Denken ist dem Handeln gegenübergesetzt, aber das Sinnen steht im Gegensatz zu dem Sich-im-Handeln-Verlieren.

Denken und Handeln als solche sind wertfrei. Ich kann richtig oder irrig denken, ich kann lebensfördernd oder lebensstörend handeln.

Sinnen hat jedoch immer eine positive Bedeutung.

Und was dem Sinnen gegenübersteht, hat immer eine negative Bedeutung: sich im Handeln verlieren.

Wir sollten bedenken, wie eng Sinnoffenheit und Sinnfreudigkeit mit spielerischem Nachsinnen zusammenhängen. Wie wichtig ist es also Kindern die Sinnenfreudigkeit, die Sinnoffenheit nicht zu nehmen, sondern sie bewusst zu fördern.

Wie spielend werden sie dann Sinn finden.

Wir denken mit dem Kopf, wir sinnen mit dem Herzen.

Wir sinnen als ganze Menschen, daher auch mit dem Kopf.

Das ist kein Widerspruch. Herz im vollen Sinn bedeutet den ganzen Menschen, nicht nur den Kopf, aber auch nicht nur die Gefühle, sondern Denken, Fühlen, Wollen ‒ Leib, Seele, das ganze menschliche Wesen.

Wenn wir so vom Herzen sprechen, im traditionellen Sinn des Wortes, dann bedeutet Herz: unsere Mitte, unsere innerste Mitte, unsere paradoxe Mitte.

Paradox, weil im Herzen die Widersprüche am deutlichsten werden, aber zugleich überbrückt sind.

Augustinus ist bekannt durch zwei Sätze, die dieses Paradox des Herzens ganz deutlich aussprechen; sie scheinen in Widerspruch zueinander zu stehen.

Einerseits sagt er: In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst bin, weil Gott das Selbst meines Selbst ist.

Aber derselbe Augustinus sagt andererseits, und dieses Wort ist noch besser bekannt: Ruhelos ist unser Herz bis es Ruhe findet in dir, o Gott.

Nur in Gott, als dem Urquell von Sinn, findet unser rastloses Herz Ruhe.

Das Paradox des Menschenherzens drückt sich aus im scheinbaren Widerspruch zwischen diesen beiden Sätzen des großen Heiligen.

Daheimsein in Gott und immer auf der Suche sein nach Gott; in dieser Spannung erfahren wir Gott, erfahren wir das Leben, leben wir das Paradox.

Und im Paradox erfahren wir Sinn.

Paradox ist das, was der allgemein üblichen Meinung widerspricht. So widerspricht es der allgemein üblichen Meinung, dass Sinnen über Denken hinausgeht. Es ist aber so, weil Leben über Logik hinausgeht.

Leben widerspricht zwar nicht der Logik, geht aber weit über sie hinaus.

Lebenswahrheit geht über das nur Logisch-Richtige hinaus und Lebenswahrheit finden, heißt Sinn finden.[2]

Um unseren Zweck zu erreichen, ganz gleich was es sei, müssen wir die Situation beherrschen, die Sache in die Hand nehmen, die Dinge in den Griff bekommen. Wir müssen Kontrolle ausüben.

Gilt das auch für eine Situation, in der du tiefen Sinn erfährst? Du wirst feststellen, dass du Worte gebrauchst wie «berührt», «bewegt», ja selbst «fortgerissen werden» von dem Erlebnis.

Das hört sich nicht so an, als würdest du das Geschehen kontrollieren. Vielmehr hast du dich dem Erlebnis überantwortet, es hat dich fortgetragen, und nur so hast du in ihm Sinn gefunden. Wenn du die Kontrolle nicht übernimmst, wirst du Ziel und Zweck nicht erreichen; wenn du dich andererseits nicht hingibst, wirst du Sinn nie erfahren.

Es besteht eine Spannung zwischen diesem Kontrolle-Übernehmen und Sich-dem-Sinn-Hingeben. Diese Spannung zwischen Geben und Nehmen ist die Spannung zwischen Sinn und Zweck, zwischen Schau und Tat. Lassen wir diese Spannung zerreißen, dann polarisiert sich unser Leben. Eine kreative Spannung aber aufrechterhalten ist anstrengend. Es erfordert von uns eine Hingabe, die uns schwerfällt.

Warum schwer? Weil sie Mut erfordert. Solange wir die Kontrolle haben, fühlen wir uns sicher. Lassen wir uns aber hinreißen, dann ist nicht zu sagen, wohin das führen wird. Wir wissen nur, dass das Leben abenteuerlich wird. Zum Abenteuer aber gehört Wagnis.[3]

Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts.

Es ist zweckfrei, aber sinnvoll.

Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.

Beim Tanz dreht sich alles um die Gelegenheit, Augenblick für Augenblick im Schritt zu sein mit denen, die uns am nächsten stehen im Kreis, und durch sie mit allen Tänzern in eine Wechselwirkung zu treten.

Das Ziel ist, völlig eins zu werden mit Rhythmus und Harmonie des Tanzes.

Tanz aber ist hier Sinnbild für Wandel und den Gang des ganzen Universums.[4]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4]

[Ergänzend:

1.1. Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011):
(06:43) Sinn ist etwas ganz anderes als Zweck: Sinn ist das, worin wir Ruhe finden / (10:51) Sich berühren lassen im Jetzt in Arbeit und Spiel, hören, gehört werden, zugehören

1.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 3:
(09:16) «Die tiefste Unruhe zielt nicht auf Zweck hin, sondern auf Sinn.»

1.3. Audio-Vortrag Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat:
(12:17) Das Herz, das ins Ganze Geborne (Rilke) – Schau auf das Ganze, rühme das Ganze (Augustinus) – Sinn, Zweck, Spiel

1.4. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren:
(02:18) Sinn im Erlebnis von Daheimsein / (03:07) Sinn dem Zweck gegenüberstellen / (04:02) Nachsinnen im Unterschied zu Nachdenken ‒ Bedeutung von Sinnenfreudigkeit, Sinnoffenheit / (05:08) Im Herzen sind wir allein und zugleich all-eins / (07:55) Daheimsein in Gott und immer auf der Suche nach Gott (Augustinus) / (09:37) Sinnen geht über das Denken hinaus

1.5. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag:
(30:50) Unser Ringen um Sinn ‒ Spannung zwischen Sinn und Zweck: wir sind gefangen in Zweckhaftigkeit

2. SINN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164:

«Sinn und Zweck sind zwei Begriffe, die bei schlampigem Sprachgebrauch oft verwechselt werden. Solche Nachlässigkeiten im Reden drücken unklares Denken aus und führen zu verwirrtem Tun. Präziser Wortgebrauch ist daher für unsre Orientierung wichtig.

Zweck gehört zum Bereich der Arbeit, Sinn aber zum Bereich des Spiels.

Wir arbeiten, um einen Zweck zu erreichen. Das Spiel aber ist sinnvoll, ohne etwas bezwecken zu müssen. Es ist sich selbst Zweck genug, hat also Sinn. Sobald die Arbeit ihren Zweck erreicht, ist sie zu Ende. Das Spielen hingegen kann weitergehen, solange es uns Freude macht: Denn sinnvolles Tun ruht in sich selbst.

In einem ausgewogenen, erfüllten Leben gilt es, Zweck und Sinn im Gleichgewicht zu halten. Diese Ausgewogenheit erreichen wir nicht einfach durch abwechselndes Arbeiten und Spielen, sondern erst dadurch, dass wir nur sinnvolle Arbeit tun ‒ Arbeit also, die es wert ist, um ihrer selbst willen getan zu werden. Sonst kann es geschehen, dass wir die höchste Sprosse unsrer zweckgerichteten Arbeitsleiter erklimmen und uns plötzlich fragen müssen: ‹Was ist eigentlich der Sinn all meiner Bemühungen›?

Wenn wir nach dem hier Gesagten nun nach dem Sinn des Lebens fragen, so ergibt sich die überraschende Antwort, dass es Spiel sein muss ‒ ‹Lila› nennt es der Hinduismus ‒ der große Tanz.»

3. Der Mönch in uns (1978) [derselbe Text, aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, in: Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 «Der Mystiker in uns», 43-63]:

Im Kind gibt es eine Sehnsucht nach Sinnfindung, «eine Offenheit für den Sinn, die durch unsere Zweckorientierung droht verlorenzugehen oder überschattet zu werden.

Ich sollte wohl gleich zu Anfang feststellen, dass ich dabei nicht versuche, ‹Zweck› gegen ‹Sinn› oder ‹Sinn› gegen ‹Zweck› auszuspielen.

Aber in unserer Zeit und in unserer Kultur sind wir derart vom ‹Zweck› in Anspruch genommen, dass man tatsächlich dazu gezwungen wird, die Bedeutung der Dimension des ‹Sinns› überzubetonen; sonst bekommt das Schiff Schlagseite.

Wenn Sie also meinen, dass der Sinn hier außergewöhnlich stark betont wird, so geschieht das nur, um einen Ausgleich zu schaffen.» (44f.)

4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Was den Menschen wirklich glücklich macht, ist nur eines: Sinn. Was immer wir aber sinnvoll nennen in diesem oder jenem Zusammenhang ist nur deshalb für uns sinnvoll, weil wir es letztlich in einem tiefsten Sinnbereich verankert wissen. Diese tiefste Sinngebundenheit der menschlichen Existenz aber ist Religion, ob wir es ausdrücklich so nennen oder nicht.

Wenn wir im folgenden vom religiösen Streben des Menschen sprechen, so soll darunter zunächst ganz allgemein die Suche nach dem Sinngrund menschlicher Existenz verstanden sein, unser Hunger nach letztem Sinn, wie wir ihn erleben in unserem unbestreitbaren Hunger nach Glück.

Nur müssen wir jetzt klar zwischen Sinn und Zweck unterscheiden. Ein Grund, warum wir so oft fehlgehen (nicht nur in unseren Erwägungen, sondern auch in unserem Leben), ist ja der, dass wir Sinn und Zweck so leicht verwechseln. Oft drückt sich das in unserer Alltagssprache aus: Wir sagen Sinn, wo wir eigentlich Zweck meinen; diese Ungenauigkeit der Ausdrucksweise drückt ja nur eine Ungenauigkeit des Denkens aus.

Es würde auch nicht sehr viel helfen, wenn ich nun versuchen wollte, irgendwelche Definitionen von Sinn und Zweck zu geben. Diese Frage ist so zentral, dass wir versuchen müssen, Sinn und Zweck in einer ganz persönlichen Weise zu verstehen.

Und so muss ich Sie einladen, selber darüber nachzudenken oder ‒ noch besser ‒ dem nachzufühlen, wie Sie sich in einer Situation verhalten, die ausdrücklich zweckgerichtet ist, und wie Sie sich innerlich zu einer Situation stellen, die ausdrücklich sinnbezogen ist.» (10f.)]

_____________________

[1] Sterben lernen (2005)

[2] Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 59-61, anlässlich der 38. Internationalen Werktagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe auch Ergänzend 1.4.

[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015), 63f.]: «Kontemplation und Muße», 65; siehe auch ST 77f. unter dem Titel «Kontrolle»

[4] Orientierung finden (2021), 12

 

Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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Herz steht hier für den Kern unseres Wesens, in dem wir mit uns selbst eins sind, eins mit allen, eins sogar mit dem göttlichen Grund unseres Wesens.

Deswegen ist ein Schlüsselwort für das Verständnis des Herzens der Begriff Dazugehören ‒ das Einssein im grenzenlosen Dazugehören.

Ein zweites Schlüsselwort ist Sinn, denn das Herz ist das Organ für den Sinn.

Wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Klang, so nimmt das Herz Sinn wahr.

Gemeint ist hier nicht Sinn mit der Bedeutung, wie wir im Wörterbuch den Sinn eines Begriffs nachschlagen, sondern Sinn als das, was wir meinen, wenn wir eine Erfahrung als zutiefst sinnvoll bezeichnen.

Sinn mit dieser Bedeutung ist das, worin wir Ruhe finden.[1]

«Ruhelos ist unser Herz.» So drückte Augustinus[2] es aus. Der Kern unseres Wesens ist ein unerbittliches Fragen, Suchen, Sehnen. Selbst das Schlagen des Herzens in meiner Brust scheint lediglich das Echo eines tieferen Hämmerns in mir zu sein, eines Klopfens an eine verschlossene Tür. Noch nicht einmal das ist mir klar: Klopfe ich, um hereinzukommen, oder klopfe ich, um herauszugelangen? Eins aber ist gewiss:

«Ruhelos ist unser Herz, bis ...» Bis was? Bis wir Ruhe finden.

Was aber kann unseren existentiellen Durst löschen?

«Wie ein Hirsch, der da lechzt nach Wasserbächen, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott» (Psalm 42,2).

Ein glücklicher Psalmist, konnte er doch dem einen Namen geben, wonach es uns durstend verlangt.

Welchen Namen aber sollten wir heute verwenden? Heute werden viele, deren Durst nicht weniger brennt, den Namen «Gott» nicht gebrauchen wollen, und das wegen jener unter uns, die ihn verwenden. Wir haben ihn missbraucht und sie damit verwirrt. Gelingt es uns, einen anderen Namen zu finden für das, was unserem Herzen Ruhe gibt?

Der Begriff «Sinn» bietet sich von selbst an.

Finden wir Sinn in unserem Leben, dann finden wir Ruhe. Das ist zumindest ein Ansatzpunkt für eine Antwort.

Wir wollen einmal davon ausgehen, dass wir wissen, was Sinn bedeutet. Wir wissen jedenfalls, dass wir zur Ruhe kommen, wenn wir etwas sinnvoll finden. Hier handelt es sich um eine Sache der Erfahrung, und das ist alles, was wir über Sinn wissen.

Sinn ist einfach das, worin wir Ruhe finden. Das aber ist gerade das Herz.

Es scheint ein Widerspruch zu sein. Und doch ist unser ruheloses Herz der einzige Ort, an dem wir Ruhe finden, wenn wir «am Ende all unseres Suchens» dort ankommen, wo wir anfingen und «den Ort zum ersten Mal kennen.»[3]

Das Herz zu kennen bedeutet zu wissen, dass es Tiefen kennt, die zu tief sind, um mit dem Verstand ausgelotet zu werden: die Tiefen des göttlichen Lebens in uns. Das Herz, das schließlich in Gott Ruhe findet, ruht in seiner eigenen unauslotbaten Tiefe.

Ein Gebet aus Rilkes Stunden-Buch lässt diese Intuitionen zu poetischen Bildern kristallisieren. Wieder beginnt Rilke mit der Polarisierung von Lärm und Ruhe.

Diesmal ist es die Versammlung von Widersprüchen in unserem Leben, die den Palast unseres Herzens mit einem ausgelassenen Narrenfest füllt. Natürlich ist es unmöglich, die Widersprüche alle auf einmal aus unserem Leben zu verbannen. Das Leben selbst ist widersprüchlich. Aber wir können Widersprüche in den großen ursprünglichen Symbolen zusammenlaufen lassen, wie das Symbol des Herzens eines ist. Gelingt uns das, dann beginnt eine große Stille zu herrschen, eine Stille, die auf heitere Weise festlich und sanft ist. Und in der Mitte dieser Stille steht Gott als ein Gast, als die ruhende Mitte unserer Monologe, als das temporäre Zentrum, eines Kreises, dessen Peripherie über die Zeit hinausreicht.

«Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.

Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.»

Ruht unser Herz an der Quelle allen Sinnes, dann kann es auch allen Sinn fassen.

So verstanden ist Sinn etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt.

Sinn lässt sich nicht wie eine Definition in einem Buch nachschlagen.

Sinn ist nichts, das sich greifen, halten und aufbewahren lässt.

Sinn ist nichts …

Vielleicht sollten wir diesen Satz hier abbrechen.

Sinn ist nicht Etwas unter anderem.

Eher könnte man ihn mit Licht vergleichen, in dem wir alles andere überhaupt erst sehen.

Ein anderer Psalm ruft Gott durstigen Herzens an:

«Denn bei dir ist der Brunnquell des Lebens, und in deinem Lichte schauen wir Licht» (Psalm 36,9).

Durstend nach der Fülle des Lebens, dürstet unser Herz nach dem Licht, das uns den Sinn des Lebens schauen lässt.

Finden wir Sinn, dann wissen wir es sofort, denn unser Herz findet Ruhe.

Immer ist es unser Herz, worin wir Ruhe finden.

Wie unsere Augen nur auf Licht und unsere Ohren nur auf Töne reagieren, so reagiert das Herz einzig auf Sinn.

Das Organ für Sinn ist das Herz.[4]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 4]

[Ergänzend:

1. Film Der Sinn des Lebens (2011):

«Ich finde es hilfreich, wenn man sich bewusst macht, dass Sinn das ist, worin unser Herz Ruhe findet. Und das hat immer mit Beziehungen zu tun, immer mit Zugehörigkeit: Liebe als das gelebte Ja zur Zugehörigkeit, zum Zusammensein, ist der Sinn des Lebens, nach dem das menschliche Herz sich im Tiefsten sehnt.»

2. Audios zu «Sinn und Herz»:

2.1. Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(06:45) Augenblicke in denen wir als ganze Menschen da sind, oft ganz unverhofft, auch in schwierigen Situationen, Augenblicke, in denen uns die Wirklichkeit berührt, die wir oft auf Armeslänge von uns fernhalten, Herzensaugenblicke: Das Herz ist das Organ für Sinn und die tiefste Sinnsuche des Menschen ist allen Religionen gemeinsam

2.2. Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag:
(30:50) Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet

2.3. Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
Gesamter Vortrag:
(18:57) Unser Herz ‒ Organ für Sinn

3. Audios zu Gedichten:

           «Wer seines Lebens viele Widersinne» (R. M. Rilke, Das Stunden‒Buch), in:

Fragen, die uns bewegen (2005):
(28:44) Vortrag

Mit dem Herzen horchen (1988):
(06:26) Vortrag

           «Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften …» (T.S. Eliot, Four Quartets: Little Gidding, V), in:

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsreferat, Vortrag:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)

4. Weitere Texte:

4.1. RUHE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 154:

«Ruhe wollen wir von Stille unterscheiden. Es gibt ja auch ruhelose Stille. Andererseits gibt es auch Ruhe die Stille nicht unbedingt voraussetzt. Diese innere Ruhe, auch inmitten eines bewegten und geräuschvollen Alltags beizubehalten, ist ein herausforderndes Ziel, das wir aber anstreben müssen. Ruhe in diesem Sinne ist nicht eine Art Grabesruhe, sondern ganz im Gegenteil Ausdruck höchst dynamischer Lebendigkeit. Sie entspringt dem Bewusstsein, jeden Augenblick dem Großen Geheimnis gegenüberzustehen, ja mehr: ihm mit jedem Atemzug zu begegnen.

Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der das Große Geheimnis Gott nennt, sagt über diese Begegnung:

‹Der ruhige Gott beruhigt alles und wer sich in die Ruhe Gottes versenkt, ruht.›»

4.2. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Im wahren Wort muss unser Herz zur Sprache kommen; das Herz als unser innerstes Zentrum, unser innerstes Schweigen, muss zu Wort kommen.

Das wahre Wort ist Ausdruck des Schweigens; es ist sozusagen schwanger mit Schweigen.

Das Wort muss ins Schweigen aufgenommen werden, so wie die Saat in die schweigende Erde fallen muss.

Das Wort muss von Herz zu Herz gehen, muss das Schweigen eines Herzens dem Schweigen eines anderen Herzens mitteilen mittels des Wortes.» (41)]

Auf dem Weg der Stille (2016), 24

«Der große Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ‒ was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete ‒, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.

Der heilige Augustinus schrieb: ‹In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.›

Paradoxerweise schrieb er auch: ‹Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.›

Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn.

Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens.

Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.» [Auf dem Weg der Stille (2016), 24f.]

«We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning …»

«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor.
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war …»

T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in: Stillehalten; [siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114]

Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) im Kp. «Herz und Sinn», 35-38 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33-36]]

___________________________

[1] Auf dem Weg der Stille (2016), 24

[2] «Der große Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ‒ was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete ‒, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.

Der heilige Augustinus schrieb: ‹In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.›

Paradoxerweise schrieb er auch: ‹Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.›

Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn.

Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens.

Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.» [Auf dem Weg der Stille (2016), 24f.]

[3] «We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning …»

«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor.
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war …»

T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in: Stillehalten; [siehe auch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114]

[4] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018) im Kp. «Herz und Sinn», 35-38 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 33-36]

 

Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Georg Stahl

Die Menschheit kann sich in Zukunft kein Gottesbild mehr leisten, das Menschen voneinander trennt.

Die Vorstellung von einem Gott, den ein Abgrund von uns trennt, führt unvermeidlich zu Spaltungen, die uns Menschen voneinander trennen.

Die große Herausforderung unserer Zeit ist es, über bloße religiöse Toleranz hinauszugehen.

Es genügt nicht mehr, miteinander unverträgliche Gottesbilder nebeneinander stehen zu lassen.

Wir brauchen ein Gottesbild, das uns verbindet.

Die Mystiker aller religiösen Traditionen haben Zugang gefunden zu einer Wirklichkeit, die nicht nur den Einzelnen ganz macht, sondern uns alle vereinigt. Religionskriege sind ja nicht Kriege zwischen spirituellen Menschen, sondern zwischen religiösen Ideologien und Institutionen.

Die Zeit ist gekommen für spirituelle Menschen, innerhalb dieser Institutionen ihre Einheit zu finden und zu feiern. Die Institutionen werden sich mit dieser Tatsache abfinden müssen oder aus Irrelevanz zugrunde gehen.

Ist es aber nicht höchst unwahrscheinlich, dass wir jemals ein Gottesverständnis finden könnten, das die Konfessionen übersteigt und verbindet?

Dieses Gottesverständnis gibt es schon und wir können es jederzeit entdecken, indem wir auf unsere innere Erfahrung achten und auf das Mehr, das unserem Leben Sinn gibt.

Wir stoßen auf dieses Mehr, wenn wir die drei großen Fragen stellen, die uns als Menschen kennzeichnen:

Menschen aller Zeiten und Zonen fragen: «Was ist wirklich wirklich» und begegnen dabei einem Geheimnis, das wirklicher ist als alles, was es gibt ‒ dem unerschöpflichen «Es», das wir aus der Wendung «es gibt» kennen.

Menschen fragen immer und überall: «Wer bin ich?» und stoßen auf das Mehr in der Tiefe ihres eigenen Herzens, ein Mehr, das Gedanken nicht ausloten und Worte nicht ausdrücken können.

Die dritte Frage lautet: «Worum geht es im Leben?»[1]

Wir finden die Antwort in einem unerschöpflichen Mehr an Liebe und Leben, an dem unser eigenes Lieben und Leben teilnimmt.

Unser geistiges sowie unser physisches Gesundsein hängt davon ab, dass wir uns auf die Antworten zu diesen letzten Fragen einlassen ‒ Antworten, die wir nicht in Worte fassen können.

Das Mehr, in das wir durch diese Fragen eintauchen, durchdringt unser ganzes Dasein und übersteigt es zugleich unendlich.

Die ursprüngliche Religiosität begegnet den drei Aspekten des Mehr als noch undifferenzierte heilige Gegenwart.

Die großen religiösen Traditionen der Welt entfalten sich aus dieser ursprünglichen Matrix, indem sie einen der drei Aspekte besonders beachten. (Raimundo Panikkar hat dies in vielen seiner Schriften eingehend aufgezeigt; ich kann es hier nur ganz kurz andeuten.)

Der Buddhismus beachtet mehr als alle andern spirituellen Traditionen den Abgrund des Schweigens, durch den wir das Mehr als Grund und Ursprung von allem, was es gibt, erfahren.

In seiner großen wortlosen Predigt hält Buddha einfach eine Blume hoch. Alle, die auf Worte warten sind enttäuscht. Der einzige, der versteht, zeigt dies, nicht durch Worte, sondern durch ein schweigendes Lächeln. Buddha, so wird uns berichtet, lächelt zurück und gibt so das Herzstück der buddhistischen Tradition an diesen, seinen Nachfolger weiter, schweigend.

Wie verschieden ist dies doch von den westlichen Traditionen: der jüdischen, christlichen und islamischen. Wenn wir ihnen die Worte wegnehmen, was bleibt übrig?

Viele im Westen wenden sich heute dem Buddhismus gerade deshalb zu, weil sie vor dem fliehen, was ihnen als leere Worte erscheint. Und doch weiß T. S. Eliot: «Words after speech reach into silence» ‒ «Nach dem Reden reichen Worte in das Schweigen hinein.»[2]

Auch das Wort kann durchsichtig werden für das Mehr.

Alle Dinge, Menschen und Situationen dürfen wir im weitesten Sinn als Worte verstehen, durch die das Schweigen spricht.

Das Mehr wird Wort in den «Amen-Traditionen» ‒ Judentum, Christentum, Islam ‒, die man so nennen kann, weil das Wort «Amen» ihnen gemeinsam ist.

Amen ist der Ausdruck menschlichen Vertrauens als Antwort auf die treue Verlässlichkeit der göttlichen Wirklichkeit.

Die Erfahrung von Wort, Horchen und Antworten öffnet die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu dem Mehr ‒ zu Gott als persönlich mit uns verbunden (obwohl wir nicht in den Irrtum verfallen dürfen, Gott sei «eine Person»).

Wir dürfen uns selbst als Wort Gottes verstehen, als Wort von Gott ausgesprochen und zugleich angesprochen (Ferdinand Ebner).

Durch unsere Antwort werden wir erst zu dem Wort, als das wir gemeint sind. Das Selbstverständnis Jesu als eins mit dem «Vater» ist der Durchbruch auf eine neue Ebene menschlichen Selbstverständnisses und darf nicht auf Jesus beschränkt werden.[3]

Christliche Mystiker wussten dies und Thomas Merton fasste es zusammen, wenn er sagte: «Gott ist nicht jemand anders».

Wer immer mit dem Buddhismus vertraut ist, weiß, dass dort das Schweigen eine so zentrale Stellung einnimmt, wie das Wort in den westlichen Traditionen.

Wie der Hinduismus in dieses Schema passt, mag auf den ersten Blick nicht so deutlich sein.

Swami Venkatesananda gibt uns jedoch einen Schlüssel zum Verständnis, wenn er sagt: «Yoga ist Verstehen». Das deutsche Wort «Joch» kommt von derselben Wurzel wie Yoga.

Wort und Schweigen sind da zusammen gejocht im Verstehen.

Kommt Verstehen nicht immer dann zustande, wenn wir auf ein Wort so tief hinhören und ihm so innig gehorchen, dass es uns zurückführt in das Schweigen, aus dem es kommt?

Dieses Horchen und Gehorchen ist auch der springende Punkt in der Bhagavadgita: Arjunas verzweifelte Frage kann keine andere Antwort finden als im Tun.[4]

Nur im Tun verstehen wir wirklich.

Es gibt einen Aspekt des Mehr, den wir nicht erfahren können, außer wir handeln.

Das ist der Aspekt, auf den der Hinduismus hinzielt durch Yoga in allen seinen Formen.

In einem heilen spirituellen Leben ‒ der Grundlage für körperliches Heilsein ‒ finden wir Zugang zu dem unerschöpflichen Mehr auf diesen drei Pfaden ‒ Schweigen, Wort und Verstehen.

Die frühchristliche Tradition drückte diese mystische Erfahrung aus, indem sie Gottes Einheit als Vater, Sohn und Heiligen Geist bekannte. Dies ist ein panentheistisches Gottesverständnis, das sich vom Pantheismus (alles ist Gott) durch die Silbe en (= in) unterscheidet.

Gott ist in allem und alles ist in Gott ‒ in dem Mehr, das immer noch mehr ist als alles.

Die theistische Vorstellung von Gott als dem absolut Anderen war aber so tief eingegraben in der westlichen Mentalität (und so vorteilhaft für die Machthaber), dass diese wilde wundervolle Gottesanschauung gezähmt werden musste.

Christliche Theologen vergegenständlichten die mystische Erfahrung von Gott als dreieinig und projizierten sie auf den theistischen «Gott da draußen». Die Zeit war noch nicht reif.[5]

Heute jedoch können wir diese Projektion zurücknehmen und dürfen uns so das trinitarische Gottesbild wieder zu eigen machen.

Die Trinität Gottes ist ja kein christliches Monopol, sondern vielmehr ein Modell, das der Mystik aller Traditionen vertraut ist.[6]

Dieses Gottesverständnis lässt jeder spirituellen Tradition ihre eigene Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit, ermutigt sie aber zugleich, von den andern zu lernen, da diese einen anderen Aspekt des unerschöpflichen Mehr in den Mittelpunkt stellen.

Nur wenn wir uns weltweit gemeinsam darum bemühen, dürfen wir hoffen, zu einem heilen und heilenden Gottesverständnis vorzustoßen.

[Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis, in: «MYSTIK ‒ Spiritulität der Zukunft: Erfahrung des Ewigen» (2005), 80-83]

[Ergänzend:

1. Beitrag von Bruder David in der Zeitschrift «Christ in der Gegenwart» Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):

«Mitte der sechziger Jahre hatte ich die Erlaubnis bekommen, für längere Zeit mit Mönchen anderer Traditionen zu leben, besonders mit Buddhisten und Hindus. Bei diesem Experiment, das damals noch völlig neu war, zeigte sich etwas Erstaunliches: Mönche weit auseinanderliegender Traditionen fanden, dass sie in ihrem innersten mönchischen Streben eins waren; allen ging es um das Gleiche, um ‹die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit›.

Das wurde uns so klar, dass selbst die Weigerung der Buddhisten, das Wort ‹Gott› zu verwenden, die Einsicht nicht trüben konnte, dass wir alle mit derselben Wirklichkeit Erfahrungen machten.

Zugleich wurde uns bewusst, dass eine Tradition sich von der anderen dadurch unterschied, dass ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt derselben Wirklichkeit gerichtet ist.

So sehen Buddhisten die letzte Wirklichkeit vor allem als jenes namenlos Unaussprechliche, das Ursprung und Ziel allen Daseins ist und als existenzielles Schweigen erlebt wird.

Für Juden, Christen und Muslime steht dagegen im Zentrum des Blickfeldes das Wort (im weitesten Sinn), die Wirklichkeit, in der sich das letztlich Unsagbare doch ausspricht und so für uns und in uns gegenwärtig wird.

Für den Hindu ist von letzter Bedeutung das Verstehen, das im Tun zu sich selbst kommt.»

2. Text zum Thema: «Gott ‒ das geheimnisvolle ‹Mehr-und-immer-mehr›»:

2.1. Im Buch Orientierung finden (2021), 58f.:

«…denn hinter allem, was uns im Leben begeistert, steckt stets mehr: das ‹Mehr›, das wir Geheimnis nennen. Deshalb kann die große Theologin Dorothee Sölle (1929-2003) Gott ‹das Mehr› nennen ‒ das ‹Mehr-und-immer-mehr›, könnten wir sagen.

Wenn wir die Bezeichnung Gott in diesem Sinne anwenden, verweist sie auf das geheimnisvolle ‹Mehr›, das uns hinreißt, so oft uns Begeisterung erfasst. Spielverderber, die jede Begeisterung mit ihrem ‹Das ist ja nichts weiter als ...› zerstören, haben immer etwas Bedauernswertes an sich. Ihnen fehlt der Blick für das innerste Glänzen des Lebens und daher auch jener sprühende Enthusiasmus, den dieser Tiefblick auslöst.

Schon das aus dem Griechischen stammende Wort ‹Enthusiasmus› weist ja wörtlich auf den ‹Gott im Inneren› (‹en theos›) hin.

Auf Begeisterung kommt alles an bei unsrer Gottesbeziehung. Für Gläubige kann Begeisterung dürre Glaubenssätze zum Blühen bringen, aber auch Atheisten sind oft außerordentlich begeisterungsfähig. Zwar wird ein Atheist wahrscheinlich das «Mehr-und-immer-mehr» in jeder echten Begeisterung nicht Gott nennen wollen. Warum aber sollten wir uns auf ein Wort versteifen ‒ und gar auf das Wort Gott? Worte trennen uns oft; was uns verbindet, ist Erfahrung. Dass wir im Leben immer wieder dem ‹Mehr› begegnen, dem begeisternden Geheimnis, das wir ‒ wenn wir wollen ‒ ‹DU› und ‹Gott› nennen dürfen, das ist Erfahrungssache, nicht Projektion.»

2.2. Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben (2008):

«Wir finden uns in der Unruhe unseres Herzens von einem unauslotbaren Geheimnis umgeben. Wir wissen nicht, woher wir letztlich kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir sind rundum vom Geheimnis umgeben. Und je tiefer wir versuchen, dieses Geheimnis zu erfahren, umso mehr kommen wir in Geheimnisse hinein.

Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist Nichts. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.

Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das Nichts, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar.

Dieses Mehr und immer Mehr, das das Göttliche bedeutet, ist in uns selbst.»

3. Audios / Text zu «Gott ist nicht jemand Anders.» — «God isn‘t somebody else.» (Thomas Merton):

Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(09:46) «Und das ist auch eine der großen Gefahren, wenn wir von Gott sprechen, dass man sich vorstellt: Das ist irgend Jemand, der von uns getrennt ist …»

TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 15

Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014)
Vortrag und Fragerunde, siehe auch Transkription, 12:
(55:46) «Denn der Irrtum, den wir unter allen Umständen vermeiden müssen, ist, dass wir irgendwie von Gott getrennt sind. Und drum ist dieses Wort ‹Gott› so gefährlich, weil: wenn‘s Gott ist, bin’s nicht ich. Und Thomas Merton hat ganz ausdrücklich, sehr treffend, gesagt: ‹Gott isn‘t somebody else› ‒ ‹Gott ist nicht ein Anderer›. Wenn man denkt: ich und Gott ‒ ein Anderer: schon falsch. Wir sind völlig eingetaucht in dieses Geheimnis und das Geheimnis ist völlig in uns: Das göttliche Geheimnis, wenn wir wollen.»

Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
Fragerunde nach dem Vortrag in der evangelischen Ludwigskirche in Freiburg (DE):
(12:24) «Wenn wir uns bewusst bleiben, dass es sich um eine Beziehung handelt, nicht um Jemanden, dann wird uns unsere Beziehung zu dem Göttlichen und zu Gott viel leichter. Thomas Merton hat das in einem sehr prägnanten Satz ausgedrückt …»

Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2019)
Gespräch:
(03:42) «Wir sind zu sehr gewohnt, Gott uns als Jemanden vorzustellen. Wir haben schon lange aufgegeben an Gott als den alten Mann auf dem Thron über den Wolken zu denken. Aber trotzdem denken wir immer noch: Gott ist jemand anders. Und einer der wichtigsten theologischen Sätze des 20. Jh. ist für mich ein Satz von Thomas Merton: ‹Gott ist nicht jemand Anders.›»

Retreat-Woche in Assisi (1989)
Paradoxien und Meilensteine:
(40:09) «Nun muss man da sehr vorsichtig sein, dass man aus Gott nicht eine Person macht. … Thomas Merton sagt das einmal so schön ‒ das ist ein ungeheuer tiefer theologischer Satz, den wir uns einprägen müssen: ‹Gott ist nicht jemand Anderer.›»]

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[1] Siehe auch: Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
Vortrag:
(19:28) Drei große Fragen wollen in eine Antwort hineingelebt werden / (22:18) Was ist der tiefste Grund von allem?
(31:58) Wer bin ich? – der Schöpfungsmythos antwortet mit drei Bestandteilen, die allen Schöpfungsberichten gemeinsam sind
(44:04) Worum geht es im Leben letztlich? – die Antwort des Heldenmythos

[2] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe Stillehalten

[3] «Jesus selbst sieht dieses Einssein mit Gott keineswegs als ein Privileg, das ihm allein zusteht. Er will dieses mystische Bewusstsein allen zugänglich machen. Im Johannes-Evangelium ist das so ausgedrückt: ‹Alle aber, die ihn aufnahmen, ermächtigte er, Gottes Kinder zu werden› (Joh 1,12). Und Paulus prägt immer neue Wortformen, um klar zu machen, dass wir alle ‹in› Christus am Leben Gottes Anteil haben.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]; siehe auch: Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(38:49) Jesus: Ganz der Vater (Joh 1,18; 10,30) — ‹Die Weisheit hat ihr Haus gebaut› (Spr 8) — ‹Und allen, die an seinen Namen glauben, gab er Kraft, das zu werden, was er ist› (Joh 1,12)

[4] «In der Bhagavad-Gita wird Prinz Arjuna mit einem Rätsel konfrontiert, das er wahrscheinlich gar nicht lösen kann. Der Glaube hat ihn in eine Situation gebracht, in der es seine Pflicht ist, eine gerechte, aber grausame Schlacht gegen seine eigenen Verwandten und Freunde zu führen. Wie kann ein friedliebender Prinz dieses Dilemma sinnvoll lösen? Sein Wagenlenker, der als Krishna verkleidete Gott Vishnu, kann ihm nur den Rat geben: Tu deine Pflicht, und im Tun wirst du verstehen.»
[Auf dem Weg der Stille (2016), 38f.]; siehe auch: TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(36:08) Yoga ist Verstehen – Atman und Brahman – Krishna zu Arjuna in der Bhagavad Gita: Tu’s, dann wirst du verstehen

[5] «So unausrottbar war jedoch der Theismus, dass der geistige Durchbruch Jesu wie ein Leck im Boot verstopft wurde, um so schnell wie möglich den Status quo wiederherzustellen. Die Lehre Jesu musste uminterpretiert und dem theistischen Weltbild eingefügt werden. So wurde der Aspekt der göttlichen Wirklichkeit, den Jesus ‹Vater› nannte, um die intimste Lebensgemeinschaft auszudrücken, zu einer von uns unendlich abgetrennten Vatergottheit. … Wir dürfen, was sich da ereignete, als geistesgeschichtliche Katastrophe betrachten, es steht uns aber auch frei, es positiv zu sehen. Die westliche Welt war einfach noch nicht reif für die Botschaft Jesu.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]

[6] «In vielen Gesprächen sagten mir nicht nur Christen, sondern auch Menschen, die dem Christentum fernstehen, dass die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ihrer eigenen mystischen Erfahrung entspricht. Hier haben wir es mit Allgemeingut der Menschheit zu tun, weil es um mystische Einsichten geht, die allen Menschen zugänglich sind. Hindus, Buddhisten, ja Menschen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, haben mir das bestätigt.» [Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)]

 

Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Thorsten Scheu

Glücklichsein und ein sinnvolles Leben gehören untrennbar zusammen.

Sie werden sicher Menschen kennen, die scheinbar so ungefähr alles haben, was einem ein günstiges Schicksal bescheren kann, aber trotzdem furchtbar unglücklich sind. Dagegen gibt es andere, die mitten im größten Elend zutiefst im Frieden sind und ‒ ja, echt glücklich sind. Überlegen Sie einmal, was diesen Unterschied ausmacht.

Wenn wir tief genug gehen, kommen wir darauf, dass die Glücklichen das gefunden haben, was den anderen fehlt: ein sinnvolles Leben.

Aber wir sollten den Sinn nicht als «das», also eine Sache bezeichnen.

Tatsächlich ist er die einzige Wirklichkeit in unserem Leben, die kein «Etwas» ist.

Auch sollten wir nicht sagen, jemand habe ein für alle Mal den Sinn gefunden, so wie wenn sich der Sinn, hat man ihn erst einmal gefunden, sicher für dunklere Tage aufbewahren lässt.

Sinn muss man ständig neu empfangen.

Das ist wie mit dem Licht: Wenn wir etwas sehen wollen, müssen wir hier und jetzt wieder die Augen aufschlagen.

Ein Bild kann uns sehen helfen, dass Sinn tatsächlich kein «Etwas» ist.

Wir im Westen zeigen auf eine leere Vase oder einen leeren Aschenbecher und fragen: «Was ist das?»

Die Antworten, die wir darauf bekommen, mögen noch so vielfältig sein, aber sie werden dieses «Etwas» im Allgemeinen als ein bestimmtes Material vorstellen, das auf besondere Weise gestaltet ist: als Glas, das in eine bestimmte Form gepresst oder geblasen ist, oder als Ton, der auf einer Töpferscheibe geformt und dann gebrannt und glasiert worden ist. Das ist ganz natürlich so.

Dabei kommen wir kaum auf die Idee, es könnte jemand eine derart andere Geisteseinstellung haben, dass er auf die Frage hin, was das sei, nicht unwillkürlich das Gefäß sieht, sondern den Inhalt und folglich beim Anblick unserer Vase oder unseres Aschenbechers spontan zur Antwort gibt: «Leerheit!»

Das ist für uns verblüffend. «Leerer Raum? Ist das alles?»

Natürlich muss diese Leere mittels dieser oder jener Form definiert werden. Aber das ist weniger wichtig. Worauf es wirklich ankommt, ist die Leerheit des Gefäßes. Ist nicht sie es, die das Gefäß ausmacht?

Das müssen wir zugeben, so merkwürdig uns dieser Ansatz auch vorkommen mag. Das ist so merkwürdig wie der «Klang des Nichtklangs», mit dem es verwandt ist.

So besehen ist auch das Schweigen nicht die Abwesenheit von Wort und Klang.

Es wird nicht als Zustand der Abwesenheit charakterisiert, sondern der Präsenz, einer Präsenz, die für Worte zu groß ist.

Wenn wir irgendeine kleine Freude oder einen kleinen Schmerz haben, reden wir unwillkürlich darüber.

Werden die Freude oder der Schmerz stark, äußern wir diese Freude oder schreien.

Aber wenn das Glück oder Leiden überwältigend wird ‒ werden wir still.

Jede Begegnung mit dem Geheimnis verbirgt sich im Schweigen.

Im deutschen Begriff «Geheimnis» steckt das Wort «Heim»: ein Geheimnis behalten wir bei uns daheim, zeigen es nicht öffentlich.

Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff dafür, «Mysterium» ist vom Tätigkeitswort «myein» abgeleitet, das bedeutet «still bleiben» oder «den Mund halten».

Ein Mysterium, ein Geheimnis ist keine Leere, sondern die unfassbare Präsenz, die uns anrührt und uns sprachlos macht, indem sie uns Sinn erschließt.[1]

«So oft wir innehalten, sei’s auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis im Schweigen.

So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unseres Herzens für das Geheimnis als Wort.

Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, dein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.[2]

Sinn wird nur mittels der Spannung zwischen Wort und Schweigen aufrechterhalten.[3]

Vom Prasseln des Feuers im offenen Kamin, vom Sommerregen vor der offenen Türe, vom Wind in den Laubkronen sagen wir «das spricht mich an».

Recht verstanden, spricht aber jedes Geräusch zu uns, wenn wir uns nur ansprechen lassen.

Jeder Laut ist Botschaft von Unaussprechlichem.

Weil er Botschaft ist, sollen wir hinhorchen lernen.

Weil hier aber Unaussprechliches laut wird, sollen wir uns nicht mühen, die Botschaft in Worte zu übersetzen.

Was uns letztlich anspricht, ist das Wort jenseits aller Worte, das Wort, das so unerschöpflich ist, dass es immer neuen Ausdruck finden will ‒ wie die Liebe.

Die Botschaft in jedem uns geschenkten Laut ist Liebesbotschaft; einmalig, unübersetzbar, ganz persönlich.

Aber auch Stille bringt uns Botschaft.

Hat uns nicht schon oft Stille angesprochen?

Manchmal kommt es mir vor, dass der Augenblick der Stille nach dem Verstummen der Orgel alle Musik noch überträfe; jenes unvergleichliche Einatmen, nachdem das allerletzte Nachhallen im Domgewölbe ausgeatmet hat.

Und diese Stille spricht uns nicht nur an, diese Stille horcht.

Auf dem Höhepunkt, wenn wir ganz Ohr sind, horcht plötzlich Stille auf unsere Stille.

Nur einen Augenblick lang können wir dieser Begegnung standhalten.

Dann beginnt das Scharren von Schuhen in den Kirchenbänken.

Wo Menschen noch hellhörig sind für die Botschaft der Laute, da sind sie auch hellhörig für Stille.

Sei es Wort oder Schweigen, worauf es ankommt, ist, dass wir uns ansprechen lassen von dem, was immer der Augenblick bringt.

Und oft bringt er Unerwartetes.

Nahe bei der Universitätsbibliothek in Berkeley ist ein Kanalgitter, unter dem es Tag und Nacht geheimnisvoll braust. Wie viele der Studenten da stehenbleiben und ehrfürchtig lauschen, weiß ich nicht. Für mich aber ist das, sooft ich vorbeigehe, ein geradezu heiliger Ort. Die ganze Musik der Welt ist in diesem Brausen. Wie es in einem altindischen Text heißt:

«Die Urmusik ist das Rauschen von Wasser.»

Ja, jeder gegenwärtige Augenblick ist Botschaft.[4]

Wort und Schweigen: Indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, können wir beides als wesentliche Aspekte alles Sinnvollen unterscheiden.

Aber wir müssen noch einen dritten Aspekt erkunden: das Verstehen.

Wollen wir etwas als sinnvoll bezeichnen, setzt das Verstehen voraus.

Ohne Verstehen haben weder das Wort noch das Schweigen Sinn.

Was genau ist also das Verstehen?

Wir können es uns als Prozess vorstellen, durch den das Schweigen ins Wort kommt und das Wort, indem es verstanden wird, ins Schweigen zurückkehrt.

In der amerikanischen Umgangssprache gibt es eine eigenartige Redewendung: Wenn uns etwas ‒ sagen wir ein Musikstück oder ein bewegender Augenblick (also etwas, das «Wort» ist) ‒ recht sinnvoll erscheint, sagen wir womöglich: «This really takes me ...» oder «transports me …» oder «sends me.»[5]

Hier gibt uns die Sprache einen Hinweis. Wenn das Wort uns tief anrührt, packt es uns und schickt uns ins praktische Tun.

Paradoxerweise stimmt dabei beides: Wird das Wort verstanden, so kommt es im Schweigen zur Ruhe; aber diese Ruhe ist kein Nichtstun, sondern ein recht dynamisches Tun.

So ereignet sich also Verstehen dann, wenn wir derart bereitwillig auf das Wort hören, dass es uns zum Tun bewegt und uns dadurch ins Schweigen zurückführt, aus dem es kam und zu dem es zurückkehrt.

Durch Tun verstehen wir.[6]

Beten ist wie in einen Raum eintreten. Wie man zum Beispiel in einen Kirchenraum als Raum des Gebetes eintritt. Zunächst ist da das Gebäude, die Wände, das Gewölbe, die Bilder, die uns ansprechen wie ein Wort, das uns anspricht. Aber wenn wir uns ansprechen lassen, dann bemerken wir, dass wir von einer Stille, von einem Schweigen ganz geheimnisvoll angesprochen werden. Denn das Wesentliche an diesem Raum des Gebets ist die Stille. Und in dieser Stille begegnen wir einer geheimnisvollen Gegenwahrheit. Wir erleben, was wir die Gegenwart Gottes nennen könnten. Etwas, was uns geheimnisvoll entgegenwartet. Was etwas von uns erwartet. In jedem Augenblick erwartet diese Gegenwart etwas von uns, und indem wir antworten, verstehen wir. Erst im Tun, in liebenden Antworten verstehen wir, worum es dabei geht.

Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.

Denn einerseits sprechen wir von Gott, dem Urgrund des Seins, dem Abgrund des Schweigens, aus dem das Wort geboren wird, das ewige Wort, das immer neu die Liebe Gottes ausdrückt und ausspricht.

Und andererseits erfahren wir, dass wir verstehen, indem wir uns diesem Wort stellen und darauf antworten.

Man könnte fast sagen, dass Beten die Tätigkeit Gottes oder das Spiel Gottes oder der Reigentanz Gottes sei, ein Raum, in den wir als Menschen eintreten, eingebettet sind, mitschwingen, mittanzen.[7]

Da jede religiöse Tradition Ausdruck der ewigen Suche des menschlichen Herzens nach Sinn ist, zeichnen diese drei Aspekte des Sinns ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ auch die Weltreligionen aus.

Alle drei stecken in jeder Tradition, weil sie für den Sinn wesentlich sind, aber wir können damit rechnen, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen.[8]

Wenn wir die Erkenntnisse der vergleichenden Religionswissenschaft zu Rate ziehen, finden wir bestätigt, was auf den ersten Blick fast zu gut sein könnte, um wahr zu sein. Juden, Christen und Muslime finden ihren letzten Sinn im Wort. Buddhisten finden diesen letzten Sinn im Schweigen, in der Leere, die Fülle ist, im Nichts, das allem Sinn gibt. Dagegen ist das Verstehen, das Wort und Schweigen zusammenspannt, die zentrale Zielsetzung des Hinduismus.

Der Hinduismus zum Beispiel ist ein so unermesslich weiter und vielfältiger Dschungel von Religionen und Philosophien, dass man niemandem einen Vorwurf machen kann, dem es nicht gelingt, hinter all dem ein einigendes Prinzip zu finden.

Aber wenn es eines gibt, dann ist es die schon unzählige Male wiederholte Einsicht, dass der erkennbare Gott der unerkennbare Gott ist und der unerkennbare Gott der Erkennbare.

Das ist ein Verständnis in unserem Sinn: nämlich, dass das Wort Schweigen ist und dieses Wort im Schweigen zu sich selbst kommt; und wir verstehen damit, dass das Schweigen Wort sein kann, begriffenes Wort.

«Der begreifbare Gott ist der unbegreifliche Gott» ist die hinduistische Parallele zu Jesu Ausspruch: «Ich und der Vater sind eins» (Joh 10,30).

Wort und Schweigen sind eins, und sie sind eins im Geist des Verstehens und durch ihn.

Die Hindus haben fünftausend oder noch mehr Jahre damit verbracht, zwar keine Theologie des Heiligen Geistes zu entwickeln (denn Theologie gehört zum Bereich des Logos, des Wortes), jedoch das zu entwickeln, was den Platz der Theologie einnehmen muss, wenn dem Geist der Platz eingeräumt wird, den das Wort in unserem Ansatz einnimmt.[9]

Sollte uns das nicht mit der Hoffnung erfüllen, dass sich bei künftigen Begegnungen mit dem Hinduismus in den Tiefen unseres christlichen Erbes neue Quellen anzapfen ließen?

Auf ähnliche Weise konzentriert sich der Buddhismus auf eine Dimension, die zum Wort gehört, aber in der christlichen Tradition ziemlich vernachlässigt worden ist.

Bei dem, was einer Theologie des Vaters entsprechen würde (da Theo-Logie nur vom Vater handeln kann), müsste das Schweigen an die Stelle des Mediums Wort treten.

Die Buddhisten könnten uns vielleicht auf diesem Gebiet etwas beibringen.

Wenn Buddhisten von einer Tür sprechen, meinen sie damit nicht in erster Linie Rahmen, Türblatt und Angeln, wie wir das tun, sondern den leeren Raum.

Wenn Christus sagt: «Ich bin die Tür» (Joh 10,9), haben wir die Freiheit, das im westlich-christlichen Sinn zu verstehen oder im buddhistischen. Warum sollte der letztere Sinn weniger christlich sein?

Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn wir behaupten wollten, die großen Traditionen der Spiritualität verhielten sich zueinander komplementär. Ja, es wäre falsch, sich vorzustellen, sie ließen sich alle «zum Richtigen» zusammenfassen. Jede von ihnen ist «das Richtige». Sie sind nicht komplementär, sondern interdimensional:

Jede enthält jede, wenn auch mit den größtmöglichen Unterschieden bezüglich der Akzentsetzung. Daher ist jede einmalig.

Jede ist in ihrer Art auch die höchste. Wo bleibt da der christliche Anspruch auf Universalität?

Richtig verstanden, ist er nicht eine Art von kolonialem Anspruch, sondern er verweist auf innere Horizonte.

Es verlangt nicht von den anderen, sondern von uns Christen, dass wir immer und immer wieder die vernachlässigten Dimensionen unserer eigenen Tradition wiederentdecken, damit wir wahrhaft universal, also wirklich katholisch werden.

Nicht irgendeine Theorie, sondern unsere eigene Erfahrung muss der Schlüssel zum Verständnis der der spirituellen Traditionen werden, vor die wir uns gestellt sehen.

Denn wenn unsere Suche nach Sinn im Leben die Wurzel der Spiritualität ist und Glück ihre Frucht, dann sollten wir dazu fähig sein, vom Ausgangspunkt unserer uns vertrauten und sehr persönlichen Glücksmomente her Zugang zu allen ihren Formen zu finden.[10]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4, 6-8, 10]

[Ergänzend:

1.1. Audio-Interview Das glauben wir – Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:

(22:55) «Wenn man lang genug etwas nachgeht oder auch nur meditativ etwas anschaut ‒ eine Blume, einen Berg, eine Wolke oder sogar ein Glas Wasser einfach anschaut ‒, wenn man es still genug und ruhiggenug tut, kommt man zu dem Punkt, wo es eine Überraschung wird ‒ überraschend, dass es überhaupt etwas gibt. Und darauf führt uns diese Frage ‹Warum?› hin.

Und dann nächste Frage: ‹Was?›, ‹Was ist es?›, ‹Was ist irgendetwas?› Und immer wieder ist die große Antwort, eigentlich die letzte Antwort ‒ auch sie führt über die Dinge hinaus ‒: Es ist ein Wort, das mich anspricht.

Also wir haben das Schweigen, das die Quelle und der Ursprung von allem ist. Wir haben das Wort:

Alles, was ist, ist entweder sinnlos für mich, oder es spricht meine Sinne an und spricht mich an. Und was mich anspricht, ist in diesem Sinn Wort. Und ich kann antworten.

Und das ist das Dritte: Schweigen, Wort und Verstehen durch Antworten. Man versteht nur durch das Tun.

Welcher Lehrer weiss das nicht: Wenn man’s hört, geht’s bei einem Ohr hinein und beim andern wieder heraus, wenn man etwas sieht: Schon mehr Hoffnung, dass man’s versteht. Aber wenn die Kinder etwas tun, dann verstehen sie, was sie da getan haben. Und in diesem Sinn: durch das Tun ‒ durch das Leben verstehen wir das Leben. Durch das Tun.»

1.2. Audio-Vortrag Das Gottesbild der modernen Menschen (2009):

(20:41) Sinn finden in den drei Bereichen: Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen / (24:00) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in den Weltreligionen: Das Wort ‚Amen‘, die Antwort auf die ‚amunah‘, die Verlässlichkeit Gottes, in den westlichen Amen-Traditionen Judentum, Christentum und Islam / (25:21) Das Schweigen im Buddhismus und das Verstehen im Hinduismus

1.3. Im Audio: «Schweigen — Wort — Verstehen» (siehe auch Mitschrift) am Schluss des Vortrages Wie das Göttliche in uns wächst (2005) erfahren wir, wie wir uns im Gebet auf die Bewegung von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen-durch-Tun einlassen und im «Rundtanz»[11] der Religionen mittanzen.

1.4. Audio TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(26:56) Der Tanz, die Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort: Das Verstehen – Verstehen und Tun gehören engstens zusammen / (29:11) Wort – Schweigen – Verstehen in den Primärreligionen und die unterschiedliche Betonung in den westlichen und östlichen Religionen / (31:06) Die Blumenpredigt des Buddha – Zerreisset die Bücher – Wie schade, dass du es sagen musst / (36:08) Yoga ist Verstehen – Atman und Brahman – Krishna zu Arjuna in der Bhagavad Gita: Tu’s, dann wirst du verstehen / (41:47) ‚Das ist es!‘ in drei verschiedenen Betonungen – Der Reigentanz der Religionen von außen und von innen her betrachtet – ‚Tao‘ und ‚Amen‘: Ausklang mit dem Kanon: Alleluja, Amen

1.5. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(25:37) Zu diesen Augenblicken der Sinnfindung gehören die drei Dimensionen von Wort – Schweigen – Verstehen und diese Dreiheit bildet eine Art Reigentanz. Ob ein Spaziergang, Dichtung oder Musik: Wir geben uns so dem Wort hin – und Wort meint hier nicht ‹Wörter› –, dass es uns ins Schweigen führt, aus dem es kommt – Dieser Augenblick nach einem Orgelkonzert

(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: ‹Das ist es in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita)

1.6. Audio-Vortrag Mit dem Herzen horchen (1988):

(43:13) Sinn finden durch Wort, Schweigen und den dynamischen Prozess des Verstehens im Tun mit Blick auf den Buddhismus, Hinduismus und das Geheimnis des dreieinigen Gottes

2.1. Im Buch: Orientierung finden (2021), 45-46:

«Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun sind grundlegende Schlüsselwörter, die wir unbedingt brauchen, um Sinn zu finden. Jedes echte Wort muss aus dem Schweigen kommen, sonst ist es nur Geplapper. Wenn wir dieses Wort schweigend empfangen und tief darauf hinhorchen, wird es uns ergreifen und uns dazu bewegen, durch unser Tun darauf zu antworten. Dies ist es übrigens, was Gehorsam, richtig verstanden, bedeutet. Durch intensives Hinhorchen ‒ gehorchen ist ja die Intensivform von horchen ‒ zeigen wir uns bereit, zu tun, was das Wort fordert, und kommen durchs Tun zum Verständnis. So führt uns das Wort, das uns ergriffen hat, in das Schweigen zurück, aus dem es hervorgegangen ist. Kein Wunder. Es geht ja bei diesem orientierungs-Dreischritt von Schweigen, Wort und Verstehen-durch-Tun letztlich um das, worum sich alles dreht ‒ und das ist das Geheimnis.»

2.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 20:

Das Hinhorchen und Antworten, das unser geistliches Leben ausmacht, «ist Feier dreieiniger Verbundenheit: das Wort, das aus der Stille entspringt, führt im Verstehen heim in die Stille. Mein Herz ist wie ein Gefäß, das im Meer versinkt, ist voll von Gottes Leben und zugleich völlig darin eingetaucht. All das ist reines Geschenk. Meine Antwort ist Dankbarkeit.»

2.3. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 233-235:

«Sinnsuche ist die Triebkraft, die alle Menschenherzen bewegt. Das haben wir alle gemeinsam. Sobald mir das bewusst wurde, war mir klar, worüber ich vor dem Parlament der Weltreligionen[12] sprechen müsste: Über unsere Aufgabe, die uns gemeinsame Sinnsuche besser zu verstehen; und es würde meine Aufgabe sein, gemeinsam mit meinen Zuhörern damit zu beginnen.

Jetzt begann sich auch eine klare Struktur für meinen Ansatz herauszukristallisieren.

Sinn hat immer drei Aspekte: Wort, Schweigen und Verstehen. Wenn eines von den dreien fehlt, fehlt auch Sinn.

Das müsste ich erklären im Hinblick auf die allgemeinmenschliche Erfahrung der Sinnsuche, und zwar unter den drei Gesichtspunkten von Wort, Schweigen und Verstehen.

Dass Wort und Sinn zusammengehören, leuchtet vielleicht am schnellsten ein.

Wenn wir etwas sinnvoll finden, dann sagen wir, dass es uns etwas sagt. Es ist also Wort in der weitesten Bedeutung ‒ nicht ein Wort aus einem Wörterbuch, aber doch Wort, dadurch, dass es Sinn vermittelt.

Jedes Wort aber, das wirklich sinnträchtig ist, kommt aus dem Schweigen ‒ aus dem Herzen der Stille; nur so kann es zur Stille des Herzens sprechen. (Alles andere ist nur Geschwätz.)

Weder Wort noch Schweigen können aber das ‹Aha!› der Sinnfindung auslösen, wenn Verstehen fehlt.

Verstehen ist ein dynamischer Vorgang.

Wenn wir so tief hinhorchen auf ein Wort, dass es uns in das Schweigen führen kann, aus dem es kommt, dann ereignet sich Verstehen.

Schweigen kommt zu Wort und das Wort kehrt durch Verstehen heim ins Schweigen.

Die Delegierten in Chicago waren eine buntgemischte Schar und boten einen farbenreichen Anblick ‒ von den safranfarbenen Roben der buddhistischen zu den schwarzen Soutanen der orthodoxen Mönche; von den hohen Kopfbedeckungen der ostkirchlichen Archimandriten zu den Gebetskäppchen der Rabbiner, den Turbanen der Derwische und dem Federschmuck der Indianerhäuptlinge. Während sich meine Augen an dieser großen Vielfalt weideten, wusste ich, dass unter all diesen Hüllen ein und dieselbe Sehnsucht diese Menschen hier zusammengeführt hatte und in ihren Herzen brannte: Sehnsucht nach Sinn.

Wenn jede spirituelle Tradition Ausdruck der unstillbaren Sinnsuche des Menschenherzens ist, dann müssen die drei charakteristischen Aspekte von Sinn ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ jede Religion auf eigene Art kennzeichnen. Freilich sollten wir Unterschiede in der Betonung des ein oder anderen Aspektes erwarten, und die finden wir auch tatsächlich.

In den uralten ursprünglichen Religionen ‒ z. B. in Australien, Afrika und Amerika ‒ sind die drei noch gleichbetont und eng miteinander verwoben in Mythos, Ritual und Gemeinschaftsleben.

Als aber Hinduismus, Buddhismus und die Amen-Traditionen des Westens aus der gemeinsamen ur-religiösen Matrix herauswuchsen, begann der Nachdruck immer stärker auf einen oder den anderen Bereich zu fallen, obwohl alle drei ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ in keiner Tradition ganz verloren gehen können.»

2.4. Vor 50 Jahren (1972) eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit» im Verstehen durch Tun.» (16)

«In einem Gespräch zum Beispiel muss das Wort aus dem Schweigen kommen, sonst ist es gar kein Wort.

Im wahren Wort muss unser Herz zur Sprache kommen; das Herz als unser innerstes Zentrum, unser innerstes Schweigen, muss zu Wort kommen.

Das bedeutet, dass das Wort Ausdruck des Schweigens sein muss, sonst ist es Geplapper.

Das wahre Wort ist Ausdruck des Schweigens; es ist sozusagen schwanger mit Schweigen.

Und das Wort muss in das Schweigen heimkehren, denn wenn es nur Ohren und Gehirn erreicht, so ist noch kein wahres Verständnis zustande gekommen.

Das Wort muss ins Schweigen aufgenommen werden, so wie die Saat in die schweigende Erde fallen muss.

Das Wort muss von Herz zu Herz gehen, muss das Schweigen eines Herzens dem Schweigen eines anderen Herzens mitteilen mittels des Wortes.

Ein sinnvolles Gespräch ist also viel mehr als ein Wortwechsel. Das wissen wir alle.

Es ist Begegnung von Schweigen mit Schweigen im Wort.

So gehört das Schweigen ganz unmittelbar zu unserem Sinnerlebnis.

Wir können vielleicht sagen:

Das Wort hat Sinn, aber das Schweigen gibt Sinn.» (41)

«Solange der Mensch Mensch bleibt und Gott Gott, wird unser Streben nach Glück und Sinn diese dreidimensionale Struktur aufweisen. Wir können dabei ganz auf das Wort der Offenbarung eingestellt sein oder auf das offenbarende Schweigen oder auf das Verstehen in Gehorsam.

Es geht hier nur um verschiedene Akzente. Aber diese Akzente sind so wichtig und bringen eine solche Vielfalt der Wege hervor, dass man sich eine grössere Verschiedenheit der Möglichkeiten nicht mehr denken kann. Trotzdem ist es die eine Bewegung vom Menschen, der in dieser innersten Ausrichtung immer und überall der gleiche ist, auf den einen Gott hin, der der letzte Sinngrund ist. Von dieser Mitte her können wir beides verstehen: die Vielfalt und die Einheit der religiösen Tradition als Wege der Menschen auf der Suche nach Sinn. Wir können es von unserem persönlichen Erleben her verstehen.» (64f.)

«Unser Glaube sieht all dies im Lichte der Dreifaltigkeit. Für uns Christen sind die Wege des Menschen auf der Suche nach dem tiefsten Sinn nur im Lichte des trinitarischen Geheimnisses verständlich.» (65)

«Weil die Menschheit im Suchen nach letztem Sinn bewusst oder unbewusst immer auf den dreieinigen Gott verwiesen wird, spiegelt sich das Geheimnis der Dreifaltigkeit im Verhältnis der großen Religionen zueinander.» (48)]

_______________________

[1] Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 9: «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 122-124; siehe auch im Buch Ein Garten voll Glück (2019) unter dem Titel: Suche nach dem Sinn

[2] Orientierung finden (2021), 113

[3] Auf dem Weg der Stille (2016), 124

[4] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 61-63

[5] In etwa: «Das packt mich richtig, … nimmt mich mit, … schickt mich los.» [Anm. d. Ü.]

[6] Auf dem Weg der Stille (2016), 29f.

[7] Film Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), transkribiert von Werner Binder †. Die Transkription erschien im Buch Staunen und Dankbarkeit (1996), 138-147 unter dem Titel: «Teilnahme am göttlichen Leben»

[8] Auf dem Weg der Stille (2016), 30

[9] «Um das an mich gerichtete Wort, das Wort, das ich zugleich bin, zu verstehen, muss ich die Sprache des Einen, der mich anspricht und ausspricht, sprechen. Wenn ich Gott überhaupt verstehen kann, so ist dies nur möglich, weil Gott mir am Geist des göttlichen Selbstverständnisses Anteil schenkt.» [Die Achtsamkeit des Herzens, 19f.] [Bruder David macht immer wieder auf 1 Kor 2,10-16 aufmerksam.]

[10] Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 9: «Unsere Suche nach dem letzten Sinn», 126-129

[11] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz..» [Jesus als Wort Gottes, in: Die Frage nach Jesus (1973), 66]

[12] «Mehr als acht tausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. Mit dem ersten Parlament der Weltreligionen 1893 war Chicago zum Geburtsort des weltweiten interreligiösen Dialogs geworden, der damals etwas Unerhörtes war. Seitdem hatte dieser Austausch nach und nach Schwung gewonnen, aber erst jetzt, hundert Jahre später, war die Zeit reif für ein zweites solches Treffen. Jetzt war dieser historische Augenblick gekommen. Und da war ich nun, ganz überwältigt von der Ehre, zu diesem Ereignis beitragen zu dürfen. Spannung lag in der Luft. Die Frage, worüber ich vor einer so achtunggebietenden Zuhörerschaft sprechen sollte, ließ mich in dieser Nacht nicht schlafen.» [Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2012), 232]

 

Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

stille titelCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Ich möchte hellhörig werden für das ganz Leise in der Welt ‒ das Leise zwischen Katzenpfoten und Fußboden, die Stille im Schwertlilieninneren, das Schweigen ferner Berge, mein eigenes ruhiges Atmen beim Einschlafen.

Besonders bei Begegnungen mit Menschen möchte ich wach sein, wach für die leiseste Andeutung, dass sich vielleicht ein eisiges Schweigen danach sehnt, aufzutauen.

Zur Vorbereitung will ich heute immer wieder kurz innehalten und still werden.

In dir, DU großes Geheimnis, ist Ruhe.

Ich will alles Laute verklingen lassen und aus Deiner Tiefe Ruhe schöpfen. Amen.

[aus: «DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 39]

Stille schafft eine Atmosphäre, die Losgelöstheit begünstigt.

Wie der Lärm das Leben außerhalb des Klosters durchdringt, so ist das Leben des Mönches von Stille durchdrungen.

Stille schafft Raum um Dinge, Menschen und Ereignisse …

Stille hebt ihre Einzigartigkeit hervor und erlaubt uns, sie eins nach dem andern dankbar zu betrachten.

Unsere Übung, dafür Zeit zu finden, ist das Geheimnis der Muße.

Muße ist Ausdruck von Losgelöstheit im Hinblick auf die Zeit.

Die Muße der Mönche ist ja nicht das Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen, sondern die Tugend derer, die allem, was sie tun, so viel Zeit widmen, wie ihm gebührt.

Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, das die Grundlage dieses Trainings bildet, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist», wie T. S. Eliot es ausdrückt.[1]

In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der «Zeit, die nicht unsere Zeit ist» zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒ «jetzt und in der Stunde unseres Todes».

«Und die Todesstunde ist jeder Augenblick», in dem wir wirklich hinhorchen, ist «Augenblick in und außer der Zeit».[2]

Dankbares Hören beginnt damit, dass wir das Gehörte als Gabe erkennen.

Wenn Abendwind in den Linden rauscht, fällt uns das nicht schwer.

Oder wenn uns so etwas geschenkt wird wie das Erlebnis, das ich in Hongkong hatte. Da wohnte ich im Zentrum von Kowloon, einem Stadtteil von unvorstellbarer Bevölkerungsdichte. Zeitlich am ersten Morgen trat ich ans Fenster. Da umgab mich statt des erwarteten Straßenlärms der Jubel von zehntausend Singvögeln. Ganze Familien mögen in einem winzigen Raum der Wohnbauten zusammengedrängt hausen, irgendwo im zwanzigsten Stockwerk, doch vor dem Fenster hängen die Käfige der geliebten kleinen Sänger.

Was aber, wenn der Großstadtlärm uns wirklich umtost? Können wir das auch noch als Geschenk erleben?

Mir persönlich hilft es, wenn ich unangenehmen Geräuschen so lange wie möglich keinen Namen gebe.

Solange ich nur einfach hinhorche, ohne das Gehörte etwa Bremsenkreischen oder Sirenengeheul zu nennen, habe ich es nur mit einem reinen Sinneseindruck zu tun, der, ohne Interpretation, ganz für sich allein genommen, immerhin ‒ ich will nicht sagen angenehm, aber ‒ bemerkenswert ist. Das heißt, er ist meiner Aufmerksamkeit wert. Darin liegt aber schon eine Wertschätzung. Und diese lässt sich unbegrenzt weiterentwickeln.

Manchmal lässt sich ein unliebsames Geräusch sogar uminterpretieren.

In einem Kloster, das ich besuchte, trieb das Kreischen der Kreissäge beim Nachbarn eine der Schwestern buchstäblich die Wände hoch.

«Wie kann denn so ein Geräusch Gabe Gottes sein?»

Mein Vorschlag war: nur hinhorchen; nicht benennen.

Und in diesem Fall wirkte es.

«Ich hab's versucht», berichtete die Schwester nach ein paar Tagen, «und was ich da hörte, klang wie die Stimme eines Erzengels!»

Zwar verstehe ich mich nicht auf die Unterscheidung von Engelstimmen, aber ich glaube, mir würde schon die Stimme eines ganz gewöhnlichen Engels genügen.

Und, wenn wir's bedenken, ist nicht alles, was wir hören, Stimme des einen oder anderen Engels?

Alles, was wir hören, ist ja letztlich göttliche Botschaft.

Und Engel sind Boten Gottes.

Für arglose Ohren ist jeder Laut Geschenk.

Und für Herzen, die hören können, ist jedes Geschenk Botschaft.

Vom Prasseln des Feuers im offenen Kamin, vom Sommerregen vor der offenen Türe, vom Wind in den Laubkronen sagen wir «das spricht mich an». Recht verstanden, spricht aber jedes Geräusch zu uns, wenn wir uns nur ansprechen lassen.

Jeder Laut ist Botschaft von Unaussprechlichem.

Weil er Botschaft ist, sollen wir hinhorchen lernen.

Weil hier aber Unaussprechliches laut wird, sollen wir uns nicht mühen, die Botschaft in Worte zu übersetzen.

Was uns letztlich anspricht, ist das Wort jenseits aller Worte, das Wort, das so unerschöpflich ist, dass es immer neuen Ausdruck finden will ‒ wie die Liebe.

Die Botschaft in jedem uns geschenkten Laut ist Liebesbotschaft; einmalig, unübersetzbar, ganz persönlich.

Aber auch Stille bringt uns Botschaft.

Hat uns nicht schon oft Stille angesprochen?

Manchmal kommt es mir vor, dass der Augenblick der Stille nach dem Verstummen der Orgel alle Musik noch überträfe; jenes unvergleichliche Einatmen, nachdem das allerletzte Nachhallen im Domgewölbe ausgeatmet hat.

Und diese Stille spricht uns nicht nur an, diese Stille horcht.

Auf dem Höhepunkt, wenn wir ganz Ohr sind, horcht plötzlich Stille auf unsere Stille.

Nur einen Augenblick lang können wir dieser Begegnung standhalten.

Dann beginnt das Scharren von Schuhen in den Kirchenbänken.

Wo Menschen noch hellhörig sind für die Botschaft der Laute, da sind sie auch hellhörig für Stille.

Tief im Inneren Australiens lernte ich die Schwestern von St. Joseph kennen, die selber horchende Herzen haben und so zu Hütern dieser Hellhörigkeit unter einem Rest von Ureinwohnern wurden.

Der Stamm lebte noch ohne feste Behausungen im Umkreis von fünf großen Feuern, an denen die nackten Schläfer nachts Schutz vor der Wüstenkälte fanden. Nahe an diesen Lagerplatz hatte die Regierung ein Schulhaus hingestellt, in dem die Kinder hier aus den gleichen Lesebüchern lernen sollten, wie die Stadtkinder in Sydney oder Perth. Da übernahmen es diese verständigen Frauen, den Kulturschock abzufangen. Sie unterrichteten nicht im Schulhaus, sondern im Schatten einer Laube; und eigentlich nicht die Kinder, sondern die Mütter, die mit zur Schule kamen und das Gelernte dort gleich an ihre Kinder weitergaben. Wie still das alles vor sich ging; oft nur durch Bilder, durch Anschauen, durch Zeichnen. Und doch war diesen armen Menschen dabei immer noch zu viel Gerede. In der Pause, wenn Stadtkinder schreiend ins Freie stürmen, gingen diese Kinder schweigend hinaus. Ich kann sie noch vor mir sehen mit ihren großen braunen Augen, von langen Wimpern noch tiefer verdunkelt, wie sie aufatmeten in Stille nach so vielen Worten.

Sei es Wort oder Schweigen, worauf es ankommt, ist, dass wir uns ansprechen lassen von dem, was immer der Augenblick bringt.

Und oft bringt er Unerwartetes.

Nahe bei der Universitätsbibliothek in Berkeley ist ein Kanalgitter, unter dem es Tag und Nacht geheimnisvoll braust.

Wie viele der Studenten da stehenbleiben und ehrfürchtig lauschen, weiß ich nicht. Für mich aber ist das, sooft ich vorbeigehe, ein geradezu heiliger Ort.

Die ganze Musik der Welt ist in diesem Brausen. Wie es in einem altindischen Text heißt:

«Die Urmusik ist das Rauschen von Wasser.»

Ja, jeder gegenwärtige Augenblick ist Botschaft.

Allzuleicht können wir diese Botschaft versäumen, wenn wir nicht aufpassen.

Wenn wir uns nur freimachen vom Zwang, alles selbst leiten und unter Kontrolle halten zu müssen, wenn wir uns endlich wieder, wie Kinder, überraschen lassen, dann ist unser Überraschtsein schon der Anfang der Dankbarkeit.

Unserem dankbaren Hinhorchen öffnet sich dann in der Tiefe jeden Lautes abgründige Stille und im Herzen der Stille die Botschaft der Liebe.

In seinem Kommentar zum Hohenlied sagt es der Heilige Bernhard etwa so:

«Der ruhige Gott beruhigt alles. Und wer sich in Gottes Ruhe hinablässt, ruht.»

Wir haben das, glaube ich, alle erlebt, in Augenblicken, in denen wir einfach am Ende sind und wir einfach nicht mehr weiter können.

Dann tritt so etwas wie eine ganz große Stille ein, und wenn wir uns der hingeben, wenn wir uns nicht ängstlich zurückziehen, dann wendet sich unsere Angst in Vertrauen:

Nicht, als ob wir jetzt plötzlich festen Boden unter den Füßen hätten, aber es ist ein Vertrauen, dass wir auch weitergehen können, ohne festen Boden unter den Füßen zu haben. Dass es einfach weitergeht. Wir können uns diesem Fluss hingeben, und es führt uns weiter.

Es gibt diese Situationen, dass wir uns plötzlich berührt, angerührt und angesprochen fühlen:

wenn wir eine schwere Nacht überstehen oder am Krankenbett.

Das kann man so verstehen, dass Gott, dieses geheimnisvolle DU, uns anspricht.

Aber es ist nicht ein Ansprechen mit Worten.

Man könnte paradox sagen, es ist eine unendliche Stille, eine geheimnisvolle Stille, die zu uns spricht.

Nicht in Worten, aber verständlich.

Wir können verstehen.

Und dieses Verstehen äußert sich in einer Antwort, die wir geben, nicht in Worten, sondern in der Tat.

Beim Gebet gehören diese Bereiche zusammen: unendliche Stille, die uns anspricht, wie ein Wort. Und die Antwort, die wir selber geben, in der Tat.

Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als «tranquillitas ordinis», die Stille der Ordnung.

Ordnung ist untrennbar von Stille, aber diese Stille ist dynamisch. Die Ruhe der Ordnung ist eine dynamische Ruhe, es ist die Stille einer unbewegt brennenden Flamme, eines Rades, das sich so schnell dreht, dass es still zu stehen scheint.

Stille in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umwelt, sondern vor allem eine innere Haltung, die Haltung des Hinhorchens.[3]

Jeder von uns ist eingeladen, dieses Geschenk der Stille allen anderen weiterzuschenken.

Wir wollen einander Stille schenken.

Lasst uns hier und jetzt damit beginnen.

Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.

Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.

[AH 1-2) 18f., 61-65, 31; 3-5) 18f., 60-64, 30f. und ergänzt mit dem Film Wort & Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), transkribiert von Werner Binder †. Die Transkription erschien im Buch Staunen und Dankbarkeit (1996), 138-147 unter dem Titel: «Teilnahme am göttlichen Leben»]

[Ergänzend:

1. Weihnachtsbrief (2020); gelesen von Bettina Buchholz auch als Video-Film
«Wenn die Stille dieses Jahres weltweiten Leides uns bereit gemacht hat, tief hinzuhorchen, dann wird jedes unsrer Worte, das aus dem Schweigen kommt, ein ‹Ja› sein zu gegenseitiger Zugehörigkeit. Es wird, wie die Antiphon singt, ein «allmächtiges Wort» werden, denn Liebe vermag alles.»

2. Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011)
Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch:
(13:52) Wie wir Stille finden können, wenn Lärm und Geräusche uns stören / (17:47) Die Tiefe des menschlichen Herzens, diese Tiefe liegt hinter allem: diese sehr tiefe Traurigkeit, die gehört dazu, und das Heimweh der Menschen liegt am Grund von allem Lärm

3. Credo - ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche Freiburg (DE):
(08:24) Empfangen – weiterschenken – die Stille / (09:13) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› (Rilke)

4. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
3. Mit dem Herzen horchen — Die Themen des Gesprächs:
Die Stille nicht brechen: Musik und Alltag aus der Kraft der Stille (Paul an der Panflöte)]

______________________

[1] «And under the oppression oft he silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future …»

«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Mißt Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als die Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen …»

T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», I, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 46f.]

«Die Salvages sind eine Felsengruppe vor Cape Ann (Massachusetts), die nur bei Ebbe zu sehen ist und in deren Nähe Eliot in seiner Jugend ‹riskante Segeltörns› unternahm. Die Erfahrung der rauen See, der Urgewalt des Meeres, ein im Zusammenhang mit Eliots Dichtung treffendes Vokabular, schlägt sich in The Dry Salvages entsprechend nieder. Da wird die auf dem Wasser schaukelnde Boje zur Schicksalsglocke, eine sorgenvolle akustische Begleitung für die implizite Frage: Kehren die Seeleute wieder nach Hause zurück?» [Mario Osterland zu T. S. Eliot]

[2] «Pastimes and drugs, and features oft he press:
And always will be, some oft hem especially
When there is distress of nations and perplexity
Whether on the shores of Asia, or in the Edgware Road.
Men’s curiosity searches past and future
And clings to that dimension. But to apprehend
The point of intersection of the timeless
With time, is an occupation for the saint ‒
No occupation either, but something given
And taken, in a lifetime’s death in love,
Ardour and selflessness and self-surrender.
For most of us, there ist only the unattended
Moment, the moment in  and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
                                            sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.»

«Zeitvertreib, Drogen, Zeitungsthemen:
Und werden es bleiben, und zwar ganz besonders
Wenn die Nationen in Not sind und Wirren
Gleich ob an Asiens Küsten oder der Edgware Road.
Die Neugier des Menschen sucht vorwärts und rückwärts
Und hält sich an diese Kategorien. Aber die Stelle
Zu erkennen, wo die Zeit das Zeitlose
Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒
Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird
Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens,
Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.
Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
                                               Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.»

T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]

[3] «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Film Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]

 

Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Ich staune in die große Stille Deines Abgrunds hinein; ich horche bewundernd hin auf ein Wort, das aus der Stille aufsteigt, und versuche, im Alltag danach zu leben.

… Je mehr ich mich bemühe, still zu werden, umso geschwätziger schnattern meine Gedanken. Ich sollte mich wohl gar nicht bemühen, sondern mich mühelos tiefer sinken lassen ‒ von der lauten Oberfläche in die Stille tief in meinem Inneren.

Mein Herzensabgrund bist ja DU.

Wie Wasser danach strebt, sich wieder tief unten zu sammeln, von wo es herkommt, so sehne ich mich nach Sammlung in dir.

Schenk DU mir heute Augenblicke spontaner Sammlung.

Wenn ich etwa selbstvergessen, gedankenlos Wolken nachträume ‒ in dich versunken, DU großes Geheimnis. Amen.

[aus: «DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen» (2019), 40, 61]

Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.

Er findet Gott «die Stelle welche heilt»[1], während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.

Könnten wir nur all diese Aufregung in uns und um uns, den Lärm, der uns ablenkt, beruhigen.

In der Stille könnten tausend verstreute Gedanken in einem einzigen zusammengefasst werden.
[FN 1) 30; 2-5) 32; 6) 34 im Kp. «Herz und Sinn»]

«Mein Herz wird mir so stille und wird nicht untergehn.» (Joseph von Eichendorff)

Je mehr der nervzerrüttende Lärm unserer Städte in unseren Ohren gellt, umso mehr spüren wir die Lebensnotwendigkeit der Stille.

Früher oder später dämmert uns, dass es nicht nur äußere, sondern vor allem innere Stille ist, nach der wir uns sehnen.

Mönche des Ostens wie des Westens haben sich seit Jahrhunderten als Gärtner der Stille bewährt ‒ haben ihren Alltag zu einem Garten der Stille gemacht, und uns in ihren Schriften beides hinterlassen, Früchte der Stille und Anleitungen zum Stillwerden.

Während die Zahl der Mönche in vielen Klöstern heute abnimmt, nimmt die Zahl der Menschen, die ihr Innenleben vom mönchischen Geist befruchten lassen, beständig zu. Gottsuche ist die treibende Kraft im Menschenherzen ‒ nicht weniger bei denen, die das Wort «Gott» (oft aus guten Gründen) vermeiden. Und wer in sich die göttliche Lebensmitte aufspürt, findet Stillung.

Gerhard Teerstegen, ein Dichter, der inmitten des weltlichen Alltags mönchische Stille verwirklichte, fasste das Herzensanliegen aller, die sich gleich ihm darum bemühen, in eine einzige Zeile zusammen:

«Gott ist in der Mitte! Alles in uns schweige.»[2]

Über Stille darf zuletzt nur Dichtung reden. Nur die Worte der Dichter brechen das Schweigen nicht, sondern lassen es vielmehr zu Wort kommen.

Unsere westliche Kultur wird vom Wort beherrscht. Wir können uns in eine Kultur des Schweigens und der Stille kaum hineindenken.

Oft sind wir wie vom Wort besessen, voller Angst vor all dem, was sich nicht in Worte fassen lässt.

Und doch ahnen wir, dass das «erlösende Wort» aus dem Schweigen kommen muss.

Ja, wir ahnen sogar, dass Wort und Schweigen untrennbar zusammengehören, dass an echten Worten die Stille das Wesentliche ist.

Wir haben keine Schwierigkeit, zwischen einem bloßen Wortwechsel und einem Gespräch zu unterscheiden.

Was an einem echten Gespräch wichtiger ist als die Worte, ist die Bereitschaft, uns von den Worten in jene Stille führen zu lassen, aus der sie auf uns zukommen.

Darum münden die tiefsten Gespräche in gemeinsames Schweigen.

Auch jedem guten Gedicht merkt man es an, dass es aus der Stille stammt und in die Stille zurückführen will.

Wenn auch die deutsche Dichtung eindeutig Dichtung des Wortes ist, so hat sie doch Höhepunkte gerade dort erreicht, wo Worte noch sanft am Unsagbaren ausgehen und wo dann nur noch Stille übrigbleibt.

So wenn Eichendorff singt:

«Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.»

Oder Ricarda Huch:

«Tief in den Himmel verklingt
traurig der letzte Stern.
Noch eine Nachtigall singt
fern ‒ fern.»

Und wer denkt da nicht auch an Goethes «Über allen Gipfeln ist Ruh' ...»?

Es ist kein Zufall, dass wir eines der gelungensten Gedichte zum Thema Stille im ersten Teil von Rilkes «Stunden-Buch» finden, im Buch «Vom mönchischen Leben».

Ist nicht Stille der Lebensatem mönchischen Lebens?

Und wetterleuchtet nicht in jedem Menschenherzen manchmal die Sehnsucht nach tiefem Atemholen in Stille. Diese Sehnsucht wird in Rilkes Gedicht zum Gebet.

«Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte
und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ‒

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.»

Die erste Strophe gipfelt in dem Wort «Wachen».

Nur Stille ermöglicht uns ein solches Wachen, das weit mehr ist als bloßes Wachsein.

Wachen ist Hellhörigkeit, ein Hinhorchen, für das die Stille nicht nur Voraussetzung ist, sondern Inhalt.

Wer wirklich wacht, horcht auf die Stille selbst ‒ und schaudert.

«Wir hören’s nicht, wenn Gottes Weise summt.
Wir schaudern erst, wenn sie verstummt»,

sagt Hans Carossa.

Wir schaudern, weil alle, die auf Stille horchen, Gott hören. Wir schaudern, weil alle, die in Stille eintauchen, Gott angehören.

Da solches Angehören immer gegenseitig ist, kann Rilke sich danach sehnen, in der Stille Gott zu «besitzen», wenn auch «nur ein Lächeln lang».

Wie aber sollen wir das überschwängliche Bild verstehen vom «tausendfachen Gedanken», mit dem der Dichter das göttliche DU «bis an den Rand» denken möchte?

In der Glut eines so tausendfach übersteigerten Gedankens schmilzt das Begreifen und wird zu Ergriffenheit.

«Wachen» war das Endwort der ersten Strophe; die zweite Strophe steigert sich zum Wort «Dank»:

Vollwaches Denken wird zum Danken.

Wer kennt nicht diesen Wendepunkt von denken zu danken aus eigener Erfahrung?

Wir müssen nur an einen jener Augenblicke denken, die wir alle manchmal erleben, obwohl wir sie nur den Mystikern zutrauen. Ganz unerwartet werden wir da plötzlich «wach», fallen aus Zeit und Raum in eine unauslotbare Stille hinein und fühlen überwältigende Dankbarkeit in uns aufsteigen.

Ganz gleich wo uns das widerfährt ‒ auf einem Berggipfel, in einer Kathedrale, oder mitten im Verkehrsstau ‒ das ist ein mystisches Erlebnis.

Abraham Maslow erforschte solche «peak experiences», wie er sie nannte, vom Standpunkt der Psychologie. Er fand, dass solche Erfahrungen bei «ganz gewöhnlichen Menschen» häufig sind und sich in keiner Weise von denen der «Mystiker» unterscheiden.

Ein Unterschied liegt vielmehr darin, dass die meisten von uns weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, und bald wieder «das Zufällige und Ungefähre» laut werden lassen, während die Mystiker aus der Stille leben.

Es steht auch uns frei das zu tun, und so unser Leben im Bleibenden zu verankern.

Der Schlüssel dazu ist dankbares Leben.

Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten oder sonst auf sinnliche Weise wahrnehmen, ist in diesem Sinne Wort, das uns aus der Stille des göttlichen Urgrundes zugesprochen wird.

Wir selber sind in diesem Sinne Wort ‒ «ausgesprochen und zugleich angesprochen» (worin Ferdinand Ebner tiefsinnig unsere menschliche Sonderstellung sieht).

All die Vielfalt rund um uns und in uns ist letztlich ein einziges Wort, das auf immer neue Weise «Ja» sagt, und so allem Dasein Wirklichkeit gibt.

Wenn wir wach darauf hinhorchen, führt uns dieses Wort zurück in die Stille, aus der es stammt. Uns dahin führen zu lassen, heißt verstehen.

Es geht bei diesem Verstehen um weit mehr als intellektuelles Begreifen; es geht um ein Einstehen für das, worauf wir uns verstehend einlassen.

Uns vom Wort führen lassen, heißt verantwortlich handeln.

Im Alltag bedeutet das, dass alle, die «durch den Geist Gottes geführt werden», mit kindlicher Unbefangenheit in jeder Lage die rechte Antwort finden können in Wort und Tat.

In der weitesten Sicht bedeutet es Teilnahme an dem göttlichen Reigentanz, den die christliche Vorstellungskraft aus Johannes 16,28 herausliest, wo der Logos spricht:

«Ausgegangen bin ich vom Vater und gekommen bin ich in die Welt; ich verlasse wieder die Welt und gehe zum Vater.»

Aus dem Schweigen kommend, kehrt das Wort durch liebendes Verstehen ins Schweigen zurück.

Mitzutanzen in diesem Reigen ist die höchste Erfüllung dessen, was wir «Leben aus der Stille» nennen.

Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.

Wir können «mitten in der Welt» all das, was wir tun, bestimmen lassen von jener Stille, die in der monastischen Tradition zu Hause ist.

Dazu bedarf es nicht einmal der äußeren Stille, obwohl diese eine große Hilfe sein kann. Wir müssen nur dankbar leben lernen.

Im trinitarischen Rundtanz dürfen wir den Kreislauf der Dankbarkeit sehen. Wir erleben den Urgrund der Wirklichkeit als den Ursprung all dessen, was «es gibt».

Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, zeigt sich uns immer als Gegebenheit ‒ also als Gabe.

Unser eigenes Leben ist uns zugleich gegeben und aufgegeben.

Die Aufgabe, die in dieser Gabe liegt, heißt Leben in Dankbarkeit.

Und worin besteht das?

Einfach darin, dass wir uns dem Leben stellen.

Dankbarkeit ist still und einfallsreich; sie macht etwas aus jeder Gegebenheit. Meistens ist uns Gelegenheit gegeben, uns an etwas zu freuen. Leider sind wir oft nicht wach genug, das wahrzunehmen.

Aber in jeder gegebenen Lage, sei sie noch so schwierig, wird uns Gelegenheit geschenkt, uns schöpferisch ‒ und dadurch dankbar ‒ zu erweisen. Wir müssen uns nur etwas einfallen lassen. Und jeder Einfall ist selber wieder Geschenk.

Indem wir so Schritt für Schritt, aus unserem Leben etwas machen, steigt es zum Ursprung zurück als Dank.

In dieser gegebenen Welt dankbar leben, heißt Sinn finden.

Und in dem Maß, in dem wir Sinn finden, werden wir still. Dann fallen wir nicht mehr, wie Hölderlins leidende Menschen

«blindlings von einer
Stunde zur andern,
wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen,
jahrlang ins Ungewisse hinab.»
[3]

Der Kreislauf in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen:

«… und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.»
[4]

[«Leben aus der Stille», in: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159; Text entnommen dem Geleitwort und Epilog von Bruder David: Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille im Buch: Buch der Ruhe und der Stille (2005), 7-8, 179-184, siehe auch: Alles in uns schweige (2013) und Finde die Stille (2010)]

[Ergänzend:

1.1. Im Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975) kommt das Schweigen zu Wort und führt uns wieder zum Schweigen, dem «stillen Punkt der kreisenden Welt.» (T. S. Eliot, Four Quartets: Burnt Norton, II):

(24:38-27:51) «Die Zeit, um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.»

1.2. Im Film Wort und Stille (2019) spricht Bruder David über die Weitergabe des Schweigens im Buddhismus.

2. Audios zu Gedichten:

           «Immer wieder von uns aufgerissen» (Rilke, Die Sonette 2. Teil, XVI), in:

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen Goldegger Dialoge (1992):
(00:28) Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg

           «Wenn es nur einmal so ganz stille wäre» (Rilke, Das Stundenbuch), in:

Fragen, die uns bewegen (2005):
(37:46) Vortrag

Wie das Göttliche in uns wächst (2005):
(05:14) Audio: «Was fördert gesundes spirituelles Wachstum» (siehe auch Mitschrift)

           «… und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.» (Conrad Ferdinand Meyer, Der römische Brunnen), in:

Lebendige Spiritualität (2015)
(55:30) Verstehen durch Tun

Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag

3. STILLE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 157f.:

«Stille hängt nicht davon ab, ob die Umgebung ruhig oder lärmerfüllt ist. Das wird verständlicher, wenn wir die Vorstellung von Lärm und Ruhe durch den Gegensatz Tumult und Gelassenheit ersetzen. Stille ist eine heiter gelöste, gelassene Haltung des Herzens.

Innere Stille, und um die geht es hier, kann sich auf zweifache Weise bekunden: durch Schweigen und Wort ‒ durch ein Wort, das nicht das Schweigen bricht, sondern ein Wort, in welchem das Schweigen zu Wort kommt.

In unsrem ganzen Alltag sollte unser Schweigen sowie alles, was wir sagen, aus der Stille kommen. Dies lässt sich üben und Menschen, denen es im täglichen Leben gelingt, strahlen Frieden aus.

Bisher haben wir von Wort und Schweigen gesprochen, die aus unsrer eigenen Stille aufsteigen. Aber auch unsre Antwort auf ein Wort, das wir hören, wird nur dann durch gehorsames Tun zum Verstehen führen, wenn sie aus der Stille kommt.»

4. STILLE, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe am Ende des Buches:

«Es gibt eine negative und eine positive Bedeutung von Stille. Negativ aufgefasst bedeutet Stille die Abwesenheit von Geräusch oder Wort. Auf diesen Seiten beschäftigen wir uns mit der positiven Bedeutung. Stille ist die Matrix, aus der heraus ein Wort geboren wird, das Heim, zu dem es über das Verstehen zurückkehrt.

Ein Wort (im Gegensatz zur Unterhaltung) bricht die Stille nicht.

Im echten Wort kommt die Stille zu Wort.

Im wirklichen Verstehen kehrt das Wort heim in die Stille.

Für jene, die lediglich die Welt der Worte kennen, ist Stille bloße Leere.

Unser stilles Herz aber kennt das Paradox: Die Leere der Stille ist unerschöpflich reich; alle Worte dieser Welt sind nur ein Tropfen ihrer Fülle.»

5. SCHWEIGEN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 155

«Schweigen ist eine der beiden Weisen, auf welche Stille sich bekundet. Die zweite Weise ist das Wort. Im Wort drückt sich die Stille ‒ sie drückt sich aus, geht aus sich heraus, indem sie ‹zu Wort kommt›. Im Schweigen bleibt die Stille bei sich selbst. Ein Bild kann das veranschaulichen. Ein Gong, den wir betrachten, bleibt bei sich; ein Gong, den wir anschlagen, ‹äußert sich› ‒ sein innerstes Wesen wird äußerlich offenbar. Um Stille in ihrem Wesen zu erfahren, müssen wir mit ihr einswerden, dadurch, dass wir uns ins Schweigen versenken, uns ins Schweigen hinablassen. Schweigen kann zu einem wirkungsvollen Mittel werden, um im Tumult des Alltags immer wieder stille Gelassenheit zu finden, indem wir Schweigepausen in unsren Tagesablauf einbauen.»

6. Uns wehrlos der Stille aussetzen - COVID 19 (2020):

«Nur was in der Stille wurzelt kann Frucht tragen.»

7. Führung aus der Stille ‒ Wissen und Weisheit für eine Welt im Wandel: Waldzell Dialog (2010)

«Wie man einem Weg nachgeht, wenn man sich führen lässt. So müssen wir der Stille nach-denken. Denn wenn man der Sprache nach-denkt, führt sie immer in die Stille.»

8. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:

«Schweigen und Wort gehören im tiefsten Sinn zusammen. Das kann man auf vielen verschiedenen Ebenen zeigen. Die beiden gehören zunächst einmal zusammen, so wie Licht und Dunkelheit zusammengehören. Ohne Dunkelheit ist das Licht nicht Licht, und ohne Schweigen ist das Wort nicht Wort. Ohne Schweigen ist das Wort schon deshalb nicht Wort, weil man gar nicht sagen könnte, wo ein Wort beginnt und das andere Wort endet. Aber das ist noch eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise.

Es geht schon etwas tiefer, wenn wir bedenken, dass wir in der Musik zum Beispiel nicht nur die Töne hören, sondern auch die Pausen. (Musik gehört ja auch zu dem, was wir hier Wort nennen in diesem umfassenden Sinn.)

Wir bedenken es nur meistens nicht, aber wenn alle Pfeifen einer Orgel zugleich tönen, dann gibt das ebenso wenig Musik, wie wenn sie alle zugleich still sind. Die Musik besteht eben darin, dass jetzt einige Pfeifen spielen und dann einige andere. Und so hören wir nicht nur die Pfeifen, die spielen, sondern auch die, die still sind. Wir hören die Stille.» (40f.)

«Auch in unserer eigenen Tradition gehen wir ja über das Wort hinaus, zum Beispiel im Gebet der Stille. Für uns Christen ist das Gebet der Stille unsere eigene Buddhistische Form des Gebetes.» (43)

«Alle Zen-Geschichten wollen uns dorthin führen, wo das Wort aufhört und das Schweigen beginnt. Und so ist auch die Pointe dieser Geschichten nur ein Hinweis auf das Schweigen, aus dem das Wort entspringt und in das es mündet. In diesem Fall ist die Antwort, mit der der Novize dann kommt und dem Meister zeigt, dass er eingesehen hat:

‹Ich habe das Schweigen gehört.›

Paradox ‒ aber die Antwort lässt sich eben nur in einem Paradox ausdrücken, sonst würden wir uns ja noch im Bereich der Logik bewegen. Was aber über den Bereich der Logik hinausgeht, können wir im Bereich des Wortes nur in einem Paradox ausdrücken:

‹Ich habe das Schweigen gehört.›» (44)]

_____________________

[1] «Immer wieder von uns aufgerissen,
ist der Gott die Stelle, welche heilt.
Wir sind Scharfe, denn wir wollen wissen,
aber er ist heiter und verteilt.

Selbst die reine, die geweihte Spende
nimmt er anders nicht in seine Welt,
als indem er sich dem freien Ende
unbewegt entgegenstellt.

Nur der Tote trinkt
aus der hier von uns gehörten Quelle,
wenn der Gott ihm schweigend winkt, dem Toten.

Uns wird nur das Lärmen angeboten.
Und das Lamm erbittet seine Schelle
aus dem stilleren Instinkt.»

(Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI)

[2] Gerhard Tersteegen im Kirchenlied: «Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.»; siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS  TEIL I,, 64

[3] Friedrich Hölderlin: «Hyperions Schicksalslied»

[4] Conrad Ferdinand Meyer: «Der römische Brunnen»

 

Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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Gebet im Unterschied zu Gebeten

Der Rosenkranz, der «Engel des Herrn» und das Jesusgebet ‒ das sind einige der Gebete, die ich am nährendsten finde. Es sind bei Weitem nicht die einzigen, sondern eben nur diejenigen, die sich am leichtesten beschreiben lassen. Wie könnte ich jemals richtig damit anfangen, Ihnen zu erklären, was mir die monastischen Stundengebete bedeuten? …

Aber wir sind dann immer noch im Bereich des formellen Gebets und das formelle Gebet ist wie ein kleiner Eimer, aus dem ein Kleinkind immer und immer wieder ein bisschen etwas aus dem Meer des Gebets herausschöpft und ausgießt.

Der schwarze Humus, in dem das formelle Gebet gedeiht, ist die informelle Gebetshaltung. Die (formellen) Gebete lassen sich vom (informellen) Gebet zwar nicht trennen, aber wir müssen zwischen beiden unterscheiden und uns für einen Augenblick auf das Gebet als innere Einstellung konzentrieren, statt es als äußerliche Gebetsform zu betrachten.

Wenn ich das tue, stelle ich fest, dass ich in drei Gebetshaltungen hinein- und wieder herausgerate, die derart verschieden voneinander sind, dass ich sie als völlig unterschiedliche Gebetswelten empfinde.

«Wort» ‒ der Schlüssel zum Gebet «Vom Worte Gottes leben»

Meinen Schlüssel zur ersten dieser inneren Welten nenne ich «Wort».

Damit meine ich nicht ein bestimmtes Wort oder bestimmte Worte, sondern die Entdeckung, dass jedes Ding, jeder Mensch und jeder Umstand, ein von Gott an mich gerichtetes Wort ist.

Dessen Botschaft begreife ich durchaus nicht immer, aber ich weiß, dass ich sie erfasse, wenn ich mit den Ohren meines Herzens wirklich intensiv darauf höre.

Der heilige Benedikt bezeichnete dieses tiefe, bereitwillige Hören als «Gehorsam».

Wir verstehen unter Gehorsam oft nur das Gefügigsein gegenüber einem Befehl. Aber damit würden wir Gott zu einer Art von überdrehtem Feldwebel machen, der ständig seine Kommandos brüllt. Meiner Erfahrung nach erteilt Gott die meiste Zeit keine Befehle.

Gott singt eher und ich antworte ihm mit Singen.

Das Singen, das ich meine, kann so jubelnd sein wie das Rot einer von Gott gemachten Tomate oder das Sirren eines Drachenfliegers oder das Plantschen von Kindern in einem Becken.

Das Singen ist die fröhliche Antwort meines Herzens.

Aber Gottes Singen kann auch so schwer wie der Duft der Lilien in einem Leichenhaus sein, so schwer wie die Nachricht von der Trauer eines Freundes.

Gottes Singen kann so leicht sein wie Harfenmusik oder ein Frühjahrsausflug, so traurig wie das Heulen eines Nachtzugs oder der Inhalt der Abendnachrichten.

Es kann fröhlich, bezaubernd, herausfordernd, amüsierend sein.

Wenn wir aufmerksam genug hinhören, können wir in allem, was wir erfahren, Gott singen hören.

Unser Herz ist ein hochempfindlicher Empfänger; es kann mittels aller unserer Sinne horchen.

Was immer wir hören, aber auch alles, was wir sehen, schmecken, berühren oder riechen, vibriert im Tiefsten im Einklang mit Gottes Lied.

Wenn man in dieses Lied mit Dankbarkeit einstimmt, nenne ich das ein Zurücksingen.

Diese Gebetshaltung hat allen meinen Sinnen und meinem Herzen schon viel Freude gemacht. [Auf dem Weg der Stille (2016), 14-16]

Die biblische Dimension im Gebet «Vom Worte Gottes leben»

Wo das Wort so zentral ist, wird der Antwort eine große Bedeutung zugemessen:

Von daher wird in der abendländischen Tradition der Spiritualität die Antwort so betont. Das «Leben mit dem Wort» stellt eine ganze Welt des Gebets dar, das typischerweise dem biblischen Glauben an Gott entspringt, der spricht.

Und die Aufgabe, «mit dem Wort zu leben», impliziert viel mehr als bloß die Vorstellung, dass Gott sein Wort im Sinn eines Befehls spricht, den der gläubige Mensch dann ausführt.

Die volle religiöse Dimension impliziert, dass wir «von jedem Wort leben, das aus Gottes Mund kommt».

Aber wir sollten hier das Wort auch in seinem weitesten Sinn verstehen.

Da alles und jeder Mensch und jeder Umstand von dem Gott, der spricht, stammen, ist die ganze Welt Wort, von dem wir leben können.

Wir brauchen nur zu «kosten und sehen, wie gut Gott ist».

Das tun wir mit allen unseren Sinnen.

Mit allem, was wir schmecken oder berühren, riechen, hören oder sehen, kann Gottes Liebe uns nähren.

Denn das eine erschaffende und erlösende Wort[1] wird uns immer wieder auf neue Weisen zugesprochen.

Gott, der die Liebe ist, hat in alle Ewigkeit nichts anderes zu sagen als «Ich liebe dich!»

Gott sagt das auf immer neue Weisen durch alles, was ins Sein kommt. Wir aber «essen das alles auf»; oder wie wir von einem Buch sagen: «Ich habe es geradezu verschlungen, von Anfang bis Ende!»

Wir assimilieren diese Nahrung und sie wird unser Leben.

Wir leben aus ihrer Kraft. Wir werden Wort. [Auf dem Weg der Stille (2016), 32f.]

Schweigen ‒ der Schlüssel zum Gebet der Stille

Eine vollkommen andere innere Welt des Gebets, in der ich mich auch daheim fühle, ist die, zu der das Schweigen die Tür öffnet ‒ das nicht nur von den Ohren wahrgenommene Schweigen, sondern auch die Stille des Herzens, das lichtvolle innere Stillsein, das der Stille eines windstillen Tages mitten im Winter gleicht.

Dieses Schweigen glänzt wie jungfräulicher Schnee im Sonnenlicht.

Das ist dann wie an Tagen, an die ich mich noch aus meiner Kindheit in den österreichischen Alpen erinnere.

Oder es ist wie das Schweigen zwischen einem aufzuckenden Blitz und dem auf ihn folgenden Donnergrollen, also in der kurzen Zeit, in der man den Atem anhält.

Auf einer Insel in Maine in Neuengland fand ich einmal an der Granitküste kleine Gezeitentümpel, in denen das Wasser so still und klar stand, dass ich auf ihrem Grund die feinen, wie festliche Wimpel wehenden Fasern von Seeanemonen sehen konnte.

Noch viel durchsichtiger ist der innere Raum, den das Schweigen erschließt.

Den Schlüssel dazu finde ich nicht immer, aber wenn, dann trete ich einfach ein.

Schon das bloße Darinsein ist Gebet. [Auf dem Weg der Stille (2016), 16f.]

Die buddhistische Dimension im «Gebet der Stille»

Die Betonung des Wortes ist in der christlichen Spiritualität sehr stark. Deswegen sind sich sogar manche gläubige Christen kaum dessen bewusst, dass es innerhalb ihrer eigenen Tradition auch noch andere Gebetswelten zu erkunden gibt.

Eine von ihnen ist als das «Schweigegebet» bekannt.

Dabei wird das Schweigen selbst für uns zum Gebet.

C. S. Lewis war im Einklang mit der altchristlichen Tradition, als er von Gott als einem ‹Abgrund des Schweigens› sprach, in den hinein wir immer und immer wieder unser ganzes Denken werfen können und nie ein Echo zurückkommen hören werden.

Aber dieser schweigende Abgrund ist paradoxerweise zugleich auch der göttliche Schoß, aus dem das ewige Wort hervorkommt.

Ein frühchristliches Sprichwort bringt das so zum Ausdruck:

«Wer Gottes Wort zu hören vermag, kann auch Gottes Schweigen hören.»

Beides ist untrennbar verbunden.

Heute gibt es immer mehr Christen, die von sich aus das Schweigegebet entdecken. Zuweilen können sie sich ihren Hunger nach Schweigen gar nicht richtig erklären, diesen tiefen Wunsch danach, sich einfach in die stille Tiefe Gottes hineinsinken zu lassen.

Sie sind sich gar nicht dessen bewusst, dass sie von allein ihren Weg in einen uralten, zeitlos gültigen Bereich des christlichen Gebets gefunden haben.

Sie würden sich noch mehr wundern, wenn sie erfahren würden, dass sich dieser Bereich tatsächlich als die buddhistische Dimension der biblischen Tradition bezeichnen lässt. Dabei sind das Wort und das Schweigen, wie bereits erwähnt, untrennbar miteinander verbunden. [Auf dem Weg der Stille (2016), 33f.]

Verstehen im Tun ‒ der Schlüssel zum Gebet Kontemplation im Handeln

Der Schlüssel zu einer dritten Innenwelt ist das Tun, das liebevolle Tun.

Der Unterschied zwischen dem Gebet des Tätigseins, und diesem Schweigen oder Wort ist tatsächlich riesig.

Hier bin ich mit Gott nicht durch Hören und Antworten und auch nicht durch Eintauchen ins Schweigen in Kontakt, sondern durch Tätigsein.

Alles, was ich mit Liebe zu tun vermag, kann zum Gebet des Tätigseins werden.

Es ist zudem gar nicht notwendig, dass ich während der Arbeit oder beim Spielen an Gott denke. Zuweilen dürfte das sowieso kaum möglich sein.

Wenn ich zum Beispiel ein Manuskript korrigiere, ist es besser, ich konzentriere mich ganz auf den Text statt auf Gott. Wäre mein Geist zwischen beidem hin und her gerissen, so würden mir die Druckfehler wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz schlüpfen. Gott wird genau in der liebevollen Aufmerksamkeit anwesend sein, die ich der mir anvertrauten Arbeit zuwende.

Indem ich mich voll und liebevoll dieser Arbeit widme, gebe ich mich voll und ganz Gott hin.

Das geschieht nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Spiel, etwa wenn ich Vögel beobachte oder einen guten Film ansehe.

Wenn ich mich in Gott darüber freue, wird sich bestimmt auch Gott in mir darüber freuen.

Macht nicht diese Kommunion, diese innige Verbindung das Wesen des Gebets aus? [Auf dem Weg der Stille (2016), 17f.]

Die hinduistische Dimension im Gebet «Kontemplation im Handeln»

Genau wie man das Stillegebet als die buddhistische Dimension der christlichen Spiritualität bezeichnen kann, so lässt sich die Kontemplation im Handeln als deren hinduistische Dimension bezeichnen.

Zugegeben, dies alles stelle ich aus meiner eigenen Sicht vor, die christlich ist. Aber welche andere Wahl hätte ich denn?

Würde ich versuchen, völlig von meiner eigenen religiösen Sinnsuche abzusehen, so würde ich die Berührung mit genau der Wirklichkeit verlieren, die ich genauer erkunden möchte.

Ich wäre dann wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen und genauso wenig Freude, Leben oder Religion.

Es ist nichts Falsches daran, wenn man vom Inneren einer Tradition her spricht, solange man nicht seine eigene Sichtweise verabsolutiert, sondern diese in ihrer Beziehung zu allen anderen sieht. [Auf dem Weg der Stille (2016), 39f.]

[Ergänzend:

1. Film: Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), sowie die Transkription von Werner Binder †:

«Beten ist wie in einen Raum eintreten

«Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.»

2. Audios:

2.1. Audio-Vortrag Fragen in Wendezeiten (2010)
Fragerunde
(16:10) Drei Welten des Gebetes: Das Gebet der Stille – ‚Vom Wort Gottes leben‘ – ‚Contemplatio in actione

2.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 9f.:

(48:28) «Und wir haben in unserer westlichen Tradition, diese drei Wege, uns mit dem Göttlichen auseinanderzusetzen, in den drei großen Welten des Gebetes.

Da gibt es das Gebet der Stille:
Da lassen wir uns einfach nur hinab, in die Tiefe, in die Tiefe des Schweigens.
Das ist unsere westliche Art des Buddhismus. Denn im Buddhismus geht alles um das Schweigen. Wir können uns das schwer vorstellen, aber wer Buddhismus studiert, findet, dass im Buddhismus das Schweigen so wichtig ist wie bei uns das Wort.

(49:14) Und dann haben wir die ‹Amen-Traditionen› das Judentum, das Christentum und den Islam. Ich nenne sie ‹Amen-Traditionen›, weil die das Wort ‹Amen› alle gemeinsam haben.
Das ist sehr wichtig, denn Amen ist die Antwort auf die ‹Amunah› Gottes, und die ‹Amunah› Gottes ist die Verlässlichkeit. Amen ist der letzte tiefste Ausdruck des Glaubens:
‹Wir verlassen uns› ‒schön ausgedrückt im Deutschen ‒, ‹auf die Verlässlichkeit Gottes›, auf die ‹Amunah›.
Das Gebet, das für diese Traditionen gilt, ist: ‹Vom Worte Gottes leben›.

Jedes Wort Gottes ist lebensspendend.
Alles, was es gibt, ist Wort Gottes.
Und jeder von uns ist ein Wort Gottes, ein ganz einzigartiges Wort Gottes. Und wir unterscheiden uns von den anderen Worten Gottes dadurch, dass wir erst das Wort Gottes werden müssen. Durch unsere eigene Hingabe.
Ein Hund spricht immer gütig, liebend ein vollkommenes Wort Gottes.
Derjenige, der den Hund an der Leine führt, muss erst dieses Wort Gottes werden.
Da können uns die Hunde viel lehren. Auch die Katzen übrigens und die Kühe. Wir können sehr viel von den Tieren lernen.
Wir müssen das Wort werden:
Das ist eine weitere Welt des Gebetes: ‹Vom Wort Gottes leben›.

(50:54) Und das dritte heißt traditionell Contemplatio in actione, das heißt, durch das Tun Gott finden. Durch das Tun Gott finden. Und nicht während des Tuns, sondern: Im Tun.
So liebend, so lebendig, so kreativ im Handeln, dass Gottes Liebe, Gottes Lebendigkeit, Gottes Schöpferkraft durch uns durchfließt.
Und jeder von uns kann das tun, nicht nur die großen Künstler und großen Musiker, sondern jeder von uns ist dazu aufgerufen, dieses Gebet zu beten.

Und wir können es, indem wir liebend und schöpferisch handeln, was immer unsere Aufgabe ist.
Und so wie das Gebet der Stille uns mit den Buddhisten verbindet, so verbindet uns, das Gebet: ‹Vom Wort Gottes leben›, mit den anderen ‹Amen-Traditionen›, mit den Juden und mit den Muslimen. Und die ‹Contemplatio in actione›, mit dem Hinduismus.

2.3. Audio-Vortrag Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(28:29) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in drei Gebetsformen: ‚Vom Worte Gottes leben‘: Wir selber sind Wort Gottes, ausgesprochen und angesprochen und müssen das werden, was wir sind / (31:08) Das Gebet der Stille und Gott im Tun finden (‚Contemplatio in actione‘) / (33:10) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens im Unterschied zum Pantheismus.

2.4. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993):
Vortrag:
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: Das ist es in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita).

3. Weitere Texte:

3.1. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 67-78, 79-80:
In diesem Seminar geht Bruder David ebenfalls auf die drei Innenräume des Gebetes ein und setzt das Gebet der Stille in Beziehung zum Glauben, das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Beziehung zur Hoffnung und Kontemplation im Handeln in Beziehung zur Liebe.

3.2. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):

«Dazu muss man zunächst auf die drei großen Welten des Gebetes hinweisen, die es in der christlichen Tradition gibt:

 Das Gebet der Stille, von dem C.S. Lewis sagt, ‹wenn wir unsere Gedanken immer und ewig in diesen Abgrund der Stille hinabwerfen, der Gott ist, werden wir nie ein Echo zurückhören›. Das ist das Gebet der Stille, nichts darüber zu sagen. Aber eine ganze Welt des Gebets in der christlichen Tradition, eine ganz wichtige.

Die zweite ist, vom Worte Gottes leben, die Liebe Gottes durch alles zu erfahren, das ist vom Wort Gottes leben.

Und das dritte ist Contemplatio in actione, die Aktion, das Tun, und zwar nicht Kontemplation üben, während wir etwas tun – das kann sehr gefährlich werden, wenn es etwas Heikles ist, was wir tun und wir haben unsere Gedanken irgendwo anders –, sondern im Tun Gott finden. Im liebenden Tun erleben wir von innen her die Liebe Gottes, die durch uns fliesst. Und das ist Contemplatio in actione.»

3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:

Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)

Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)

Stillehalten Das Gebet der Stille in Beziehung zu Hoffnung

Kontemplation im Handeln in Beziehung zu Liebe

3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67

In diesem Vortrag geht Bruder David grundlegend ein auf die drei Dimensionen Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen im Tun in denen wir Sinn erfahren. Bruder David führt uns ein in eine Gesamtschau, mit der wir die Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten aller religiösen Traditionen erfassen können.

Die Gesamtschau, die Bruder David eröffnet, weitet unser Beten in einen Resonanzraum mit der Menschheit zu allen Zeiten und Religionen weltweit. Der Blick auf die Unterschiede und das Verbindende der Religionen weitet, vertieft und stärkt unser eigenes Beten.

Bruder Davids Gesamtschau weitet uns selber: wir spüren, wie sehr unser Durst nach Sinn uns in diese drei Erfahrungsräume zieht und wir aus ihrer Weite und Kraft leben wollen. Und in diesem Spüren werden unsere Gebete zum Gebet, nach dem wir uns sehnen.

Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens[2] folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.»

«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben.› Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben(38)

«In Dankbarkeit vom Worte Gottes leben, das ist bei weitem die am vielfältigsten gepflegte Form unseres Gebetes in der biblischen Tradition. Aber es gibt auch bei uns, und darauf haben wir im Bezug auf den Buddhismus hingewiesen, das Gebet der Stille, das Sich-Versenken ins Mysterium. Buddhisten erkennen sehr gut, dass das Gebet der Stille in der christlichen Tradition unsere buddhistische Dimension sei. Sie sagen etwa von Johannes vom Kreuz: Das ist ein Buddhist! ‒ Warum auch nicht?

Nun kommt aber zu diesem Gebet der Stille und zu dem ‹Vom Worte Gottes leben› die meditatio in actione, das Gott im Tun finden hinzu. Diese drei sind ja gar nicht voneinander zu trennen.

Weil unser Gebetsleben Teilnahme ist am Leben des dreieinigen Gottes, sind diese drei Dimensionen bei aller möglichen Unterschiedlichkeit der Akzentsetzung untrennbar miteinander verbunden in unserem Gebet.

Nur so kann unser Herz in Wort, Schweigen und Verstehen[3] jenen tiefsten Sinn finden, nach dem es so dürstet.

Nur so können wir eintreten in das Geheimnis des lebendigen Gottes, von dem Paulus sagt, dass wir in ihm leben, uns bewegen und sind.» (56f.)]

 ______________________

[1] Martin Buber in der Erzählung von Rabbi Sussja

[2] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)

[3] «… Das wahre Selbst ist also das erkennende Selbst, das selbst nicht mehr erkannt werden kann, denn das Erkennen kann zutiefst nur im Vollzug der Erkenntnis erkannt werden.

Das ist nun das Entscheidende; das Verstehen ist jene Tätigkeit, die wir nur im Vollzug verstehen können. Was es heißt zu verstehen, das müssen wir von innen her verstehen. Es von außen her verstehen ist noch kein richtiges Verstehen des Verstehens. Man versteht nur, was verstehen heißt, indem man eben etwas versteht. Aber dieses Etwas ist nicht das Verstehen selbst. Der Sehende sieht ja nicht sein Sehen. Es geschieht im Sehen, dass wir sehen, es geschieht im Verstehen, dass wir verstehen. Indem wir uns ergriffen dem Wort hingeben und uns so in das Schweigen führen lassen, erkennen wir im lebendigen Vollzug des Verstehens unser wahres Selbst. Das Verstehen ist unser innerstes Selbst als lebendiger Vollzug.» (53)



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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Da jede religiöse Tradition Ausdruck der ewigen Suche des menschlichen Herzens nach Sinn ist, zeichnen diese drei Aspekte des Sinns ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ auch die Weltreligionen aus.

Alle drei stecken in jeder Tradition, weil sie für den Sinn wesentlich sind, aber wir können damit rechnen, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen.

In den Urreligionen ‒ zum Beispiel der Einwohner Afrikas oder Ureinwohner Amerikas ‒ werden unsere drei Sinn-Aspekte immer noch ziemlich gleichstark betont und in Form von Mythen, Ritualen und Anweisungen zum richtigen Leben miteinander verwoben.

Aber mit dem Herauswachsen der westlichen Traditionen Judentum, Christentum und Islam und des Buddhismus und Hinduismus aus der Urmatrix der Religion wurde die Betonung jeweils stärker auf Wort, Schweigen oder Verstehen gelegt; allerdings spielen in jeder Tradition immer auch alle diese drei Elemente ihre Rolle.

Ich möchte mit meiner eigenen Tradition ‒ der christlichen ‒ anfangen, um ein (notwendigerweise nur grobes) Schema zu skizzieren, das uns helfen könnte, die Vielfalt der religiösen Traditionen ermessen und ihre Beziehung zueinander schätzen zu lernen.

Man braucht sich keine große Mühe zu geben, um zu sehen, wie stark im Christentum ‒ ja in der ganzen biblischen Tradition ‒ die Betonung auf dem Wort liegt.

Gott sprach und die Welt wurde erschaffen.

Das ist eine mythische Art und Weise, die Weltsicht der Bibel zum Ausdruck zu bringen:

Alles, was existiert, lässt sich als Wort Gottes verstehen. Diese Vorstellung ist derart zentral, dass man zu Recht sagen könnte, die Religionen Judentum, Christentum und Islam seien alle drei wie in einem Samenkorn in der Aussage «Gott spricht» enthalten.

In einer der chassidischen Erzählungen, die Martin Buber überliefert hat, kommt recht deutlich zum Ausdruck, welchen Vorrang in der westlichen religiösen Tradition das Wort hat.

Von Rabbi Sussja, einem der großen chassidischen Mystiker, wird erzählt, er sei nicht imstande gewesen, sich die Predigten seines Lehrers zu merken. In der Erzählung wird dieses bedenkliche Unvermögen folgendermaßen erklärt:

Rabbi Sussjas Lehrer hatte die Gewohnheit, vor seinen Predigten immer zuerst einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift vorzulesen. Der Lehrer begann also damit, die Tora-Rolle aufzurollen, «Und Gott sprach» zu sagen und dann mit Lesen zu beginnen.

Aber an diesem Punkt ‒ als der Lehrer erst gesagt hatte: «Und Gott sprach» ‒ hatte der arme Rabbi Sussja bereits mehr gehört, als er aushalten konnte. Er begann sich so wild zu gebärden, dass man ihn aus der Synagoge führen musste. Da stand er dann im Flur oder im Holzschuppen und schrie: «Und Gott sprach! Und Gott sprach!» Das reichte ihm schon.

Martin Buber vermutet, dass Rabbi Sussja den Sinn von Gottes Wort tiefer als alle diejenigen verstand, die sich den Inhalt der Predigten ihres Lehrers merken konnten. Er schreibt: «Mit einem Worte kann man die Welt erheben, mit einem Worte kann man die Welt entsühnen.[1] [Auf dem Weg der Stille (2016), 30-32]

Genau wie das Wort den Kern der abendländischen Tradition ausmacht, ist ja das Schweigen der Kern des Buddhismus [Bruder David im Film: Wort und Stille (2019)]:

Nirgends kommt das deutlicher zum Ausdruck als im Bericht von der großen wortlosen Predigt des Buddha. Kann es denn eine Predigt ohne Worte geben?

Der Buddha hielt einfach nur eine Blume in der Hand.

Es heißt, lediglich einer seiner Jünger habe verstanden.

Aber wie konnte dieser ohne ein Wort beweisen, dass er verstanden hatte?

In der Erzählung heißt es, er habe gelächelt.

Der Buddha lächelte zurück und im Schweigen zwischen ihnen beiden ging die Tradition vom Buddha auf seinen ersten Nachfolger über, nämlich dem Jünger, der verständnisvoll gelächelt hatte.

Uns wird erzählt, dass seit damals die Tradition des Buddhismus immer im Schweigen weitergegeben wird.

Oder um es richtiger zu sagen: Was weitergegeben wird, ist das Schweigen.

Das heißt durchaus nicht, dass die Buddhisten kein heiliges Wort hätten; aber der Schwerpunkt liegt bei ihnen ganz auf dem Schweigen.

Tatsächlich sind ihre heiligen Schriften derart umfangreich, dass man einen ganzen Tag lang brauchen würde, um sie nur einmal durchzublättern. In buddhistischen Klöstern tut man das rituell und mit großer Ehrfurcht mindestens einmal jährlich.

Aber dennoch kann ein guter Buddhist angesichts all dieser Schriften sagen: «Verbrennt sie alle!» Natürlich wird sie niemand verbrennen. Das ist also recht bezeichnend.

Doch schon allein die Aufforderung, sie alle zu verbrennen bringt die tiefe Überzeugung zum Ausdruck, dass dem Schweigen keine Worte im Weg sein dürfen.

Aus dem gleichen Grund können Buddhisten auch sagen: «Wenn du unterwegs dem Buddha begegnest, töte ihn!»

Ein mir bekannter katholischer Priester, der von der allgemeinen Gültigkeit dieser buddhistischen Einsicht überzeugt war, versuchte das seinen Gemeindemitgliedern zu erklären und formulierte: «Wenn du Christus begegnest, töte ihn!» Mit dieser Predigt kam er ‒ verständlicherweise ‒ nicht recht an, obwohl sich diese gleiche Einsicht, wenn auch weniger stark ausgedrückt, zum Beispiel auch im Johannesevangelium findet.

Wir müssen einfach die Tatsache respektieren, dass die Christen bei ihrer Sinnsuche sich so hartnäckig dem Wort widmen wie die Buddhisten dem Schweigen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 34-36]

«Yoga ist Verstehen», sagt Swami Venkatesananda aus tiefer Einsicht in das, was den Hinduismus ausmacht.

Genau wie sich Juden, Christen und Muslime bei ihrer Sinnsuche auf das Wort konzentrieren und die Buddhisten auf das Schweigen, so konzentrieren sich Hindus auf das Verstehen.

Es sei an das erinnert, was hier schon über das Verstehen gesagt wurde: Es ist der Prozess, in dessen Verlauf das Schweigen ins Wort findet und das Wort ins Schweigen heimfindet.

Das liefert uns den Schlüssel zur zentralen Intuition des Hinduismus: Atman ist Brahman ‒ der manifeste Gott (das Wort) ist der nichtmanifeste Gott (das Schweigen) ‒ und Brahman ist Atman ‒ das göttliche nicht Manifeste (das Schweigen) ist das manifeste Göttliche (das Wort).

Zu wissen, dass das Wort Schweigen ist und das Schweigen Wort ‒ unterschieden, aber ungetrennt und untrennbar verbunden, jedoch ohne Vermischung ‒, das ist Verstehen.

Das Sanskrit-Wort Yoga und das englische Wort yoke («Joch») haben die gleiche sprachliche Wurzel, die «verbinden» bedeutet. Yoga in allen seinen verschiedenen Formen ‒ Dienst, Einsicht, ‒Frömmigkeit usw. ‒ ist die Handlung, bei der Wort und Schweigen durch Verstehen miteinander verbunden werden.

Im Hinduismus weiß man, dass dieses Verstehen nur durch Tun zustande kommt.

In der Bhagavad-Gita wird Prinz Arjuna mit einem Rätsel konfrontiert, das er wahrscheinlich gar nicht lösen kann. Der Glaube hat ihn in eine Situation gebracht, in der es seine Pflicht ist, eine gerechte, aber grausame Schlacht gegen seine eigenen Verwandten und Freunde zu führen. Wie kann ein friedliebender Prinz dieses Dilemma sinnvoll lösen? Sein Wagenlenker, der als Krishna verkleidete Gott Vishnu, kann ihm nur den Rat geben: Tu deine Pflicht, und im Tun wirst du verstehen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 37-39]

Zugegeben, dies alles stelle ich aus meiner eigenen Sicht vor, die christlich ist. Aber welche andere Wahl hätte ich denn?

Würde ich versuchen, völlig von meiner eigenen religiösen Sinnsuche abzusehen, so würde ich die Berührung mit genau der Wirklichkeit verlieren, die ich genauer erkunden möchte.

Ich wäre dann wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen und genauso wenig Freude, Leben oder Religion.

Es ist nichts Falsches daran, wenn man vom Inneren einer Tradition her spricht, solange man nicht seine eigene Sichtweise verabsolutiert, sondern diese in ihrer Beziehung zu allen anderen sieht.

Hier sei an das früher über unsere Gipfelerfahrungen Gesagte erinnert, also über unsere kurzen Augenblicke des Aufblitzens von Sinn und unseren spontanen Ausruf:

«Das ist es!»

Die christliche Sichtweise verrät sich dadurch, dass sie das erste Wort dieses kurzen Satzes betont:

«Das ist es!»

Die Begeisterung über die Entdeckung, dass «Gott spricht» und dass alles Wort Gottes ist, lässt uns immer und immer wieder ausrufen:

«Das ist es!», und immer wieder «Das ist es», sooft uns ein weiteres Wort verblüfft, das Sinn offenbart.

Im Buddhismus ist das anders. Die Buddhisten verblüfft nämlich stattdessen das große Schweigen, das in einer so großen Vielzahl und Verschiedenheit von Worten zu Wort kommt.

Deswegen ruft der Buddhist aus:

«Das ist es!»; und das und das und das, jedes einzelne aller dieser Worte ist immer es, ist immer das eine große Schweigen.

Außerdem brauchen wir den Hinduismus, um uns daran zu erinnern, dass das, worauf es wirklich ankommt, ist, dass dies es ist ‒ das Wort Schweigen ist und Schweigen das Wort ist ‒ und darin das wahre Verstehen liegt.

Diese Sichtweisen ergänzen einander also gegenseitig.

Indem wir andere Sichtweisen schätzen, lernen wir die unsrige weiten, ohne sie zu verlieren.

In Wirklichkeit vertieft sich durch den Kontakt mit anderen für uns das Verständnis unserer eigenen Tradition.

So könnten Christen zum Beispiel das Geheimnis des dreieinigen Gottes im Muster von Wort, Schweigen und Verstehen gespiegelt sehen.

Gott, den Jesus «Vater» nennt, lässt sich auch als der mütterliche Schoß des Schweigens verstehen, aus dem vor aller Zeit das ewige Wort geboren wurde, indem durch Gottes Selbst-Verständnis das Schweigen zu Wort kam.

Das Wort wiederum, also der Sohn, führte gehorsam den Willen des Vaters aus, und indem er das tat, kehrte er durch das Verstehen, das vollkommene Liebe ist, also durch den Heiligen Geist, zu Gott zurück.

Erinnern wir uns an die Metapher des heiligen Gregor von Nyssa für die wechselseitige Bezogenheit der Dreifaltigkeit.

Tatsächlich hat man sich ab der Zeit der kappadokischen Väter, dieser großen Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, bis zu den Shakern im 19. Jahrhundert in der christlichen Tradition diese innertrinitarischen Beziehungen wie einen großen Reigentanz vorgestellt.

Christus, der große Anführer des kosmischen Tanzes, sprang vom himmlischen Thron, «während tiefes Schweigen alles umfing» (Weish 18,14), und tanzend führt er die gesamte Schöpfung in der Kraft des Heiligen Geistes zu Gott zurück. [Auf dem Weg der Stille (2016), 39-41]

[Ergänzend:

1. Audios

1.1. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 9f.

1.2. Audio-Vortrag Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(20:41) Sinn finden in den drei Bereichen: Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen / (24:00) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in den Weltreligionen: Das Wort ‚Amen‘, die Antwort auf die ‚amunah‘, die Verlässlichkeit Gottes, in den westlichen Amen-Traditionen Judentum, Christentum und Islam / (25:21) Das Schweigen im Buddhismus und das Verstehen im Hinduismus / (33:10) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens im Unterschied zum Pantheismus

1.3. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(35:56) Die unterschiedliche Betonung von Wort – Schweigen – Verstehen durch Tun in den verschiedenen Weltreligionen: Zunächst die Ausrichtung auf das Wort in den Amen-Traditionen Judentum, Christentum, Islam: Rabbi Sussja in der Deutung von Martin Buber und einem Axiom von Thomas von Aquin / (40:31) Das Schweigen im Buddhismus: Die Blumenpredigt des Buddha / (44:19) Das Verstehen durch Tun im Hinduismus: ‚Yoga ist Verstehen‘ (Swami Satchidananda) und der Prinz Arjuna in der Bhagavad Gita – ‚Wer bereit ist, den Willen Gottes zu tun, wird erkennen‘ (Joh 7,17) – ‚Du wirst nur durch die Tat erfasst‘ (Rilke)
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: Das ist es in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita) / (51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind

2. Weitere Texte

2.1. In Meine wichtigste Erfahrung in der Begegnung mit anderen Religionen (2018) fasst Bruder David zusammen, wie wir ‒ ausgehend von unserer Sinnfindung ‒ die Vielfalt der religiösen Traditionen, die drei Innenwelten des Gebetes  und des Geheimnisses der Dreifaltigkeit in einer Zusammenschau erfahren können, wenn uns der essentielle Zusammenhang wie auch der Unterschied von Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen durch Tun in seiner Dichte und Fülle aufgeht.

2.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 159-162:
Bruder David beendet das Seminar mit einem Schlussakkord, in dem alle spirituellen Traditionen der Welt mit ihrem eigenen Ton mitschwingen.

2.3. Im Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):

«Das Gottesbild, das jetzt auftaucht und sich hier entfaltet, ist nicht mehr ausschließlich auf Überlieferung gegründet, sondern weitgehend auf persönliche Erfahrung. Und in diesem Gottesbild, in einem ganzheitlichen Bewusstsein, ist Gott ‹mir näher, als ich mir selber bin›.

Worum handelt es sich bei dieser Ur-Erfahrung? ‒ das ist unsere erste Frage. Und die zweite ist, wie drückt sich dann diese Ur-Erfahrung in den Religionen aus? Die dritte ist ganz praktisch, wie können wir diesem Ziel unserer religiösen Ur-Sehnsucht näherkommen?»

2.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67

In diesem Vortrag geht Bruder David grundlegend ein auf die drei Dimensionen Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen im Tun in denen wir Sinn erfahren. Bruder David führt uns ein in eine innere Schau, mit der wir die Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten aller religiösen Traditionen erfassen können:

«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit[2]. Wir werden dadurch sehen, wie alles das hinzielt auf das innerste Geheimnis des Christentums, nämlich das Geheimnis der Trinität. Und erst von dort, von unserem eigensten Zentralgeheimnis aus können wir hoffen, irgendwie zu verstehen, dass andere Traditionen der Menschheitsgeschichte ebensosehr im Schweigen das Zentrum ihrer Sinnsuche finden oder in der Ergriffenheit, wie wir es im Wort finden.» (16f.)

«Es ist daher auch klar, dass keine dieser Traditionen die andere ausschließt. Man kann nicht einmal sagen, dass die drei sich gegenseitig ergänzen, sie sind vielmehr interdimensional miteinander. Wenn man die eine hat, hat man auch schon die anderen.»
(S. 50)

Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens[3] folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]

 __________________________

[1] Martin Buber, «Die Erzählungen der Chassidim», Zürich 1949, 375

[2] Ergriffenheit im Unterschied zum Begreifen ist Verstehen in Ergriffenheit, liebendes Verstehen im Tun: «Was geschieht denn eigentlich, wenn wir verstehen? Wir hören ein Wort, öffnen uns dem Wort, stellen uns diesem Wort; das Wort ergreift uns, ergreift uns bis zur Sprachlosigkeit, wenn es uns wirklich zutiefst ergreift, und führt uns dadurch in das Schweigen. Verstehen ist also ein dynamischer Vorgang, der Wort und Schweigen miteinander verbindet.» (49f.)

[3] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)



Quellenangaben

Text, Film und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

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Die Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen, lautet: Wie kommt man von der mystischen Erfahrung zur etablierten Religion?

Meine Antwort heißt kurz und knapp: unvermeidlich. Unvermeidlich macht diesen Prozess der Umstand, dass wir mit unserer mystischen Erfahrung das tun, was wir mit jeder Erfahrung tun: Wir versuchen sie zu verstehen; wir entscheiden uns für oder gegen sie; wir bringen unsere Gefühle bezüglich ihrer zum Ausdruck. Sobald man das mit seiner mystischen Erfahrung tut, hat man alle Elemente für die Gründung einer Religion beisammen. Das lässt sich aufzeigen.

Wenn wir Augenblick um Augenblick dieses und jenes erfahren, geht dabei unser Verstand ständig mit; er interpretiert dauernd, was wir wahrnehmen. Das ist besonders dann so, wenn wir einen dieser zutiefst sinn-erfüllten Augenblicke haben:

Unser Verstand fällt über diese mystische Erfahrung her und fängt an, sie zu interpretieren. An diesem Punkt beginnt die religiöse Doktrin. Es gibt auf der ganzen Welt keine Religion, die nicht ihre Doktrin hätte, ihre Glaubenslehre.

Und es gibt keine religiöse Doktrin, deren Wurzeln man nicht letztlich auf eine mystische Erfahrung zurückführen könnte ‒ das heißt, wenn man dafür Zeit und Geduld genug hätte, denn diese Wurzeln können recht lang und verwickelt sein.

Sogar wenn Sie sagen würden: «Meine persönliche Religion hat keine Doktrin, denn ich weiß, dass meine tiefste religiöse Wahrnehmung nicht in Worte zu fassen ist», wäre dies genau das, wovon wir sprechen: eine intellektuelle Interpretation ihrer Erfahrung. Ihre «Doktrin» wäre ein Stück der sogenannten negativen (apophatischen) Theologie[1], die man in den meisten Religionen findet.

Manche von uns haben eine stärkere Neigung zum Intellektuellen als andere und sind schneller dabei, Erfahrungen gründlich zu überdenken; aber in einem gewissen Maß tun wir das alle.

Jedoch bleibt es nicht dabei, uns bloß eine Meinung zu bilden, sondern auf deren Grundlage ergreifen wir für die eine oder andere Seite Partei; wir möchten etwas haben oder lehnen es ab.

Das tut unser Wille.

Sobald wir etwas als für uns gut erkennen, wünschen wir uns das unwillkürlich. Aus diesem Grund fangen wir an, ihm bereitwillig nachzugehen.

In dem Augenblick, in dem wir das mystische Glück des Dazugehörens zum allumfassenden Ganzen verkosten, sagen wir dazu ein bereitwilliges «Ja».

In diesem bedingungslosen «Ja» steckt die Wurzel der Moral[2].

Deswegen lassen sich alle moralischen[3] Systeme letztlich darauf zurückführen, dass man so handelt, wie man handelt, wenn man das Gefühl hat, zu etwas zu gehören.

In Interaktion mit der Welt ist immer der ganze Mensch, aber wenn die Interaktion auf das Erkennen zielt, sprechen wir vom Intellekt.

Steht das Begehren im Vordergrund, so sprechen wir vom Willen.

Der Intellekt siebt aus, was wahr ist; der Wille streckt sich nach dem aus, was gut ist.

Aber es gibt auch noch eine dritte Dimension der Wirklichkeit: die Schönheit.

Mit etwas Schönem tritt unser ganzes Wesen in Resonanz, so wie vielleicht ein kristallener Lampenschirm jedes Mal klirrt, wenn man auf dem Klavier ein Cis-Dur anschlägt.

Wenn dieses Gefühl der Resonanz (oder unter anderen Umständen der Dissonanz) unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sprechen wir von Emotionen.

Wie freudig treten die Emotionen mit der Schönheit unserer mystischen Erfahrung in Resonanz!

Je stärker sie anschlagen, desto intensiver genießen wir diese Erfahrung. Es kann dann sein, dass wir uns noch nach vielen Jahren genau an den entsprechenden Tag und die Stunde erinnern. Vielleicht gehen wir dann wieder zu der Gartenbank, auf der uns der Gesang einer Drossel ganz hingerissen hatte. Auch wenn wir diesen Vogel womöglich nie mehr hören, kann uns das trotzdem zum Ritual werden, und damit ist dann eine Art von Pilger-Ritual an einem für uns ganz persönlichen heiligen Ort entstanden.

Auch das Ritual ist ein Element jeder Religion.

Und jedes Ritual auf der Welt feiert in der einen oder anderen Form das Dazugehören; es ist ein Verweis auf jenes letzte Dazugehören, das wir in Augenblicken mystischer Achtsamkeit erfahren.

Die Antwort, die wir in solchen Augenblicken geben, kommt immer aus ganzem Herzen.

Im Herzen, also im Kern der menschlichen Person, bilden Verstand, Wille und Emotionen immer noch ein integrales Ganzes.

Aber sobald die Reaktion des Herzens sich in Form von Denken, Wollen oder Empfinden ausdrückt, wird die ursprüngliche Ganzheit dieser Reaktion gebrochen.

Aus diesem Grund sind wir mit den einzelnen Ausdrucksweisen dieser tiefsten Einsichten in Wort oder Bild nie ganz zufrieden.

Genauso wenig sind es unser Wille zum Engagement für Gerechtigkeit und Frieden sowie unser Ja zum Dazugehören, selbst wenn das auf der praktischen Ebene genauso aus ganzem Herzen kommt wie in unseren Augenblicken mystischen Einsseins.

Zudem gelingt es unseren Gefühlen oft nicht, die Schönheit wirklich zu feiern, die wir einen Augenblick lang unverhüllt zu erblicken vermochten, diese Schönheit, die weiterhin durch den Schleier unserer Alltagswirklichkeit hindurchscheint.

So tragen Lehre, Moral[4] und Ritual sogar schon in diesen frühesten Knospen der Religion den Stempel unserer Unzulänglichkeiten.

Aber dennoch erfüllen sie eine ganz wichtige Funktion: So unvollkommen es sein mag, halten sie uns jedenfalls in Verbindung mit der Wahrheit, Güte und Schönheit, die uns einmal überwältigt hatten.

Das ist der herrliche, glänzende Zug jeder Religion.

Solange bei einer Religion alles seinen rechten Weg nimmt, wirken Lehre[5], Moral[6] und Ritual wie ein Bewässerungssystem und bringen aus der Quelle der Mystik immer wieder frisches Wasser ins Alltagsleben. Die Religionen sind untereinander verschieden, genau wie das auch bei Bewässerungssystemen der Fall ist. Dabei gibt es objektive Unterschiede: Manche Systeme sind einfach effizienter als andere. Aber wichtig sind auch subjektive Vorlieben. Der Mensch neigt dazu, das System besonders zu schätzen, das er gewöhnt ist; seine Vertrautheit mit ihm macht es für ihn effizienter, ganz gleich, welche anderen Modelle auch noch auf dem Markt sein mögen.

Auch die Zeit hat ihren Einfluss auf das System:

Die Rohre neigen dazu, rostig zu werden und Lecks zu bekommen, oder sie werden verstopft. Dann bleibt womöglich vom Strom aus der Quelle bloß noch ein schwaches Herauströpfeln übrig.

Glücklicherweise ist mir noch keine Religion begegnet, deren System überhaupt nicht mehr funktioniert hat.

Aber leider beginnt die Verschlechterung bereits ab dem Tag, an dem das System installiert wird.

Ganz zu Anfang ist die Doktrin einfach nur die Interpretation der mystischen Wirklichkeit; sie entspringt aus dieser und führt wieder zu ihr zurück. Aber dann beginnt der Verstand diese Interpretation zu interpretieren. Kommentare um Kommentare werden auf der ursprünglichen Lehre aufgestapelt. Mit jeder neuen Interpretation der vorherigen entfernen wir uns von der Erfahrungsquelle weiter weg.

Die lebendige Doktrin versteinert zur Dogmatik.

Ein ähnlicher Prozess spielt sich unvermeidlich auch mit der Ethik ab. Anfangs formulieren moralische Vorschriften bloß, wie man das mystische Einssein ins praktische Leben umsetzen soll. Die Vorschriften erinnern uns nur daran, dass wir so handeln sollen, wie man unter Menschen handelt, die zusammengehören, und so verweisen sie weiterhin auf unser tiefstes, mystisches Gefühl des Dazugehörens zurück.

Die Tatsache, dass eine Gemeinschaft oft einen zu engen Kreis um sich selbst zieht, steht auf einem anderen Blatt. Das ist einfach nur eine unzureichende Übersetzung der ursprünglichen Intuition. Der Kreis des mystischen Einsseins ist allumfassend.

Weil wir es zum Ausdruck bringen wollen, dass wir uns unwandelbar dem Gutsein verschreiben möchten, das uns in mystischen Augenblicken aufgeblitzt ist, meißeln wir die Moralvorschriften in steinerne Tafeln ein.

Aber indem wir das tun, machen wir den Ausdruck unserer Selbstverpflichtung unabänderlich. Wenn sich dann die Umstände ändern und nach einer neuen Ausdrucksweise dieser gleichen Verpflichtung verlangen, bleibt das, was wir tun und lassen sollten, starr im Stein eingemeißelt und lässt sich nicht ändern.

Damit wird dann aus der Moral Moralismus.

Und was passiert mit dem Ritual?

Wie wir gesehen haben, ist es zunächst eine wahre Feier. Wir feiern, indem wir uns dankbar erinnern. Alles andere ist freigestellt. Das besondere Ereignis, das wir feiern, löst einfach diese dankbare Erinnerung aus, eine Erinnerung an die Augenblicke, in denen wir uns am tiefsten unseres grenzenlosen Dazugehörens bewusst waren.

Als Erinnerungsakt und Erneuerung unseres endgültigen Verbundenseins hat jede Feier religiöse Obertöne, Echos des mystischen Einsseins. Das ist auch der Grund dafür, dass wir, wenn wir feiern, den Wunsch haben, alle, die in besonderer Weise zu uns gehören, sollten dabei anwesend sein. Auch die Wiederholung ist ein Bestandteil der Feier.

Immer wenn wir zum Beispiel einen Geburtstag feiern, wird dieser Tag angereichert mit all den Erinnerungen an die vorhergehenden Geburtstagsfeiern.

Aber das Wiederholen hat seine Gefahren, insbesondere für das Feiern religiöser Rituale. Weil diese so wichtig sind, möchten wir ihnen die perfekte Form geben. Doch ehe wir es recht merken, sind wir dann bald mehr auf die Form als auf den Inhalt bedacht.

Wenn die Form formalisiert wird und der Inhalt in Vergessenheit gerät, verkommt das Ritual zum Ritualismus.

So traurig es ist: Eine sich selbst überlassene Religion wird irreligiös.

Als ich einmal in Hawaii über einen immer noch heißen Vulkanfelsen ging, kam mir ein Bild für diesen Prozess, und zwar eines nicht mit Wasser, sondern mit Feuer. Die Anfänge der großen Religionen waren wie die Ausbrüche eines Vulkans.

Da war Feuer, Hitze, Licht: das Licht der mystischen Einsicht, die in einer neuen Lehre frischen Ausdruck fand; die Glut von Herzen voller Hingabe, die zur begeisterten Gemeinschaft wurden; und eine Feier, die feurig wie neuer Wein war. Das Licht der Lehre, die Glut ethischen Engagements, das Feuer der Ritualfeier waren Ausdrucksweisen, die glühend rot aus den Tiefen des mystischen Bewusstseins hervorquollen. Aber als dieser Lavastrom dann an den Hängen des Berges herabfloss, begann er sich abzukühlen. Je weiter er sich von seinen Ursprüngen entfernte, desto weniger sah er nach Feuer aus; schließlich gerann er zu Stein. Dogmatik, Moral, Ritual:

Das alles sind Schichten von Asche-Ablagerungen und vulkanischem Fels, die sich zwischen uns und das feurige Magma tief unten geschoben und uns von ihm getrennt haben.

Aber es gibt Risse und Spalten im geronnenen Feuerfels der alten Lavaflüsse: heiße Quellen, Gas- und Wasserdämpfe aus den Rissen und Geysire; gelegentliche Erdbeben und kleinere Vulkanausbrüche.

Sie stellen die großen Menschen dar, welche die religiöse Tradition von innen her reformiert und erneuert haben. Das ist auf die eine oder andere Weise auch unsere Aufgabe. Jede Religion hat einen mystischen Kern.

Die Herausforderung besteht darin, zu ihm vorzustoßen und aus seiner Kraft zu leben. Von daher gesehen ist jede Generation von Gläubigen aufs Neue aufgerufen, ihre Religion wieder wirklich religiös werden zu lassen. Das ist der Punkt, an dem die Mystik mit der Institution zusammenstößt.

Religiöse Institutionen brauchen wir. Gäbe es sie nicht, so würden wir sie schaffen.

Das Leben erschafft Strukturen. Man denke nur an die genialen Konstruktionen, die das Leben erfindet, um seine Samen zu schützen: alle diese Hülsen, Hüllen, Schoten, Schalen, Spelze, Kapseln, die man im Herbst an einer Hecke findet.

Wenn der Frühling kommt, knackt das Leben von innen her diese Behälter (sogar harte Walnuss-Schalen!) auf und bricht heraus. Kruste, Rinde, Schale platzen auf und fallen weg.

Unsere Sozialstrukturen dagegen haben die Tendenz, sich zu verewigen. Bei religiösen Institutionen ist es weniger wahrscheinlich als bei Samenhülsen, dass sie für das neue, in ihrem Inneren sich regende Leben aufplatzen.

Obwohl das Leben (immer und immer wieder) Strukturen erschafft, erschaffen Strukturen leider kein Leben.

Diejenigen, die am engsten mit dem Leben verbunden sind, das die Strukturen geschaffen hat, werden den größten Respekt vor ihnen haben; aber sie werden auch die ersten sein, die verlangen, dass Strukturen, die nicht länger das Leben fördern, sondern es behindern, geändert werden müssen.

Deshalb werden die am engsten mit dem mystischen Kern der Religion Verbundenen innerhalb des Systems oft zu unbequemen Aufrührern.

Wie echt ihr Anliegen ist, wird sich daran zeigen, wie groß ihr Mitgefühl und Verständnis für diejenigen ist, denen sie die Stirn bieten müssen; schließlich kommen die Mystiker aus einem Bereich, wo «wir» und «sie» ein und dasselbe ist.

In manchen Fällen sind hohe Vertreter der institutionellen Religion selbst Mystiker, wie das zum Beispiel bei Papst Johannes XXIII. der Fall war.

Das sind Männer und Frauen, die es spüren, wenn es an der Zeit ist, dass die Strukturen dem Leben Raum geben müssen.

Sie vermögen zu unterscheiden zwischen der Treue zum Leben und der Treue zu den Strukturen, die in der Vergangenheit das Leben hervorgebracht hatten, und sie setzen die richtigen Prioritäten.

Das tat zum Beispiel auch Rumi, der schrieb:

Erst wenn Treue
zum Verrat wird
und Verrat zur Treue
kann jeder Mensch
Teil der Wahrheit werden.
[7]

Man beachte, dass hier «Verrat» ‒ oder das, was als solcher angesehen wird ‒ nicht der letzte Schritt ist.

Es gibt einen weiteren Schritt, bei dem der «Verrat» zur «Treue», zum Glauben wird.

Dieses Herausgehen und Zurückkommen stellt den Weg des Helden[8] dar; zugleich ist es die Aufgabe von uns allen.

Der Glaube (das heißt das mutige Vertrauen) lässt die institutionellen Strukturen los und findet sie damit auf einer höheren Ebene wieder ‒ immer und immer wieder.

Dieser Prozess ist so schmerzlich wie das Leben und genauso überraschend wie dieses.

Eine der großen Überraschungen ist die, dass das Feuer der Mystik sogar die tödliche Starre von Dogmatismus, Legalismus und Ritualismus zu schmelzen vermag.

Durch den Anblick oder die Berührung solcher, deren Herzen brennen, beginnen Doktrin, Ethik und Ritual von der Wahrheit, Güte und Schönheit ihres ursprünglichen Feuers zu glühen.

Der tote Buchstabe wird lebendig und atmet Freiheit.

Ein Uneingeweihter liest in Exodus 32,16 von «Gottes Schrift, in die Tafeln eingegraben».

Aber im hebräischen Text stehen nur die Konsonanten: «chrth». Mystiker, die zufällig Rabbis sind, sagen beim Anblick dieses Worts:

«Lies nicht ‹charath› (‹eingegraben›), sondern ‹cheruth› (‹Freiheit›)!»

Es braucht Mut und visionäre Fähigkeit dazu, über unser derzeitiges Verständnis hinauszublicken.

Kinder tun das die ganze Zeit und es fällt ihnen viel leichter als den Erwachsenen.

So schrieb zum Beispiel einmal eine Schülerin mehr, als ihr selbst dabei bewusst war: «Früher versteinerten viele tote Tiere, aber andere wurden lieber zu Öl.»

Das ist auch den Mystikern lieber. Im Leben wie im Tod nähren sie das Feuer der Religion.[9]

[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 9]

[Ergänzend:

1. Film

Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4-7:

(20:22) «Und diese Auseinandersetzung mit dem Geheimnis also ist, was ich Religiosität nenne. Und die drückt sich jetzt in Religionen aus. Und zwar kommen im Lauf der Geschichte tiefreligiöse Menschen immer wieder, die ihre – unsere – Begegnung mit dem großen Geheimnis durch Worte, durch eine Lehre, durch Moral – eine Ethik – und durch Rituale ihren Zeitgenossen zugänglich machen. Und eine Religion ist die kulturelle Zugänglichmachung unserer allgemeinmenschlichen Religiosität durch eine Religion eben.

Und die Religionen sind zu verschiedenen Zeiten und in ganz verschiedenen kulturellen Umfeldern entstanden und dadurch unterscheiden sie sich. Sie unterscheiden sich auch noch – ja, ja – durch alle die Eigenheiten, die da eben damit gegeben sind. Außerdem durchlaufen sie … die großen Religionen haben schon eine lange Geschichte durchlaufen und die Geschichte hat sie auch geformt und leider auch verformt in mancher Hinsicht, und zwar neigen diese drei Aspekte jeder Religion, von denen ich gesprochen hab: Die Lehre, die Moral und das Ritual neigen dazu sich zu verhärten.

Und das Bild, das ich gerne gebrauche, ist lebendiges Wasser, das da zuerst aussprüht: Aus einem Brunnen, den dieser Religionsstifter oder Religionsstifterin gebaut hat, kommt dieses lebendige Wasser hervor, aber die Atmosphäre unserer Welt ist sehr kalt und es gefriert.

Und so gefriert die Lehre und sie wird dogmatistisch: Ich hab nichts gegen Dogmen, wenn man sie richtig versteht, aber sie werden meistens missverstanden: dogmatistisch: Wir wissen, was wir damit meinen.

Die Moral wird moralistisch und versteift sich, ist eingefroren, kann sich nicht mehr mit ethischen Problemen auseinandersetzen, die erst jetzt überhaupt zustande gekommen sind, die zu der Zeit dieser Religionsstifter überhaupt nicht da waren – eine ganz andere Situation: Also muss sich auch die Moral anpassen aus der Kraft der inneren Ethik heraus.

S.H. der Dalai Lama hat ja ein Buch geschrieben: ‹Ethik ist wichtiger als Religion›, so heißt das Buch. Das ist seine Botschaft, aber damit meint er mit Ethik, was ich Religiosität nenne. Ich kann das völlig anerkennen, aber ich übersetze es und sage: Religiosität ist wichtiger als Religion. Das heißt: Lebendige Religiosität ist wichtiger als religiöse Formen. Das steht dahinter.

Das gilt eben auch für die Moral und es gilt für die Rituale: Die Rituale können auch einfrieren und niemandem mehr etwas bedeuten und müssen wieder aufgetaut werden.

Nun ist aber die große Frage: Wie kann man überhaupt eine eingefrorene Religion wieder auftauen? Und meine Antwort ist: Mit unserer eigenen Herzenswärme. Das ist das Einzige: Mit unserer eigenen Herzenswärme.»

2. Audios

2.1. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 2, 5-8:
«Wie kommt man von der Religiosität zu den Religionen? Die Religionen sind ja etwas anderes. Religionen sind geschichtliche Formen, Institutionen, von denen wir uns hier umgeben wissen. Unsere Religiosität, das ist etwas ganz Innerliches. Wie kommt man von der einen zu der anderen?»

2.2. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgenaue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
Audio: Einführung, das Mehr und vier Fragen (Mitschrift):
Was ist Spiritualität und wie ist das Verhältnis zur Religion?
Audio: Die mystische Erfahrung ist religionsschöpferisch (Mitschrift):
Wie kommt man von der lebendigen Spiritualität zu den Religionen?
Audio: Das Herz der Religion ist die Religion des Herzens (Mitschrift):
Von der mystischen Erfahrung des Gründers zur Verhärtung im Laufe der Zeit

2.3. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3 in folgende Themen zusammengefasst:
(00:00) Der Zusammenhang von persönlicher Religiosität und Kirche, bzw. Religion / (01:18) Die persönliche Gotteserfahrung als Ausgangspunkt ‒ ‹Ich bin durch dich so Ich› (E.E. Cummings) / (03:36) Vom Erlebnis zur Lehre ‒ ‹Negative Theologie› / (07:33) Vom Erlebnis zur Moral / (11:00) Vom Erlebnis zum Ritual / (12:10) Von der Lehre zu Lehrsätzen ‒ Gefahr des Dogmatismus / (14:49) Von der Moral zum Moralismus / (16:43) Vom Ritual zum Ritualismus / Religion kann irreligiös werden ohne menschliches Verschulden / (20:33) Religion wieder religiös machen ‒ Ein Wort von Karl Rahner

2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
«Wir müssen unsere Religion wieder religiös machen»
(00:00) Vom mystischen Erlebnis zur Lehre, Moral und Ritual: Wie der Verstand, der Wille und die Gefühle tätig werden und die Religionsgemeinschaft entsteht
(08:17) Wenn der Inhalt vergessen wird und die Formen verkalken: Dogmatismus, Moralismus, Ritualismus und unsere Aufgabe
(14:24) Die Last der Wirkungsgeschichte illustriert an drei Beispielen aus der Dogmatik, einer Stelle aus dem Galaterbrief (Gal 3,28) und dem Abendmahlsstreit
(21:56) Wo und wie bin ich in Gefahr zu verkalken?
(47:11) Immer wieder aufs Herz zurückkommen: Herz meint den ganzen Menschen, unsern ganzen Verstand, unsere ganze Gefühls- und Willenskraft

3. Texte

3.1. Im Buch: Orientierung finden (2021), 66-70:

«Vielleicht erhebt sich hier die Frage: Muss Religiosität sich in Religion ausdrücken?

Die Erfahrung zeigt, dass sich dies unvermeidlich immer wieder ereignet. Natürlich nicht unbedingt in den spezifischen Formen dieser oder jener Religion, unvermeidlich aber in einer Reihe von Formen, die für jede Religion typisch sind.

Führen wir uns diesen Prozess an einem Beispiel vor Augen. Erinnern wir uns an einen Augenblick höchster Lebendigkeit. Was immer die äußeren Umstände sein mögen ‒ und diese können ganz alltäglich sein ‒, das Geheimnis ergreift uns und einen zeitlosen Augenblick lang erleben wir beseligendes All-Eins-Sein mit uns selbst und mit dem All.

Solange dieses Erlebnis andauert, denken, wollen oder fühlen wir nichts ‒ oder vielleicht sollten wir sagen: Denken, Wollen und Fühlen sind ununterscheidbar eins in der allumfassenden Einheit unsres Erlebens.

Aber schon im nächsten Augenblick löst sich unser Denken aus dieser Einheit heraus und macht sich selbständig.

Unser Verstand fragt ‹Was war das?›

Nun haben wir aber etwas erlebt, was sich nicht in Begriffe fassen lässt. Wie sollen wir also darüber sprechen? Wie können wir uns selbst klarmachen, was wir erlebt haben, und die Freude daran mit andren teilen?

Dichtung ist der Ausweg, den Menschen in dieser Lage immer wieder finden. Nur Dichtung kann Ahnungen ausdrücken, die nur wie ein Duft an den Worten hängen.

So reden wir also über Begegnungen mit dem Geheimnis ‒ denn darum geht es ja hier ‒ immer, indem wir vertraute Begriffe verwenden, sie aber dichterisch überhöhen.

Darin liegt der Keim für die Lehre, für das intellektuelle Element jeder Religion.

Wenn wir vergessen, dass alle Texte, die über das Geheimnis sprechen, symbolisch zu verstehen sind, also nicht wörtlich, dann sind wir schon auf dem Holzweg.

So hat zum Beispiel der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide (1922-1997) treffend gesagt:

‹Man kann die Bibel ernst nehmen oder wörtlich, beides zusammen ist nicht möglich.›

Ähnlich gilt das von den heiligen Schriften aller Religionen.

Sobald unser Verstand einige Klarheit über das eben Erlebte erreicht hat, kommt nun auch unser Wille unweigerlich zum Zug.

Er konzentriert sich auf die Glückseligkeit der All-Zugehörigkeit, die wir in unsrem Augenblick höchster Lebendigkeit erfahren haben, und setzt sich zum Ziel, nach diesem Glück zu streben:

‹Ja, so möchte ich leben, in der Freude völliger Zugehörigkeit aller zu allen!›

In diesem ‹Ja›, mit dem unser Wille sich auf Zugehörigkeit ausrichtet, liegt der Keim jeder Moral.[10]

Unter Moral verstehen wir hier die Form, in der die Ethik sich in einer bestimmten Kultur ausdrückt. Die Formen jeder Religion gehören ja der einen oder der andren Kultur an, also auch ihre Moral. Es kann sogar vorkommen, dass unethische Elemente einer Kultur unversehens in ihre religiöse Moral aufgenommen werden.

So sehr sich auch Moralsysteme voneinander unterscheiden, ja einander manchmal zu widersprechen scheinen, sie alle sagen auf ihre Weise:

So verhält man sich denen gegenüber, denen man angehört.

Sie unterscheiden sich nur durch die Weite des Kreises ihrer Zugehörigkeit. Im Laufe der Geschichte wurde dieser Kreis im Bewusstsein der Menschen weiter und weiter.

In unsren Tagen ist bereits jede Ausschließlichkeit unmoralisch geworden.

Nichts darf mehr ausgeschlossen werden.

Nicht nur allen Menschen schulden wir ethisches Verhalten, sondern auch allen Tieren, Pflanzen und sogar der ganzen unbelebten Natur.

Wie Religiosität sich in Religion ausdrückt, drückt Ethik sich in Moral aus.

Ethik, wie wir den Begriff hier verwenden, ist unsre Verantwortung vor dem großen DU, Moral ist der Versuch, unsre ethische Verantwortung in einer konkreten Kultur zum Ausdruck zu bringen.

Wenn S.H. der Dalai Lama sagt, ‹Ethik ist wichtiger als Religion› ‒ Buddhismus als Religion eingeschlossen ‒, so heißt das in der Sprache, die wir hier verwenden:

Religiosität ist wichtiger als Religion.

Dem stimmen wir vollkommen bei, denn ohne Religiosität bleiben die Formen der Religion leere kulturelle Erscheinungen.

Je vollkommener sich Religiosität/Ethik in einer bestimmten Religion ausdrückt, umso lebendiger und lebenspendender ist ihre Moral.

Wir haben hier beschrieben, wie Verstand und Wille Brücken schlagen vom religiösen Urerlebnis zu seinem Ausdruck in Lehre und Moral.

Aber auch unsre Emotionen reagieren unaufhaltsam auf das Gipfelerlebnis, von dem wir hier ausgehen.

Sie schwingen freudig mit, sie feiern.

Und dieses freudige Feiern ist der Keim, aus dem Rituale entstehen, die ein drittes Element jeder Religion darstellen.

Rituale, so verstanden, sind Handlungsweisen, die uns wach halten für Sinn und Ziel unsres Lebens, wie Lehre und Moral sie uns auf ihre Weise in Erinnerung rufen.

Da sind zunächst die Rituale wie für Hindus ein feierliches Bad im Ganges, die jüdische Seder-Mahlzeit oder das Anzünden von Räucherstäbchen im Buddhismus.

Auch in den Urkulturen finden wir vergleichbare Rituale, etwa Opfer oder die Jugendweihe.

Was sie aber auszeichnet ist, dass im Alltag jede Handlung zum Ritual werden kann.

Das bleibt auch für uns richtungsweisend. Durch Übung in Aufmerksamkeit können wir lernen, alles, was wir tun, im wachen Bewusstsein von Sinn und Ziel unsres Daseins zu tun.

Dadurch wird unser Leben zur Feier und wir entdecken ungeahnte Quellen der Freude im Alltag.

So regt die mystische All-Eins-Erfahrung unsrer Religiosität unumgänglich unser Denken, Wollen und Fühlen dazu an, die drei Grundsteine jeder Religion zu legen: Lehre, Moral und Riten.

Was wir hier im kleinen Maßstab beobachtet haben, das ereignet sich auch geschichtlich im großen Maßstab bei der Entstehung neuer Religionen.

Sie gehen auf das mystische Erleben der Religionsgründer:innen zurück.

Dieses Erleben wird Ausdruck in einer Lehre finden, die dem intellektuellen Rahmen der Zeit angepasst ist.

Die mystische Erfahrung der Gründer wird sich auch in einem Moralsystem ausdrücken, welches das Ideal der Allzugehörigkeit in konkrete Formen übersetzt, die in der gegebenen Gesellschaft verwirklicht werden können.

Auch wird sie Rituale hervorbringen, deren Formen der Kultur dieser Zeit und dieses Ortes entnommen sind.

Das Wasser eines solchen neuen Brunnens kann, wenn die geschichtlichen Gegebenheiten das begünstigen, weiterfließen und zu einem breiten Strom anschwellen, der immer mehr Menschen neue Einsichten, ein neues Verständnis von Gerechtigkeit und neue Formen des Feierns schenkt.

Religionen neigen jedoch dazu, früher oder später ihre ursprüngliche Kraft zu verlieren.

Ein Grund dafür liegt darin, dass große Gemeinschaften es kaum vermeiden können, Institutionen zu werden. Alle Institutionen haben aber die Tendenz, ihren ursprünglichen Zweck zu vernachlässigen und stattdessen zum Selbstzweck zu werden.

Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass auch politische, akademische, medizinische und andre Institutionen zum Selbstzweck werden, nicht nur religiöse.

Eine weitere Gefahr für Religionen besteht darin, dass sie in den Bann des ‹Systems›[11] fallen können.

Wenn dies geschieht, friert ihre lch-DU-Spiritualität zu einer Ich-Es-ldeologie ein: Lehre, Moral und Ritual verwandeln sich in Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus.

Was sollen wir tun, wenn diese Katastrophe unsre eigene Religion befällt und das lebendige Wasser, das einst aus ihrem Brunnen sprudelte, sich in Eis verwandelt?

Wir können dieses Eis immer wieder auftauen ‒ durch die Wärme der Religiosität unsres Herzens.

Das Herz jeder Religion ist die Religiosität des Herzens.

Religiosität kann Religion wiederbeleben.

Wo eben noch Eis war, sprudelt dann wieder lebenspendendes Wasser.

Ist es also nicht die Religiosität unsres Herzens, auf die alles ankommt?»

3.2. «Die Religion religiös machen», in: Verbunden trotz Abstand (2021), 57-67; siehe auch: Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 200-204:

«Wie gelangen wir von der religiösen Erfahrung, sagen wir des Gründers oder jedes Mitglieds einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, zu den Religionen? Jeder Mensch, so behaupte ich, macht zwangsläufig drei Dinge mit dieser religiösen Erfahrung. Wir können gar nicht anders, wir tun das mit jeder Erfahrung, aber im Falle der religiösen Erfahrung wird es besonders deutlich.»

3.3 Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019):

Bruder David: «Nun können wir fragen, auf welche Weise die verschiedenen Religionen aus der uns allen gemeinsamen Religiosität entspringen. Ganz kurz gefasst: Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte und inspiriert durch besonders religiöse Menschen ‒ die Religionsstifter ‒ bringt eine Gemeinschaft Religiosität zu einem für ihre Kultur stimmigen Ausdruck. Daraus kann eine Tradition entstehen, die in der Geschichte fortbesteht. Religiosität ist also der Mutterschoß, aus dem die Religionen geboren werden.»

«Leider finden viele Leute heute, dass ihre Religiosität in den ihnen vertrauten Formen der Religion nicht mehr ausgedrückt wird. …

Um zu beschreiben, wie ich diese zwei Dimensionen in meiner eigenen Religion erlebe, verwende ich die Metapher von rostigen Rohren. Die Formen sind verrostet, aber das Wasser, das hindurchfließt, ist immer noch das lebensspendende Wasser. Ich kann entweder auf den Rost schauen oder ich kann das Wasser trinken. Unser säkulares Klima ist jedoch kalt und das lebensspendende Wasser gefriert durch unsere kalte Gleichgültigkeit. Wir brauchen also eine Form der Lehre, die uns zurückführt zu der spirituellen Erfahrung, von der Ken gesprochen hat. Wir brauchen Rituale, die uns helfen, diese Erfahrung immer wieder lebendig zu erneuern. Und wir brauchen eine Moral, die zeitgemäß ausdrückt, wie Menschen handeln, wenn sie sich dessen bewusst sind, dass sie zusammengehören. Aber sehr oft gefriert die Lehre und wird zu Dogmatismus, das Ritual wird zu Ritualismus und die Moral wird zu Moralismus. Wie können wir dann dieses Eis wieder auftauen und in lebensspendendes Wasser verwandeln? Wir können dieses gefrorene Wasser nur durch die Wärme unseres eigenen Herzens auftauen ‒ durch das Feuer unserer Religiosität. Dann wird es wieder lebendiges Wasser für uns selbst und für alle, denen wir begegnen. Deshalb ist es so wichtig, immer und immer wieder zu unserer Religiosität tief in unserem Herzen zurückzukehren. Nichts anderes kann uns genug innere Wärme geben, um das Eis von Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus wieder aufzutauen.»

3.4. Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation im Buch Geist und Natur (1989), 292-294:

«Wie hängen Mystik und Religion zusammen?

Das ist die große Frage. Wie kommt man von dieser Religiosität, die allen Religionen gemeinsam ist, zu den Religionen, die sich oft gegenseitig in den Haaren liegen?

Die Antwort lautet: notwendigerweise. Ich verwende dieses Wort hier gern. ‹Notwendig› heißt ja nicht nur zwangsläufig, es bedeutet auch, dass dadurch eine Not gewendet wird. Und wir haben eine Not, die gewendet werden muss, nämlich wann immer wir in unseren Dunkelstunden mystische Tiefe erleben, Gott erleben, dann fühlen wir die Notwendigkeit, unser Erlebnis zu interpretieren. Unser Verstand findet es notwendig, zu interpretieren. Das führt zur Lehre, die ein Bestandteil jeder Religion ist.

Selbst wenn es sich um Ihre private Religiosität handelt und sie sagen: ‹Bei mir ist das ganz anders, ich weiß, dass man das nicht interpretieren darf und nicht interpretieren kann›, dann ist das ja auch eine Lehre, dann hat Ihr Verstand genau dasselbe gemacht, nur haben Sie die apophatische Theologie[12] entdeckt.

Die gibt es ja auch in allen Religionen. Es kommt nicht darauf an, was wir über unsere religiöse Erfahrung sagen, aber wir müssen etwas darüber sagen, und damit haben wir den ersten Bestandteil jeder Religion, die Lehre.

Die Lehre entspringt notwendigerweise aus der Religiosität. Sie entspringt notwendigerweise aus der Mystik. Nur läuft sie jetzt Gefahr, sich zu verhärten.

Im Augenblick, wo etwas ausgesprochen oder gar niedergeschrieben ist, beginnt es, sich zu verhärten. So läuft die Lehre immer Gefahr, doktrinär zu werden. Diese Gefahr müssen wir sehen. Sie ist da. Wenn wir sie nicht sehen, kann sie wirklich gefährlich werden. Wenn wir sie sehen, können wir ihr möglicherweise entgehen.

Aber unser Wille tut auch notwendigerweise etwas mit unserem mystischen Erleben. Unser Wille sagt: ‹Ja! Diese Zugehörigkeit möchte ich leben. Und das ist der Ursprungspunkt aller Moral. Denn alle Systeme der Moral, wo immer wir sie finden und wie sie sich auch in ihrem Ausdruck voneinander unterscheiden, haben alle eines gemeinsam: ‹So verhält man sich denen gegenüber, zu denen man gehört.›

Die Gefahr ist, dass wir den Kreis derer, zu denen wir gehören, viel zu eng stecken. In unserem mystischen Erlebnis wissen wir, dass wir alle zusammengehören, dass der Kreis ins Endlose geht. So entspringt dem mystischen Erlebnis notwendigerweise auch die Moral.

Nur ist auch die Moral, im Augenblick, wo sie ausgesprochen wird, in Gefahr, sich zu verhärten, zum Moralismus zu werden nämlich. Auch diese Gefahr müssen wir sehen, sonst sind wir ihr schon verfallen. Wenn wir sie aber sehen, können wir ihr entgehen.

Und unsere Gefühle, die kommen ja auch da herein. Der ganze Mensch nimmt teil am mystischen Erlebnis. Verständnis, Wille, Gefühle; Leib und Seele; der ganze Mensch, das ganze Herz. Was aber machen die Gefühle?

Die Gefühle feiern notwendigerweise unsere Zugehörigkeit zum All. Daraus entspringt das Ritual. Sie können kein Ritual in der Religionsgeschichte aufzeigen, das nicht Feier von Zugehörigkeit ist; das ist allen gemeinsam.

Aber im Augenblick, wo wir ein Ritual haben, kann es sich auch wieder verhärten. Die erste Generation feiert wirklich das Zugehörigkeitsgefühl. Die zweite Generation kann sich nicht mehr genau daran erinnern, was eigentlich gefeiert wurde, ist aber sehr darauf bedacht, es genau so zu machen wie die erste Generation. Und so geht es weiter. Ritual kann sich verhärten in Ritualismus.

Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn Generation um Generation die Lehre interpretiert und dann die Interpretation der Interpretation interpretiert. Bevor wir es begreifen ‒ nach einigen tausend Jahren… Sie verstehen.

Was verlangt das von uns? Es verlangt, dass wir unsere Religion, welche auch immer das ist, religiös machen.

Es ist ein großes Missverständnis, wenn Leute sich einer Religion anvertrauen und glauben, die Religion würde sie religiös machen.

Jede Religion der Welt ‒ meine eigene eingeschlossen ‒ hat eine eingebaute Tendenz, irreligiös zu werden, wenn nicht immer wieder jeder einzelne Mensch aus dem mystischen Leben heraus sie erneut religiös macht; das ist unsere große Aufgabe.

Nur müssen wir uns jetzt fragen, ist dann die Religion nur ein Ballast für die Mystik, nur eine Hinderung?

Nein! Wir haben schon gesagt: Religion verhält sich zur Mystik wie eine Landkarte zur Entdeckungsfahrt. Die Karte kann sehr hilfreich sein, wenn wir sie nicht verwechseln mit dem Abenteuer selbst.

Auch der Entdeckungsreisende verlässt sich nicht blindlings auf die Karte. Er muss sie hin und wieder in dem einen oder anderen Punkt korrigieren.

Aber dieses Erneuern, Lebendigmachen, Umgestalten der Religion ist ja nur ein Teil von etwas viel Umfassenderem, das uns im Leben aufgegeben ist: nämlich ganz allgemein unser Leben aus der Mystik heraus zu erneuern. Unser Leben in allen Bereichen aus dem Erleben unserer Zugehörigkeit zu erneuern und schöpferisch zu gestalten.

Und damit sind wir schon bei der Arbeit, bei der Verbindung von Arbeit und Schweigen. Denn die Tiefe, das Schweigen, das Mysterium, der Mythos, das Dunkel muss sich aussprechen in Wort, Logos, Erhebung, Licht, Auge.

Die beiden Bereiche gehören zusammen. Sie zusammenzubringen, das ist unsere eigentliche Arbeit. Jede andere Arbeit ist unbedeutend, oberflächlich, aber hier ist unsere wahre Arbeit.

In der biblischen Sprache heißt sie Schöpfung.»

3.5. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution im Buch Die Chance der Menschheit (1988), 176-181, 182:

«Dies ist der Punkt, in dem die religiösen Traditionen zusammenlaufen: Sie gehen alle von der Mystischen Erfahrung aus. Es gibt keine einzige religiöse Tradition auf dieser Welt, die einen anderen Ausgangspunkt hat. Oft fängt sie historisch mit der mystischen Erfahrung des Religionsgründers oder Reformators an. Sie fängt aber immer psychologisch mit der mystischen Erfahrung des bzw. der Gläubigen an. Dies ist der Ausgangspunkt. Der Endpunkt jeder Religion dieser Welt ist ebenfalls derselbe.

Das Ziel jeder Religion ist, dass der Mensch in jeder Erfahrung die Zugehörigkeit zur letzten Wirklichkeit erkennt und entsprechend handelt. Das wäre der Himmel.

Warum sind dann die Religionen so spaltende Faktoren auf der Welt?

Wie gelangen wir von der religiösen Erfahrung zur religiösen Tradition, von der einen großen Religion zu den vielen Religionen?

Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie sich mystisches Erleben unweigerlich in Lehre, Ethik und Ritual umwandelt, also in die entscheidenden Elemente jeder religiösen Tradition.

Die Mystik ist zugegebenermaßen das Herz jeder Religion. Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens.

Wie kommt man aber vom inneren Kern der Religion zu all ihrem Drum und Dran?

Die Antwort lautet: Unweigerlich! Sie kommen unweigerlich auf die eine oder andere Weise dorthin, selbst in Ihrer Privatreligion. Unsere mystische Erfahrung setzt der Geist unweigerlich in Lehre, Ethik und Ritual um. Als erstes stürzt sich ihr Intellekt auf Ihre Erfahrung und beginnt sie zu interpretieren. Das können Sie nicht verhindern. Dies ist der Ausgangspunkt für alle religiösen Lehren. Und das ist auch die Definition für religiöse Lehre: Die Interpretation der religiösen Erfahrung.

Als Kinder wurden wir mit allerlei Lehren über Gott konfrontiert. Niemand hat uns aber jemals dazu ermutigt, Gott in uns selbst aus erster Hand zu entdecken. Das ist eine Ungerechtigkeit, ein Vorenthalten von Möglichkeiten. Unter Dogmatismus verstehe ich eine verfestigte Lehre, eine Lehre, die nicht mehr lebendig ist, die starr im Raum steht. (Ich möchte klarstellen, dass Dogmatismus und Dogma nicht zwangsläufig miteinander verbunden sind. …). Soweit der Intellekt.

Aber auch Ihr Wille ist aktiv. Immer wenn Sie eine Erfahrung machen, sagt Ihr Wille: ‹Das ist schön, das will ich noch einmal erleben›,

oder aber: ‹Damit will ich überhaupt nichts zu tun haben!›

Mit diesen zwei Möglichkeiten werden wir konfrontiert, wenn wir vom Willen sprechen. Doch leider ist es nicht so einfach, denn unser Wille und unser Intellekt arbeiten eng zusammen.

Nach Ihrer mystischen Erfahrung wird Ihr Wille vielleicht sagen: ‹Dieses Gefühl der grenzenlosen Einheit ist etwas Wunderbares. Das ist alles, was ich mir jemals gewünscht habe, diesen Weg möchte ich weitergehen.›

Ihr Intellekt warnt Sie aber: ‹Sei vorsichtig, du lässt dich da auf ein Wagnis ein. Du weißt nicht, was das für Folgen haben kann! Nicht so schnell!›

Ihr Wille drängt Sie, aber Sie haben Furcht. Hier befinden wir uns plötzlich mitten im Bereich der Ethik, der Moral.

Der Bereich, in dem die Furchtsamkeit gegen die Hingabe an das grenzenlose Verbundenheitsgefühl ankämpft, ist die Arena der Moral. Aus diesem Grund ist die Moral ein weiteres Element jeder Religion. Wenn ich tatsächlich auf diese Weise verbunden bin, wie ich es in meinen mystischen Augenblicken erfahren habe, dann muss ich bestimmte Konsequenzen ziehen. Doch die Furcht setzt irgendwo eine Grenze. In Ihrem wunderbaren mystischen Augenblick haben Sie keine Grenze zwischen Gebildet und Ungebildet gesetzt, keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß, Männlich und Weiblich, ja noch nicht einmal zwischen Menschlich und Nicht-Menschlich gemacht. Es gab für Sie überhaupt keine Unterschiede. Und wenn Sie mit allem verbunden sind, zu allem dazugehören, haben Sie auch allem gegenüber Verpflichtungen. Im Augenblick Ihres mystischen Erlebnisses akzeptieren Sie diese Verpflichtungen mit einem Glücksgefühl.

Ethik, Moral ist einfach ein Aussprechen dessen, wie wir leben sollen, wenn wir unsere Zugehörigkeit zur letzten Wirklichkeit ernst nehmen.

Unweigerlich fangen wir an, unsere Verpflichtungen zu formulieren. Schließlich leben wir nicht in einem Vakuum, sondern in einer Gesellschaft. Wenn die Moral zum ersten Mal formuliert wird, ist sie noch lebendig. Sie können sich immer noch auf Ihre Erfahrung rückbesinnen und verstehen, was Sie mit Ihrer Formulierung gemeint haben. Doch das Leben geht weiter, die Zeit vergeht, die einst formulierten Gebote und Verbote bleiben aber unverändert. Sie sind an einem anderen Punkt angelangt, Sie würden Ihre Verpflichtungen nun nicht mehr in derselben Weise ausdrücken. Da stehen sie aber, fest und unverrückbar, diese Gebote und Verbote, und sie haben zu Ihrem tiefsten Zugehörigkeitsgefühl keinen Bezug mehr. Wenn dies geschieht, dann verkommt die Moral zum Moralismus.

So wie wir zwischen Dogma und Dogmatismus unterschieden haben, können wir auch zwischen Moral und Moralismus trennen.

Die Moral ist der Ausdruck unserer Verpflichtungen aus dem letzten Verbundenheitsgefühl heraus. Die Formulierung dieser Verpflichtungen neigt dazu, sich zu verfestigen, solange bis sich die Moral selbst verfestigt. Der Unterschied ist da, der Bezug zur Erfahrung fehlt. Es kann sogar zum Widerspruch mit der lebendigen Erfahrung der Verbundenheit kommen. Je mehr Sie mit formalisierter Religion zu tun gehabt haben, umso mehr Beispiele können Sie dafür anführen, wie die Moral im Widerspruch zu dem steht, was eben die Religion predigt.

Um Moralismus zu verhindern, müssen Sie ständig zu der Erfahrung an der Wurzel einer jeden Religion zurückkehren.

Die Moral muss nach Ihrer mystischen Erfahrung beurteilt werden.

Das ist aber nur die eine Hälfte. Das mystische Erlebnis muss — wenn Sie es wirklich rein bewahren wollen — nach der Moral beurteilt werden. Die Konfrontation ist also in beiden Richtungen wirksam. Wenn Sie über ein gesundes spirituelles Leben verfügen wollen, müssen Sie dieses Zusammenspiel zulassen.

Es gibt einen dritten Bereich, in dem die Religion der mystischen Erfahrung entspringt, nämlich den rituellen Bereich. Es gibt keine Religion auf dieser Welt, die nicht irgendeine Lehre verkündet, keine, die nicht irgendwelche moralische Regeln setzt, und ebenso keine, die nicht über irgendwelche Rituale verfügt.

Wieso bringt aber die mystische Erfahrung ein Ritual hervor?

So wie der Intellekt die Erfahrung interpretiert und der Wille die Hingabe an sie zulässt, so zelebrieren Ihre Emotionen, Ihre Gefühle diese Erfahrung, und an diesem Punkt entsteht das Ritual.

Das Ritual ist in erster Linie ein Zelebrieren des grenzenlosen Zugehörigkeitsgefühls.

Überprüfen Sie dies anhand Ihrer eigenen Erfahrung.

Manche Rituale da draußen, in den traditionellen historischen Religionen, mögen bizarr anmuten. Doch vielleicht zelebrieren Sie alle Jahre wieder eine tiefe spirituelle Erfahrung. Nun, dann haben Sie einen rituellen Kalender, so wie die meisten Religionen. Vielleicht kehren Sie ständig an den Ort zurück, an dem diese Erfahrung Sie überwältigt hat. Nun, dies ist dann das Ritual des Pilgerns. Angenommen, Sie haben dieses Erlebnis an einem Strand gehabt, dann ist jeder Strand auf dieser Welt nun ein heiliger Ort für Sie, weil er Sie immer an diese Erfahrung denken lässt. Auch ein Baum kann auf diese Weise für Sie ein heiliger Baum werden. Das Ritual ‒ das lebendige Ritual ‒ ist die Zelebrierung des mystischen Erlebnisses. Es ist ein Gedenken an dieses Erlebnis. Das Ritual kann aber zum Ritualismus verkommen. Dies geschieht immer dann, wenn die rituelle Handlung Sie nicht mehr zu der ursprünglichen Erfahrung zurückbringt, sondern Selbstzweck wird. Sie wissen den Grund für das Ritual nicht mehr, Sie absolvieren es nur. So haben Sie es schon immer gemacht, so soll es gemacht werden und so führen Sie es auch aus. Es bedeutet überhaupt nichts für Sie. Das ist Ritualismus.

Das Ritual im eigentlichen Sinn aber ist dazu gedacht, Sie immer wieder zurückzuführen, nicht nur zu einem Ereignis in der Vergangenheit, sondern zu Ihrer ureigenen mystischen Erfahrung.

Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs. Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinander gelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren. Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinander gelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt. Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe. Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.

Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen?›]

______________________

[1] Apophatisch (von apo = weg, phatis = Rede, Wort) und kataphatisch (kata = hinab) sind zwei Wege der Spiritualität ohne Rede und Wort, der andere mit Rede und Wort. Die kataphatische Spiritualität «ist auf das reine, leere Bewusstsein hin orientiert. Inhalte werden als Hindernis angesehen. Solange das Bewusstsein an Bildern oder Konzepten festhält, ist es noch nicht dort, wo die eigentliche Erfahrung Gottes möglich ist. Bilder und Vorstellungen verdunkeln das Göttliche mehr, als dass sie es erhellen. Sie sind Glasfenster, die vom Licht, das dahinter leuchtet, erhellt werden. Wer das Licht sehen will, muss hinter die Glasfenster schauen. Alle Religionen haben auch Wege gesucht und gelehrt, die in die wortlose Erfahrung dessen führen wollen, was die Heiligen Schriften verkünden.» (Willigis Jäger, «Suche nach der Wahrheit: Wege ‒ Hoffnungen ‒ Lösungen», Verlag Via Nova, Petersberg 20054, 199)

[2] Im Buch steht «Ethik», die genaue Wiedergabe von «ethics» in der amerikanischen Originalausgabe «The Mystical Core of Organized Religion» (1990). Bruder David verwendet das Wort Ethik heute analog wie Religiosität im Unterschied zu den Religionen: Ethik ist unsere Verantwortung vor dem großen DU, dem Anruf des Lebens Augenblick für Augenblick. Die in Sätze, Verhaltensvorschriften gefasste Ethik, nennt er lieber «Moral». Siehe Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (26:28 und 30:26) und in Ergänzend: 3.1. aus dem Buch Orientierung finden (2021), 67:

«Ja, so möchte ich leben, in der Freude völliger Zugehörigkeit aller zu allen! In diesem ‹Ja›, mit dem unser Wille sich auf Zugehörigkeit ausrichtet, liegt der Keim jeder Moral. Unter Moral verstehen wir hier die Form, in der die Ethik sich in einer bestimmten Kultur ausdrückt.»

[3] Ebenso korr.

[4] Ebenso korr.

[5] LEHRE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 147:

«Lehre ist ‒ zusammen mit Moral und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Verstand und versucht, Einsichten allgemein menschlicher Religiosität in einer Sprache auszudrücken, die für die gegebene Kultur zur Zeit der Religionsgründung verständlich und überzeugend war. Wenn zu späteren Zeiten diese Sprache unverständlich wird, muss die gegebene Religion versuchen, sie in eine zeitgemäße Ausdrucksweise zu übersetzen, damit sie ihre Überzeugungskraft behält. Es ist von größter Wichtigkeit zu beachten, dass religiöse Einsichten nur in der Sprache der Dichtung annäherungsweise ausgedrückt werden können. Das ist ein Unterscheidungsmerkmal religiöser und wissenschaftlicher Aussagen.»

MORAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 151:

«Moral ist ‒ zusammen mit Lehre und Ritualen ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Sie wendet sich an den Willen (im Sinne unsrer Willigkeit) und versucht, Werte allgemein menschlicher Ethik so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zurzeit der Religionsgründung moralisch verpflichtend werden. Wenn sich zu späteren Zeiten die kulturellen Gegebenheiten ändern, wird die gegebene Religion versuchen müssen, neu entstandene ethische Probleme einzubeziehen, damit ihre Moral weiterhin als Leuchtturm für ethisches Verhalten dienen kann.»

RITUAL, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 152f.:

«Ritual ist ‒ zusammen mit Moral und Lehre ‒ ein Bestandteil jeder Religion. Rituale wenden sich an das Gefühl und versuchen Erlebnisse allgemein menschlicher Erfahrung ‒ Begegnungen mit dem Geheimnis ‒ so darzustellen, dass sie der gegebenen Kultur zur Zeit der Religionsgründung erlaubten, diese Erfahrungen als gegenwärtige Wirklichkeit zu feiern. Wenn zu späteren Zeiten die alten Rituale nicht mehr mit Begeisterung nachvollziehbar sind, muss die gegebene Religion versuchen, sie durch neue, zeitgemäße Formen zu ersetzen, damit sie ihre Begeisterungskraft beibehalten.»

[6] Ebenso korr.

[7] Nach einer unveröffentlichten Übersetzung ins Englische, mit freundlicher Erlaubnis von Coleman Barks und John Moyne, deren Band mit Übersetzung Rumis den Titel trägt «This Longing», Putney (Vermont) 1988.

[8] Film Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(43:06) Worum geht es im Leben letztlich? Die Antwort des Heldenmythos (43:35) Der Weg des Helden in drei Phasen: Ausgesondert werden – Verwandlung durch den Tod – Rückkehr als Lebensbringer für die Gemeinschaft
Ebenso Audio Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
Vortrag (44:04)

[9] Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 10 «Der mystische Kern der organisierten Religion», 135-146

[10] Siehe Anm. 2

[11] Im Buch: Orientierung finden (2021) «Das System ‒ die Macht, die Leben zerstört», 41:

«Das ‹System› kann nicht lächeln. Es kümmert sich um keinen Menschen. Ihm ist alles egal. Wir haben es ja mit einer völlig unpersönlichen Machtstruktur zu tun, obwohl sie wie von einem irrsinnigen Machthaber gesteuert erscheinen mag. In seinem Wesen ist das ‹System› uneingeschränkte Unpersönlichkeit ‒ Inbegriff eines leeren Nichts mit mörderischer Macht. Wo es eindringt, zerstört es das Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit und die Anerkennung persönlicher Einzigartigkeit ‒ die beiden Voraussetzungen von Menschenwürde. Sich gegen das ‹System› aufzulehnen, heißt also ‒ kurz und positiv auf eine Formel gebracht ‒ für Menschenwürde einzutreten. Menschenwürde entspringt letztlich der Ehrfurcht vor dem Geheimnis.»

[12] Siehe Anm. 1



Quellenangaben

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Wie können wir über innere Erfahrung von innen her sprechen? Die Antwort lautet: durch Dichtung. Wie die Sufis ‒ Professor Nasr nannte sie «Leute, die durch Andeutung reden»[1] ‒, so müssen wir uns in den Bereich vorwagen, von dem Rilke sagt: Das ist der Bereich der Dichtung.

Die Dichtung verdichtet unser Erlebnis und zerredet es nicht.

Darum möchte ich mit Ihnen ein paar Gedichte lesen. Die meisten sind von Rilke. Oft sind es nur Stellen aus Gedichten, aus Gedichten, die Ihnen wahrscheinlich gut bekannt sind, die Sie vielleicht sogar auswendig können. Anhand dieser Gedichte können wir vielleicht etwas aussprechen, was die Sache nicht zerredet, sondern verdichtet.

Gedichte lassen unser Erleben zu Wort kommen.

Sie brechen das Schweigen nicht, sondern das Schweigen kommt zu Wort im Gedicht.

So möchte ich beginnen mit ein paar Zeilen aus Rilkes Stundenbuch.

Rilke ist Mystiker, obwohl er meistens nicht so verstanden wird, und er sagt:

«DU Dunkelheit, aus der ich stamme,
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich,
wie sie's errafft,
Menschen und Mächte ‒
Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.

Ich glaube an Nächte.»

So spricht der Mystiker. Nicht, dass wir Schweigen und Wort, Versenkung und Erhebung, Dunkel und Licht trennen könnten.

Aber wir müssen in der Dunkelheit verwurzelt sein.

Wir müssen in der Tiefe verwurzelt sein.

So sagt Rilke auch:

«Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.

Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.
[2]

Die Weite, der Raum, die Leere ‒ diese Wirklichkeit erleben wir in unseren Dunkelstunden, die keineswegs verdunkelt sind, sondern die ein Leuchten hervorrufen, das unser ganzes Leben erhellt.

In unseren Dunkelstunden erfahren wir, dass wir ein zweites, zeitlos breites Leben haben. Aus diesen Stunden erwächst unsere Gotterfahrung. Ich verwende das Wort Gott hier zögernd.

Allzuoft ruft man damit Missverständnisse hervor. Ich möchte es aber erwähnen, damit alle jene, die sich mit dem Wort Gott wohlfühlen, wissen, worum es hier geht. Wir sprechen aber über ein Erlebnis, das auch all denen zugänglich ist, die sich mit dem Wort Gott nicht wohlfühlen. In unseren Dunkelstunden erleben wir das, was jene, die das Wort Gott richtig verwenden, Gott nennen. Unsere Dunkelstunden sind Stunden unserer eigenen mystischen Erfahrung

Ich wende mich hier jetzt an Ihre Erfahrung, an Ihre mystische Erfahrung, und niemand darf sagen, ich bin ja kein Mystiker.

Mystik heißt Erfahrung unserer letztlichen Zugehörigkeit.

Wer aber hat letzte Zugehörigkeit noch nie erfahren?

In Dunkelstunden, in wahren Herzstunden erleben wir diese tiefste Zugehörigkeit.

Und Gott, wenn das Wort richtig verwendet wird, ist der Bezugspunkt, der äußerste Bezugspunkt für unsere Zugehörigkeit.

Selbstverständlich ist das nur der kleinste gemeinsame Nenner. Von hier aus können wir den Gottraum erforschen, so wie man den Weltenraum erforscht. Ja, wir können in vielen verschiedenen Richtungen, von vielen verschiedenen Seiten her alle denselben Raum erforschen. Wir können auch Karten anfertigen aufgrund dieser Gottraum-Erforschungen. Karten sind nicht notwendigerweise ein Hindernis, im Gegenteil, sie sollen uns Hilfe sein auf unserer Gottraumfahrt. Wir dürfen nur die Karte nicht mit dem Abenteuer selbst verwechseln, und diese Gefahr besteht immer.

Darum sagt Rilke:

«Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.
Nur, dass ich mich aus seiner Wärme hebe,
mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige
tief unten ruhn und nur im Winde winken.»
[3]

Das ist der Gott, den wir alle gemeinsam haben, von dem wir nicht mehr wissen, als dass tausend Wurzeln aus ihm trinken, aus ihr trinken und dass wir uns aus dieser Wärme heben.

Und damit sind wir schon bei der Arbeit, bei der Verbindung von Arbeit und Schweigen.

Denn die Tiefe, das Schweigen, das Mysterium, der Mythos, das Dunkel muss sich aussprechen in Wort, Logos, Erhebung, Licht, Auge.

Die beiden Bereiche gehören zusammen. Sie zusammenzubringen, das ist unsere eigentliche Arbeit.

Jede andere Arbeit ist unbedeutend, oberflächlich, aber hier ist unsere wahre Arbeit. In der biblischen Sprache heißt sie Schöpfung.

Rilke spricht davon, wenn er zu Gott betet:

«Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, ‒
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
dass du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.»
[4]

[Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 290-292, 294]

«Was kann uns trösten?» ‒ in der Dunkelheit der Nacht, im Winter. Was tröstet uns?

Meine Antwort, das können Sie wahrscheinlich schon voraussehen, wenn Sie meine Bücher kennen, ist:

«Was uns tröstet, das ist die Dankbarkeit.»

Dankbarkeit ist immer die große Antwort, der große Trost.

Eichendorff betitelte eines seiner Gedichte «Dank».

Es ist ein Lebensabendgedicht. Er schreibt:

«Mein Gott, dir sag ich Dank,
Dass du die Jugend mir bis über alle Wipfel
In Morgenrot getaucht und Klang...
Und auf des Lebens Gipfel,
Bevor der Tag geendet,
Vom Herzen unbewacht
Den falschen Glanz gewendet,
Dass ich nicht taumle ruhmgeblendet,
Da nun herein die Nacht
Dunkelt in ernster Pracht.»

Die Dunkelheit der Nacht versöhnt.

Schon die Musik dieses Gedichtes ist unglaublich schön.

‹Da nun herein die Nacht dunkelt in ernster Pracht.›

In dem Rilke-Gedicht, das ich zu Anfang zum Morgen gelesen habe, heißt es:

«Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste.»[5]

Hier wird es erkannt: Dunkel und ernst kommt die Nacht, sie dunkelt in ernster Pracht.

Ich verstehe das Wort Dunkelheit in bewusstem Kontrast zu ‹Finsternis›.

Die Finsternis droht, die Dunkelheit aber versöhnt.

Die Finsternis ist etwas Bedrohliches, nicht aber die Dunkelheit.

Rilke im Stunden-Buch:

«DU Dunkelheit aus der ich stamme …

Aber die Dunkelheit hält alles an sich …

Ich glaube an Nächte.»

Wenn wir uns auf diese große Nacht verlassen, die alles an sich hält, wenn wir vertrauend uns auf diese Nacht einlassen, dann finden wir darin Trost. Sehr tiefen Trost.

Aber zur Dunkelheit gehört beides: im Jetzt sein … alles umfassend … und still sein. Niemanden ausgrenzen und ganz still werden.

[Und ich mag mich nicht bewahren (2012), 33-36, Und ich mag mich nicht bewahren (Audio-CD) (2012) und Audio-Vortrag: Fragen, die uns bewegen[6] (2005)]

[Ergänzend:

1. Texte

1.1. Impulskontrolle finden (2022), zugleich Auszug aus: Orientierung finden (2021), 96-99:

«‹Ich sprach zu meiner Seele, sei still und warte›, sagt T. S. Eliot. Aber er weiß auch, dass Stille beängstigend werden kann, weil sie uns des Lärms beraubt, mit dem wir uns gern ablenken von der Dunkelheit, die in uns aufsteigt, wenn wir still werden. Fürchte dich nicht, sagt daher der Dichter, du kannst der inneren Stille und Dunkelheit vertrauen. Und er schließt mit den tröstlichen Worten: ‹Die Dunkelheit wird das Licht sein und die Stille das Tanzen.›»

1.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 10, 14-22, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 2: DU Dunkelheit, aus der ich stamme

2. Audios

2.1. Lebendige Spiritualität (2015):
Schweigen:
(52:10) Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden – DU Dunkelheit, aus der ich stamme – Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (Das Stunden-Buch)

2.2. Vertrauen in das Leben (2014):
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(27:09) Hineinhorchen in DU Dunkelheit, aus der ich stamme (Rilke)

2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen – Goldegger Dialoge (18.-20.06.1992):
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(15:19) Das Leben führt uns immer wieder in Krisen:

«Man kann das vielleicht auch so sehen, dass zu einer Krise immer drei Phasen gehören, drei Elemente und das erste ist das Erlebnis: So geht es nicht weiter!

Diese Phase drückt sich meistens auch in Dunkelheit aus, ‹des Lebens Dunkelstunden›, wie Rilke das nennt.»]

___________________

[1] Seyyed Hossein Nasr: «Mystik und Rationalität im Islam», in: Geist und Natur (1989), 232

[2] «Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden» (Rilke, Das Stunden-Buch)

[3] «Ich habe viele Brüder in Sutanen» (Rilke, Das Stunden-Buch)

[4] «Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz» (Rilke, Das Stunden-Buch)

[5] «Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:

Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.

Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.

   Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.

Gieb mir die Hand.
»

(Rilke, Das Stunden-Buch)

[6] Fragen, die uns bewegen (2005):
(33:17) In der Lebensneige, in der Dunkelheit der Nacht, im Winter: Was tröstet uns?
Mein Gott, dir sag ich Dank (Eichendorff, Dank) ‒ DU Dunkelheit, aus der ich stamme ‒ Wenn es nur einmal so ganz stille wäre
(Rilke, Das Stundenbuch)]



Quellenangaben

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Alles, was ich mit Liebe zu tun vermag, kann zum Gebet des Tätigseins werden. Es ist zudem gar nicht notwendig, dass ich während der Arbeit oder beim Spielen an Gott denke. Zuweilen dürfte das sowieso kaum möglich sein.

Wenn ich zum Beispiel ein Manuskript korrigiere, ist es besser, ich konzentriere mich ganz auf den Text statt auf Gott. Wäre mein Geist zwischen beidem hin und her gerissen, so würden mir die Druckfehler wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz schlüpfen. Gott wird genau in der liebevollen Aufmerksamkeit anwesend sein, die ich der mir anvertrauten Arbeit zuwende.

Indem ich mich voll und liebevoll dieser Arbeit widme, gebe ich mich voll und ganz Gott hin. Das geschieht nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Spiel, etwa wenn ich Vögel beobachte oder einen guten Film ansehe. Wenn ich mich in Gott darüber freue, wird sich bestimmt auch Gott in mir darüber freuen. Macht nicht diese Kommunion, diese innige Verbindung das Wesen des Gebets aus? [Auf dem Weg der Stille (2016), 17f.]

Eine Lehrerin kommt beispielsweise nach einem Schulausflug in den Zoo völlig erschöpft nach Hause. «Und den ganzen Tag lang hatte ich keine Minute Zeit zum Beten», stöhnt sie.

Nun, möglicherweise hat sie aber den ganzen langen Tag nichts anderes getan, als zu beten. Ihr Herz war der Kontemplation im Handeln hingegeben, aber ihr Kopf hat es nicht einmal bemerkt.

Die Liebe, die sie voller Aufmerksamkeit für jedes einzelne Kind sorgen ließ, war die Liebe Gottes, die durch sie hindurchfloss. Indem sie sich innerlich dieser Liebe hingab, war sie den ganzen Tag mit Gott verbunden ‒ sozusagen ein Gebet ohne Ablenkung. Sie konnte es nicht riskieren, von ihrer Aufmerksamkeit für die Kinder abgelenkt zu werden.

Steckt aber ihr ganzes Herz darin, dann ist diese uneingeschränkte Aufmerksamkeit in diesem Fall ihre andächtige Aufmerksamkeit für Gott.

«Was aber, wenn ich nicht einmal an Gott denke?» könnte man fragen. «Kann das noch Gebet sein?»

Nun, atmest du noch, obwohl du nicht an die Luft denkst, die du einatmest?

Dein Handeln geht weiter, obwohl du nicht darüber nachdenkst. Und in contemplatio in actione wird Gott eben durch liebendes Handeln erfahren, nicht durch Nachdenken.

Es gibt unter uns echte Kontemplative, die gar nicht wissen, dass sie es sind.

Inmitten ihres geschäftigen Lebens praktizieren sie contemplatio in actione. Handeln.

Und doch sehnen sie sich nach Formen, die einer anderen Welt des Gebets angehören, statt sich immer mehr in der Welt zuhause zu fühlen, in der sie ohnehin leben.

Über Gott nachzudenken ist wichtig. Aber das Handeln in Gott führt zu tieferem Wissen. Liebende sind der Liebe näher als Gelehrte, die bloß über Liebe nachdenken. Wer denkt schon beim Küssen über das Küssen nach?

Während einer einfachen Tätigkeit wie Stricken ‒ einfach für meine Mutter, nicht für mich ‒ kann man über Gott nachsinnen und dennoch die Arbeit gut machen.

Wenn deine Arbeit im Maschineschreiben besteht, wird das schon schwieriger. Ein Gouverneur könnte sich als Gotterneur angeredet finden, aber abgesehen von Schreibfehlern kann wenig Schaden daraus entstehen.

Eine Lehrerin jedoch, die zweiundzwanzig Kinder in den Zoo führt, kann nichts hinzufügen, während sie das tut. Sie käme sonst vielleicht mit nur einundzwanzig Kindern zurück.

Sie kann nur zwischen Kontemplation im Handeln oder gar keiner Kontemplation wählen.

Und welch herrliche Überraschung ist die Entdeckung, dass sie Gott nicht nur während, sondern in ihrem liebenden Dienst finden kann.

Niemand wird durch äußere Umstände an einem kontemplativen Leben gehindert. Viele Menschen bemühen sich, ein äußerst aktives Leben andächtiger zu gestalten. Die Entdeckung der Kontemplation im Handeln könnte ihnen dies erleichtern und ihnen neuen Mut geben.

Aber auch hier ist eine Falle verborgen. Unsere Tätigkeiten entwickeln eine Art Zentrifugalkraft.

Sie haben die Tendenz, uns von unserer Mitte in Randbelange zu zerren. Und diese Zugkraft ist umso stärker, je schneller die Beschleunigungskraft unserer täglichen Tätigkeiten wirkt.

Dem müssen wir entgegenwirken, indem wir uns im stillen Zentrum unseres Herzens verankern.

«Meine Arbeit ist mein Gebet», sagt da jemand. Nun, umso besser! Schließlich sollen wir «allezeit beten». Arbeit sollte uns nicht vom Beten abhalten.

Wenn aber meine Arbeit zu meinem einzigen Gebet wird, dann wird sie nicht mehr lange Gebet sein. Ihr Gewicht wird mich aus meinem Zentrum ziehen. Es ist leicht zu hören, wenn sich ein Wäschetrockner ungleichmäßig dreht. Warum hören wir es nicht, wenn das Gleiche in unserem Leben geschieht? Vielleicht sollten wir anhalten und umladen. Vielleicht ist es Zeit für Nichts-als-beten, Zeit uns freizumachen, unsere Mitte zu finden und uns von unserem Herzen her neu auszurichten.

Wenn wir so wieder an unsere Arbeit herangehen, dann wird sie wirklich Gebet sein: contemplatio in actione.

Die Tradition der Shaker kennt ein Sprichwort, das die Idee der Kontemplation auf die einfachste Weise zusammenfasst:

«Die Herzen zu Gott und die Hände an die Arbeit.»

Und genauso lebten die Shaker. Als Beweis dafür, dass sie etwas von Kontemplation verstanden, müssen wir uns nur einen Shaker-Stuhl anschauen.

«Die Herzen zu Gott» bedeutet Aufmerksamkeit für die leitende Schau.

«Die Hände an die Arbeit» bedeutet, aus jener Schau Wirklichkeit zu machen.

Die unauflösliche Verwobenheit von Schau und Tat macht Kontemplation zu dem, was sie ist.

In der Gebetswelt der Liebe ist die Schau eine tiefe Bewusstheit des Zusammengehörens, während das Handeln jenes Zusammengehören folgerichtig in die Tat umsetzt.

Handelnde Liebe ist Ausdruck des Dankes für Einsichten der schauenden Liebe.

Im Lateinischen heißt das «gratias agere», nicht nur danken, sondern aus Dankbarkeit handeln.

Mit dem Herzen Gott zugewandt, erkennt die Liebe ihre Zugehörigkeit; mit den Händen der Arbeit zugewandt, handelt die Liebe dementsprechend. [FN 1) 152-154; 2-5) 156-158; 6) 155-157; siehe auch: Betet ohne Unterlass (1988)]

[Ergänzend:

Bruder David spricht von drei Innenwelten des Gebetes [Hyperlink zu Gebet ‒ drei Innenwelten]. In den ersten beiden ist die Stille oder das Wort zentral. In der dritten Innenwelt ‒ am Schnittpunkt von Stille und Wort ‒ das liebevolle Tun.

Der Fachausdruck für diese dritte Innenwelt des Gebetes ist: «Contemplatio in actione» ‒ «Kontemplation in Aktion»:

1. Auf dem Weg der Stille (2016), 36f.:

Das biblische Vorbild für Kontemplation ist Mose:

«In der biblischen Tradition wird die Kontemplation am Beispiel von Mose vorgestellt: Mose steigt auf den Berg, um dort oben vierzig Tage und vierzig Nächte in der Gegenwart Gottes zu verbringen. Dort wird ihm eine Vision des Tempels zuteil. Bei seinem Abstieg vom Berg bringt er nicht nur die Gesetzestafeln mit sich, also den Plan, gemäß dem das Volk zu einem Tempel aus lebendigen Steinen aufgebaut werden soll. Er trägt auch den Entwurf für den physischen Tempel, das Bundeszelt, das genau ‹nach dem Vorbild des Musters› angelegt werden sollte, das ihm auf dem Berg gezeigt worden war bei sich.

Diese beiden Phasen der Kontemplation gehören untrennbar zusammen: das Betrachten des Musters und die praktische Tat, nach dem Vorbild des Musters zu bauen.

Die Kontemplation in Aktion zeichnet der Umstand aus, dass dabei Betrachtung und Tat gleichzeitig stattfinden.

Eine Lehrerin, die einem Kind viel Liebe zukommen lässt, versteht Gott, der einfach dadurch liebt, dass er Liebe ist.

Die Schau Gottes wird ihr in ihrem Tun und durch dieses zuteil.

Wie verstehen wir denn jemals etwas anders als durch Tun?

Ein Sprichwort sagt: ‹Ich hörte und vergaß; ich sah und erinnerte mich; ich tat und verstand.›

Aus diesem Grund können wir die Kontemplation in Aktion ‹Gebet des Verstehens› nennen.»

2. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] im Kapitel: «Liebe: Ein ‹Ja› zur Zugehörigkeit»:

«Zur Liebe gehört eine Welt des Gebetes, die am Schnittpunkt von Wort und Stille steht.

Das Gebet der Liebe ist das Handeln.

Das Wort, im Glauben empfangen, fällt als Same in das stille Erdreich der Hoffnung und reift in der Liebe zur Ernte.

Im Handeln der Liebe gibt es keine Absicht, nur die Bereitschaft, Früchte zu tragen.

Und doch steht der aktive Aspekt hier so im Vordergrund, dass die Gebetswelt der Liebe den Namen ‹contemplatio in actione› trägt.

Das Handeln ist ein Grundbestandteil von Kontemplation, einer ihrer zwei Pole. Der andere Pol ist die Schau. Das ‹Kon› in Kontemplation schweißt Schau und Tat zusammen. Ohne durch die Tat verwirklicht zu werden, würde die Schau unfruchtbar bleiben. Das Gegenteil von Kontemplation im Handeln kann also unmöglich untätige Kontemplation sein. Das wäre ebenso ein Widerspruch wie blinde Kontemplation. Handeln gehört ebenso zur Kontemplation wie Schau.

Warum also diese Hervorhebung, wenn wir von ‹contemplatio in actione› sprechen? Hier ist eine Erklärung.

Im Gebet der Liebe ergibt sich nicht nur das Handeln aus kontemplativer Schau, sondern eben diese Schau entspringt ihrerseits kontemplativem Handeln.

Hier bietet sich eine Parallele aus unserer alltäglichen Erfahrung an. Manchmal möchtest du etwas tun, aber du sagst dir:

‹Ich sehe nicht ein, worum es da geht.› Dann versuchst du es doch, und im Tun siehst du, worum es geht. Siehst du? Dieses ‹Sehen› lässt uns wenigstens ahnen, dass Schau aus dem Handeln entspringen kann, letztlich selbst die Schau von Gottes Herrlichkeit.

Jede echte Form von Kontemplation bemüht sich darum, ihre Schau in die Tat umzusetzen.

Aber nicht immer entspringt die Schau unserem tätigen Einsatz.

Häufig verlangt unsere Suche nach Sinnschau, dass wir aus jeder zweckgebundenen Tätigkeit aussteigen.

Für die Gebetswelt der Liebe jedoch ist das Einsteigen in kontemplatives Handeln kennzeichnend.

Das soll nicht heißen, dass kontemplatives Aussteigen untätig sei oder der Liebe entbehrt. Ganz und gar nicht. Aber das ‹Ja› zum Zusammengehören macht die Liebe zu dem, was sie ist. Und dieses ‹Ja› beinhaltet Verfügbarkeit für den Einsatz.

Es ist daher am leichtesten, die Liebe in der Kontemplation dann zu entdecken, wenn das Sicheinsetzen besonders betont wird.

Stelle dir vor, du möchtest ein Bild von einem Bleistift zeichnen. Höchstwahrscheinlich wirst du zwei parallel verlaufende Linien ziehen und vorne eine Spitze hinzufügen. Aber ebenso gut könntest du einen kleinen Kreis zeichnen mit einem Punkt in der Mitte. Das ist die Frontalansicht eines Bleistifts. Front- und Seitenansicht zeigen den gleichen Gegenstand. Aber die eine Darstellung ist viel leichter zu erkennen.

Darum nennen wir die Kontemplation im Handeln die Gebetswelt der Liebe. Liebe ist in ihr am leichtesten zu erkennen.

‹Contemplatio in actione› drückt recht deutlich aus, was wir meinen: Kontemplation im Handeln, nicht nur während des Handelns.

Nur ein feiner Unterschied, aber er wird uns helfen, noch genauer zu definieren, was hier gemeint ist.

Meine Mutter strickt alle möglichen Pullover für ihre Kinder und Enkelkinder, jetzt sogar für ihre vier Urenkelkinder. Und während sie das tut, betet sie gern den Rosenkranz. Das ist Kontemplation während des Handelns. Während sie strickt, betrachtet sie die Rosenkranzgeheimnisse, und ihr Glaube nährt sich daran. Sie tritt ein in die Welt des Gebets, die für den Glauben kennzeichnend ist. Sie lebt von Gottes Wort. Aber sie betritt auch die Welt des Gebets der Liebe, einfach weil sie trotz der arthritischen Schmerzen in ihren Fingern liebevoll strickt. Dadurch versteht sie Gottes Liebe in und durch ihr eigenes Handeln. Das ist Kontemplation im Handeln, ein Weg, Gottes Liebe von innen her kennenzulernen. [FN 1) 150f; 2-5) 154-156; 6) 153-155]

3. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 69f., und TEIL II, 96, 162, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 14: «Werkleute sind wir, Knappen, Jünger, Meister» (Rilke, Das Stunden-Buch)

4. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):

Und die dritte Innenwelt des Gebetes «ist Contemplatio in actione, die Aktion, das Tun, und zwar nicht Kontemplation üben, während wir etwas tun – das kann sehr gefährlich werden, wenn es etwas Heikles ist, was wir tun und wir haben unsere Gedanken irgendwo anders –, sondern im Tun Gott finden. Im liebenden Tun erleben wir von innen her die Liebe Gottes, die durch uns fliesst. Und das ist Contemplatio in actione.»

5. Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 294-296, 300f.:

«Gott vollendet sich nicht ohne unser Zutun. Gott vollendet sich aber auch trotz unseres Versagens. … Und Gott ist immer noch größer. Wir bauen an Gott, wir bauen am Bild Gottes, und dieses Bauen ist Kontemplation.»

«Das also ist Kontemplation im tiefen Sinne, diese Verbindung von schauen und bauen. Wenn wir das in jedem Bereich unseres Lebens durchführen, dann kann der Dichter sagen:

‹Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
daß sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.›

(Rilke, ‹Alle, die ihre Hände regen›, Das Stunden-Buch)

Solange wir im Mysterium verwurzelt bleiben, solange unser Bauen im Schauen verwurzelt bleibt, im Mysterium, solange unser Handeln im Grunde der Kontemplation verwurzelt bleibt und unsere Arbeit in der Dunkelheit des Schweigens, aus der wir stammen, im Mystischen, so lange ist alles Gebet.

Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift.

Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:

‹Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.

Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift›

(Rilke, Das Stunden-Buch)»

6. Audios:

6.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun
(19:00) ‘Contemplatio in actione’: Das göttliche Tun in unserem Tun

6.2. Die Weisheit, die alle verbindet (2010)
Vortrag
(50:54) Und die dritte Innenwelt des Gebetes «heißt konventionell Kontemplation, ‹contemplatio in actione› das heißt, durch das Tun Gott finden. Durch das Tun Gott finden. Und nicht während des Tuns, sondern: Im Tun. So liebend, so lebendig, so kreativ im Handeln, dass Gottes Liebe, die Lebendigkeit Gottes, Schöpferkraft durch uns durchfließt. Und jeder von uns kann das tun, nicht nur die großen Künstler und großen Musiker, sondern jeder von uns ist dazu aufgerufen, dieses Gebet zu beten. Und wir können es, indem wir liebend und schöpferisch handeln, was immer unsere Aufgabe ist.»

6.3. Fragen in Wendezeiten (2010)
Fragerunde
(19:52) ‘Contemplatio in actione’

6.4. Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(31:47) Gott im Tun finden]



Quellenangaben

Text und Film von Br. David Steindl-Rast OSB

loslassen titelCopyright © - Barbara Krähmer

Der in der christlichen Tradition übliche Begriff der «Kontemplation» ist vom lateinischen Wort contemplari für «beschauen» abgeleitet. Die Wirklichkeit, die ursprünglich für diese Bezeichnung stand, war die der römischen Auguren, die am Himmel einen bestimmten Bereich in Augenschein nahmen, den sie templum nannten.

So war templum also ursprünglich kein Gebäude auf dem Boden, sondern ein Bereich am Himmel, auf den die Auguren, die professionellen Seher, ihre Augen richteten, um die unwandelbare Ordnung herauszufinden, gemäß derer die Dinge hier auf der Erde geregelt gehörten.

Die heilige Ordnung des irdischen Tempels ist lediglich das Spiegelbild der heiligen Ordnung oben.

Kontemplation besteht darin, diese beiden Tempel in Einklang zu bringen, wie die Vorsilbe con in contemplari andeutet.[1]

Ganz ähnlich wie diese römische Vorstellung ist auch die biblische: Mose baute auf der Erde das Heiligtum genau nach dem Vorbild der Himmelsschau, die Gott ihm auf dem Berg gewährt hatte. In der Bibel wird immer wieder betont, dass der Tempel auf Erden ganz getreu seinem himmlischen Vorbild entsprechen müsse. In diesem Sinn erfüllte Mose wahrhaftig die Rolle des Kontemplativen. Das war kein Zufall: Was er versuchte und was die Auguren versuchten, entsprang der gleichen Wurzel.

Die kontemplative Einstellung findet sich also tief in unserem Herzen und in unserer Sehnsucht nach universaler Harmonie verwurzelt.

Durch alle Zeitalter hindurch haben die Menschen sehnsüchtig zur Harmonie und Ordnung des sternenreichen Universums aufgeblickt und ihren Herzschlag auf dessen gemessene Bewegung eingestimmt.

An den lateinischen Begriff templum für einen klar umrissenen Beobachtungskreis erinnern nicht nur etliche damit verwandte Begriffe wie Temperatur, Temperament oder temporär, sondern natürlich auch Tempel und Kontemplation.

Seine Gangart auf einen universalen Rhythmus einzustimmen und so sein Leben in Harmonie mit einer universalen Ordnung zu bringen: das ist in unserer Tradition Kontemplation.

Der heilige Augustinus bringt diese Dynamik der Ordnung damit zum Ausdruck, dass er sagt: «Ordo est amoris», was bedeutet, dass die Ordnung einfach der Ausdruck der Liebe ist, die das Universum bewegt.

Auch Dante sagt das in der wunderschönen Zeile in seinem Paradiso, wenn er von «l'amor che muove il sole e l‘altre stelle» spricht, frei übersetzt: «der Liebe, die die Sonne und alle andern Gestirne bewegt.»

Doch Tatsache ist, dass sich zwar das ganze übrige Universum frei und anmutig in kosmischer Harmonie bewegt, aber wir Menschen nicht. Uns kostet es große Mühe, uns auf die dynamische Ordnung der Liebe einzustimmen.

Ab einem gewissen Punkt kostet es uns sogar die allergrößte Mühe, uns paradoxerweise überhaupt keine Mühe zu geben.

Das größte Hindernis, das wir überwinden müssen, ist die Anhänglichkeit, und sogar die Anhänglichkeit an unser eigenes Bemühen.

Bei der Askese handelt es sich um das professionelle Trachten danach, die Anhänglichkeit in allen ihren Formen zu überwinden.

Unser Bild vom Tanz sollte uns das verstehen helfen.

Die Loslösung, also einfach deren Gegenteil, lässt unsere Bewegungen frei und geschickt werden.

Die positiven Aspekte der Askese sind Aufgewecktheit, Wachsamkeit, Lebendigkeit. Wenn wir uns frei bewegen können, fangen wir an, die Tanzschritte zu lernen. Dann hören wir auf die Musik, stimmen uns auf sie ein und bewegen uns nach ihr.

Askese (in ihrem negativen Aspekt) ließe sich dann als Einübung der Entsagung verstehen, um in Einklang mit der universalen Harmonie zu kommen (also das positive Ziel zu erreichen).

Wenn diese Harmonie aber wirklich allumfassend sein soll, muss sie die gesamte Wirklichkeit umfassen. Weil nun aber die Kontemplation darauf abzielt, «die beiden Tempel zusammenzubringen», muss die gesamte Wirklichkeit für ihre innerste lichtvolle Struktur transparent werden, und die höchste Ordnung muss ihren Ausdruck in Raum und Zeit finden.[2]

Die verschiedenen Traditionen haben eine große Vielfalt von Formen dafür entwickelt, sein Leben klar zu ordnen, und zwar im Sinn dieser Ordnung. Besonders hervorstechend aus ihnen allen ist das, was wir als «Umwelt-Askese von Raum und Zeit» bezeichnen können. [Auf dem Weg der Stille (2016), 102-106]

Hausverstand, der uns Beziehungen wie die zwischen hoch, tief und niedrig verstehen lässt, muss älter sein als Sprache.[3] Wir haben Hausverstand von Haus aus. Und das Haus, in dem wir letztlich alle gemeinsam zuhause sind, ist das menschliche Herz.

Das Herz ist unser verlässlichster Ausgangspunkt. In der Art und Weise, in der unser Herz hoch und niedrig unterscheidet, ist die allgemein anerkannte Ordnung des menschlichen Weltbildes verankert.

Diese Ordnung entspringt gesundem Menschenverstand, der uns zugleich sagt, dass Ordnung höher bewertet werden muss als Unordnung. Wir wissen auch, dass es zwischen hoch und tief Stufen gibt und dass wir uns aufraffen müssen, so oft wir absinken. Das Hohe verlangt etwas von uns.

Unter diesem Punkt können wir Kontemplation besser verstehen.

Kontemplieren bedeutet, unsere Augen zu einer höheren Ordnung zu erheben, die uns auffordert, uns an ihr zu messen.

Das war die Absicht der Auguren. Das versuchte Stonehenge[4] zu verwirklichen: menschliches Leben an einer höheren Ordnung zu messen und so das Tun der Schau gemäß zu veredeln. Vor achtunddreißig Jahrhunderten standen Menschen wie wir unter dem weiten Gewölbe des Nachthimmels bei Stonehenge und verstanden etwas vom menschlichen Leben, das der Intellekt nicht zu fassen vermag. Nur das Herz ist für diese Schau hoch und tief genug. Nur ein Leben aus der Fülle wird dem Aufruf kontemplativer Schau gerecht. [FN 1) 57f.; 2-5) 60; 6) 61]

[Ergänzend:

1.  Film Kontemplation (2011)

2. Weitere Auszüge aus dem Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] im Kapitel: «Kontemplation und Muße». Siehe auch das Stichwort «Kontemplation» im Verzeichnis der Schlüsselbegriffe am Schluss des Buches:

«Wir sollten uns von diesem extravaganten Wort ‹Kontemplation› nicht irreführen lassen. Wenn Kontemplation ein Leben in schöpferischer Spannung von Zweck und Sinn bedeutet, wer darf sich dann ihrer Herausforderung entziehen? Und sobald wir uns der Herausforderung der Kontemplation stellen, beginnen wir jene Lebensfülle zu entdecken, nach der sich unser menschliches Herz sehnt.» [FN 1) 68; 2-5) 70; 6) 71]

«Viel zu lange wurde Kontemplation als die private Domäne der Kontemplativen betrachtet. Kontemplative waren diesem eingegrenzten Verständnis nach nur jene, die sich ausschließlich der Sinnschau widmeten, sich dem Zweck, dem Handeln jedoch verschlossen. Wir befreien Kontemplation aus den Händen der Spezialisten und geben sie all jenen zurück, denen sie von Geburt an zusteht: allen Menschen.

Häufig machten sie beispielhaft die Intensität deutlich, mit der wir uns auf den Sinn des Lebens einstimmen müssen, zeigten den Mut, den wir brauchen, um uns den Forderungen der Schau unseres Herzens zu stellen. Und doch wurden nur die größten unter ihnen zu Vorbildern für die Umsetzung dieser Schau in Handeln.

Vielleicht können wir Beispielhaftigkeit in beiden Bereichen nur von den größten unter uns erwarten.[5] Auf jeden Fall aber müssen wir alle uns um die Pflege beider Bereiche bemühen, wenn wir uns nicht schief und einseitig entwickeln wollen.[6]

Nur durch die Pflege einer kontemplativen Haltung gelingt es uns, zu harmonischen Menschenwesen zu werden. Wie also könnten wir die Kontemplation den Kontemplativen überlassen?» [Auszüge aus FN 1) 67f.; 2-5) 69f.; 6) 71]

«Was macht es so schwer, Schau und Tat in der Kontemplation zusammenzuhalten? Vielleicht die Tatsache, dass jede Hälfte der doppelten Herausforderung von Kontemplation für sich genommen bereits unsere Kraft zu übersteigen droht. Schau und Tat zusammengenommen scheint uns einfach zuviel verlangt. Wie ermüdend ist es bereits, immer und immer wieder die gleichen anstrengenden Arbeiten zu leisten, auf die Kleinigkeiten zu achten, so gut wir können Fehler zu vermeiden und geduldig zu bleiben, wenn sie trotzdem immer wieder auftauchen.

Und wie anstrengend ist es, das innere Auge auf das Licht gerichtet zu halten. Solange ich aber diese zwei Bemühungen getrennt verfolge, ist es noch verhältnismäßig leicht, weil ich selbst über Schau und Handeln bestimme.

In wahrer Kontemplation aber bestimmt die Schau über mein Handeln.

Aus der Schau entspringt die Aufgabe, die mit Anforderungen herausfordert. Wenn von einer anspruchsvollen Aufgabe die Rede ist, dann meinen wir mehr als anstrengendes Handeln. Handeln kann mich bloß müde machen. Die Schau aber, wenn ich mich ihr zu stellen wage, stellt Ansprüche und verlangt, dass ich trotz meiner Müdigkeit weitermache. Das kleine ‹Kon›, das Schau und Tat vereint, ist das, was Kontemplation anspruchsvoll und deshalb so schwierig macht.

Und doch, ließen wir diese kontemplative Spannung zwischen Tat und Schau zerreißen, dann würde jeder Zweck, den wir anstreben, seinen Sinn verlieren. Denn was ich Tat und Schau genannt habe, könnte man ebenso gut auch Zweck und Sinn nennen.

Vielleicht hast du lange Zeit schon einen Zweck verfolgt, und plötzlich erwacht in dir die Frage: Welchen Sinn hat denn das alles?

Zweck ohne Sinn ist nichts als Schinderei. Aber der Sinn, den du in deinem Zweckstreben findest, wird dich unausweichlich herausfordern. Er wird Ansprüche an dich stellen. Du bist nicht mehr blinder Aktivist, aber der neuentdeckte Sinn, der dich anspricht, stellt neue Anforderungen an dich. Es ein kleines bisschen klarer zu sehen, worum es im Leben geht, macht es spannender, lohnender, aber ganz sicher nicht leichter. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es etwas in uns gibt, das sich lieber mit der Plackerei abfindet, als sich der Herausforderung eines höheren Sinnes zu stellen und über uns selbst hinauszuwachsen.»
[FN 1) 60f.; 2-5) 62f.; 6) 64f.]

3. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 71-74, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 14: «Werkleute sind wir, Knappen, Jünger, Meister» (Rilke, Das Stunden-Buch)]

_____________________

[1] Siehe auch: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 22f.:

«Pater Damasus Winzen, der Gründer des Klosters Mount Savior, legte große Bedeutung darauf, dass in unserer Überlieferung das Verständnis von Kontemplation auf das lateinische Wort ‹Contemplari› zurückgeht. Hinter diesem Begriff steht das Bild (und ‒ ursprünglich ‒ die Wirklichkeit) der römischen Auguren, die einen bestimmten, fest umgrenzten Bereich des sichtbaren Himmels als ‹templum› bezeichneten.

Ursprünglich war ‹templum› also kein Gebäude auf der Erde, sondern ein Bereich am Himmel, auf den die Auguren, professionell zur Schau bestellt, den Blick richteten. Sie sollten auf diese Weise Einsicht in die unumstößliche, höhere Ordnung gewinnen, nach deren Vorbild alles hier unten geordnet werden sollte.

Die heilige Ordnung des irdischen Tempels ist ja Spiegelung der heiligen Ordnung des himmlischen.

Pater Damasus pflegte zu betonen, dass Kontemplation in diesem gegenseitigen Bezug der beiden Tempel bestehe, was ja auch das ‹con› in ‹contemplari› zum Ausdruck bringt.»

[2] Im Kapitel: «Die Umwelt als Guru» in Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 21-31, weist Bruder David ‒ im Kontext des Lebens im Kloster ‒ ebenfalls auf diesen Zusammenhang von Kontemplation mit Askese und der geheimnisvollen Ordnung des großen Tanzes hin:

[3] «‹Oben› und ‹unten› haben für uns Menschen eine Bedeutung, die analytisches Denken nicht ausloten kann. Unausweichlich sprechen wir anerkennend von ‹höheren› Dingen. Wir nennen sie erhöht, erhaben, über der Norm. Im Gegensatz dazu nennen wir das, was wir als minderwertig erachten, niedrig oder tiefstehend. Dies muss etwas damit zu tun haben, dass wir aufwachsen, und nicht wie Karotten nach unten wachsen. Nicht einmal der Unbeholfenste unter uns wird nach oben fallen, wenn er stürzt. Die Konsistenz, mit der oben und unten all unser menschliches Denken und unsere Sprache polarisiert, ist schon überraschend genug. Dass das Verhältnis oben zu unten überall das gleiche Werturteil impliziert (Verbesserung im Gegensatz zu Wertverlust), ist noch überraschender. Selbst ein Revolutionär, der sich zum Ziel gesetzt hat, das niederzuringen, was gegenwärtig oben ist, tut das aus der Überzeugung heraus, dass Gerechtigkeit über Ungerechtigkeit triumphieren sollte. Gleich welche Philosophien und Überzeugungen wir teilen, einig sind wir uns in dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wenn die Dinge auf dem Kopf stehen.

Vielleicht lohnt es sich festzuhalten, dass es für die Bedeutung von ‹hoch› durchaus einen Unterschied macht, ob wir es mit ‹niedrig› oder ‹tief› kontrastieren. Hoch und tief können manchmal zusammenpassen, hoch und niedrig jedoch niemals. Ein Mensch hoher Geisteshaltung kann tiefen Gedanken nachhängen, aber niemals niedrigen. Im Lateinischen bedeutet altus erhöht im Sinne von hoch und tief zugleich (die Hochsee ist tief), das Niedrige aber steht immer im Gegensatz zum Erhabenen. Es bedarf nicht viel mehr als des gesunden Menschenverstands, um diese Unterschiede zu erkennen. Hatte aber Chesterton Unrecht, als er darauf hinwies, dass gesunder Menschenverstand von nicht allzu vielen Menschen verstanden werde?» [FN 1) 57; 2-5) 59; 6) 60f.]

[4] «Stonehenge, das geheimnisvolle, mehr als dreieinhalbtausend Jahre alte Monument in England, besteht aus einer kreisförmigen Anordnung riesiger Steinsäulen. Viele von ihnen sind mehr als zehn Meter hoch und fünfzig Tonnen schwer. Niemand weiß, auf welche Weise sie aus einem dreißig Kilometer entfernten Steinbruch an diesen Platz transportiert wurden oder wie die riesigen Felsblöcke als ‹Querbalken› aufgesetzt wurden. Man ist sich noch nicht einmal sicher, wer diese große Leistung vollbrachte. Weder die zugrundeliegenden Ideen, noch die Ideale, welche so gigantische Anstrengungen beseelten, sind uns bekannt. All dies liegt in der Dunkelheit der Vor- und Frühgeschichte verborgen. Wir betrachten die komplizierte Anordnung der Säulen, Gräben, Aufschüttungen und Gruben, wie wir die in einen Stein getriebenen Runen betrachten würden. Wir können ihre Bedeutung nicht entziffern. Und doch stoßen wir auf einen Anhaltspunkt.

Der Grundriss von Stonehenge ist eindeutig auf die Stelle des Sonnenaufgangs zur Sommersonnenwende ausgerichtet, und ebenso zu anderen Punkten am Horizont, an denen Sonne und Mond an besonderen Tagen ihrer Zyklen aufgehen. Die ganze sorgfältig durchdachte Struktur wird somit zu einer gigantischen Sonnenuhr, und ebenso zu einer Monduhr, in die wir selbst eintreten können. Stonehenge übersetzt die Zyklen von Sonne und Mond in Architektur, Bewegung in Design, Zeit in Raum. Dieser kleine Teil der Erde ist nach den Himmeln ausgerichtet. Die oben beobachtete Ordnung wird unten verwirklicht. Hier liegt der Schlüssel zum Geheimnis von Stonehenge. Und das ist ebenso der Schlüssel zum Wesen der Kontemplation.

Häufig ist es hilfreich, die linguistischen Wurzeln eines Wortes zu verfolgen, wenn wir ein tieferes Verständnis seiner Bedeutung erlangen möchten. Die kleine Silbe ‹temp› in unserem ‹Kon-temp-lation› ist sehr alten Ursprungs. Gelehrte sagen uns, dass sie anfangs so etwas wie ‹mit einem Einschnitt versehen› bedeutet hat. Du machst einen Einschnitt oder eine Kerbe, und schon hast du ein einfaches Hilfsmittel, um zählen und messen zu können. Du kannst die Übersicht behalten über die Anzahl der Fische, die du beinahe gefangen hättest, wenn du jeden Beinahe-Fang mit einer Kerbe am Dollbord deines Bootes markierst. Zwei Kerben in geringem Abstand machen aus jedem Stock einen Maßstab und geben dir die Möglichkeit, die Fische zu messen, die dir nicht entkommen sind. Gleich wie weit entfernt von ihrer ursprünglichen Bedeutung von ‹Kerbe› oder ‹Einschnitt›, hat die Silbe ‹temp› auch heute noch etwas mit messen zu tun. Selbst im modernen Sprachgebrauch bezeichnet Temperatur das Maß von heiß und kalt, Temperament den Maßstab psychologischer Reaktion, Tempo das Maß zeitlich-rhythmischer Wiederkehr. Zu temperieren bedeutet (vor allem in der Musik) die Bestandteile im richtigen Verhältnis, im richtigen Maß zueinander anzuordnen.

Das Wort ‹Tempel› kommt von der gleichen Wurzel. Es ist das Wort, das am unmittelbarsten mit Kontemplation verwandt ist, und es beschwört Assoziationen mit tempelähnlichen Strukturen wie Stonehenge. Ursprünglich jedoch bedeutete das lateinische Wort für Tempel, templum, nicht die architektonische Struktur, sondern blieb näher an der Vorstellung vom Maß. Es bedeutete ein bemessenes Gebiet. Jenes bemessene Gebiet befand sich nicht einmal am Boden, sondern am Himmel. Erst später fing templum an, ein heiliger Bezirk am Boden zu bedeuten, der dem am Himmel entsprach, um schließlich das auf jenem heiligen Raum nach heiligen Maßen errichtete Gebäude zu werden.

Für die römischen Priester jedoch, die Auguren, war es das templum im Sinne eines Himmelsabschnitts, das sie bei ihrer Kontemplation im Sinn hatten. Das bedeutet, dass sie ihren Blick mit nie ermüdender Aufmerksamkeit auf ihn richteten, und aus dem, was sie dort sahen, den erfolgversprechendsten Handlungsablauf ableiteten. Im klassischen Rom kam es zu keiner öffentlichen Entscheidung, ohne dass der vorgeschlagene Plan mit dem übereinstimmte, was die Auguren sahen. Diese Praxis drückt eine Geisteshaltung aus, die älter ist als logische Folgerungen, ein archetypisches Syndrom, das sich unserer menschlichen Psyche tief eingeprägt hat. Noch heute haben wir Zugang zu jener Tiefe, und ihre Erforschung kann neues Licht auf die Kontemplation werfen.» [FN 1) 55-57; 2-5) 57-59; 6) 58-60]

[5] «Jene, die den Begriff «Kontemplation» zuerst in unseren christlichen Wortschatz aufnahmen, trotz der Tatsache, dass es sich dabei immer noch um einen technischen Terminus der rivalisierenden römischen Religion handelte, müssen ihn für unersetzbar gehalten haben. Sie dürften sich durchaus der Tatsache bewusst gewesen sein, dass Kontemplation für eine ursprüngliche und universelle menschliche Wirklichkeit steht. Und sicherlich erkannten sie, dass das Konzept zentraler Bestandteil der biblischen Tradition war. Es steht hinter einer ganzen Theologie des Tempels und verbindet Moses, den großen Kontemplativen, mit Salomos Tempel und mit dem Tempel, den die göttliche Weisheit erbaut; mit Jesus Christus, der sowohl als Personifikation der Weisheit wie auch des Tempel betrachtet wird, und mit seinem Körper, der neuen Menschheit, dem Tempel des Heiligen Geistes.

Heutzutage gilt Moses eher als der große Gesetzgeber und weniger als der große Kontemplative. Aber beim näheren Hinschauen passt er sehr gut in das kontemplative Modell. Er steigt den Berg hinauf zum höheren Reich, er setzt sich der transformierenden Schau aus, und das in einem solchen Maß, dass Leuchten von Gottes Glorie mit blendender Helligkeit von seinem Gesicht erstrahlt; und er bringt den Menschen nicht nur die Gesetze herab, sondern auch den Bauplan für den Tempel.

Wieder und wieder betont die Bibel, dass Moses das Zelt des Bundes genau nach dem Vorbild erbaut, das ihm auf dem Berg gezeigt worden war. Und selbst das Gesetz muss als eine Art Plan verstanden werden, nach dem das Volk Israel zu einem Tempel des lebendigen Gottes aufgebaut werden soll. Das Volk wird so zu lebendigen Steinen, die sich erheben, um das Abbild einer göttlichen Ordnung zu verwirklichen, an deren Vorbild am Ende jedes Abbild immer wieder scheitern muss.

Wahrhaft Kontemplative aber erkannten im Verlauf der Geschichte immer wieder, was getan werden musste. Was die Schau als notwendig zeigte, das setzten sie in die Tat um. Deshalb mussten einige, wie Katherina von Siena, Bernhard von Clairvaux oder Teresa von Avila so unermüdlich arbeiten. Der Tempel, an dem sie bauten, wächst immer noch.

Bernhard war dermaßen in seine innere Schau versenkt, dass seine äußeren Augen zeitweilig blind schienen. Als die oberen Fenster seiner Abteikirche repariert werden mussten, fragten ihn die dafür zuständigen Mönche nach seiner Entscheidung. Zu ihrer Überraschung wusste Bernhard nicht, wovon sie sprachen. In all den Jahren, so heißt es, habe der Abt nie in der Kirche aufgeschaut. Es war ihm nie aufgefallen, dass es überhaupt obere Fenster gab. Als es aber darum ging, Europa nach dem Licht seiner inneren Schau umzugestalten, da wurde Bernhard, der letzte der großen Kirchenväter, zum ersten internationalen Diplomaten eines sich entwickelnden christlichen Abendlandes.

Oder denken wir an Katherina von Siena. Noch in ihrer Jugend machte sie sich, wie die Jugendlichen einiger amerikanischer Indianerstämme, auf die Suche nach einer Schau. Jahrelang lebte sie in Abgeschiedenheit, auf nichts als die innere Schau ausgerichtet. Sie begrub sich selbst in Dunkelheit. Als das dreiundzwanzigste Kind ihres Vaters war sie, allein in einem Hinterzimmer des Hauses, gut versteckt. Und doch steht sie ein Jahrzehnt später im Rampenlicht der Geschichte. Als Botschafterin des Friedens überredet diese einfache Frau, noch nicht dreißigjährig, den Papst dazu, von Avignon nach Rom zurückzukehren. Die große Kontemplative stellt sich der Herausforderung ihrer Schau und wird so zu einer Frau der Tat.

Teresa von Avilas Leben macht deutlich, dass die Verbindung von Schau mit Tat mehr bedeutet, als innerlich Theorie in Praxis umzusetzen. Da gibt es ihre Schau vom Bewässern des Gartens der Seele und von der Reise zum leuchtenden Zentrum des Inneren Schlosses. Und nach außen hin gibt es ihre Verstrickung in Kirchenpolitik, in Kampf und Intrige. Auf den ersten Blick scheint beides durch Welten getrennt. Ihr wurde kein fester Plan für die Reformierung des Karmeliterordens gezeigt, der nur noch ausgeführt werden musste. So funktioniert Kontemplation nicht. Sie setzte bloß ihr Herz dem Strahlen «des nicht von Menschenhand gebauten Tempels» aus. Und in seinem Licht wurde ihr Schritt für Schritt klar, wo das Bauen des Tempels hier unten einer hilfreichen Hand bedurfte. Gehorsame Verwirklichung ihrer Schau machte aus ihr die große Kontemplative.» [FN 1) 58-60; 2-5) 60-62; 6) 61-64]

[6] «Nur durch die Aufrechterhaltung der Spannung zwischen dem Ideal und seiner Verwirklichung, zwischen Schau und Tat, dürfen wir hoffen, den Tempel zu bauen. Und nur durch den Bau des Tempels beweist die Kontemplation, dass sie echt ist. Das kleine Präfix ‹Kon-› (cum, mit, zusammen) sollte uns daran erinnern, dass die Schau allein nur halb Kontemplation ist. Bestenfalls verdient sie den Namen ‹Templation›. Kontemplation verbindet Schau und Tat. Tat ohne Schau ist blinder Aktivismus. Schau ohne Tat ist unfruchtbares Gaffen.» [FN 1) 59; 2-5) 61; 6) 62]



Quellenangaben

Gebet, Text, Filme, Audios und Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB

loslassen titelCopyright © - Rainer Lihotzky

«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!

Mir wird immer klarer: Alles hängt von einer Entscheidung ab: Lebensvertrauen oder Lebensfurcht.

Aber fast tatsächlich erschüttert irgendetwas mein Vertrauen.

Was soll ich dann tun?

Ich will mir bewusst machen, auf wie Vieles ich mich immer noch vertrauensvoll verlasse, ohne es zu beachten ‒ Atmung, Verdauung, Blutkreislauf; Stromnetz, Verkehrsnetz, Lebensmittelversorgung …

Mein schlafwandlerisches Vertrauen auf all dies will ich mir heute bewusst machen und es stärken.

In Furcht leben ist ja ärger als alles, was ich befürchten könnte.

Dir will ich also vertrauen, DU mein Leben.

Amen»

[DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), (85), 94]

[Ergänzend:

1. LEBENSVERTRAUEN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 146

«Lebensvertrauen ist unsre angeborene Grundhaltung. Misstrauen hingegen erlernen wir erst später und es bleibt eine intellektuelle Einstellung, die zu unsrem Alltagsverhalten dauernd in Widerspruch steht. Wir vertrauen ja ‒ meist ohne uns dessen ausdrücklich bewusst zu sein ‒ den Lebensvorgängen, ohne die wir keinen Augenblick weiterleben könnten. In einer solchen inneren Zerrissenheit zu leben, das kann uns krank machen. Vernünftiges Lebensvertrauen nimmt die vielen Beweise, die uns unsre physische Lebendigkeit von der Vertrauenswürdigkeit des Lebens liefert, ernst und baut darauf auf.

Wenn das Leben sich in den Bereichen von Atmung Stoffwechsel oder Blutkreislauf so verlässlich erweist, sollten wir uns dann nicht in allen Bereichen mehr auf die Weisheit des Lebens verlassen als auf unser begrenztes Wissen?

Wir dürfen vertrauen, dass uns alles, was das Leben uns bringt, zum Besten gereicht, auch wenn das im Augenblick nicht so offensichtlich ist.

Rückblickend können wir feststellen, dass die weisesten Entscheidungen vom Leben getroffen wurden, nicht von uns selbst.»

2. Filme:

2.1 Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 2f.:

(05:58) Isha Johanna Schury: «Wie können wir denn das Vertrauen in uns finden, wenn wir’s nicht spüren, wenn wir das Gefühl haben: Ach, wir haben die Verbindung zu diesem Vertrauen gar nicht so richtig. Wo können wir das denn finden?»

David Steindl-Rast: «Für viele Menschen ist das eine große Schwierigkeit. Weil es ihnen vielleicht genommen wurde durch schwere Erlebnisse und so. Aber wenn wir zurückschauen auf unser Leben ‒ und dazu brauchen wir gar nicht so besonders alt sein, wenn wir zurückschauen auf unsere Lebenserfahrungen, dann sehen wir, dass auch das Schlimmste, das uns zugestoßen ist, von dem wir gedacht haben: Also das ist jetzt wirklich das Ende und das ist nur schrecklich, dass auch das immer zum Besten war.

Also, dass Leben auch aus den größten Schwierigkeiten immer das Beste hervorbringt.

Ich habe das schon öfters erlebt, dass, wenn man Menschen einlädt, einmal zurückzuschauen und zu sehen, ob sich das in ihrem eigenen Leben bewahrheitet, dann alle sagen, auch die jungen: ‹Ja das ist schon eigentlich wahr, auch was mir die größten Schwierigkeiten gemacht hat, wurde schließlich doch eine Quelle neuen Lebens und neuer guter Erfahrungen›.

Dass wir aufs Leben vertrauen können und dürfen, ist eine Lebenserfahrung. Wenn wir nur still werden und darüber nachdenken.

Außerdem kann man sich auch fragen: Wenn ich ohne Lebensvertrauen lebe, was ist dann das Gegenteil?

Es ist Furcht. Es ist beständige Furcht. Das ist ja kein Leben. Das ist ja wie Tod, so hinzuleben, so mit ständiger Furcht.

Und leider leben viele Menschen mit dieser Furcht. Und darum ist es eine ganz wichtige Aufgabe, auch eine Aufgabe für ältere Menschen, den jüngeren Lebensvertrauen irgendwie zu vermitteln.

Das meiste vermittelt man durch sein Beispiel natürlich. Aber auch es verständlich zu machen, darin sehe ich auch für mich eine große und wichtige Aufgabe.»

2.2. Bruder David im Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019); Mitschrift des Vortrages, 1:

«Herzlichen Dank für die Einladung, ein paar vorbereitende Worte zu sprechen.

Und vielleicht sollten wir anfangen mit uns selber, sozusagen, jede und jeder von uns:

Was haben wir mitgebracht? Was bringen wir?

Was kann ich sicher sein, dass jede und jeder von Euch jetzt mitgebracht hat?

Und das Wort, das ist ein ganz wichtiges Stichwort, ist Lebensvertrauen ‒ Lebensvertrauen.

Wenn wir nicht Vertrauen ins Leben hätten, wären wir nicht hierhergekommen. Und dieses Lebensvertrauen wird durchwegs ganz was Wichtiges bleiben, denn Dankbarkeit ist ein Ausdruck des Lebensvertrauens, und eine Methode, das Lebensvertrauen immer wieder zu stärken.

Also es geht von Anfang bis Ende um Lebensvertrauen und das habt Ihr schon mitgebracht, das ist schon da.

Allerdings dieses Lebensvertrauen hat verschiedene Grade. Und vielleicht können wir uns jetzt fragen ‒ könnt Ihr Euch selber fragen:

Wo ist denn jetzt ungefähr der Temperaturstand meines Lebensvertrauens?

Null, Gefrierpunkt ist es sicher nicht, Siedepunkt wahrscheinlich auch nicht, also wo liegt es ungefähr?

Ihr braucht es nicht den andern sagen, aber es ist ganz gut, es selber zu wissen:

Wo stehe ich jetzt ungefähr in meinem Lebensvertrauen?»

3. Audios

3.1. Audio-Fokus aus dem Gespräch 2018 – Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» ‒ Zweites Kamin-Gespräch mit David Steindl-Rast / (22:04) «Lebensvertrauen, ein kostbares Gut»

3.2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag
(12:18) «Religiöser Glaube ist radikales Vertrauen aufs Leben. Das ist ein Akt, wir müssen uns dem anvertrauen. Wenn wir uns nicht anvertrauen, haben wir nicht das richtige Verhältnis zum Leben. Wir können wählen. Wir können uns dem Leben anvertrauen oder nicht.»

3.2.2. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag
(00:49) «Wenn ich mir vorstelle: Menschen, die jetzt in Irak oder in Syrien leben ‒ ich habe selbst Freunde dort, die all dieses Schreckliche erleben: Wie soll ich denen dann sagen: Vertraut, habt das Urvertrauen, die Verlässlichkeit in die Dinge, wenn so schreckliche Dinge passieren?»

Bruder David: «Ich glaube, das ist eine Frage, die sich vielen von uns stellt und daher bin ich sehr dankbar für die Frage. Wenn wir uns in einer solchen ganz schrecklichen Situation befinden ‒ und ich bin unter Hitler aufgewachsen, unter fallenden Bomben und alle unsere Freunde sind immer eingezogen worden und waren wenige Monate später tot. ‒ Ich habe solche Sachen erlebt:

Wenn wir mitten in einer solchen Situation sind, löst sich das ganz von selbst: Wir haben spontan Vertrauen aufs Leben.

Nicht: Ich vertraue dem Polizisten, oder dem Mann, der da aggressiv wird oder so: Das heißt’s nicht. Aber in dem Augenblick, wo ich mit dieser Aggression konfrontiert bin, vertraue ich ganz spontan aufs Leben.

Das Leben in uns ist so stark, dass es das einfach tut. Und je schwieriger die Umstände werden, um so leichter fällt es uns, wir haben gar keine Zeit, drüber nachzudenken. Es tut sich einfach.

Und wir kennen aus andern, weniger dramatischen Umständen, dass man manchmal, wenn man nicht Zeit hat zu überlegen, das Richtige tut und wenn jemand fragt: ‹Wie hast du denn das gemacht›? ‒ ‹Ich habe gar keine Zeit gehabt, mir zu überlegen, es hat sich einfach getan.›

Und diese Dinge, die sich so einfach tun, die sind das Richtige.

Und wenn wir in so ganz schwierigen Situationen sind, fließt das so durch uns durch.

Beweisen kann man es natürlich nicht, und ich hoffe, dass Sie nie in einer Situation sein werden, wo Sie‘s erleben, aber wer es erlebt hat, wer solche, ganz schwierige Situationen erlebt hat, der weiß: So geht’s. Das Leben in uns ist so stark, dass es dieses Vertrauen hat und das Vertrauen erfüllt wird.»

3.3. Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (Mitschrift) (2010), 9:

(43:06) Wir können von den Glaubenssätzen der Religionen zum Urglauben vorstoßen?

«Und dieser Urglaube ist das Vertrauen auf das Leben.

Das ist uns eingegeben. Das haben wir als Menschen.

Wir vertrauen dem Leben. Ob wir jetzt Buddhisten, Christen, Hindus, Atheisten, Agnostiker sind, alle ‒ jeder Mensch ‒ hat dieses tiefe Vertrauen auf das Leben, als Mitgift.

Und dieses Lebensvertrauen, das ist der Urglaube.

Manchmal wird dieser sehr schwach, wenn wir enttäuscht sind, wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, im Laufe des Lebens. Das kann große Schmerzen und Verhärtungen geben.

Aber tief im Innersten haben wir alle diesen Glauben. Und dieser Glaube hat Kraft und Wärme genug, um das Eis der ‹–ismen› (Dogmatismus, Ritualismus, Moralismus) zu schmelzen.»

3.4. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Br. David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:

(23:13) «Das Wachstum des Glaubenslebens ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung.»

(23:31) «Um den Glauben beten ist ganz entscheidend, aber wir sollen das nicht missverstehen als beten, etwas glauben zu können, sondern um den Glauben beten heißt in erster Linie: um Lebensvertrauen, um Gottvertrauen, um Vertrauen zu beten.

Wir beten um größeres Vertrauen und dieses Gebet wird immer sofort erhört, denn dieses Gebet ist schon die Geste, mit der wir uns dem Vertrauen öffnen.

Wir können nicht um Vertrauen beten ohne Vertrauen zu haben, dass das Vertrauen uns geschenkt wird. Diese Art von Gebet erfüllt sich gleich.

Aber es ist doch notwendig, immer wieder stehen zu bleiben und unser Herz in dieser Richtung zu öffnen.

Um Glauben beten, das ist ungeheuer wichtig. Wir vergessen das oft. Bis wir unten durch sind, und plötzlich wachen wir dazu auf.»

4. Interviews:

4.1 Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach:

«Es gibt manche Situationen, in denen mir das Lebensvertrauen und die Dankbarkeit schwerfallen. Ich leide öfters unter Atembeschwerden. Nicht frei atmen zu können, ist schon eine Qual. Dann stöhnt der Körper – und er stöhnt nicht ‹danke, danke›. Dann brauche ich eine Weile, um mich zu erinnern: Ich kann ja doch noch atmen, es wird schon wieder werden. Meine Dankbarkeit wird herausgefordert, das gehört wohl zum Leben. Je mehr man aber in Übung ist, umso kürzer dauert die Zeit, bis man im schwierigen Augenblick das Geschenk erkennen kann.

Um dankbar sein zu können, müssen wir uns auf das Leben verlassen. Dieses Vertrauen brauchen wir, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die sich uns bieten. Dabei handelt es sich um Gottvertrauen. Aber ich nenne es lieber Lebensvertrauen. Denn viele Leute machen eine Unterscheidung zwischen Gott und Leben. Sie betonen, sie hätten Gottvertrauen, beklagen sich aber über ihr Leben. Dabei ist genau das Leben, das sie so schrecklich finden, der Ort der Begegnung mit Gott. Wie Paulus sagt: «In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir» (Apostelgeschichte 17,28).

Sind Gott und Leben für Sie ein und dasselbe?

Gottes Wirklichkeit geht unendlich über alles hinaus. Aber wir erleben Gottes Gegenwart nicht anders als durch unsere Lebensumstände. Die Idee, dass ein Gott hoch oben im Himmel sitzt, ist keine christliche Vorstellung. Was wir ‹Leben› nennen, ist unsere Gottesbegegnung – Augenblick für Augenblick. Darauf gilt es zu vertrauen.

Und wenn das Vertrauen sich nicht einstellt?

Vertrauen ist das Schwerste überhaupt. Darum kommt in der Bibel so häufig der mutmachende Spruch «Fürchte dich nicht» vor – in der Weihnachtsgeschichte rufen ihn die Engel den Hirten auf dem Feld zu. Angst ist unvermeidlich im Leben. Aber wir sollten lernen, nicht mit Furcht darauf zu reagieren.

Wie ist das möglich?

Ich kann mich im Vertrauen üben, dass jeder Tag mir genau das bringen wird, was ich brauche – auch wenn es nicht immer das ist, was ich mir wünsche. Ich persönlich bin dabei dankbar für die Werkzeuge der christlichen Tradition wie etwa Gebete. Aber auch Menschen, die keiner Religion angehören, erfahren immer wieder: Alles, was wir wertschätzen, wird uns vom Leben geschenkt. Wir können lernen, darauf zu vertrauen.»

4.2 Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern (2019): Interview mit Bruder David von Michaela Gründler:

«Das ist die große Entscheidung: Vertraut man jetzt dem Leben oder misstraut man ihm auf Schritt und Tritt? Wenn man ihm misstraut, ist das Ärgste schon passiert. Viel schlimmer kann es ja gar nicht werden. Wenn man hingegen vertraut, ist das der Einstieg zur Beziehung zum großen Geheimnis. Ich verwende daher lieber Lebensvertrauen statt Gottvertrauen, aber es läuft auf ein und dasselbe hinaus.

Weshalb sagen Sie lieber Lebensvertrauen statt Gottvertrauen?

Ich bin sehr vorsichtig mit dem Begriff Gott. Den meisten Menschen in unseren Breiten wird ja schon sehr früh eine falsche Idee von Gott gegeben: die Idee, dass wir von Gott getrennt sind – schon als Geschöpfe, und durch Sünde noch mehr. Unsere angeborene Urreligiosität weiß aber, dass wir dem göttlichen Geheimnis innig verbunden sind.

Auch in der Bibel, wo Paulus zu Griechen in Athen spricht – einfach als Mensch zu Menschen –, da kann er auf nichts zurückgreifen als auf diese allgemein menschliche Religiosität, also sagt er: ‹Eure eigenen Dichter haben es ja schon gesagt: In Gott leben wir, bewegen uns und sind.›

Das ist nicht der Gott, der uns als himmlischer Polizeimann bespitzelt, der Gott, der fern von uns im Himmel thront und uns verurteilt. Dass wir ‹in Gott leben und weben und sind›, (Apostelgeschichte 17:28) ist ein Ansatzpunkt, den heute viele Menschen guten Willens annehmen können.

Wenn man das Lebensvertrauen verliert – wie lässt es sich wiedergewinnen?

Da kommt wieder die Dankbarkeit ins Spiel. Ich spreche dabei aber nicht von Dankbarkeit im Sinne, dass man jemandem für etwas dankt. Falls es in dein Weltbild hineinpasst, Gott zu danken, wunderbar! Aber wenn jemand überhaupt kein Lebensvertrauen hat, ist es besser, zu sagen:

Schau, du kannst atmen. Du kannst sehen. Du bekommst etwas zu essen, das dir schmeckt. Das alles schenkt dir das Leben. Wenn wir dort anfangen, wo wir uns am Leben freuen, dann gibt uns das ein bisschen Lebensvertrauen. Das Leben hält ja doch viel Gutes für uns bereit.»

4.3 Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview mit Bruder David von Anne Voigt [ebenso: Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017)]:

«Was ist Glaube für Sie?

Glaube ist ein radikales, mutiges Vertrauen in das Leben. Der Glaube an etwas kann aber auch ein Sich-Anklammern sein. Im Deutschen ist es missverständlich: Das Wort ‚glauben‘ bedeutet in der Alltagssprache gewöhnlich, etwas für wahr halten. Der religiöse Glaube wurde dann eben auch sehr häufig als ein Etwas-für-wahr-Halten von Glaubenssätzen verstanden und leider auch so gepredigt. Anstatt sich an Glaubenssätze zu klammern, ist es viel wichtiger, sich vertrauensvoll auf das Leben einzulassen.

Wie geht das, sich aufs Leben einzulassen?

Das Lebensvertrauen wird uns im Normalfall geschenkt. Erweist sich die Umwelt eines Babys als vertrauensvoll, vor allem die Mutter, ist eine Voraussetzung bereits erfüllt.

Der zweite Pfeiler ist, dass die Umwelt einem Menschen früh Vertrauen schenkt. Wenn sich jemand mir gegenüber als vertrauenswürdig erweist, darf ich mich verlassen. Und wenn mir Vertrauen geschenkt wird, kann ich mich finden. Bei einem Menschen, der diese beiden Erfahrungen schon sehr früh erlebt hat, ist das eine sehr gute Grundlage.

Hatten Sie dieses Glück?

Ich muss dankbar zugeben, dass mir das sehr früh geschenkt wurde. Das Leben bringt uns aber immer wieder in Schwierigkeiten und macht uns Angst. Es ist sehr schwierig, sich in solchen Momenten nicht zu fürchten und durch diese Ängste ins Weite zu gehen. Jeder kennt solche Situationen und jeder reagiert anders, da gibt es psychische und psychophysische Prägungen. Ich bin persönlich depressiv veranlagt.

Sie haben Depressionen?

Ich habe immer wieder Depressionen, zum Glück meistens nur sehr kurze. Das sind schon große Belastungsproben für das Lebensvertrauen. Aber worüber man mit jedem sprechen kann und sollte, ist die Frage:

Was ist die Alternative zu Lebensvertrauen. Lebensangst?

Solange wir nicht durch psychophysische Belastungen eingeschränkt sind und eine Wahl haben, kann man immer wieder nur sagen: So schlimm es auch ist: Mit Lebensvertrauen auf schwierige Situationen zuzugehen hat mehr Chancen und ist viel angenehmer, als Lebensangst zu haben.»

4.4 Zeit ohne Druck (2017): Interview mit Bruder David von Heinz Niederleitner:

«Zum Lebensvertrauen gehört das Vertrauen, dass das Leben mir immer genug schenkt.

Zeit ist ein ganz wichtiges Element, das uns geschenkt wird.

Deshalb ist es ein ganz wichtiger Aspekt des Lebensvertrauens, sich darauf zu verlassen, dass das Leben mir immer genügend Zeit schenkt – auch wenn es nicht so ausschaut. Und warum schaut es nicht so aus? Weil ich etwas anderes will, als das Leben mir gibt.

Natürlich darf ich mir wünschen, für dieses und jenes mehr Zeit zu haben. Aber das Gefühl, dass nicht genug Zeit da wäre, darf ich ersetzen durch vertrauensvolles Ausnutzen der Gelegenheit, die das Leben mir jetzt schenkt.

In jedem Augenblick kann ich schauen, wie ich ihn so verwenden kann, dass ich auch das bekomme, was ich mir erträume und wünsche.

Dabei werde ich unter Umständen draufkommen, dass es mir möglich ist, etwas weniger zu schlafen.

Unter anderen Umständen ist es notwendig, etwas mehr zu schlafen.

Wenn ich eine halbe Stunde früher aufstehe, habe ich vielleicht Zeit für das, was ich mir wünsche; oder wenn ich das auslasse, was mir nicht so wichtig erscheint, bietet mir das Leben die Gelegenheit, stattdessen etwas zu machen, was mich wirklich freut.

Wir können uns eine Wertordnung setzen: Wie will ich die Zeit nutzen, die mir das Leben schenkt?»

4.5 Lebensquell und Schale (2017): Interview mit Bruder David von Heinz Niederleitner:

«Die Unzufriedenheit, die wir empfinden, hängt damit zusammen, dass wir dem Leben nicht vertrauen; wir bezweifeln, dass es uns genug gibt. Wir wollen immer etwas anderes oder mehr. Dabei gehört es ganz wesentlich zum Lebensvertrauen, daran zu glauben, dass uns das Leben immer gibt, was wir brauchen.

Zum Lebensvertrauen, das ja dasselbe ist wie Gottvertrauen, gehört die Kreativität im Vertrauen darauf, dass ich aus meinem Leben etwas machen kann.

Das Leben bietet mir immer die Gelegenheit, etwas daraus zu machen, es zwingt mich nicht.

Aus dem Augenblick etwas zu machen, ist viel mehr als sich einfach mit ‹Zwängen des Lebens› zu arrangieren. Das ist keine kreative Lösung.

Lebensvertrauen heißt ja auch, dass das Leben mich nicht zwingt, sondern, dass es mir Gelegenheit anbietet.»]



Quellenangaben

 Text von Br. David Steindl-Rast OSB

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Wir dürfen dem Leben vertrauen, dürfen uns dem Geheimnis, das uns «entgegenwartet», anvertrauen.

Es gibt Anlässe, bei denen dieses Vertrauen klar anerkannt und feierlich zum Ausdruck gebracht wird – Momente gegenseitigen Sich-Anvertrauens zweier Menschen oder eines Menschen und einer ganzen Gemeinschaft.

Das kann eine Verbindung und Bindung auf Lebzeiten sein.

Das setzt voraus, dass die Menschen, die sich in Freiheit so aneinanderbinden, mit solcher inneren Klarheit sehen, wir gehören zusammen, dass sie einander versprechen können, füreinander da zu sein, was immer auch kommt.

Solche geheimnisvollen Augenblicke, denn das sind sie ‒ Momente voll der Gegenwart des großen Geheimnisses –, solche Augenblicke der Lebendigkeit wurden seit vorgeschichtlichen Zeiten mit Ritualen gefeiert.

Man könnte meinen, dass Menschen einander dadurch versprechen, miteinander durchzustehen, was kommen mag.

Aber richtig verstanden, drücken sie ihr Vertrauen aus, dass das große Geheimnis sie miteinander durchbringen wird.

Dieses gewichtige und weitreichende Vertrauen ist von nun an ihre gemeinsame Berufung.

Was kommt, wird nicht leicht sein: Nüchterne Erwägungen zeigen uns das.

Wer die Entscheidung hinterfragt, wenn es schwer wird, verschwendet Energie, die er braucht, um dem Versprechen treu zu bleiben – dem eigenen, dem des Gegenübers und dem Versprechen des Lebens, das in solchen heiligen Riten klarer spricht als sonst.

Diese Klarheit der Berufung ist ein großes Geschenk, aber wohl auch ein seltenes.

[Dem Leben vertrauen (2022), Auszug aus Orientierung finden (2021): «Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern›!», 100f.]

[Ergänzend:

Aus dem Buch: Orientierung finden (2021), 95f. zu den Schlüsselworten «Verpflichtung» und «Bindung»:

«Wie aber könnte man von uns erwarten, dass wir uns für eine so viel längere Zeit als unsere Vorfahren bindend zu etwas verpflichten? Und dies, während alles um uns herum sich so viel schneller verändert als früher.

Da kann es uns helfen, zu unterscheiden zwischen Form und Inhalt einer Verpflichtung.

Wir können einem Versprechen treu bleiben, obwohl die Form, in der wir es verwirklichen, sich im Laufe des Lebens verändert.

Unsere Großeltern machten diese Unterscheidung noch nicht. Die Mentalität der Gesellschaft hätte es damals nicht gestattet. Eine Lebensverpflichtung einzugehen, das bedeutete ganz selbstverständlich, sie lebenslang in ein und derselben Form zu verwirklichen.

Heute ist die Gesellschaft da flexibler und für Veränderungen offener geworden. Jetzt ist es ohne Weiters möglich, etwas, wozu wir uns fürs ganze Leben verpflichtet wissen, in ganz verschiedenen, aufeinander folgenden Formen zu verwirklichen.

Wir verpflichten uns unserem tiefsten Verlangen, nicht dieser oder jener Form seiner Verwirklichung.

Mehrere Berufe können wir nacheinander ausüben und dabei eine Vielzahl unserer Begabungen entfalten, unserer tiefsten Berufung getreu und ohne vom Weg unserer bleibenden Begeisterung abzuweichen.»]



Quellenangaben

 Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

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Meine Vision für die Welt? Meine Hoffnung für die Zukunft?

Das Thema tönt gar groß, deshalb möchte ich mit etwas Kleinem beginnen, sagen wir – mit Krähen. Sie sind meine besonderen Freunde. Gerade als ich diese Zeilen schreibe, verschlingt eine von ihnen, die Scheue unter meinen regelmässigen Gästen, das Vogelfutter, welches ich für sie hinausgestellt hatte.

Das bringt mir ein kurzes Gedicht von Robert Frost in Erinnerung,[1] das einen Einstieg liefern könnte für unsere Überlegungen zu einer Vision für die Welt und einer Hoffnung für die Zukunft, wenn überhaupt.

«Wie eine Krähe
das Schneegeriesel
von einer Hemlocktanne
auf mich herabschüttelte,

hat meinem Herzen
einen Stimmungswandel gegeben
und rettete einen gewissen Teil
eines Tages, den ich bereut hatte.»

Sicher kannst du dich an eine ähnliche, eigene Erfahrung erinnern: Irgendein komischer kleiner Vorfall brachte dich zum Lächeln, veränderte deine Stimmung, und plötzlich sah die Welt heller aus.

Wenn dir das jemals geschah, dann hast du den Schlüssel in der Hand, um eine Kausalkette von großer Tragweite zu verstehen:

Jede Veränderung der inneren Einstellung verändert die Art und Weise, wie man die Welt sieht, und dies wiederum verändert die Art und Weise, wie man handelt.

Wenn Robert Frost behauptet, dass die kleine List der Krähe einen Teil seines Tages «rettete», den er bereut oder bedauert hatte, meint er dies im wahrsten Sinn eines befreienden Wandels des Herzens.

Ich bin sicher, dass er, zuhause angekommen, Frau Frost in einer besseren Stimmung begrüßte als er dies ohne den Schubs der Krähe hätte tun können. Und es ist nicht abzusehen, was dies bei ihr bewirkte ‒ und wie sie hinterher ihren Hund behandelte oder freundlicher mit ihrem Nachbarn sprach.

Aber was genau hat diese glückliche Kettenreaktion ausgelöst? Was gab Frosts Herzen diesen Stimmungsumschwung?

Versetze dich in seine Situation, wie er schlecht gelaunt durch den Wald latscht.

Dann fühle, wie der Schnee plötzlich auf dich herabrieselt. Rüttelt dies dich nicht vom Grübeln auf?

Eine solche Störung könnte dich wütend machen, wenn du darauf beharrst, mit deinen Problemen beschäftigt zu bleiben. Aber ‒ Überraschung ‒ der eisige Schneeschauer reißt dich aus deiner Selbstversunkenheit heraus und du schaust den gegebenen Tatsachen ins Auge: eine Hemlocktanne, eine Krähe, schmelzender Schnee in deinem Nacken. Zack!

Eine rettende Veränderung der Stimmung.

Was diese Veränderung verursachte, ist Dankbarkeit.

Dankbarkeit? Ich höre einen Chor der Ungläubigkeit.

Zugegeben, Frost war nicht in der Stimmung, der Krähe zu danken.

Aber Dankbarkeit ist mehr als Bedanken.

Bedanken kommt mit Denken.

Dankbarkeit geschieht vor dem Denken, in dieser kurzen Lücke zwischen dem Schneegeriesel und dem Gedankengang.

Es ist die spontane Antwort des Herzens auf das unentgeltlich Gegebene.

Diese Dankbarkeit löst Energie aus.

In der Lücke zwischen der Überraschung und dem ersten Gedanken, nimmt die mächtige Woge einer Intelligenz, welche weit über den Gedanken hinausgeht, Besitz von uns.

Wir können unser Denken zu einem Werkzeug dieser schöpferischen Intelligenz machen, die stetig die Welt hervorbringt und erhält.

Wenn wir uns dieser gütigen Kraft bereitwillig öffnen, hat sie die Kraft alles zu ändern, was nicht mit ihr in Einklang ist.

Dankbarkeit ist Denken im Einklang mit der kosmischen Intelligenz, die uns in dankbaren Augenblicken inspiriert.

Sie kann mehr als eine Stimmung verändern, sie kann die Welt verändern. [Eine Vision für die Welt (2006)]

[Ergänzend:

1. Eine Vision für die Welt (2006): 5. Schritt:

«Höre die Nachrichten von heute und überprüfe wenigstens eine Sache mit deinem gesunden Menschenverstand:

Gesunder Menschenverstand ist bloß ein anderer Name für das mit der kosmischen Intelligenz vermählte Denken.»

2. Erinnerungen an die letzten Tage von Thomas Merton im Westen (1968):

«Thomas Merton: ‹Das Wichtigste ist, dass wir hier sind, in einem Haus des Gebets. Hier gibt es eine wahre und echte Verwirklichung des zisterziensischen Geistes, eine Atmosphäre des Gebets. Genießt es! Nehmt es in euch auf. Alles, die Redwood-Wälder, das Meer, den Himmel, die Wellen, die Vögel, die Seelöwen. In all dem werdet ihr eure Antworten finden. Da ist alles vernetzt.› (Die Vorstellung der ‹Vernetzung› war für Thomas Merton mit geheimnisvoller Bedeutung beladen.)

Drei Seiten der Kapelle hier bestanden aus soliden Blockwänden. Die vierte Seite, ganz aus Glas, öffnete sich auf eine von Mammutbäumen umsäumte Lichtung hin. Die Bäume waren so hoch, dass trotz dieser hohen Fenster von den näheren Bäumen nur die riesigen Säulen des Baumrumpfes zu sehen waren. Die Zweige darüber konnten nur erahnt werden durch die Richtung, in der sie die Sonnenstrahlen auf den Waldboden durchscheinen ließen. Ja, selbst die Natur, welche ‹Our Lady of the Redwoods› (Kloster in Kalifornien) umgab, trug zur Atmosphäre des Gebets bei, ganz zu schweigen von den Frauen, welche hier beten und ihrer charismatischen Äbtissin.

An diesem Tag hatten wir als Evangelium das Gleichnis vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest gehört. Gleichzeitig mit dem Kommuniongang begannen fliegende Ameisen durch den ganzen Wald auszuschwärmen und erhellten ihn mit Zehntausenden von glitzernden Flügelchen wie in einem Hochzeitszug. Alles ‹vernetzt›.»

3. Musik der Stille (2023), 66f.:

«Robert Frost berichtet von einem Landarbeiter, der frühmorgens hinausgeht, um das Heu zu wenden. Der Mäher hatte seine Arbeit bereits viel früher am Morgen getan und war längst weggegangen.

Und nun fühlt sich dieser Mann beim Heuwenden etwas verlassen und einsam und sagt sich: ‹Ich muss allein sein ‒ genau so wie der andere es war. Wie alle es sein müssen, so sinniert er in seinem Herzen, ob sie zusammen arbeiten oder getrennt.›

Dann aber wird seine Aufmerksamkeit von einem Schmetterling auf ein Blumenbüschel gelenkt, das der Mäher stehengelassen hat, weil es zu schön war, um abgemäht zu werden.

Das gemeinsame Erlebnis der Schönheit dieser Blumen bewegt ihn, sich anders zu besinnen: ‹Und gleichsam träumend unterhielt ich mich brüderlich mit jemandem, den ich nicht einmal in Gedanken zu erreichen hoffte.›

‹Menschen arbeiten gemeinsam›, sagte ich ihm von Herzen, ‹ob sie zusammen arbeiten oder getrennt›.»

4. Audio-Fokus aus DVD Gespräch 2006 – Der Atem der Stille, Mystik heute – Gespräch « Bewusstsein, Denken und das bewusste Sein.

5. Der Anspruch von Menschen und Tieren (1994):
Audio: Archetypen (C.G. Jung)[2] und das Erleben von Schamanen
Audio: Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze]

______________________________

[1] Robert Frost: «Dust of Snow»:

«The way a crow
Shook down on me
The dust of snow
From a hemlock tree

Has given my heart
A change of mood
And saved some part
Of a day I had rued.»

[2] C. G. Jung: «Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.» [Quelle: Synchronizität (Wikipedia)]



Quellenangaben

 Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

hausverstand titelCopyright © - Georg Stahl

Hausverstand ist im süddeutschen Sprachraum ein treffendes Wort für gesunden Menschenverstand. Spirituell gesunde Menschen verstehen den geheimnisvollen Kosmos, in dem wir leben, als ihr Zuhause, ihr Daheim. Und dieses Verständnis bestimmt, wie sie leben:

Menschen mit Hausverstand verstehen es, sich an ihrer Zugehörigkeit zum Erdhaushalt zu orientieren und fühlen sich darin zuhause. Darum sind sie auch furchtlos und vertrauensvoll. «Nichts ist, was dich schrecken darf, und du bist daheim», wie der Dichter Werner Bergengruen (1892-1964) sein Vertrauen ausdrückt[1], dass wir im unergründlichen Geheimnis ein Heimatrecht haben.
[Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 141f.]

Hatte Chesterton Unrecht, als er darauf hinwies, dass gesunder Menschenverstand von nicht allzu vielen Menschen verstanden werde?

Hausverstand, der uns Beziehungen wie die zwischen hoch, tief und niedrig verstehen lässt, muss älter sein als Sprache. Wir haben Hausverstand von Haus aus. Und das Haus, in dem wir letztlich alle gemeinsam zuhause sind, ist das menschliche Herz. Das Herz ist unser verlässlichster Ausgangspunkt. In der Art und Weise, in der unser Herz hoch und niedrig unterscheidet, ist die allgemein anerkannte Ordnung des menschlichen Weltbildes verankert. [FN 1) 59f.; 2) 59f.; 61]

Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun.[2]

Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden.

So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.

Er ist eine vibrierende Lebendigkeit  zur Welt, in der Welt und für die Welt. Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit. Und er wird zu einer Grundlage für unser Tun und Handeln.

Im Geist zu handeln, heißt so zu handeln wie Menschen, die zusammengehören. Wir gehören alle zusammen in diesem «Erd-Haushalt» wie Gary Snyder es so schön nennt, und ein spirituelles Leben zu leben, bedeutet so zu handeln wie bei sich zuhause, wo man zusammengehört. Das und nur das ist moralisches Tun.

Alle Moral, welche je in irgendeiner Tradition in der Welt entstand, kann auf das Prinzip reduziert werden, so zu handeln wie man denen gegenüber handelt, zu denen man gehört.

Oft wird gesagt, dass sich die Vorstellungen, was Moral ist oder nicht, von Gesellschaft zu Gesellschaft total unterscheiden. Was in einer als moralisch angesehen wird, sogar als tugendhaft, wird in einer anderen als unmoralisch gebrandmarkt. Aber dies sind nur oberflächliche Widersprüche.

Im Grunde sagt jedes moralische Gesetz, das je geäußert wurde, in seiner Tiefe:

«So handelt man denen gegenüber, zu denen man gehört.»

Die Unterschiede werden durch die Grenze bestimmt, die wir ziehen zwischen denen, die zusammengehören und denen, die wir als Außenseiter betrachten.

Gesunder Menschenverstand – gerade weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben – zieht keine Grenzen.

Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschließt. Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört.

Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten: Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschließen. Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein.

Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden. Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden Familie sind.

Diese globale, alles einschließende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem «Reich Gottes» meinte. Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt. Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff Autorität.[3] [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 1-4]

Hier, in meinem Herzen, kann ich:

Angst in mutiges Vertrauen umwandeln,
Aufhetzung in Stille, Verwirrung in Klarheit,
Isolation in ein Bewusstsein von Zugehörigkeit,
Abneigung in Liebe und
irrationales Verhalten in gesunden Menschenverstand.

Was deine Dankbarkeit für dich selbst bewirkt, ist ebenso wichtig wie, was sie für die anderen bewirkt.

Dankbarkeit verstärkt dein Zugehörigkeitsbewusstsein. Dieses Zugehörigkeitsbewusstsein wiederum verstärkt deinen gesunden Menschenverstand ‒ welcher jedoch zu oft verwechselt wird mit einer durch sture Gewohnheit festgelegten Denkweise.

Wahrhaft gesunder Menschenverstand und Dankbarkeit sind in ihrer Aufgeschlossenheit alles andere als festgelegt.

Gesunder Menschenverstand ist bloß ein anderer Name für das mit der kosmischen Intelligenz vermählte Denken.

Dein Ja zur Zugehörigkeit bringt dich in Einklang mit den gemeinsamen Anliegen, die von allen Menschen, allen Wesen für diese Sache geteilt werden.

In einer Welt, die wir gemeinsam tragen, macht nichts Sinn, außer der gesunde Menschenverstand.

Wir haben nur einen Feind: Unser gemeinsamer Feind ist die Gewalt. Der gesunde Menschenverstand sagt uns: Gewalt können wir nur beenden, wenn wir aufhören gewaltsam zu handeln; Krieg ist kein Weg zum Frieden. Höre die Nachrichten von heute und überprüfe wenigstens eine Sache mit deinem gesunden Menschenverstand. [Eine Vision für die Welt (2006)]

[Ergänzend:

1.1. Ein neuer Grund für Dankbarkeit (2002) ‒ der Beitrag von Bruder David im Buch: Der Tag an dem die Türme fielen: Symbolik und Bedeutung des Anschlags (2002):

«Die Gewalt hat ihre Wurzeln in jedem Herzen. Es ist mein eigenes Herz, in dem ich Angst, Unruhe, Kälte, Abneigung und Regungen von blinder Wut zu erkennen habe. Hier in meinem Herzen kann ich
Furcht in mutiges Vertrauen,
Unruhe und Verwirrung in Stille,
Abgetrenntheit in ein Gefühl der Zugehörigkeit,
Abneigung in Liebe verwandeln
und von irrationalem Verhalten zum Common Sense zurückkehren.»

1.2. Siehe auch: Fünf Schritte, um Dankbarkeit zu leben (2002):

2. Auf dem Weg der Stille (2016), 72-74:

«Der Begriff ‹spirit› (‹Geist›) ist schon derart missbraucht worden, dass ich überglücklich wäre, wenn man ihn vollständig fallen lassen und stattdessen immer von ‹common sense› sprechen würde. In unserer heutigen Umgangssprache bezeichnet dieser Ausdruck das Gemeinte viel besser. Er ergibt Sinn; er ist über die Sinne mit dem Körper verbunden; er ist gemeinschaftlich (common), grenzenlos gemeinschaftlich.

Zudem ist ‹common sense›, ‹Gemeinsam-Sinn› eine Grundlage für das Handeln, fürs Aktivwerden.

Im ‹common sense› sind Handeln und Denken eng miteinander verknüpft. Von daher ist ‹common sense› mehr als Denken. Er ist die vibrierende Lebendigkeit der Welt, in der Welt, die Lebendigkeit für die Welt, für unsere Umwelt. Und er ist ein Wissen dank des Umstands, dass man dazugehört, und damit eine Grundlage für das Tun, denn im Geist zu handeln heißt, so zu handeln, wie Menschen handeln, wenn sie zusammengehören.

Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Moralsystemen sind lediglich die Grenzen, die wir für das Dazugehören ziehen: ‹Das sind diejenigen, gegenüber denen du moralisch handeln musst, und die anderen sind die anderen da draußen.›

Wenn du aber wirklich mit ‹common sense›, also allumfassendem Gemein-Sinn lebst, hat das keine Grenzen. Du lebst dann mit einer Moral, die ausnahmslos alle einschließt, und deshalb verhältst du dich gegen jedermann so, wie du dich gegenüber denen verhältst, zu denen du gehörst.

Das meinte Jesus, als er vom ‹Reich Gottes› sprach ‒ und jeder andere Begriff dieser Art aus jeglicher anderer religiöser Tradition passt darauf.

Richtig verstandener ‹common sense› ist autoritativ. In diesem Kontext von Religion und Spiritualität ist die Frage der Autorität äußerst wichtig.»

3. Wie das Göttliche in uns wächst (2005):
Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 04:

«Wenn man genau hinschaut, sagt jede Moral, ob sie jetzt ganz primitiv oder ganz verfeinert und ausgearbeitet ist, überall dasselbe.
Nämlich: So verhält man sich denen gegenüber, mit denen man zusammengehört.
Und da ist der Ursprung dieses Zusammengehörigkeitsgefühl
So verhält man sich!
Der Unterschied zwischen den Moralsystemen ist nur:
Wer dazugehört?»

4. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(29. April 2011) Dem Welthaushalt freudig dienen:
(12:23) Nur mit existentiellem Mut, mit Vertrauen können wir uns dem Universum als Erdhaushalt zuwenden, in dem wir Ordnung und Zugehörigkeit finden und uns darin daheim fühlen]

_____________________

[1] Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, Die Arche 1961: «Poeta Creator: ein Glückwunschgedicht», 158-162.

Bruder David in: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 54-56:

«In einem seiner überschäumendsten Gedichte ‹Poeta Creator›, lässt Werner Bergengruen uns so recht die Schöpferfreude des göttlichen Dichters fühlen, der die ganze Welt als Liebesfest erfunden hat.»

Siehe auch Audio: Mit allen Sinnen leben (1993):
(45:17) Wo wir uns vor nichts fürchten müssen: Bruder David schließt mit den letzten Zeilen des Gedichts «Poeta Creator» von Werner Bergengruen

[2] Zugleich die ursprüngliche Bedeutung von Autorität.

[3] Siehe: Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2018), 5.

Ergänzend aus FN 1) 163; 2-5) 167; 6) 166: Schlüsselbegriffe: «Autorität»:

«Was Autorität angeht, so scheint unsere Gesellschaft blind. Fraglos gehen wir davon aus, dass Menschen von Natur aus äußerer Autorität widerstreben. Das Gegenteil ist wahr. Der Durchschnittsmensch ist außerordentlich anfällig dafür, dem Druck äußerer Autorität nachzugeben, selbst dann, wenn sie im Widerspruch zur Autorität des eigenen Gewissens steht.

Wegen dieser menschlichen Schwäche besteht die Aufgabe äußerer Autorität nicht darin, sich selbst zu verfestigen und durchzusetzen, sondern vielmehr darin, die innere Autorität verlässlich aufbauen zu helfen, indem sie die Betreffenden ständig ermutigt, auf ihren eigenen zwei Beinen zu stehen.

Es ist eine Frage und eine Herausforderung.

Die Frage lautet: Klingt das wahr vor deiner eigenen Herzenserfahrung?

Die Herausforderung ist: Wach auf und erlaube deinem Herzen, die ganze Bandbreite von Wirklichkeit zu erfahren.»



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

common sence titelCopyright © - Ronja Forster

Ein alter englischer Spruch lautet: «Common sense is anything but common»«Common Sense ist alles andere als üblich.»

Darin steckt viel Wahres. Nach Belegen müssen wir nicht lange suchen: Vieles von dem, was in unserer Welt gesagt und getan wird, beruht ganz gewiss nicht auf Common Sense. Dessen werden wir uns in aller Klarheit bewusst, wenn wir den Verstand einsetzen, über den wir selbst verfügen. Wir haben ihn sehr wohl, nur halten wir uns nicht an ihn.

Eine schlichte Redewendung zeigt, dass wir um dieses Spannungsverhältnis wissen. Da schüttelt ein Freund uns an den Schultern und ruft uns verzweifelt zu: «Um Himmels willen, besinn dich doch endlich auf deinen gesunden Menschenverstand», deinen Common Sense!

Das impliziert doch, dass wir durchaus den Common Sense hätten, den wir brauchen, wir müssten ihn nur wirklich einsetzen. Nicht an Common Sense fehlt es, sondern an der Bereitschaft, ihn entsprechend zu leben. Warum ist das so? Worin besteht unser Problem?

Wenn wir sagen, wir müssten bloß unseren gesunden Menschenverstand benutzen, und das in dem Sinn meinen, wie wir einen Schraubenschlüssel handhaben, um ein undichtes Wasserrohr zu reparieren, sind wir auf dem Holzweg.

Wirklich Common Sense einzusetzen bedeutet viel mehr: Es bedeutet, aus ihm heraus zu leben, ihn zu atmen, so wie wir die Luft atmen, an der alle Lebewesen Anteil haben.

Seinen gesunden Menschenverstand anzuwenden heißt, gemäß etwas Verstandenem zu leben.

«Verstehen» ist eine lntensivform von «Stehen».

Um etwa den Wald zu verstehen, müssen wir tief in ihm stehen, lange und still. Oder um den Fluss zu verstehen, müssen wir in ihn eintauchen, uns in ihm versenken ‒ so wie in Musik oder in ein Buch, das wir verstehen wollen. Um einen Berg zu verstehen, genügt es nicht, seinen Namen zu kennen oder vom Tal aus hinaufzuschauen, sondern wir müssen ihn besteigen, müssen auf dem Gipfel stehen. Und so müssen wir auch mit beiden Füßen in der Welt stehen, bevor wir sie verstehen können als das Haus, das Heim, zu dem sie uns wird, wenn wir unseren Hausverstand, unseren gesunden Menschenverstand, unseren Common Sense anwenden.

Unsere Vernunft vernimmt nur den Auftrag; unser Verstand führt den Auftrag aus.

Gesund kann unser Menschenverstand nur sein, wenn er sich nicht allein im Hirn befindet, sondern von Herzen kommt ‒ vom Herzen als dem innersten Lebensbereich, in dem wir mit allem Leben auf der Welt zutiefst eins sind.

Bevor wir Common Sense - Gedanken haben können, müssen wir also ein Gespür für das entwickeln, was common, was uns allen gemeinsam ist. Wie sollten wir denn erwarten können, dass Common Sense in unsere Köpfe einzieht, wenn wir unsere Herzen noch gar nicht weit aufgetan, noch nicht tief durchgeatmet und noch kein Gefühl dafür bekommen haben, was uns allen gemeinsam, was uns allen common ist?

Um uns die Gemeinsamkeit allen Lebens deutlich vor Augen zu führen, brauchen wir uns bloß an einen Feldrain oder einen Waldrand zu setzen. Unser Blick fällt auf Wiesen, Sträucher und Bäume.

Je genauer wir aber hinschauen, desto mehr entdecken wir.

Die Wiese besteht aus Gräsern und unzähligen Kräutern und Blumen: Da wachsen Wegerauten, Löwenzahn, Hahnenfuß, Wiesenschaumkraut und Thymian; dazwischen hat sich Moos angesiedelt, in dem Ameisen umherkrabbeln. In einer Astgabel der Haselstaude spannt eine Spinne ihr Netz. Ein Rotkehlchen hüpft von Zweig zu Zweig. Käfer klettern über grobe von Flechten bedeckte Steine. Alle diese Pflanzen und Tiere stehen in engster Wechselbeziehung zueinander und zu ihrer Umwelt, zu Erde und Sonnenlicht, Tau, Regen und Wind.

Das Ganze funktioniert aber nicht nur mechanisch, sondern wird von einem gegenseitigen Einvernehmen gesteuert, zu dem jedes Lebewesen seinen Teil beiträgt ‒ und das Ganze ist doch mehr als die Summe aller Teile. Die Wiese am Waldrand ist ein einziger großer summender Haushalt und er wird zusammengehalten und gelenkt von einem einzigen vibrierenden Common Sense.

Doch machen wir uns nichts vor. Die Harmonie, wie wir sie in der Natur vorfinden, unterscheidet sich von unserem romantischen Wunschdenken. Der Löwe ruht keineswegs friedlich neben dem Lamm ‒ und auch nicht das Rotkehlchen neben dem Regenwurm oder die Katze neben dem Rotkehlchen. Unser Begriff «Nahrungskette» ist allzu steril-distanziert; er lässt uns die gnadenlose Tatsache vergessen, dass Lebewesen davon leben, einander zu töten und gegenseitig aufzufressen.

Die Natur lebt nach dem großen Gesetz vom Fressen und Gefressenwerden.

Warum aber das Ganze nicht als einziges großes Mahl betrachten ‒ sogar als Hochzeitsmahl?

Die Geschöpfe feiern auf Kosten anderer, mit ihresgleichen sind sie in Intimität verbunden. Jede einzelne Blume auf der Wiese signalisiert in strahlender Unschuld ihre nackte Geschlechtlichkeit ‒ bevor sie von einer Kuh gefressen wird. Das Gesumme und Gebrumme auf der Wiese ist Hochzeitsmusik. Jedes Lebewesen ist eingestimmt auf die Harmonie dieses grausam-freudigen Tanzes aller mit allen.

Alle ‒ außer uns Menschen. Wir sind bei diesem Tanz die einzigen Ungeschickten, die einzigen, die aus Takt und Rahmen fallen.

In unserer Einzigartigkeit liegt unsere Größe, aber auch die Gefahr für uns. Wir neigen dazu, die Tatsache, dass wir anders sind, mit der Illusion zu verwechseln, dass wir außerhalb oder über dem anderen stehen. Plötzlich hören wir dann nicht länger den großen Rhythmus des Ganzen und geraten im kosmischen Tanz aus dem Takt.

Einfache Menschen haben es leichter. Dabei heißt «einfach» nicht: einfältig oder ungebildet. Der Dalai Lama etwa zeigt das Beispiel echter Einfachheit, die sehr wohl mit höchster Bildung vereinbar ist. Nicht hohe Intelligenz steht der Einfachheit im Weg, sondern der Umstand, sich selbst zu wichtig zu nehmen ‒ mit all seinen negativen Konsequenzen.

Je weniger wir uns selbst wichtig nehmen, desto einfacher werden wir. Wir lassen dann die engen Grenzen unseres kleinen Ichs hinter uns und betreten die weiten, offenen Räume unseres wahren Selbst.

Einfachheit dieser Art schenkt uns innere Weite und ein immer tieferes Bewusstsein dessen, dass wir mit allem Lebendigen eins sind. Wer sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt, atmet freier und gewinnt erst von da aus in der Einschätzung anderer wirklich an Gewicht. Menschen, die so leben, spürt man es an, dass sie sich im Universum zu Hause fühlen, und dann fühlt man sich auch bei ihnen zu Hause.

Sie sprechen so, dass auch der einfachste Mensch sie verstehen kann, denn sie sprechen mit dem gesunden Menschenverstand, mit dem Common Sense. Ein Schweizer Sprichwort sagt es ausdrücklich: «Me cha mit em Veh rede, we mer Mänscheverstand het.»«Man kann mit dem Vieh reden, wenn man Menschenverstand hat.»

Menschen zu begegnen, die dank ihres Common Sense diese Sprache fließend sprechen, ist eine Gnade.

Ein solcher Mensch ist mir aus meiner Kindheit in Erinnerung geblieben: unsere bucklige Nachbarin, Frau Schliffsteiner. Sie konnte wirklich mit dem Rindvieh reden, aber auch mit Katzen und Hunden, mit ihren Ziegen, mit Spatzen, Tauben und Krähen, mit den Kröten im Garten und den Topfpflanzen auf ihrem Fensterbrett. Vor allem aber konnte sie mit allen Arten von Menschen reden: von Kurtl, dem gutmütigen Dorftrottel, bis zum Herrn Oberlehrer unserer zweiklassigen Volksschule, und der war wirklich jemand (er konnte sogar Klavier spielen).

In aller Einfachheit begegnete sie jedem als einem Mitglied ihrer großen Familie, zu der ganz selbstverständlich auch Tiere und Pflanzen gehörten. Sie schien deren Geheimnisse zu kennen. Sie wusste über Kräuter Bescheid, aus denen sich Tee gegen dieses oder jenes Leiden bereiten ließ, und über die Blätter, die zur Heilung halfen, wenn wir Buben uns wieder einmal in den Finger geschnitten hatten. Früher hätte man sie wohl der Hexerei verdächtigt, sie war aber jedenfalls eine gute Hexe, eine weise Frau.

Ihre Nachbarn tranken gern Kaffee mit ihr und erzählten ihr stundenlang von allem, was ihnen auf dem Herzen lag. Nachher fühlten sie sich immer erleichtert. Eines steht jedenfalls fest: Niemand kam um ihres Kaffees willen, denn der war ein jämmerliches Gebräu aus allerhand Zusätzen und den wenigen Kaffeebohnen, die sie sich leisten konnte.

Was sie ihren Gästen gab, war ein Gefühl des Daheimseins. Bei ihr konnte man die heilsame Luft des Common Sense atmen. Das ist es ja, was wir zur Heilung von Leib, Seele und Geist brauchen. Ein indisches Sprichwort drückt es so aus: «Ein Viertel Medizin und drei Viertel Common Sense.»

Common Sense wirkt heilend, weil er mehr ist als eine bestimmte Art des Denkens; er ist eine bestimmte Art, zu leben, zu handeln und alles so zu tun, wie es seinem eigentlichen Sinn entspricht, und es spontan zu tun, selbstvergessen, mühelos.

Manchmal erleben wir das, wenn wir etwa beim Skifahren, beim Tanzen oder sogar beim Tippen auf dem Computer den Punkt erreichen, ab dem wir «in Schwung» kommen: Dann geht alles plötzlich wie von selbst; alles fließt mit Leichtigkeit, ereignet sich im richtigen Augenblick und ganz so, wie es sein soll.

Wir müssen uns nur vorstellen, wie es wäre, wenn wir auf diese Weise in diesem Fluss bleiben und uns selbst dabei spontan selbst ganz vergessen könnten.

Würde nicht die Kraft und Leichtigkeit dieses Fließens:

unseren Geist sprühen lassen,
unserer Seele Frieden bringen,
unserem Verstand Wachheit
und unserem Leib Heilung?

Das gelingt wohl nur wenigen über einen längeren Zeitraum, aber für uns alle ist das erstrebenswert.

Eine einzige Lebensspanne wird kaum ausreichen, um sich ganz auf die Harmonie des Universums einstimmen zu können.

Aber bereits das Bewusstsein eines ersten Mitschwingens mit der Musik des Universums können wir so erleben, dass es uns vorkommt wie das Erwachen aus tiefem Schlaf und Traum.

Davon sprach bereits zu Beginn der griechischen Philosophie Heraklit:

«Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt, von den Schlafenden aber wendet sich jeder seiner eigenen zu.»

Die Bantu in Afrika drücken es in einem Sprichwort noch kräftiger aus:

«Es gibt vierzig Arten des Verrücktseins, aber nur eine Art von gesundem Menschenverstand.»

Heraklit klagte:

«Obwohl der Logos allen gemeinsam ist, leben die meisten so, als besäße jeder eine Privatintelligenz für sich.»

Und er fügte hinzu:

«Wir sollten uns leiten lassen von dem, was allen gemeinsam ist.»

Dieses Leitprinzip, diese innere Weisung, «die alle Menschen der Welt zum Einklang der Herzen führt», nannte Laotse «Dao» (ältere Schreibweise: Tao).

Dieser uns allen gemeinsame Sinn und Instinkt für das Richtige und für das kosmisch wie individuell Sinnvolle findet besonders treffend Ausdruck in dem englischen Begriff Common Sense. [Common sense (2014): «Was ist Common Sense?», 21-29]

[Ergänzend:

1. Hausverstand, Liebe, Zugehörigkeit

2. Common sense (2014): Vorbemerkung des Übersetzers, 7-8:

«In diesem Buch lotet David Steindl-Rast die spirituellen Tiefen des englischen Begriffs ‹Common Sense› aus:

Dabei spielt er mit Gedankenverknüpfungen und paradoxen Redewendungen.

‹Common Sense› heißt korrekt ins Deutsche übersetzt ‹gesunder Menschenverstand›, allgemeiner auch ‹Gemeinsinn›. Beide Begriffe taugen jedoch nicht für die Entdeckung in diesem Buch.

Common Sense lässt sich überhaupt nicht angemessen ins Deutsche übersetzen, ohne dass Bedeutungsnuancen auf der Strecke bleiben.

Beispielsweise verliert Sir John Templetons Spruch ‹Common sense is not common› seinen Witz, wenn er mit ‹Gesunder Menschenverstand ist nicht allgemein verbreitet› übersetzt wird.

lm Begriff Common Sense schwingen unterschiedliche Bedeutungen mit: allgemein richtiges, gesundes Empfinden, stärker noch: Sinn für das Ganze, Gespür für die Verbundenheit mit allem, von allen als wahr und richtig Erkanntes, Sinn für die Vernetzung und Gemeinschaft des gesamten Kosmos, alle und alles verbindender tiefster inspirierender Sinn.

Dieser Aspekt des ‹Common›, des Gemeinsamen, des Verbundenen und Verbindenden, der Vernetzung des gesamten Universums, ist ein zentrales Thema heutiger Spiritualität und genau davon handelt dieses Buch.

Der deutsche Begriff ‹gesunder Menschenverstand› drückt diese Bedeutung nicht aus, jedenfalls nicht vordergründig.

Genau besehen geht es natürlich auch beim gesunden Menschenverstand um mehr als den bloßen Verstand: Es geht um den Menschenverstand, und zwar den gesunden, und dieser nährt sich letztlich aus dem, womit wir Menschen uns als verbunden erleben: aus dem Gespür für das Ganze und für die eine, gemeinsame Wahrheit der Dinge und des Lebens.

Die deutschen Übersetzungen ‹Gemeinsinn› oder ‹Gemeinsamkeit› können ebenfalls nicht angemessen wiedergeben, was mit ‹Common Sense› gemeint ist.

‹Gemeinsinn› lässt zu vordergründig an soziales und politisches Engagement, Ehrenamt und Sorge umeinander denken, während ‹Common Sense› das Gespür und die Inspiration meint, die dazu führen.

Ähnlich vordergründig bleibt ‹Gemeinsamkeit›.

Daher wird es das Beste sein, den Begriff ‹Common Sense› in der deutschen Ausgabe dieses Buches als eine originelle Perle der englischen Sprache beizubehalten. Er macht uns reicher; jede Übersetzung ließe uns ärmer bleiben.

Bernardin Schellenberger»

3. Unsere Zukunft: Das Reich des Kindes (1987):

«Die einfachen Leute, das sind die, die viel unkomplizierter nach dem Hausverstand leben, weil sie nicht so viel zu verlieren haben. Als Professor an einer Universität hat man viel zu verlieren, dann lebt man lieber nach den Spielregeln der Universität. Und als Angehöriger einer Korporation lebt man nach den Spielregeln der Korporation. Auf diese Weise stecken wir alle in irgendeiner Gemeinschaft mit eigenen Spielregeln und lassen uns daran hindern, die Wahrheit zu sagen und nach der Wahrheit zu leben. So lassen wir uns alle tyrannisieren von gesellschaftlichen Zwängen und davon abhalten, wirklich lebendig zu werden.»

4.1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(29. April 2011) Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(12:23) Nur mit existentiellem Mut, mit Vertrauen können wir uns dem Universum als Erdhaushalt zuwenden, in dem wir Ordnung und Zugehörigkeit finden und uns darin daheim fühlen / (16:37) Ordnung als Zustand, in dem jedes Ding dem andern den ihm angemessenen Platz zugesteht ‒ Das Hochzeitsfest in der Natur

4.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(4. Juni 2011) Vertiefungsseminar:
(14:48) Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XI und XX): Das Hochzeitsmahl in der Natur: wenn Tiere einander fressen und Gründe für eine vegetarische Lebensweise]



Quellenangaben

Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

liebe titelCopyright © - Barbara Krähmer

Soweit wir es zurückverfolgen können, haben Menschen, wenn sie über Spirituelles sprachen, einen Ausdruck verwendet, der einfach «Lebensatem» bedeutet. Im Lateinischen wie im Griechischen und Hebräischen bedeutet Geist Atem. Geist ist die echte Lebendigkeit des Lebens wie wir wissen. Aber was bedeutet dies? Wir wissen, dass diese Lebendigkeit mehr ist als nur körperliche und geistige Fähigkeiten.

Denkt an die Bemerkung, welche wir oft über die Vitalität von jemandem hören: «Er/sie scheint so lebendig zu sein!» Hier ist mehr im Spiel als nur ein etwas gleichmäßigerer Puls oder ein höherer IQ.

In den großen spirituellen Traditionen ist «Lebendigkeit» oft mit «Achtsamkeit» (mindfulness) austauschbar. Der englische Begriff (mindfulness) betont nicht so sehr den Verstand (mind) als vielmehr die Fülle (fulness). Lebendigkeit ist nicht nur eine Fülle des Verstandes, sondern auch des Leibes und des Geistes.

Diese Vorstellung unterscheidet sich völlig von der verbreiteten Auslegung von Achtsamkeit, welche häufig einen Bruch macht – oder aufrechterhaltet – zwischen Leib und Geist. Echte Spiritualität, echte Lebendigkeit ist im Gegenteil tief in unserem Leib verwurzelt, wird von den Religionen oft außer Acht gelassen oder ganz verneint, ist aber in tief spirituellen Menschen leicht zu erkennen. Denkt an den Dalai Lama, seine Gesten und sein dröhnendes Lachen.

Die Bezeichnung Achtsamkeit scheint zu beschränkt, um ihn zu beschreiben, aber welches Wort sollten wir gebrauchen?

Wenn in einer Sprache ein Wort fehlt, fehlt oft eine Einsicht, in diesem Fall die Einsicht, dass die volle Lebendigkeit aus Achtsamkeit und Leibhaftigkeit besteht und, dass diese volle Lebendigkeit das Herzstück unserer Spiritualität ist.

Die Poesie liefert uns Beispiele von dieser außergewöhnlichen Lebendigkeit, die wir in einen Zusammenhang mit unserem Alltag bringen können. Ein Gedicht von William Butler Yeats preist einen solchen Augenblick. Es bringt eine im Wesentlichen religiöse Erfahrung in einen Zusammenhang, wo wir ihn nicht erwarten würden.

Oft sind wir in Kirchen, Moscheen und Tempel enttäuscht, weil wir denken, dass wir hier eine solche Erfahrung «haben sollten».

Aber Augenblicke der Lebendigkeit kommen nicht auf Bestellung.

Wenn sie kommen, sind wir, wie C.S. Lewis es beschreibt, «überrascht von Freude».

So auch Yeats in seinem Gedicht «Vacillation, IV».

Es beginnt in einem für große Lebendigkeit ungewöhnlichen Alter – «Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s» – und in einer nicht sehr vielversprechenden Umgebung. Yeats sagt:

«Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s,
ich saß, ein Einzelgänger,
in einem überfüllten Londoner Geschäft,
ein offenes Buch und eine leere Tasse
auf der marmornen Tischplatte.»

Wir alle kennen dieses Gefühl des Alleinseins inmitten einer Menschenmenge, gerade ihretwegen umso einsamer. Das Buch liegt offen da. Er scheint in der Hälfte das Interesse daran verloren zu haben. Die Tasse ist leer und so anscheinend auch seine Gedanken. Die Oberfläche des Tisches aus kaltem Stein drückt perfekt seinen Mangel an jeglichen Gefühlen in diesem Augenblick aus. Dieser Mann sieht nicht, was um ihn herum vorgeht. Er starrt geistesabwesend vor sich hin.

Aber unerwartet geschieht etwas und bemächtigt sich seiner, ein wundersamer Kontrast zur Leere, mit der das Gedicht begonnen hat:

«Während ich Geschäft und Straße anstarrte,
mein Leib plötzlich erstrahlte…»

Bemerkt, dass Yeats sagt, er erfahre dieses plötzliche Erwachen, seine Lebendigkeit, in seinem Leib. Er sagt nichts über seinen Verstand oder seine Gedanken. In diesem Augenblick denkt er nicht. Dieses Bewusstsein, das den Leib mit Lebendigkeit erstrahlen lässt, übersteigt das Denken weit.

«…Und für zwanzig Minuten, mehr oder weniger,
schien meine Glückseligkeit so herrlich,
dass ich gesegnet war und segnen konnte.»

Diese «mehr oder weniger» zwanzig Minuten weisen darauf hin, dass dies ein zeitloser Augenblick war. Aber eine augenzwinkernd gemeinte Eigenschaft zu diesem «mehr oder weniger» dringt ebenfalls durch. Die Erfahrung ist zu überwältigend; der Dichter muss sich mit diesem umgangssprachlichen Ausdruck selbst distanzieren. Während er lediglich von seiner «Glückseligkeit» spricht, bricht die religiöse Wirklichkeit mit dem Wort «gesegnet» durch.

Wie in echten spirituellen Erfahrungen liegt der Beweis in der Tatsache, dass er seine gesegnete Lebendigkeit anderen weitergeben kann.

Das ist es, was Religion (lateinisch re-ligio) ist: wörtlich «wieder binden» von Bändern, die zerrissen worden waren, Bande, die uns mit allen anderen Geschöpfen verbinden, mit unserem wahren Selbst und mit dem Göttlichen. Wir sind nicht länger allein und einsam: wir gehören zusammen.

Echte Lebendigkeit ist der Ausdruck einer tiefen Zugehörigkeit. Unser Leib «erstrahlt» vielleicht nicht, aber in gewissen glückseligen Augenblicken wissen wir, mindestens für den Bruchteil einer Sekunde, dass wir zusammengehören.

Wir wissen es «bis in unsere Knochen».

Es ist die höchste Art von Wissen, das nicht auf Gedanken beschränkt ist, noch auf Gefühle, noch auf irgendeine andere Art von Wissen. Dies ist nicht das Wissen, auf das wir uns in alltäglichen Gesprächen beziehen. [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 1f.]

[Ergänzend:

1. Auf dem Weg der Stille (2016), 69-71:

«Je voller unsere Achtsamkeit wird und je stärker wir lebendig werden, desto deutlicher geht uns auf, wie unzureichend die Sprache ist. Aber wenn wir darüber sprechen wollen, müssen wir etwas tun, das die Sprache erweitert, ja erhöht. Wie sieht diese erweiterte Sprache aus? Die erweiterte Möglichkeit der Sprache ist die Poesie, und so möchte ich Ihnen ein Gedicht von William Butler Yeats vorstellen, das auf einen dieser Augenblicke hinweist. Es versetzt die religiöse Erfahrung in einen Kontext, in dem Sie diese kaum erwarten würden.

Die meisten von uns machen religiöse Erfahrungen, wann und wo wir sie am wenigsten erwarten würden; und in Umgebungen, worin wir sie erwarten, werden wir gewöhnlich diesbezüglich enttäuscht. Hier folgt ein autobiografisches Gedicht ‹Vacillation, IV› über ein Erlebnis, das Yeats in einem Londoner Kaffeehaus widerfuhr. Er beschreibt es folgendermaßen:

‹Mein fünfzigstes Jahr war gekommen und gegangen.
Ich saß als einsamer Mensch
in einem überfüllten Londoner Kaffeehaus,
vor mir auf der marmornen Tischplatte
ein offenes Buch und eine leere Tasse.
Ich saß da und starrte auf die Straße hinaus,
als plötzlich mein ganzer Körper zu glühen begann,
und zwanzig Minuten lang oder auch mehr
erfüllte mich ein derartiges Glück,
dass ich Segen verspürte und zu segnen vermochte.›[1]

Was passierte da also? Er sagt überhaupt nichts über sein Verstehen oder seine Gedanken; vermutlich dachte er in diesem Augenblick überhaupt nichts. Aber sein Körper glühte mit dieser bebenden Lebendigkeit der Achtsamkeit, die so weit über alles Denken hinausgeht. Sein Körper glühte! Das haben auch wir schon alle erfahren, oder jedenfalls etwas Ähnliches. Er sagt: Es ‹erfüllte mich ein derartiges Glück, dass ich Segen verspürte und zu segnen vermochte›; dass er also etwas empfing, das er als ‹Segen› bezeichnet ‒ was ja bezeichnenderweise ein religiöser Begriff ist ‒ und das er weitergibt. So fließt also etwas durch ihn hindurch, und das ist dieser Geist, der durch ihn hindurchfließt.»

2. Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011) und Transkription (S. 1-3) des Vortrags:

(00:00) Freudig lebendig, gesund und heil in Beziehungen]

 
________________________________

[1] «My fiftieth year had come and gone,
I sat, a solitary man,
In a crowded London shop,
An open book and empty cup
On the marble table-top.
While on the shop and street I gazed
My body of a sudden blazed;
And twenty minutes more or less
It seemed, so great my happiness,
That I was blessed and could bless.»

 


Quellenangaben

Text, Audios und Film von Br. David Steindl-Rast OSB

liebe titelCopyright © - Barbara Krähmer

Liebe ist ein häufig missverstandenes Wort.

Wir müssen also damit beginnen, klarzustellen, was wir hier unter Liebe verstehen: kein Gefühl, sondern eine Haltung, nämlich das gelebte «Ja!» zur Zugehörigkeit.

Freilich ist damit ein weites Spektrum von Gefühlen verbunden: romantische Liebe, Tierliebe, Mutterliebe, Liebe zur Kunst, Vaterlandsliebe, bis hin zur Feindesliebe.

Es gibt viele Grade und Arten der Zugehörigkeit, die ausgelösten Gefühle sind also höchst vielfältig. Auf jede der erwähnten Formen aber trifft unsere Definition zu: Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit.

Viele Menschen meinen, das Gegenteil von Liebe sei Hass. Dass das ein Irrtum ist, lehrt uns die Erfahrung: In stürmischen Liebesbeziehungen können wir hin und her gerissen werden zwischen Wohlwollen und Hass, zwei Polen der einen Zugehörigkeit, von der wir nicht loskommen.

Hass und Wohlwollen sind Gegenpole innerhalb von Liebe, das Gegenteil von beiden aber ist Gleichgültigkeit. Was mir gleichgültig ist, geht mich nichts an – so meinen Gleichgültige. Das ist aber ein Irrtum, denn alles geht mich an, weil alles mit allem zusammenhängt. Mein Ich ist ein Knotenpunkt in einem grenzenlosen Netzwerk von Beziehungen.

Gleichgültigkeit dagegen ist blind für Zugehörigkeit und verfällt daher in die Illusion von Unabhängigkeit und Vereinzelung. Diese Entfremdung führt dann zu Verunsicherung und Furcht vor dem Leben, denn nur durch Zugehörigkeit zu meiner Mitwelt kann ich mich sicher, geborgen und zuhause fühlen. Gleichgültigkeit führt also durch Entfremdung zu Furcht; Liebe führt zu jenem Daheimsein in der Welt, das alle Menschen ersehnen.

Das Ja zu grenzenloser Zugehörigkeit können wir nur lebendig verwirklichen, wenn wir dem Leben vertrauen. Liebe wurzelt also im Lebensvertrauen.

Was uns das Vertrauen in das Leben so schwer macht, sind die Engpässe unseres Lebenslaufes, die uns immer wieder Angst machen.

Furchtloses Vertrauen aufs Leben – trotz unserer Ängste – lässt sich erlernen.

Im Idealfall lehren Eltern es Kindern, indem sie sich vertrauenswürdig erweisen – also da sind, wenn die Kinder sie brauchen – und den Kindern Vertrauen schenken, anstatt sie beständig zu überwachen.

Auch Erwachsene können Lebensvertrauen noch erlernen, wenn andere ihnen auf diese zweifache Weise beistehen:

Als Freunde müssen wir verfügbar sein, wenn sie uns brauchen, zugleich aber ihr Selbstvertrauen unterstützen.

Und wenn wir dem Leben vertrauen, können wir das bedingungslose Ja zur Zugehörigkeit verwirklichen, das Ja zu unserer Vernetzung mit allem Leben, das Ja der Liebe.

Der Kreis der Zugehörigkeit wurde oft zu eng gezogen. Heute muss er nicht nur alle Menschen umfassen, sondern alle Tiere, Pflanzen, unsere Erde und das ganze Universum. In beiden, Ethik und Religion, geht es also letztlich um Liebe als das grenzenlose Ja zur Zugehörigkeit.

Die Antwort ist offensichtlich: Ja. Grenzenlose Zugehörigkeit grenzt ja auch Feinde nicht aus.

Von Feindesliebe kann aber nur die Rede sein, wenn sie Feinde bleiben.

Wer ernstlich für etwas eintritt, etwa für Umweltschutz, wird dadurch zum Feind derer, die sich dem entgegenstellen.

Feindschaft wird aber durch Liebe völlig verwandelt.

Klare und scharfe Opposition schließt persönliches Wohlwollen nicht aus; das Ja der Liebe, das Ja zur Zugehörigkeit ist ein wohlwollendes Ja.

Es fordert, dass wir uns bemühen, unsere Gegner mit ihren Anliegen, Befürchtungen und Hoffnungen zu verstehen; dass wir Gemeinsamkeiten suchen und auf ihnen aufbauen; dass wir trennende Meinungen weniger wichtig nehmen als das verbindende Bemühen, gemeinsame Probleme zu lösen; und dass wir noch so entschiedenen Widerstand mit persönlichem Wohlwollen verbinden.

Selbstmörderische Gewalttätigkeit, mitleidlose Rivalität, Habsucht, Geiz und Neid kennzeichnen daher die 6.000 Jahre alte Furchtpyramide, die heute vor unseren Augen ins Wanken gerät.

Aber wo immer sich Zeitgenossen von Furcht zu Lebensvertrauen bekehren, da wird aus Gewalttätigkeit Gewaltfreiheit,
aus Rivalität Zusammenarbeit
und aus Habsucht freudiges Teilen;
Pyramiden verwandeln sich in Netzwerke.

Zu dieser Geisteshaltung mögen folgende Zeilen des Dichters Christian Morgensterns anregen:

«Liebet das Böse gut, lehren tiefe Seelen,
lernt am Hasse stählen Liebesmut.»

Alle Krisen unserer Zeit sind Vertrauenskrisen, die letztlich aus Mangel an Lebensvertrauen entspringen. Nur wer sich dem Leben anvertraut, kann – nach allem, was wir hier erwogen haben, das Ja der Liebe sprechen. Aber das Ja der Liebe will nicht nur gesprochen, sondern gelebt werden – es muss sich im Alltag ganz konkret in unserem Tun bewähren.
[Liebe - die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017)]

[Ergänzend:

1. LIEBE, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 147:

«Liebe ist mehr als ein Gefühl. Sie ist eine Haltung, die alle Bereiche unseres Wesens zum Mitschwingen bringt. Wenn unsere Emotionen stark mitschwingen wie bei Verliebten, so wird Liebe zu einem Hochgefühl der Lebendigkeit. Bei Feindesliebe ist das Gefühlsmoment keineswegs bedeutsam.»

2. LIEBE, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Kapitel «Liebe: Ein ‹Ja› zur Zugehörigkeit» und Schlüsselbegriffe am Ende des Buches: «Liebe» und «Zusammengehören»:

«‹Wenn du mit deinem ärgsten Feind im selben Boot sitzt, wirst du dann ein Loch in seine Seite des Bootes bohren?» (Elissa Melamed)

3. Unsere Feinde lieben? Vielleicht ist dies unser einziger Ausweg (2017):

«Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen müsste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben.» (Nelson Mandela)

4. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017):

«Aber diese Achtung und dieses ‹Ja› zur Zugehörigkeit muss ich auch einem Menschen gegenüber erweisen, der mein Feind ist und dessen Feind ich bleibe. Das nimmt den Stachel aus der Feindschaft heraus.»

5. Immer tiefere Wurzeln in der Liebe: ein Gebet (1995)

6. Audio: So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):

(46:13) Alle unsere Schmerzen werden Wachstumsschmerzen ‒ ‚Oh, dass es auch du erkannt hättest‘ (Lk 19,42) ‒ Alles wird durchsichtig fürs Paradies ‒ ‚Der reine Bezug‘ ist die Liebe: ‚Die Liebe hemmet nichts; / Sie kennt nicht Tür noch Riegel‘ (Matthias Claudius)

7. Audio: Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011) und Transkription (S. 2) des Vortrags:
(00:00) Freudig lebendig, gesund und heil in Beziehungen. Liebe: Das gelebte Ja zur Zugehörigkeit

8. Ausschnitt aus dem Film: Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription (S. 8f.):

(23:41) David Steindl-Rast: «Das Stop ‒Look ‒ Go ist auch ein Aufwachen, ist ein Prozess des Aufwachens und des wachen Tuns. Und du hast auch völlig recht, dass das alles mit Liebe zu tun hat. Nur verwende ich das Wort Liebe sehr vorsichtig, weil es so viele Missverständnisse darüber gibt.

Wenn ich Liebe sage, meine ich das gelebte Ja zur Zugehörigkeit und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich das eigentlich ‒ so wie eine Definition ‒ auf alle Formen der Liebe anwenden lässt.

Es ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit.

Wenn wir das üben ‒ das ist natürlich das Entscheidende am ganzen Leben ‒ die Liebe ist das Entscheidende.

Ein großer Denker ‒ Otto Maurer, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:

‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.

Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.

Alle Beziehungen, Zugehörigkeit, ausreifen zu lassen.»

Isha Johanna Schury: «Bruder David, wenn du sagst, die Liebe ist das Ja zur Zugehörigkeit, existiert Liebe dann ausschließlich im Wir ‒ wohnt Liebe in der Gemeinsamkeit … oder kann ich sie trennen? Wahrscheinlich nicht.»

David Steindl-Rast: «Zur Liebe gehören mindestens zwei, aber wenn es wirklich Liebe ist, dann ist es niemals begrenzt.

Oder es grenzt nicht aus.

Die Form und auch die Intensität des Gefühls usw., das ist natürlich ganz verschieden, ob ich jetzt meinen Hund liebe, oder meine Braut oder mein Vaterland. Das sind schon recht verschiedene Formen der Liebe.

Aber in allen Teilen ‒ und das ließe sich auf jede Form anwenden ‒, geht es darum, ein gelebtes Ja zu sagen, es nicht mit dem Mund zu sagen, sondern mit dem Leben zu sagen, ein Ja: Wir gehören zusammen und wir sind letztlich eins.

Also, jede Liebe zielt letztlich auf die größte Gemeinschaft und das ist nicht einmal nur die menschliche Familie, die Menschheit, sondern die Tiere gehören dazu, die Pflanzen gehören dazu, es ist eine kosmische Gemeinschaft.

Die ist, wo immer wir Liebe wirklich üben ‒ ich wollte sagen: fühlen, aber fühlen ist viel zu wenig ‒, es ist ein Üben, ein Tun, das Leben, das Ja sagt zur Zugehörigkeit.

Wenn wir Liebe leben, dann sind wir immer auch durch die kleine Pforte, auf die sich unsere gerade bezieht, sind wir durch diese kleine Pforte auf das ganze Universum bezogen und auf das große Geheimnis, das hinter allem steht oder in allem zum Ausdruck kommt.»]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

naechstenliebe titelCopyright © - Barbara Krähmer

Im Lukasevangelium ist ein Gespräch über die Nächstenliebe. Jemand hatte die Frage gestellt:

«Wer ist denn mein Nächster?»

Jesus hatte offensichtlich den Unterton dieser Frage herausgehört: «Ich möchte doch um Gottes willen nicht aus Versehen jemandem Liebe erweisen, der dem Buchstaben des Gesetzes nach gar nicht mein Nächster ist!»

Ich meine fast zu spüren, wie Jesus das Schmunzeln unterdrücken musste, als er zu erzählen begann:

«Da geht ein Mann auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho ...»

Und nun merke: Das bist du!

Das darfst du beim Hören oder Lesen dieses Gleichnisses nicht vergessen. (Bei amüsanten Erzählungen mit einer verblüffenden Pointe muss man sich nämlich mit der Person identifizieren, die als Erste genannt wird, sonst zündet die Pointe nicht.)

Du selbst bist also jetzt zu Fuß in einer für ihre Räuber berüchtigten Gegend unterwegs. Tatsächlich wirst du ‒ überfallen und verprügelt; man raubt dich aus, reißt dir sogar die Kleider vom Leib und lässt dich halb tot liegen. Du bist zwar halb tot, aber doch noch halb lebendig. Das ist wichtig, denn du musst ja mit ansehen können, was sich weiter ereignet. Ich erzähle dir das ja nicht aus der Vogelperspektive, sondern so, wie der arme Kerl es erlebt, der dort liegt ‒ und der bist du.

Du liegst also zusammengeschlagen am Straßenrand und siehst jemanden kommen.

«So ein Glück, da kommt mein Nächster», denkst du dir und fühlst dich schon besser. Es geht ja hier um die Frage «Wer ist mein Nächster?»

Dir geht auf: Wenn ich in Not bin, ist das gar keine Frage mehr.

Nun weiß aber leider dieser andere hier nicht, dass er dein Nächster ist ‒ oder er will es nicht wissen ‒ er macht einen Bogen um dich und geht vorbei.

Du bekommst noch eine zweite Chance. Da kommt wieder jemand. «Das ist aber jetzt bestimmt mein Nächster», denkst du voller Hoffnung.

Du kennst ihn nicht, aber dein Common Sense  sagt dir, dass er dein Nächster ist.

Leider macht auch dieser gute Mann einen Bogen um dich und verschwindet.

Aber gib noch nicht auf; in einer Erzählung dieser Art ereignet sich etwas immer dreimal.

Und wirklich, endlich, gerade als du den Mut verlierst, taucht dort in der Kurve ein dritter Anwärter auf den Titel «Nächster» auf.

Diesmal ist es kein Einheimischer, sondern ein Samariter. Widerwärtig! Für einen Juden ‒ und der bist du hier ja ‒ ist es unvorstellbar, in einem Samariter seinen Nächsten zu sehen.

Aber jetzt hat der Lauf der Erzählung dich schon so weit gebracht, dass du bereit bist, sogar so einen «stinkenden Ausländer» freudig als deinen Nächsten anzuerkennen, wenn er nur auch in dir seinen Nächsten sieht und dir hilft. Und tatsächlich: Das tut er.

Common sense, Gemeinsinn, prallt hier mit öffentlicher Meinung zusammen und siegt.

Mit einem Schmunzeln fragt Jesus:

«Welcher von diesen Dreien war also dem der Nächste, der unter die Räuber fiel?»

«Jener, der ihm Barmherzigkeit erwies», antwortet der Mann, der gefragt hatte, wer eigentlich sein Nächster sei.

Dass es ausgerechnet der Samariter war, sagt er lieber nicht.

Die Gleichnisse sind also keineswegs zahme Erbauungsgeschichten, sondern enthalten solche nicht ungefährliche Pointen, mit denen Jesus sich über die öffentliche Meinung lustig machte: Willst du wirklich wissen, wer dein Nächster ist? Warte nur, bis du in Not kommst, dann sagt es dir ganz unerwartet dein Common Sense!

Dann kannst du ganz selbstverständlich sogar in einem verachteten Ausländer deinen Nächsten erkennen, ein Mitglied der Menschheitsfamilie.

Warum aber werden die Grenzen deines Selbstverständnisses plötzlich so eng, wenn statt deiner andere in Not sind?

Deutlich ausgeprägt sind die drei Schritte des typischen Gleichnisses: Zuerst die Frage:

«Wem von euch sagt nicht bereits sein Common Sense, wer sein Nächster ist?»

Die Situation des Raubüberfalls führt die Dringlichkeit einer Antwort vor Augen. Dann die einzig folgerichtige Antwort:

«Wir alle wissen das ‒ besonders, wenn wir in Not sind.»

Und schließlich verblüffend die Pointe: «Wenn das so selbstverständlich ist, warum handelst du Dummkopf dann nicht danach ‒ besonders, wenn ein anderer in Not ist und dich braucht?»

Wir brauchen nur den Samariter durch einen Asylbewerber zu ersetzen und schon müssen wir über uns selbst und über unsere eigene innere Enge den Kopf schütteln.

Wenn man den Samariter bereits im Titel des Gleichnisses als «barmherzig» bezeichnet, nimmt man die Pointe natürlich vorweg und sie zündet nicht mehr.[1]

Für die Zuhörer Jesu gab es so etwas wie einen «barmherzigen Samariter» überhaupt nicht. Samariter waren als solche grundsätzlich schlecht und Feinde.

Wenn wir das übersehen, bleibt vom ursprünglichen Klang der Geschichte nicht mehr viel übrig.

Betrachten wir dagegen den Verlauf der Erzählung nicht als objektive Reportage, sondern als Augenzeugenbericht des Opfers, mit dem wir uns identifizieren, dann packt uns plötzlich die Autorität des Common Sense und wir wissen, wer unser Nächster ist. [Common sense (2014): «Der ‹Common Sense› in den Gleichnissen Jesu», 47-51]

[Ergänzend:

1. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 188f.:

Bruder David: «Ich bin auf eine hübsche moderne Version dieses Gleichnisses gestoßen. Als ich einer Gruppe in Neuseeland dasselbe wie hier erzählte, meldete sich eine Ordensschwester zu Wort und sagte: ‹Genau das ist mir passiert. Ich bin vor nicht allzu langer Zeit mit dem Auto von Auckland nach Hamilton gefahren und wurde unterwegs entsetzlich müde. Plötzlich bemerkte ich, wie mein Auto auf der falschen Straßenseite fuhr. Ich hielt sofort an und rollte auf den Randstreifen (mit der Wagenfront in die falsche Richtung)›.

Ich sagte mir: ‹Jetzt werde ich erst einmal ein bisschen schlafen. In diesem Zustand zu fahren ist zu gefährlich.›

Als ich aufwachte, klopfte jemand gegen das Wagenfenster. Noch schlaftrunken und entgegen allen Vorsichtsmaßregeln kurbelte ich es hinunter. Draußen stand ein Mann mit einer Lederjacke und sagte: ‹Alles in Ordnung, meine Liebe? Rutschen Sie mal auf den Nebensitz, Sie stehen auf der falschen Straßenseite.›

In meiner Verwirrung rutschte ich hinüber. Er stieg ein, brachte das Auto auf die richtige Straßenseite und sagte: ‹Mir scheint, Sie sind in keiner guten Verfassung. Wo wollen Sie denn hin?› ‹Nach Hamilton›, sagte ich. ‹Okay, wir werden Sie begleiten.› Und so wurde ich ‒ eine Nonne in Tracht ‒ nach Hamilton eskortiert, von einer Rockerbande auf Motorrädern.»

2. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 146f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 147f.]:

«Es ist das Konzept des Selbst, das sich ausdehnt, wenn wir schließlich verstehen, was Liebe wirklich bedeutet.

Die gegenwärtige Vorstellung von Liebe identifiziert unser Selbst mit unserem kleinen individualistischen Ich. Dieses kleine Ich übersetzt ‹Liebe deinen Nächsten wie dich selbst› in eine unglaubliche Folge geistiger Saltomortale.

Schritt eins: Stelle dir vor, du seist jemand anders.

Schritt zwei: Sieh zu, dass du leidenschaftliche Anziehung für jeden anderen zuwege bringst, der du eigentlich selber bist.

Schritt drei: Versuche für jemand, der wirklich jemand anders ist, die gleiche leidenschaftliche Anziehung zu empfinden, die du für dich selbst empfunden hast (sofern das der Fall war), als du dir vorstelltest, du seist jemand anders.

Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?

Und doch ist das Gebot, richtig verstanden, so einfach: ‹Liebe deinen Nächsten als (wie) dich selbst.›

Es heißt: Erkenne, dass dein Selbst nicht auf dein kleines Ich begrenzt ist.

Dein wahres Selbst bezieht deinen Nachbarn mit ein. Ihr gehört zusammen ‒ und zwar radikal zusammen.

Wenn du weißt, was Selbst bedeutet, dann weißt du, was Zusammengehören bedeutet. Es ist nicht weiter anstrengend, zu dir selbst zu gehören. Ganz spontan sagst du in deinem Herzen ‹Ja› zu dir selbst.

Im Herzen aber bist du eins mit allen anderen.

Dein Herz weiß, dass dein wahres Selbst deinen Nächsten einbezieht.

Liebe bedeutet, dass du mit ganzem Herzen zu diesem wahren Selbst ‹Ja› sagst ‒ und dann entsprechend handelst.»

3. Spiritualität im Alltag in Dienten (1994):

Vortrag
(21:52) Das Gebot der Gottesliebe und‚ liebe deinen Nächsten als dich selbst‘

__________________________

[1] Das Gleichnis in Lk 10,29-37 ist allgemein bekannt als «Gleichnis vom barmherzigen Samariter».



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

zugehoerigkeit titelCopyright © - Georg Stahl

Echte Lebendigkeit ist der Ausdruck einer tiefen Zugehörigkeit.

Wir wissen es «bis in unsere Knochen».

Es ist die höchste Art von Wissen, das nicht auf Gedanken beschränkt ist, noch auf Gefühle, noch auf irgendeine andere Art von Wissen. Dies ist nicht das Wissen, auf das wir uns in alltäglichen Gesprächen beziehen.

Es ist nicht das, was der konfuzianische Weise Hui Tzu, der sehr um Wortgenauigkeit bemüht war, unter Wissen verstand.

Und dies führt zu einem köstlichen Wortwechsel zwischen ihm und dem großen taoistischen Meister Chuang Tzu.

Es handelt sich um eine Episode, die Thomas Merton entzückte und die er in seinem Buch «The Way of Chuang Tzu» mit dem Titel «The Joy of Fishes» (Die Freude der Fische) übersetzte[1]:

Chuang Tzu und Hui Tzu
gingen über den Fluss Hao
auf einem Damm.
Chuang sagte:
«Schau, wie frei
die Fische springen und herumschnellen:
Das ist ihre Glückseligkeit.»

Hui entgegnete:
«Da du kein Fisch bist,
wie kannst du wissen,
was Fische glücklich macht?»

Chuang sagte:
«Da du nicht mich bist,
wie kannst du bloß wissen,
dass ich nicht weiß,
was Fische glücklich macht?»

Hui erwiderte:
«Wenn ich, der ich nicht du bin,
nicht wissen kann, was du weißt,
folgt daraus, dass du,
der du kein Fisch bist,
nicht wissen kannst, was sie wissen.»

Chuang sagte:
«Warte einen Augenblick!
Lass uns zurückkommen
auf die ursprüngliche Frage.
Was du mich gefragt hast, war:
Wie kannst du wissen,
was Fische glücklich macht?
Von deinen Fragen her
scheinst du offensichtlich zu wissen, dass ich weiß,
was Fische glücklich macht.»

Und dann folgt die entscheidende Aussage, eine Erklärung von größter Bedeutung:

«Ich erkenne die Freude der Fische
im Fluss
durch meine eigene Freude,
wenn ich denselben Fluss entlang gehe.»

Gibt es noch einen anderen Weg, dies zu wissen? Offensichtlich nicht! Aber überlegt, was dies bedeutet.

Unser beglückendes Wissen kommt nicht vom Denken, sondern vom Bewusstsein einer gemeinsamen Lebendigkeit, in diesem Fall zwischen Hui Tzu und dem Fisch.

Die Taoisten nannten diese gemeinsame Lebendigkeit das «Tao». Dieses Wort bedeutete einfach «Weg» oder «Pfad». Doch die Taoisten erweiterten seine Bedeutung.

Für diese Gegebenheit benötigen wir einen Ausdruck und der beste, den unsere Sprache anbieten kann, ist «gesunder Menschenverstand».

Indem wir diese Art von Wissen gesunden Menschenverstand nennen, weiten wir die Definition dieses Begriffs, wie wir ihn normalerweise kennen, aus, doch wenn wir ihn mit neuen Ohren hören, ist es ein außergewöhnlich guter Begriff.

Oft wird gesunder Menschenverstand gebraucht, um herkömmliche Annahmen zu bezeichnen, das genaue Gegenteil von voller Lebendigkeit. Aber der gesunde Menschenverstand, von dem wir jetzt sprechen, ist so dynamisch, so lebendig, so weit, dass es allem, was wir tun und sind, eine neue Farbe, eine neue Note gibt.

Es ist ein sinnliches Wissen und es entspringt dem, was wir mit der ganzen Schöpfung gemein haben. Unseren Erfahrungen wohnt die Erkenntnis inne, dass wir nicht getrennte Leiber sind, sondern dass in diesem Universum alles zusammenhängt, alles ist Teil von allem. Aus diesem Bewusstsein entspringt das einzige Wissen, das Sinn macht. Dieses Wissen geht so tief, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen hat. Es ist dem ganzen Universum gemeinsam. Wir müssen uns nur anschließen.

Ist es nicht das, was Chuang Tzu sagt? Durch unsere eigene Glückseligkeit erkennen wir die Glückseligkeit der Fische und die Glückseligkeit von allem, was es in der Welt gibt. In diesem glückseligen Augenblick haben wir ein spirituelles – voll lebendiges – Wissen im Herzen der Welt erreicht. [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012)]

[Ergänzend:

1. ZUGEHÖRIGKEIT, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Kapitel «Liebe  Ein ‹Ja› zur Zugehörigkeit» und Schlüsselbegriffe «Liebe» und «Zusammengehören» am Ende des Buchs:

«… Jede Sehnsucht sehnt sich irgendwie danach, das Zusammengehören umfassender zu erkennen und somit reicher zu erfahren. Weil das Zusammengehören eine Tatsache ist, sind wir zuhause in der Welt, ganz gleich, wo wir uns befinden mögen. Und weil das Zusammengehören ein Geschenk ist, ist Dankbarkeit die richtige Antwort auf das Leben, ganz gleich, was es uns bringt.»

2. Auf dem Weg der Stille (2016), 71f.:

«T. S. Eliot kommt in seinen ‹Four Quartets› auch auf eine Gipfelerfahrung zu sprechen und erzählt von einer ‹Musik, die man in solcher Tiefe hört, dass man sie überhaupt nicht hört, aber du bist die Musik, solange diese Musik andauert.›[2]

Du bist die Musik. Das heißt, du vibrierst von dieser Musik, und selbst wenn du bloß an irgendeine Flötenmusik oder Klaviermusik denken solltest, der du zuhörst, ist das die Musik des Universums, mit der du vibrierst. Das ist die Musik nach der dieser ganze kosmische Tanz tanzt, und sie fließt durch dich hindurch ‒ und das ist dein Augenblick religiöser Erfahrung. In diesem Augenblick weißt du, dass du mit allem eins bist. Es ist einfach so: Du bist die Musik, solange die Musik andauert.

Und das ist jetzt der Ausdruck eines tiefen Dazugehörens. Und wenn du jetzt nach deinen Gipfelerfahrungen oder religiösen Erfahrungen suchst und deine Erinnerung durchgehst, so vergiss dabei alles andere, was du dir dabei gedacht hast und was dich davon abgelenkt hat ‒ wie etwa: ‹mein Körper hat noch nie geglüht› oder ‹Musik mag ich gar nicht› und so weiter.

Aber das eine, was du nicht unterlassen solltest, ist, dass du dich fragst: ‹Wo ist mir schon einmal für den Bruchteil einer Sekunde aufgegangen, dass ich dazugehörte, und ich das bis in meine Knochen hinein empfand, und dass ich mit allem eins war und alles mit mir eins war›?

Das ist das Wesentliche, und das ist eine Art des Erkennens, und zwar die größtmögliche Art des Erkennens, die nicht auf Gedanken beschränkt ist, nicht auf Gefühle und nicht auf irgendeine andere Art des Erkennens. Und das ist ‹Gemeinsam-Sinn› (common sense) in der tiefsten Bedeutung dieses Wortes.

Es ist ein Wissen, das so tief geht, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen seines Gemeinsam-Seins hat.

Darin ist alles beschlossen: Mittels deiner eigenen Glückseligkeit kennst du die Glückseligkeit von allem und jedem, was es in der Welt gibt, denn in diesem Augenblick der Glückseligkeit hast du sozusagen ans Herz der Welt ‒ die spirituelle Erkenntnis ‒ gerührt, an das Wissen, dass alles ‹zusammen sinnt› (commonsense knowledge).»

3. Spiritualität im Alltag in Dienten (1994):

Vortrag
(09:59) Wir erleben Entfremdung und Augenblicke, in denen wir uns grenzenlos zu Hause fühlen, daheim

(20:05) Das Reich Gottes: Wir sind alle eine große Familie im Gotteshaushalt, der vom göttlichen Geist belebt ist, dem Hausfrieden Gottes]

 _____________________________

[1] Siehe auch: Dschuang Dsi: «Das wahre Buch vom südlichen Blütenland»; übersetzt von Richard Wilhelm (= Diederichs gelbe Reihe, 14), Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München 112000: Buch XVII: «Herbstfluten, 12. Die Freude der Fische», 192

[2] Kennen Sie

«… den Augenblick in und außer der Zeit,
Den Wachtraum, verloren im Sonnenstrahl,
Den ungesehenen Thymian, das Wetterleuchten im Winter,
Den Wasserfall oder Musik, die so innig gehört wird,
Dass du sie nicht mehr hörst, weil du selbst die Musik bist,
Solange sie forttönt.»

the moment in and out of time
The distraction fit, lost in a shaft of sunlight
The wild thyme unseen or the winter lightning,
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but you are the music
While the music lasts.

T. S. Eliot: «Four Quartets»: «The Dry Salvages», V, diese Verse ebenfalls zitiert in AH 1-2) 122; 3-5) 119



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

prophetischer gehorsam titelCopyright © - pixabay

Der prophetische Gehorsam ist uns vorgelebt worden von Jesus Christus, dessen erster Titel ja Prophet war.

«Ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden» (Lk 7,16), sagten die Leute.

Das Verständnis der Persönlichkeit Jesu hat sich vertieft, es hat sich erweitert, man hat nach und nach besser verstanden, wer er wirklich ist.

Aber das erste Verständnis verliert seine Gültigkeit nicht: «Ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden.»

Und was macht dieser große Prophet? Was jeder Prophet tun muss: er horcht, er ist wirklich gehorsam, er horcht auf jedes Wort, das aus dem Munde Gottes kommt, und ermutigt und ermächtigt seine Hörer, auch zu horchen.

Der tiefste Grund, warum man nicht dabei geblieben ist, Jesus Prophet zu nennen, ist, dass er sich in einem Punkt so auffallend von den Propheten unterscheidet:

Ein Prophet sagt typisch: «So spricht Gott, der Herr.»

Hinter dem Propheten steht die Autorität Gottes. Was steht hinter der Autorität Jesu? Freilich auch die Autorität Gottes, aber Jesus pocht nicht auf eine Autorität, die hinter ihm steht, sondern Jesus fordert die göttliche Autorität in den Herzen derer, die vor ihm stehen, heraus.

Er sagt nicht «So spricht Gott, der Herr», sondern er fragt: «Wer von euch weiß das nicht schon?»

Die Gleichnisse, in denen das Wort Jesu uns noch am lebendigsten erhalten und zugänglich ist, beginnen typisch mit: «Wer von euch weiß denn das nicht schon?» Und sie legen den Schluss nahe: «Ihr wisst es doch alle, ja dann handelt doch danach!»

So ermächtigt Jesus seine Hörer, und darum sagen sie:

«Dieser Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten» (Mk 1,21).

Denn die Autoritäten, die nicht mit Autorität sprechen, müssen ja die Hörer entmächtigen, um sich oben zu halten.

Jesus aber kann es sich leisten, seine Hörer zu ermächtigen, weil er sich auf die wahre, die göttliche Autorität in ihren Herzen beruft.

Demgemäß ist der letzte Akt seines Lebens, sein letztes Tun bevor er nur passiv wird, die Fußwaschung. Die Fußwaschung stellt eine völlige Umkehrung des herkömmlichen Verständnisses von Autorität dar.

Und er sagt dazu etwas, was man so wiedergeben könnte:

«Die weltlichen Autoritäten entmächtigen die, die unter ihrer Autorität stehen. Mit euch soll es umgekehrt sein: Der Größte unter euch soll der Diener aller sein» (Lk 22,25f.).

Diener besonders in dem Sinn, sie zu ermächtigen, zu ermündigen, ihnen Mut zu machen.

Auf diesen prophetischen Gehorsam zielt die Nachfolge Christi ab.

Der prophetische Gehorsam hält fest an der Zugehörigkeit, legt aber auch Zeugnis ab für die Autorität des Heiligen Geistes.

Eines von beiden wäre schon schwer genug, aber beides ist uns aufgegeben. Die Spannung zwischen der Treue zur Gemeinschaft und der Treue zur Autorität Gottes auszuhalten, erfordert soviel Mut, dass die Versuchung des Propheten immer groß ist, diese Spannung brechen zu lassen.

Die Versuchung fängt schon damit an, reden zu wollen, bevor man wirklich hingehört hat.

Reden im Sinne von: Denen zeige ich es jetzt einmal; jetzt habe ich schon so eine Wut, jetzt sage ich es ihnen einmal. Das ist nicht prophetisch, da sind wir noch nicht einmal im Vorhof vom Bereich des Prophetischen.

Eine viel ernstere Versuchung des Propheten ist es, Zugehörigkeit zu wählen auf Kosten des Zeugnisses. Etwa: Ich höre, was hier gesagt und getan werden sollte, aber mir ist die Geborgenheit in der Gemeinschaft zu viel wert. Ich will es mir mit den anderen nicht verderben. So tauche ich schweigend in der Gemeinschaft unter.

Oder das Gegenteil: Zeugnis ablegen, aber von außen; nicht mehr als Mitglied der Gemeinschaft, sondern als Kritiker. Das wäre Zeugenschaft auf Kosten der Zugehörigkeit. Dann bin ich nicht mehr Prophet, dann bin ich Kritiker von außen her.

Die schwerste Versuchung für uns alle ‒ wir sind ja alle in unserer Taufe zu Propheten gesalbt worden ‒, die schwerste Versuchung ist diese: Ja, wir horchen hin; ja, wir haben den Mut anzuklagen, wo es sein muss, aber wir sagen es so, dass es nicht ankommen kann. Denn wir wollen im Grunde gar nicht, dass es ankommt. Wir wollen nur dieses gute Gefühl: Jetzt hab' ich's ihnen gesagt, aber getan haben sie es ja doch nicht. Ich habe mich meiner Bürde entledigt, und da sieht man jetzt, dass ich der Gute bin, und die anderen haben ja gar nicht zugehört, oder sie wollten ja gar nicht.

Wenn der prophetische Gehorsam wirklich aus dem Heiligen Geist kommt, dann kommt er aus jener tiefsten Zugehörigkeit, in der wir alle miteinander verbunden sind, in der es gar nicht uns und die anderen, oder mich und die anderen gibt. Auf dieser tiefsten Ebene gehören wir alle zusammen. Jedes Problem, auch jedes Autoritätsproblem, ist unser gemeinsames Problem und jedes Zugehörigkeitsproblem auch. Die Widersprüche in sich selber auszutragen, eben darin besteht das Kreuz des Propheten.

Wer in dieser Art von Welt, in der wir leben, das Prophetenamt eines Christen ernst nimmt, der wird am Kreuz enden, ob das Kreuz nun so aussieht oder anders; es wird ein Kreuz sein, das wir selber erkennen können.

Im Wesen des prophetischen Gehorsams liegt das Kreuz.

Sein aufrechter Balken ist unser Drinstehen in der Gemeinschaft. Zugehörigkeit verwirklicht sich ja hier, wo ich hingestellt wurde. Nur so wird die Liebe Nächstenliebe sein, sonst wäre sie ja Fernstenliebe. Hier stehe ich, hier muss ich bleiben, hier ist, meine Zugehörigkeit. Das ist der Balken des Kreuzes, der eingepflanzt ist in die Erde.

Und der zweite Balken, der Querbalken, ist das Zeugnis. Zeugnis für die maßgebliche Autorität Gottes, die uns immer ein Maß gibt, das alle unsere Maße übersteigt und übertrifft und sprengt.

Das Zeichen des Kreuzes ist das Zeichen des Widerspruches, aber auch das Zeichen des Aufwachsens, des Übersichhinauswachsens, des Auferstehens.

[«Vom Rhythmus des Lebens»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989) (43:29-51:28); der obige Text ist der Transkription des Vortrags entnommen, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 21f.]

[Ergänzend:

1. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 298; siehe auch Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt: Ergänzend: 2.:

«Das Ideal des Gehorsams ist nicht die Marionette, die sich bewegt, wenn jemand die richtigen Schnüre zieht. Das Ideal des Gehorsams ist der prophetische Gehorsam, das heißt, ein Gehorsam, der so tief horcht, dass er etwas hört, was die vorherrschende Meinung nicht hören will, und nicht umhin kann, es klar herauszusagen.

So wie der Prophet Jeremias, der es ja gar nicht sagen will. Er schreit:

‹Ich will meinen Mund verschließen, weil es mich in solche Unannehmlichkeiten bringt, aber es verbrennt mich von innen. Ich kann nicht anders, es stößt mir von innen den Mund auf› (Jer 20.9).

Wenn wir sagen, denen geb ich es jetzt einmal, ich weiß schon, was Gott von denen will, dann sind wir höchstwahrscheinlich nicht gerade prophetisch. Wenn wir uns winden und wenden, aber nicht umhin können, es doch zu sagen, dann besteht eine gewisse Möglichkeit, Prophetisches zu äußern.

Aber es gehört noch etwas dazu. Das freie und tapfere Aussprechen genügt nicht, obwohl das schon schwer genug ist.

Wenn wir es jetzt sagen und dann schnell hinausgehen, schnell verschwinden, dann sind wir nur noch Kritiker von außen, aber der Prophet ist kein Kritiker von außen. Der Prophet steht drinnen, mitten in der Gemeinschaft.

‹Kein Prophet kann außerhalb Jerusalems sterben› (Lk 13,33),

sagt Jesus, das heißt, er muss dort sein, wo es ums Wesentliche geht.

So müssen auch wir mitten drinstehen. Dieses Drinstehen in einer Gemeinschaft ist so schwierig, dass man glauben sollte, es genüge schon. Drinnen zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen, ist schwer genug.

Darin, dass beides von uns verlangt wird, in der Gemeinschaft zu stehen  u n d  sie zugleich herausfordern, da liegt das Kreuz des Propheten.

Das Drinnenstehen ist der senkrechte Balken und das Herausfordern ist der horizontale Balken. So endet jeder Prophet früher oder später am Kreuz.

Versuchen Sie nur einmal bei irgendeiner Gelegenheit, wirklich aus dem tiefsten inneren Horchen, aus dem Herzen zu sprechen, besonders dann, wenn sich das, was Sie sagen wollen, mit der vorherrschenden Meinung nicht ganz verträgt. Sie werden auf die eine oder die andere Weise gekreuzigt werden.»

2. Mystik als Grenze der Bewusstseinsevolution (1988), 182f.:

«Ein Bild, das ich manchmal verwendet habe, um die Beziehung zwischen der mystischen Erfahrung und der religiösen Tradition zu veranschaulichen, ist das eines Vulkanausbruchs.

Da ist das heiße Magma, das aus den Tiefen der Erde emporschießt und dann an den Seiten des Vulkans herabfließt. Je länger es fließt, desto mehr kühlt es sich ab, und je mehr es sich abkühlt, desto weniger erinnert es an den ursprünglichen feurigen Zustand. Am Fuße des Berges finden wir dann lediglich übereinandergelagerte Felsschichten. Niemand würde denken, dass diese einst weißglühend waren.

Da kommt nun aber der Mystiker. Er bohrt ein Loch durch die übereinandergelagerten Felsschichten, bis das Feuer, das ursprüngliche Feuer, wieder emporschießt.[1]

Da jeder von uns ein Mystiker ist, besteht darin unsere Aufgabe.

Doch sobald wir zu dieser Verantwortung gereift sind, prallen wir unweigerlich mit der Institution zusammen.

Die Frage lautet: ‹Besitzen wir die Gnade, die Stärke und den Mut, unsere prophetische Aufgabe auf uns zu nehmen›?

Sie sehen, der Mystiker ist auch ein Prophet, und die Stellung des Propheten wird durch zweierlei geprägt. Das Prophetentum erfordert doppelten Mut, nämlich den Mut, zu verkünden, und den Mut, zu bleiben.

Man braucht schon eine ganze Menge Mut, um etwas zu verkünden, nicht unbedingt mit Worten. Häufig ist ein stummer Zeuge ein viel besserer Zeuge.

Der Prophet verkündet mit Worten oder durch Schweigen.

Es ist schwierig genug, etwas zu verkünden und sich dann so schnell wie möglich davon zu machen, seine Sache zu sagen und wegzulaufen.

Doch die zweite Seite des Prophetentums besteht darin zu bleiben, in der Gemeinschaft zu bleiben, gegen die es seine Worte richten muss.

Es genügt aber nicht, zu bleiben und sich unauffällig zu verhalten, sich zu verstecken. Das ist nicht im Sinne des Prophetentums.

Von uns wird das Schwierigste verlangt: Zu bleiben  u n d  zu verkünden.

Es wäre ein Leichtes, zu bleiben, wenn wir verschwinden könnten.

Es wäre ein Leichtes zu verkünden, wenn wir weglaufen könnten.

Dann wären Sie aber kein Prophet mehr, sondern lediglich ein außenstehender Kritiker.

Dazu sind viele müde Propheten geworden. Solange sie Propheten innerhalb der Gemeinschaft waren, hatten sie Macht und Einfluss, sie waren in der Lage, Dinge zu ändern. Dann aber, außerhalb der Gemeinschaft, sagten sie zwar dieselben Dinge, aber es kümmerte sich überhaupt niemand mehr darum.

Zu bleiben  u n d  zu verkünden bedeutet gekreuzigt zu werden.

Zufällig passt das Kreuz sehr gut zur christlichen Tradition, doch das Kreuz des Propheten erscheint in jeder Tradition.»

3. Zum prophetischen Gehorsam in Kirche und Religion siehe den letzten Abschnitt in Mystik als Grenze der Bewusstseinsevolution (1988), 193f., und in Kreuz und Auferstehung:

«Und so haben Sie immer wieder die christusähnlichen Figuren in der Kirche, die in dieselben Schwierigkeiten geraten, die Jesus mit seinen religiösen Autoritäten bekam.»

4. Audios

4.1. Fülle und Nichts (1996):
(03:45) Der prophetische Gehorsam / (04:35) Die Krux des prophetischen Gehorsams: Sagen, was gesagt werden muss und dennoch in der Gemeinschaft bleiben / (05:33) Reden trotz inneren Widerständen, und so, dass es verstanden wird / (06:36) Résumé

4.2. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Wie Jesus die Auffassung von Autorität revolutioniert]

 _________________

[1] Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3:
(23:38) Beispiele neuer Lebendigkeit im Bild eines Vulkanausbruchs und Risse in der Lava



Quellenangaben

Text, Audio, Film und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB

autoritaet autoritaeten titelCopyright © - Barbara Krähmer

In diesem Kontext von Religion und Spiritualität ist die Frage der Autorität äußerst wichtig, jedoch muss man den Begriff der Autorität richtig verstehen, denn heutzutage wird er gewöhnlich falsch verstanden.

Sogar wenn man nach dem Wörterbuch greift und dieses Wort nachschlägt, findet man gewöhnlich als Hauptsinn von «Autorität» angegeben, bei ihr handle es sich um eine Art von «Befehlshoheit»

Aber das ist nicht der ursprüngliche Sinn von Autorität, sondern der lautet:

«feste Grundlage für das Erkennen und Handeln.»

Wir verwenden ihn auch in diesem Sinn. Wenn wir zum Beispiel etwas über unseren Gesundheitszustand erfahren wollen, suchen wir als Autorität dafür einen Arzt auf.

Oder wenn wir etwas erforschen, greifen wir nach einem Buch als Autorität.

Das heißt, wir suchen darin nach einer festen Grundlage für unser Erkennen und Handeln.

Von daher lässt sich dann verstehen, wie wir «Befehlshoheit» erlangen, und das besonders dann, wenn man das auf den kleineren soziologischen Maßstab einer kleinen Gemeinschaft reduziert, also eine Familie, ein Stamm oder ein Dorf. Darin kann es einen Menschen geben, der sich immer wieder als feste Grundlage für das Erkennen und Handeln erweist.

So geht man dann etwa zu einer bestimmten alten Frau, wenn man wissen will, wie man seine Wunden heilen kann ‒ oder wenn man wissen will, ob man einen Krieg gegen ein anderes Dorf führen soll ‒, und sie gibt einem immer die richtige Antwort.

Das heißt also, weil sie eine feste Grundlage für das Erkennen und Handeln darstellt, verleiht man ihr den Rang einer Autorität und gibt ihr Befehlshoheit.

So ist Autorität entstanden, und alle unsere Autoritäten beruhen auf einer derartigen Entstehungsweise.

Aber von da an, wo jemand Autorität verliehen wird, lässt die oder der Betreffende normalerweise nicht mehr so leicht von dieser Macht ab, selbst wenn sie oder er keineswegs weiterhin eine Grundlage von Erkennen und Handeln ist. Auf diese Weise bekommen wir autoritäre Autoritäten.

Die wirkliche, echte Autorität ist so stark, dass sie oder er es sich leisten kann, uns aufzubauen.

Tatsächlich besteht darin der einzige angemessene Gebrauch der Autorität: die der Autorität Unterstehenden aufzubauen.

Autoritäre Autoritäten entbehren dieser Grundlage, und deshalb müssen sie alle anderen klein halten, um sich selbst hochzuhalten, und das ist das Kriterium, anhand dessen man sie unterscheiden kann.

Das ist der Lackmustest für die Unterscheidung von autoritärer Autorität und echter Autorität:

Wenn sie dich aufbaut, ist sie echt; wenn sie dich klein hält, ist sie autoritär. So einfach ist das.

Wenn man gründlich auf das zurückblickt, was Jesus in Bewegung gesetzt hat und was sich immer noch auf unsere Welt auswirkt, stellt man fest, dass es sich dabei um eine Autoritätskrise handelt.

Er war die Art von Prophet, der nicht gesagt hat: «Ich spreche zu euch im Namen der höchsten Autorität, und so komme ich also mit Autorität zu euch.», sondern er berief sich immer auf die Autorität Gottes in den Herzen seiner Zuhörer, und auf diese Weise baute er sie auf.

Deswegen sagten die Leute:

«Dieser Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten.»

Genau das brachte ihn in Schwierigkeiten. Sowohl die religiösen als auch die politischen Autoritäten mussten energisch gegen ihn vorgehen, denn jeder, der die Leute auf ihre eigenen Füße stellt, ist für diese Autoritätspersonen gefährlich.

Schließlich schafften sie ihn aus dem Weg.

Aber diese Art von Geist ließ sich nicht töten, weil das der unübertreffliche Geist ist, und er ist heute noch am Wirken.
[Auf dem Weg der Stille (2016), 74-76]

[Ergänzend:

1. Tao der Hoffnung (1994)
Vortrag und Diskussion bei der existential-psychologischen Bildungs- und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte und in Königsfeld im Schwarzwald (DE).
Den Frieden hinterfragen (Königsfeld im Schwarzwald) Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben
(22:49) Jesus befragt die Autorität und verändert das Autoritäts- und Gottesverständnis seiner Zeit völlig: Anders als ein Prophet oder Charismatiker verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer – Die Pointe der Gleichnisse Jesu – Deine Sünden sind dir vergeben – Dein Glaube hat dich geheilt – Steh auf! (Apg 3,1-10) / (29:00) Konflikte mit den autoritären Autoritäten und das Versagen der von Jesus Ermächtigten: Wer hat dir diese Vollmacht gegeben? (Joh 21, 23-27) – Viele wandten sich von ihm ab (Joh 6,66) – Die Fußwaschung passend zu: Auf den eigenen Füßen stehen.

2. Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (16.11.2019)
Vortrag von Bruder David und Gesprächsrunde (Mitschrift des Vortrages) anlässlich des Forums «Aus Dankbarkeit kraftvoll führen» im Europakloster Gut Aich, Winkl (AT).
(50:35) Frage einer Frau, zusammengefasst von Robert:
«Die Kontrolle abzugeben ist oft so schwer. Ist Kontrolle abzugeben das gleiche wie Macht abzugeben? Wenn ich ins Vertrauen gehe, gebe ich dann automatisch Macht und Kontrolle ab?»

Bruder David: «… Das ist nur eine teilweise Antwort: Man kann sich fragen: Wie soll ich Macht gebrauchen? ‒ Wie soll ich Macht gebrauchen? Da müssen wir uns zuerst einmal bewusstwerden, dass jede und jeder von uns so viel mehr Macht hat als wir überhaupt wissen. Wir wissen vielleicht einiges, aber wir haben noch viel mehr Macht: Wir haben Macht über Menschen, von denen wir gar nicht wissen, dass die zu uns schauen und sich an uns ausrichten usw..

Und wie sollen wir diese Macht verwenden?

Meine Antwort ist: Es gibt nur eine legitime ‒ echte, vom Leben gestattete Weise, Macht zu verwenden, und das ist: Andere zu ermächtigen.

Alles andere: Überwältigung von anderen … Aber das ist eine große Aufgabe. Besonders für Unternehmer und so: Andere zu ermächtigen.»

3. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017):

Bruder David: «Die Idee ist, die Hierarchie der Macht abzubauen, also die Pyramide der Ausbeutung und Unterdrückung, und sie in ein Netzwerk umzuwandeln. Auch ein Netzwerk kommt keineswegs ohne Autorität aus, aber Autorität ist nicht Machtbefugnis. Das ist ein völliges Missverständnis, aber das ist oft die erste Bedeutung, die man heutzutage diesbezüglich im Wörterbuch findet.

Autorität ist ursprünglich Grundlage für rechtes Wissen und Handeln.

Und da gibt es Menschen, die auf einer höheren Bewusstseinsebene stehen und deswegen verlässlicher sind, wenn es darum geht zu klären, was man tun soll und wie.

Es wäre wichtig, diesen Menschen auch in einem Netzwerk die Autorität einzuräumen. Was wir brauchen, ist eine Vernetzung von Netzwerken. Denn gewisse Probleme sollten nur auf der untersten Ebene gelöst werden. Und nur, wenn dort keine Lösung gefunden werden kann, sollte das Problem auf der nächsten Ebene behandelt werden.

Hinter der Idee von einem Netzwerk von Netzwerken stehe ich, aber es muss mit Autorität höheren Bewusstseins verbunden sein.»

4. Wie das Autoritätsbewusstsein von frühester Kindheit an von Krise  zu Krise heranreift bis zum prophetischen Gehorsam  des reifen Erwachsenen.]



Quellenangaben

Text und Audio-Vortrag von Br. David Steindl-Rast OSB

geben u nehmen titel g stahlCopyright © - Georg Stahl

Du weißt nie, was als nächstes passiert, wenn du dich auf Abenteuer einlässt. Sobald es dir genügend Angst macht, verschließt du dich aber sofort wieder. Manchmal bewegen wir uns an einem einzigen Tag viele Male hin und her zwischen Geben und Zurücknehmen, zwischen Auf- und Zumachen.

Leben aber ist Geben-und-Nehmen, nicht Geben oder Nehmen. Krampfhaftes Luftschnappen ist eine Sache, natürliches Atmen eine andere.

Wenn wir Luft holen, dann nehmen wir uns die Lungen voll, wenn wir wieder ausatmen, dann geben wir die Luft wieder her.

Diese Balance zwischen Geben und Nehmen ist der Schlüssel für ein gesundes Leben. Tatsächlich ist Balance ein zu mechanisches Wort, um es auf die innige Verwobenheit dieses Gebens-und-Nehmens anzuwenden. Es handelt sich ja hier um ein Geben im Nehmen und ein Nehmen im Geben.

Ist das einmal klar, dann müssen wir nicht länger betonen, dass es hier nicht darum geht, Geben und Nehmen gegeneinander auszuspielen. Ganz und gar nicht. Wir stellen hier ein lebenspendendes Geben-und-Nehmen einem bloßen Nehmen gegenüber, das ebenso tödlich ist wie bloßes Geben. Es spielt kaum eine Rolle, ob du nur einatmest und dann die Luft anhältst, oder ob du nur ausatmest und es dabei bewenden lässt. In beiden Fällen bist du tot.

Die meisten von uns benötigen ziemlich viel Ermunterung zum Geben. So wie wir gebaut sind (oder vielmehr durch unsere Gesellschaft in eine verbogene Form gepresst wurden), fällt uns das Nehmen mehr als leicht.

Es könnte sich als guter Test erweisen, wenn du eine halbe Stunde lang darauf achtest, wie häufig du «ich nehme» und wie oft du «ich gebe» sagst.

Unsere Sprache verrät uns: Ich nehme Unterricht, ich nehme mir frei, ich nehme mir ein Zimmer, ich nehme mir ein Taxi, ich nehme mir die Freiheit, ich nehme mir das Recht, ich nehme ein Bad, ich nehme einen Drink, ich nehme Urlaub, ich nehme, nehme, nehme, und wenn ich schließlich müde bin von all dem Nehmen, dann genehmige ich mir ein Schläfchen.

Zumindest versuche ich das, bis ich herausfinde, dass ich kaum einschlafen werde, bis ich mich jenem Schläfchen hingebe und es dem Schläfchen gestatte mich zu nehmen.

Und doch sind einige von uns dermaßen auf das Nehmen ausgerichtet, so unfähig, sich selbst zu geben, dass wir uns mit Schlaftabletten außer Gefecht setzen müssen, damit das arme Schläfchen eine Chance bekommt uns zu nehmen.
[FN 1) 62f.; 2-5) 64f.; 6) 66f.]

[Ergänzend:

1. Der Mönch in uns (1978):

«Wenn wir uns dem Sinn hingeben, dann müssen wir uns völlig geben, und wir wissen ja, wie schwierig es für uns ist, uns völlig hinzugeben. Wenn Sie daran zweifeln, dann beobachten Sie einmal Ihre Sprache, und stellen Sie fest, wie oft Sie täglich idiomatische Redewendungen gebrauchen, die die Bedeutung haben: ‹Ich nehme dies› und ‹Ich nehme das›. Wir haben keine Redewendung, die bedeutet: ‹Ich gebe mich etwas hin›. Wir nehmen an einem Kurs teil, an einem Examen, wir nehmen eine Tablette, eine Mahlzeit, ein Bad, wir nehmen Platz und nehmen alles Mögliche, was man überhaupt nicht nehmen kann ‒ einen Mann, eine Frau, einen Mittagsschlaf. (Wenn Sie jemals versucht haben, einen Mittagsschlaf zu ‹nehmen›, dann war es der sicherste Weg in die Schlaflosigkeit. Aber sobald man sich dem Mittagsschlaf hingibt, schläft man auch schon).»

2. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):

Bruder David: «Es gibt ein kurzes Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer ‹Der römische Brunnen›. Da ist das alles drinnen»:

«Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.»

Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille: Geleitwort und Epilog, in: Michael Fischer (Hrsg.): «Buch der Ruhe und der Stille: Inspirationen aus dem Geist der Klöster», Freiburg / Basel / Wien, Herder 2003, 183f.

«Der Kreislauf, in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen»:

«… und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.»

3. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(3. Juni 2011) Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(28:28) Rohr oder Flasche: zwei Weisen zu leiten ‒ ,Und strömt und ruht‘ (C. F. Meyer, der römische Brunnen): geben und nehmen am Beispiel der Fußwaschung Jesu]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

unglueck titelCopyright © - Barbara Krähmer

«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.

Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.

Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!

Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»
[1]

Zu allen Zeiten sind Menschenherzen von der Frage bewegt worden: Woher kommt das Leid?

«Ins Leben schleicht das Leiden
sich heimlich wie ein Dieb»,

sagt der Dichter Joseph von Eichendorff.

Es «schleicht sich» ein, denn es erscheint uns wie etwas Fremdes, dem ganz entgegengesetzt, was wir unter Lebensfülle verstehen. Lebensfülle aber gehört immer und überall zu dem, was Menschen «Gott» nennen. Wie also steht Gott zum Leiden?

Ich kann es mir nur so vorstellen, dass zum Leben in seiner ganzen Fülle eben auch das Leiden gehört, freilich nur auf der Ebene der Gegensätzlichkeit. Auf dieser Ebene gehören Freude und Leid zueinander, sie bestimmen einander wie Licht und Schatten, wie Berg und Tal.

Auf der Ebene ursprünglicher Einheit aber sind alle Gegensätze noch unentfaltet eins. Da ist Fülle, da fehlt nichts. Sobald sich aber die Einheit in die Vielfalt verschenkt, fehlt jedem der Gegensatzpaare immer die andere Hälfte.

Weil aber die grenzenlose Wirklichkeit, die wir «Gott» nennen, beide Ebenen umfasst, begegnen wir Gott ‒ auf der Gegensatzebene ‒ auch im Leid. Da ist der MITLEIDIGE der Mit-Leidende. Gott ist Mutter. Leidet eine Mutter nicht, wenn sie ihr Kind leiden sieht? Sie leidet nicht, «als ob» auch sie das Leid fühlte; sie fühlt es, fühlt es vielleicht noch schmerzlicher als das Kind selber es fühlt.

Das Große Geheimnis in seiner Überzeitlichkeit umfasst, umarmt dürfen wir wohl sagen, auch die Zeit, leidet also selber, wenn irgendein Lebewesen irgendwo irgendwann irgendwie leidet.

DU, mein innerstes Selbst erahnt Dich manchmal als über alle Gegensätze erhabene Lebensfülle im ewigen Jetzt. Solange ich aber noch in der Zeit bin, lass mich auch durch die Gegensätzlichkeit von Mitleid und Mitfreude mit Dir verbunden sein. Amen.[2]

Leben und Sterben gehören untrennbar zusammen. Darum ist der Lebenspendende auch der TÖTENDE. Diese beiden Gottesnamen weisen auf zwei polare Aspekte ein und derselben unleugbaren Wirklichkeit hin.

Aus zwei Gründen ist es wichtig, beide Aspekte im Blick zu behalten: erstens weil wir nur dadurch wach und freudig leben können; und zweitens, weil wir dadurch lernen, vertrauensvoll zu sterben.

Nur wer auch zum Sterben Ja sagt, sagt ein volles Ja zum Leben, schon deshalb, weil wir ja jeden Augenblick völlig loslassen müssen, um den nächsten voll auskosten zu können.

Und dieses Loslassen ist ein Sterben für Vergangenes, um ganz im Jetzt zu leben.

Wenn wir nicht loslassen, hängt ein Teil von uns an der Vergangenheit, wir sind dadurch gespalten und leben nur halb. Je mehr wir das Loslassen üben, desto leichter lebt es sich ‒ und desto leichter stirbt es sich auch.

Zwar bleibt uns der Tod ein Geheimnis, aber alles, was wir brauchen, um uns gut darauf vorzubereiten, lehrt uns unsere tägliche Erfahrung: wenn wir vor dem Einschlafen loslassen und fürs Heute sterben, dann wachen wir am Morgen fröhlicher und unbeschwerter auf.

Sollte diese Übung es uns nicht leichter machen, auch in unserer letzten Stunde vertrauend loszulassen?

Wir wollen zugeben, dass es sonderbar klingt, dem TÖTENDEN zu vertrauen. Leben und Sterben sind aber Gegebenheiten, das lässt sich nicht abstreiten. So bleibt uns nur die Wahl, uns gegen das uns Gegebene aufzulehnen oder es als Gabe vertrauend und dankbar in Empfang zu nehmen. Auflehnung nützt erstens nichts und macht noch dazu nicht nur das Sterben zur Qual, sondern schon das Leben. Alle Gaben des Lebenspendenden erweisen sich früher oder später als gute Gaben. Das muss auch von den Gaben des TÖTENDEN gelten, denn beides sind Benennungen für ein und dieselbe, uns völlig unergründliche Wirklichkeit.[3]

Ergänzend:

1. Text, Filme und Audios in Lebensvertrauen

2. Audios

Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch die Transkription des Vortrags und der Diskussion in Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens, S. 17-40
Eröffnungsreferat Vortrag:
(24:59) ‹leiden› und das ‹Leid(ige)› unterscheiden: Mit oder gegen den Strich gehen / (29:12) leiden, leiten, Lotse: Die leitende Kraft ist das Leben selbst / (30:39) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) / (34:25) Offen zum Himmel und zu den Nachbarn: Die Laubhütten am jüdischen Laubhüttenfest / (36:34) Es bricht das Herz auf – Das Herz ist kein Privatplatz – Das allerheiligste Herz Jesu / (37:59) So leben, dass uns nichts leidig ist – Unsere große Entscheidung – Das Leben in Fülle (Joh 10,10)
Diskussion:
(24:18) Der Dalai Lama zum Thema Leiden – das Bodhisattva-Ideal
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller /
(17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 1:
(13:43) Leiden um Anderer willen ertragen: Die Antwort des Dalai Lama und die ungesunde Überhöhung von Leiden in der christlichen Tradition / (18:59) ‹Ich bin bei ihm in seiner Not› (Psalm 91:15): Gott leidet in uns auf die Freude hin
Teil 2:

(02:25) Um Lebensvertrauen ringen: Glaube ist Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes – Ein Leben, in dem die Logik nur so schwimmt wie ein kleines Eisstückchen im Getränk / (06:24) Schwerkranke und Sterbende begleiten – Die Freunde Hiobs saßen bei ihm sieben Tage und Nächte (Hiob 2,13): Einfach da sein, Zeit schenken / (13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen – Totenwache daheim und bei den Maori – Belastendes will noch ausgesprochen werden – Nicht an der Hand, sondern in der Hand von jemandem sterben / (20:06) Die innere Geste des Loslassens: Eine andere Sicht auf Sterben, Selbstmord, verordneter Tod: Sokrates und Jesus / (30:04) Nur eine schmale Wand ist zwischen uns (Rilke: ‹Du Nachbar Gott›, Das Stunden-Buch)
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(53:26) Wie der strafende Vater das Gottesbild belastet – Das Opfer Abrahams (1 Mose 22,1-19) und die Gemälde Rembrandts

3. Texte

3.1. Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach:

«Um dankbar sein zu können, müssen wir uns auf das Leben verlassen. Dieses Vertrauen brauchen wir, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die sich uns bieten. Dabei handelt es sich um Gottvertrauen. Aber ich nenne es lieber Lebensvertrauen. Denn viele Leute machen eine Unterscheidung zwischen Gott und Leben. Sie betonen, sie hätten Gottvertrauen, beklagen sich aber über ihr Leben. Dabei ist genau das Leben, das sie so schrecklich finden, der Ort der Begegnung mit Gott. Wie Paulus sagt: ‹In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir› (Apostelgeschichte 17,28).

Sind Gott und Leben für Sie ein und dasselbe?

Gottes Wirklichkeit geht unendlich über alles hinaus. Aber wir erleben Gottes Gegenwart nicht anders als durch unsere Lebensumstände. Die Idee, dass ein Gott hoch oben im Himmel sitzt, ist keine christliche Vorstellung. Was wir ‹Leben› nennen, ist unsere Gottesbegegnung – Augenblick für Augenblick. Darauf gilt es zu vertrauen.»

3.2. Vom mystischen Wasser kosten ‒ 99 Namen hat Gott im Islam (2019): Interview von Bruder David mit Josef Bruckmoser; siehe auch Buchpräsentation «99 Namen Gottes» im Europakloster Gut Aich (2019):

«Einige Namen Gottes widersprechen einander. Wie kann Gott gleichzeitig gerecht und barmherzig sein?»

«Das ist das Schöne an den Namen Gottes im Islam, dass die Gegensätze zusammenfallen. Im Christentum hat Nikolaus von Kues betont, dass in Gott alle Gegensätze eins sind. Begreifen können wir das nicht, aber wenn Ehrfurcht vor diesem Geheimnis uns ergreift, dann verstehen wir es. Wenn Ehrfurcht verloren geht, dann wird aus dem Zusammenfallen gegensätzlicher Gottesnamen ein Zusammenprallen. Dann muss man sich für eine Seite entscheiden. Das ist genau der heutige Zustand der Welt: Alles, ob religiös oder politisch, ist gespalten.»

3.3. Islam und Christentum sind sich näher als gedacht (2019):

«Zu Namen wie ‹Der Schöpfer›, ‹der Erlöser› oder ‹der Dankbare› könne auch ein Christ Meditationen anstellen, um sich dem Geheimnis Gottes zu nähern, meinte Steindl-Rast. Der Ordensmann widmet sich in seinem neuen Buch auch ‹irreführenden› Gottesnamen, wie ‹der Zurückweisende› oder ‹der Verweigerer›. Auch diese Bezeichnungen könnten in Menschen ein ‹Echo auslösen› und wären Teil des ‹namenlosen Geheimnisses› Gottes, das nur schwer zu fassen sei, führte der Benediktiner aus. Er persönlich stehe dem Gottes-Namen ‹der Dankbare› sehr nahe. Denn die ‹Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude›, so Steindl-Rast.

Viele Menschen verstehen unter dem Wort ‹Gott› etwas Falsches oder wollen es gar nicht verwenden. … Einen Ausweg sah der 1926 in Wien geborene Ordensmann darin, z.B. den Begriff Lebensvertrauen statt Gottesvertrauen zu verwenden. Beides meine letztendlich dasselbe und weise auf Gott und dessen ‹göttliches Geheimnis› hin.»

3.4. Vom Worte Gottes leben ‒ die Versuchung Jesu im Garten (2021):

«Wir können auch dies Erlebnis am Ölberg (Lk 22, 39-46) einen Bericht der Versuchung Jesu (Lk 4,1-13) nennen. In beiden Berichten ist Vom Worte Gottes leben der entscheidende Punkt. In beiden Fällen bedeutet das Wort, das Gott spricht, Tod. Steine sind alles, was der Vater in der Wüste anbietet, nicht Brot; im Garten ist es der Kelch, ein Symbol für das Todesurteil. Diesmal ist es für Jesus ein harter Kampf:

‹Vater, wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an mir vorübergehen; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.›

Dies ist das Gebet des Glaubens in seinen schmerzensreichen Geheimnissen. Mit Blutschweiß und Tränen kämpft Jesus zu einem Glauben durch, der selbst am Rande des Todes auf Gottes Treue vertraut.

Früher oder später muss jeder von uns diese Ebene des Glaubens erreichen. Vielleicht bereitet Gott uns noch vor auf jenen steilen Teil des Anstiegs.»]

________________________________

[1] Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 18-21; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (18:45-20:48); siehe auch Fragen des Lebens

[2] 99 Namen Gottes (2019): 83 ar-Raʾūf: der MITLEIDIGE, 172f.

[3] 99 Namen Gottes (2019): 61 al-Mumīt: der TÖTENDE, in dessen Hand der Tod ist, 128f.



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

sinnlichkeitCopyright © - Barbara Krähmer

Sinnlichkeit ist leider nicht gut angeschrieben bei manchen, die sich dabei noch besonders christlich vorkommen. Jesus Christus würde sich allerdings nicht recht wohl fühlen mit einer so verstandenen Christlichkeit. Er selbst war so sinnenfreudig, dass seine Gegner ihn einen «Fresser und Weinsäufer» nannten (Matthäus 2,19). Die so urteilten, kamen sich schon damals besonders religiös vor in ihrer Eingeengtheit. Seine Freunde aber erlebten in der Begegnung mit ihm ganz sinnfällig die befreiende Weite von Gottes Gegenwart. Im Leuchten seiner Augen sahen sie Gottes Herrlichkeit. Im Klang seiner Stimme wurde Gottes Wort für sie laut. Wenn er sie anrührte, dann wurde der Gottesbegriff handgreifliche Wirklichkeit. Und von da ist es nur ein kleiner Schritt zur Erkenntnis, dass alles, was unsere Sinne wahrnehmen, Gottesoffenbarung sein will. Das hat unser hellhöriges Herz ja schon immer geahnt.

Gesunder Menschenverstand sagt uns ja schon, dass nichts in unserem Verstand zu finden sei, was nicht zuerst durch die Sinne Eingang fand. Alle unsere Begriffe sind im Begreifen verwurzelt. Wer sich an diesen Wurzeln nicht die Hände beschmutzen will, dessen säuberliche Begrifflichkeit wird bald entwurzelt vertrocknen. Von Übersinnlichkeit ist nur ein kleiner Schritt zur Widersinnlichkeit. Das Unsinnliche wird leicht zum Unsinn. Einem Leben aber, das im Sinnlichen verwurzelt ist, ohne darin verstrickt zu sein, wird daraus immer frischer Sinn erwachsen und immer neue Lebensfreude. Bleibende Freude überdauert freilich die verwelklichen Sinne. Sie übersteigt und übertrifft das Nur-Sinnliche. Nie aber ist echte Lebensfreude dem Sinnlichen entfremdet, so weit sie auch darüber hinauswächst.

Entfremdung von den Sinnen widerspricht so völlig echter Menschlichkeit und echter Christlichkeit, dass wir uns wundern müssen, wie wir uns je da hinein verirren könnten. Die Möglichkeit für eine solche Verirrung ist aber in unserem menschlichen Grundbewusstsein vorgegeben. Dieses ist nämlich zweifach. Einerseits erleben wir uns selbst als leiblich. Wir schauen in den Spiegel und sagen: «Das bin ich.» Andererseits sagen wir aber: «Ich habe einen Körper», weil unser Selbst doch irgendwie über das rein Körperliche, das wir im Spiegel sehen, hinausgeht. Der Geschmack von Walderdbeeren, unsere Zahnschmerzen, oder das Wohlbefinden nach dem Bad, das sind offenbar körperliche Erfahrungen. Von Reue, Heimweh oder heiliger Scheu können wir das nicht mit derselben Überzeugung behaupten. Weil also sowohl Sinnliches wie Übersinnliches zu unserem Erleben gehört, besteht die Gefahr, das wirklich Menschliche ausschließlich in einem dieser beiden Bereiche zu suchen. Aber wir Menschen sind Überbrücker. Unsere große Aufgabe ist es, zwischen den beiden Bereichen menschlichen Bewusstseins keinen Zwiespalt aufkommen zu lassen. Ein Mensch, der das Übersinnliche nicht anerkennt und pflegt, sinkt tief unter das Tier. Wer aber das Sinnliche vernachlässigt oder verleugnet, kann sich gerade deshalb nicht darüber erheben. [ST 121f., Quelle: AH 1-2) 33-36; 3-5) 32-34]



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

wiedergeburt titelCopyright © - Barbara Krähmer

Ein Grund, warum die christliche Tradition mich immer davon abgehalten hat, mich mit Reinkarnation zu beschäftigen, hat weniger mit Glaubenslehre als mit spiritueller Übung zu tun. Die Endgültigkeit des Todes soll uns zu einer Entscheidung herausfordern, der Entscheidung, jetzt und hier vollkommen gegenwärtig zu sein und so ewiges Leben zu beginnen. Denn Ewigkeit ist richtig verstanden nicht die Aufrechterhaltung von Zeit, in einem fort, sondern eher die Überwindung von Zeit durch das Jetzt, das nicht vergeht. Aber wir suchen immer nach Möglichkeiten, die Entscheidung hinauszuschieben.

Wenn du also sagst: «Oh, nach diesem werde ich ein weiteres Leben haben und noch ein weiteres Leben», dann lebst du vielleicht nie, sondern schleppst dich immer halb tot weiter, weil du dich nie dem Tod  stellst.

Don Juan sagt zu Carlos Castaneda: «Du bist so mürrisch und nicht vollständig lebendig, weil du vergisst, dass du sterben wirst; du lebst, als würdest du für immer leben.» Wie ich es verstehe, hilft uns das Gewahrsein des Todes, die Entscheidung zu treffen. Don Juan hebt den Tod als Ratgeber hervor.

Der Tod macht uns zu Kriegern. Wenn du dir bewusstwirst, dass der Tod sich genau über deiner linken Schulter befindet und du ihn dort sehen kannst, wenn du dich schnell genug herumdrehst, dann macht dich das lebendig und wachsam in Bezug auf Entscheidungen. [ST 146, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]



Quellenangaben

Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

unglueck titelCopyright © - Barbara Krähmer

Wie oft haben wir nicht schon erlebt, dass das Schicksal uns etwas Ersehntes vorenthält? Wer ist es aber, der uns Schicksal schickt?

Weil wir gläubig vertrauen, dass das göttliche Geheimnis Quelle und Ursprung unseres Lebens und so auch unseres Schicksals ist, schreiben wir Gott auch dieses Vorenthalten zu und nennen Gott den VERWEIGERNDEN.

Wie oft haben wir aber im Nachhinein dann sehen können, wie gut es für uns war, dass uns verweigert wurde, was wir uns erhofften und worum wir beteten.

Wir sind doch auch unseren Eltern nicht nur für das uns Gewährte dankbar, sondern ebenso für alles, was sie uns aus besserer Einsicht verweigerten. Erst als reife Menschen können wir so recht würdigen, was wir unseren Eltern durch ihr Verweigern verdanken. Es schwingt also Dankbarkeit mit, wenn wir Gott den VERWEIGERNDEN nennen.

Denk an einen großen Wunsch, der dir nicht in Erfüllung ging. Es ist nicht zu spät, dem VERWEIGERNDEN dafür zu danken. Vielleicht willst du das heute tun und dabei die innere Freiheit verspüren, die dir dieses Danken für Verweigertes gibt.[1]

Die Lehrerin fragt ein Schulkind: «Wozu brauchst du deinen Verstand?» «Um Geheimnisse zu bewahren», antwortet das Mädchen ohne zu zögern. Für sie bedeutet «Verstand» offenbar mehr als Vernunft, sie meint damit ihr ganzes Innenleben. Darum ist ihre Antwort so treffend. Unser Inneres wird uns als ein Bereich bewusst, der jeden Zugriff von außen zurückzuweisen vermag. Dieses geheimnisvolle, die innerste Würde behütende Zurückweisen gehört auch zu unseren innigsten persönlichen Beziehungen, ja, ganz besonders zu ihnen, und aus dieser Erfahrung erklärt sich wohl auch «der ZURÜCKWEISENDE» als Name für unser göttliches Du.

«Es tauchten tausend Theologen
in deines Namens alte Nacht ...»
[2]

Aber kein Name kann die Dunkelheit des Unergründlichen über die Grenze dieser Zurückweisung hinweg aufhellen.

Auch Nikolaus Lenau verwendet für die Unergründlichkeit des ZURÜCKWEISENDEN das Bild der Nacht, wenn er betet:

«Weil’ auf mir, du dunkles Auge,
übe deine ganze Macht,
ernste, milde, träumerische,
unergründlich süße Nacht!»
[3]

Süß, nicht erschreckend, dürfen wir uns die Nacht des ZURÜCKWEISENDEN vorstellen, weil sie ja letztlich jene Unergründlichkeit ist, die zur Vertrauensschulung in jeder Liebesbeziehung gehört.

Diese Erfahrung, Vertrauen auf Unergründlichkeit, macht es uns dann auch leichter, im täglichen Leben damit umzugehen, dass der ZURÜCKWEISENDE oft zu unseren Wünschen Nein sagt.

Wir dürfen ja nicht vergessen, dass unser tägliches Leben nichts Anderes ist, als immer wieder neue Gelegenheit zur Begegnung mit dem namenlosen Geheimnis, das hinter allen Gottesnamen steht.

«Kein Schicksal, keine Absage, keine Not ist einfach aussichtslos»,

schreibt Rilke: «Irgendwo kann das härteste Gestrüpp es zu Blättern bringen, zu einer Blüte, zu einer Frucht. Und irgendwo in Gottes äußerster Vorsehung wird auch schon ein Insekt sein, das aus dieser Blüte Reichtum trägt ...»[4]

Im Vertrauen auf den ZURÜCKWEISENDEN dürfen wir selber wohl jene Bienen sein, die auch aus den Blüten von Absage und Verweigerung Süßes saugen.

Was scheint dir das Leben zu verweigern? Kannst du, zum ZURÜCKWEISENDEN aufschauend, Honig des Vertrauens daraus machen? [5]

Wie können wir Gott den SCHADEN ZUFÜGENDEN nennen? Nur im tiefsten Vertrauen darauf, dass auch alles, was uns schadet, Geschenk der Liebe ist. Bei diesem radikalen Lebensvertrauen geht es um jene Haltung völligen Eins-Seins ‒ mit sich selbst und mit dem unergründlichen Geheimnis ‒, die uns in T. S. Eliots Worten «nicht weniger kostet als alles».[6]

Viele sagen «Ich habe an Gott geglaubt, bis mir das und das zugestoßen ist. Seitdem kann ich nicht mehr an Gott glauben.»

Da hat etwas zum Zusammenbruch des Glaubens geführt, was eigentlich Anstoß zur radikalen Verwirklichung gläubigen Vertrauens hätte werden können.

Wir können nicht sicher im Voraus wissen, ob unser Glaube an einem überaus schmerzlichen Anstoß scheitern oder erst so recht beginnen wird. Aber wir können uns darauf vorbereiten!

So wie wir durch unsere Erwägungen der Unergründlichkeit des Verweigernden vertrauen lernten, so können wir verstehen lernen, dass auch der SCHADEN ZUFÜGENDE ein Gottesname sein kann.

Leichter fällt uns das, wenn wir von uns selbst absehen und aufs Ganze schauen.

Denn nur in Teilbereichen können wir von Schaden und Nutzen sprechen. wenn wir aber aufs Ganze schauen, sind beide, Schaden wie Nutzen, Gewinn, nämlich Gewinn an Sein.

Unser Herz in einem großen Entschluss für die Fülle des Seins aufzuschließen, kostet uns aber, wie schon gesagt, «nicht weniger als alles».

Auch hier gilt: Schaue aufs Ganze ‒ und du wirst das Ganze rühmen.

«Meide den Irrtum, dass es Entbehrungen gebe
für den geschehnen Entschluss, diesen: zu sein!
Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.

Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, dass der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.»
[7]

Wo fordert der SCHADEN ZUFÜGENDE dich am meisten heraus? Nimm das als Anstoß, dich zu äußerstem Vertrauen zu entschließen. Dieser Entschluss entscheidet zwischen einem verbitterten und einem erfüllten Leben.[8]

Ergänzend:

1. Text, Filme und Audios in Lebensvertrauen

2. Weitere Audios

2.1. Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
Drei Grundfragen Warum? Was? Wie? (Bruder David):
(32:10) Unsere Aufgabe: ‹Rühmen, das ists› (Rilke: Sonette an Orpheus ‒ ‹Ich geh doch immer auf dich zu› (Rilke: ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst›) ‒ Kann man denn alles rühmen? ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) ‒ ‹Zwischen den Schlägen besteht unser Herz› (Rilke: Die Neunte Elegie) ‒ Die Dunkelheit, der Schatten des Geheimnisses und unser eigener Schatten gehören zum Ganzen dazu ‒ ‹Du
Dunkelheit aus der ich stamme› (Rilke: Das Stunden-Buch)
(37:37) Das Böse, das noch nicht Vollendete ‒ Und so gehen wir aus dem Schweigen in das Wort und durch das Verstehen wieder ins Schweigen zurück auf einer andern Ebene ‒ In der liebenden Dunkelheit sind wir versöhnt mit dem Schweigen
(58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit
Schuldgefühlen

2.2. Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)
Gespräch Teil 2 in folgende Themen zusammengefasst:
(04:38) Gottvertrauen in gedrückter Stimmung / (07:24) Traurigkeit und Zorn – eine Form unserer Lebendigkeit

3. Texte

3.1. Gottesnamen, die ein Echo auslösen (2019): Interview von Bruder David mit Susanne Huber; siehe auch Buchpräsentation «99 Namen Gottes» im Europakloster Gut Aich (2019):

«Wie ist es Ihnen dabei ergangen, sich mit den vielen Facetten der unterschiedlichen Gottesnamen im Islam auseinanderzusetzen?»

«Viele Namen sind ja die selben wie bei uns Christen – ‹der Schöpfer› oder ‹der Erlöser›. Manche sind für uns aber ein bisschen irreführend, wie ‹der Zurückweisende›, oder ‹der Verweigernde›. Diese Namen würde man zunächst negativ auffassen. Letztlich kommt es aber darauf an, was wir als Menschen erleben, wenn wir sie in Bezug auf das große Geheimnis, mit dem wir alle konfrontiert sind, hören. Wenn uns das gelingt, dann haben wir eine Brücke gebaut – nicht von Muslimen zu Christen irgendwo oben, sondern tief unten, wo wir als Menschen eins sind. Ich habe mich bemüht, die Namen dorthin zu bringen, wo sie auf den Menschen vibrieren und ein Echo auslösen könnten.»

«Meinen Sie mit Lebensvertrauen auch Gottvertrauen?»

«Das ist ein und dasselbe. Heute ist es fast besser Lebensvertrauen zu sagen, weil so viele Menschen etwas Falsches unter Gott verstehen oder das Wort gar nicht verwenden wollen. Vertrauen ins Leben ist das Gegenteil von Furcht. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Furcht getrieben ist. Angst ist etwas anderes, sie ist im Leben unvermeidlich. Man kann in Angst sein und sich trotzdem nicht fürchten.»

3.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021): Mit dem Herzen horchen, 16f.; siehe auch Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 264; Die schönsten Texte von David Steindl-Rast (2010): Unglück, 140; Horchen und Gehorchen:

«Auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. lm Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen. Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebensspendendes Wort? Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.

Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt. Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit. Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck. Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube. Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebens nicht offenbar ist, heißt den Weg zum Herzensfrieden finden. Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.»]

_______________

[1] 99 Namen Gottes (2019): 20 al-Qābiḍ: der VERWEIGERNDE, der Gaben nach Seinem Ermessen zurückhält, 46f.

[2] R. M. Rilke: Das Stunden-Buch

[3] Nikolaus Lenau: ‹Bitte›

[4] R. M. Rilke: Brief an Annette de Vries-Hummes (München, 25. August 1915)

[5] 99 Namen Gottes (2019): 90 al-Māniʿ: der ZURÜCKWEISENDE, der Hindernde, 186f.

[6] R. M. Rilke: Four Quartets: Little Gidding, V: Schlussverse, übersetzt von Norbert Hummel (2015):

«Quick now, here, now, always ‒
A condition of complete simplicity
(Costing not less than everything)
And all shall be well
When the tongues of flame are in-folded
Into the crowned knot of fire
And the fire and the rose are one.»

«Rasch jetzt, hier, jetzt, immer ‒
Ein Zustand völliger Einfachheit
(Kostet nicht weniger als alles)
Und alles wird gut und
Jede Art Ding wird bald gut sein
Wenn die Flammenzungen sich zusammenfalten
Im gekrönten Feuerknoten
Sind das Feuer und die Rose eins.»

[7] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXI

[8] 99 Namen Gottes (2019): 91 aḍ-Ḍārr: der SCHADEN ZUFÜGENDE, 188f.



Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

verhaltensmuster titelCopyright © - Barbara Krähmer

Die Meisten gehen immer wieder auf dieselbe Art mit Freunden, Ehepartnern oder Verwandten um. Wir rutschen immer wieder in die ausgefahrenen alten Verhaltensmuster. Sagen wir mal, dass jemand eine sarkastische Bemerkung macht, wohl wissend, dass der Andere ärgerlich oder noch sarkastischer darauf reagieren wird. Möglicherweise kommt es zum Streit oder einfach nur zu einer verbitterten und verfahrenen Lage. Jedenfalls führt das nirgendwo hin. Beide stecken fest. Sie finden keinen Ausweg, um aus den Rollen auszubrechen, die sie im Umgang miteinander übernommen haben.

Ganz selten ist es mir gelungen, solche Rollen zu durchbrechen, aber nur, wenn ich mich ganz sorgfältig vorbereitet habe. Zuerst muss ich mich lange vor einer Begegnung sammeln, wenn möglich Stunden zuvor, mich genau daran erinnern, wie das Gespräch gewöhnlich verläuft und wo wir stecken bleiben. Dann stelle ich mir vor, wie ich dem Andern kreativer antworten könnte und probe das richtiggehend, bevor ich mich in die Situation begebe. Wenn das gewohnte Reizwort dann fällt, sage ich etwas völlig Unerwartetes, und ganz plötzlich fallen die Rollen in sich zusammen. Aber das passiert nicht einfach so. Man muss sich wirklich gut darauf vorbereiten und wissen, was man tun will. [ST 142, Quelle: SW 230f.]



Quellenangaben

Text und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB

stillehalten titelCopyright © - Barbara Krähmer

In seinen «Four quartets» spricht T.S. Eliot von dem Paradox, dem Paradox der Hoffnung.

«We must be still and still moving» «Wir müssen still sein und dennoch vorangehen»[1],


Seine Einsichten sind so klar und so treffend ausgedrückt, dass ich hier gerne ein paar von Eliots poetischen Zeilen in meine eigenen tastenden Versuche, über Hoffnung zu sprechen, einfügen möchte.[2]

«We shall not cease from exploration «Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
And the end of all our exploring Und das Ende unseres Kundschaftens
Will be to arrive where we started Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
And know the place for the first time.» Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.»[3]


«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften», weil «auf dem Weg sein» das Unterwegs sein bedeutet.

Es spielt kaum eine Rolle, ob wir uns auf der falschen oder der richtigen Straße niederlassen.

Solange wir sitzen, sind wir nach nirgendwo hin auf dem Weg.

Wann immer wir uns bequem niedergelassen haben, sagt Gott: «Eure Wege sind nicht meine Wege» (Jesaja 55,8).

Das lässt die Illusion von Sicherheit zerbrechen und wirft uns wieder hinaus auf die kalte, dunkle Straße.

Und das ist ein Segen.

Arg wäre es, wenn Gott uns selbst überließe, bis uns übel würde von dem, was wir am meisten wünschten.

Im Gefundenen steckenzubleiben ist nicht besser als beim Suchen uns selbst zu verlieren.

Früher oder später werden wir erkennen, dass nicht unser Finden wirklich zählt, sondern unser Gefundenwerden.

Wir werden sehen, dass es nicht darauf ankommt, dass wir den Weg kennen, sondern dass wir an unserem Gehen erkannt werden.

Wichtig ist, dass wir in unserer Hoffnung  offen bleiben, offen für die Überraschung, denn Gott kennt unseren Weg viel besser als wir selbst.

In diesem Wissen kann unser Herz Ruhe finden, auch während wir weiterwandern.

«In Stillesein und hoffendem Vertrauen liegt eure Kraft» (Jesaja 30,15).

Hoffnung als die Tugend des Pilgers vereint Stille  mit Bewegung.

Es ist wahr, unser erwartungsvolles Verlangen setzt uns in Bewegung.

«Desire itself is movement Not in itself desirable;» «Begehren selbst ist Bewegung
Not in itself desirable;» Nicht an sich begehrenswert.»[4]


Das «in Hoffnung ruhen» (Psalm 16,9) ist ganz gewiss nicht jenen vorbehalten, die am Ende des Weges sind.

Auf einer Pilgerfahrt ist jeder Schritt das Ziel, denn das Ende geht dem Anfang voraus.[5]

Die Spannung der Hoffnung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht ist die Grundlage für ein Verständnis von Pilgerschaft.

Sie ist die Grundlage jener Sinnsuche, die wiederum die Pilgerfahrt jedes einzelnen menschlich menschlichen Herzens ist.

Ruhen wir in der Hoffnung, dann bewegen wir uns laut T. S. Eliot in dynamischer Stille:

«The stillness, as a Chinese jar still «Wie eine chinesische Vase
Moves perpetually in its stillness. Regungslos und dennoch in sich unendlich bewegt ist
Not the stillness of the violin, while the note lasts Nicht das Schweigen der Geige, solange der Ton noch schwingt
Not that only, but the co-existence, Nicht dies nur, sondern vielmehr ihr Zugleich-Sein,
Or say that the end precedes the beginning Und, sagen wir, dass das Ende dem Anfang vorangeht
And the end and the beginning were always there
Dass Ende und Anfang bestehen von jeher
Before the beginning and after the end.» Noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende
And all is always now.» Dass alles immer jetzt ist.»[6]


Wann immer wir auf etwas stoßen, das Sinn hat, dann ist dieser Sinn schon jetzt und doch noch nicht gegeben.

Er ist da, aber er führt immer noch weiter.

Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nachhause nehmen und im Einsiedlerglas aufbewahren kann.

Sinn ist immer etwas Frisches.

Er leuchtet uns plötzlich ein, so wie die Strahlen der Nachmittagssonne plötzlich auf unsere Waldlichtung fallen.

So oft wir hinschauen, können wir in diesem Licht immer neue Wunder entdecken.

Den Gott der Hoffnung müssen wir uns als «still (...) und dennoch vorangehen(d)» vorstellen.

Hoffnung, als Gottes Leben in uns, entfaltet sich in jener schöpferischen Spannung:

«We must be still and still moving «Wir müssen still sein und dennoch vorangehen,
Into another intensity Mit vertiefter Empfindung
For a further union, a deeper communion …» Zu neuer Vermählung, tieferer Vereinigung …»[7]


Die Überraschung in der Überraschung jeder neuen Entdeckung besteht darin, dass es immer noch Neues zu entdecken gibt.

Hoffnung hält die Gegenwart offen für eine völlig neue Zukunft.

Hoffnung hält uns im doppelten Sinne offen: für eine Zukunft in der Zeit und für eine Zukunft jenseits von Zeit, für Gottes Jetzt.

Diese göttliche Zukunft kommt nicht erst später.

Kennen Sie

«the moment in and out of time «… den Augenblick in und außer der Zeit,
The distraction fit, lost in a shaft of sunlight Den Wachtraum, verloren im Sonnenstrahl,
The wild thyme unseen or the winter lightning, Den ungesehenen Thymian, das Wetterleuchten im Winter,
Or the waterfall, or music heard so deeply Den Wasserfall oder Musik, die so innig gehört wird,
That it is not heard at all, but you are the music
Dass du sie nicht mehr hörst, weil du selbst die Musik bist,
While the music lasts». Solange sie forttönt»[8]


Wenn Sie auch nur einen Vorgeschmack dieser schmerzlichen Seligkeit erfahren haben, so wird es Ihnen sicher nicht schwer fallen zu verstehen, dass manche Menschen ihr ganzes Leben auf dieses eine Ziel ausrichten:

«But to apprehend, the point of intersection of the timeless with time.»

«den Punkt, wo sich Zeitloses schneidet mit Zeit zu erkennen.»[9]


Und wenn Ihnen in einem blitzartig erleuchteten Augenblick klar geworden ist, dass alles Sinn hat, sobald man das rationale Denken zurücklässt, so werden Sie auch verstehen, weshalb manche Männer und Frauen ihr ganzes Leben diesem Paradox widmen.

Was sie suchen ist:

«Not the intense moment «Nicht der gesteigerte Augenblick
Isolated, with no before and after, losgelöst, frei von Gewesenem und Künftigem
But a lifetime burning in every moment.» sondern das ganze Leben, glühend in jedem Augenblick.»[10]
«But to apprehend «Aber die Stelle zu erkennen,
the point of intersection of the timeless Wo die Zeit das Zeitlose
With time, is an occupation for the saint ‒ Kreuzt, ist ein Beruf für Heilige ‒
No occupation either, but something given Auch kein Beruf, sondern etwas, das gegeben wird
And taken, in a lifetime’s death in love, Und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens,
Ardour and selflessness and self-surrender.» Inbrunst, Hingabe, Aufopferung.»[11]


Eliot spricht auch vom:

«… the sudden ...Blitz der
illumination ‒ Erleuchtung ‒
We had the experience Wir haben das Erlebnis gehabt,
but missed the meaning, doch erfassten den Sinn nicht
And approach to the meaning Aber wenn man den Sinn erkundet,
restores the experience kehrt das Erlebnis wieder
In a different form …» In veränderter Form …»[12]


Hoffnung besitzt sogar die Macht, die Vergangenheit zu verändern, indem wir in ihr immer neuen Sinn entdecken.

«What might have been and what has been «Was hätte sein können und was wirklich war
Point to one end, which is always present.» Weisen auf ein, stets gegenwärtiges Ende.»[13]


Dieses Ende ist der Sinn, den alles hat. Und der Modus, in dem es gegenwärtig ist, ist Hoffnung.

Der heilige Paulus sagt uns, dass «Drangsal Geduld bewirkt, die Geduld Bewährung, die Bewährung Hoffnung» (Römer 5,3f.).

Dieser Läuterungsprozess findet sich an wichtiger Stelle in jeder spirituellen Tradition.

Die Geduld hält still im Feuer der Bewährung.

Disziplin besteht ja vor allem im Stillhalten. Das macht sie nicht weniger anstrengend.

Aber alle Anstrengung fließt ein in die entscheidende Aufgabe, nämlich, Aufgabe, sich nicht zu bemühen.

Um es wieder mit den Worten von Eliot zu sagen:

«I said to my soul, be still, and wait without hope
«Ich sprach zu meiner Seele: sei still und warte [14], ohne zu hoffen,
For hope would be hope for the wrong thing; Denn Hoffen wäre auf Falsches gerichtet;
wait without love warte ohne zu lieben,
For love would be love of the wrong thing Denn Liebe wäre auf Falsches gerichtet;
there is yet faith da ist noch der Glaube,
But the faith and the love and the hope are all Doch Glaube und Liebe und Hoffnung sind alle
in the waiting.» im Warten.» [15]


Der Schüler hält still vor seinem Lehrmeister. Der Schüler, Auge in Auge mit seinem Lehrer, ist ganz Aufmerksamkeit.[16] Diese Stille ist kein Abschalten. Es ist die Stille der Anemone, die sich weit dem Sonnenlicht geöffnet hat.[17]

Selbst das Durcheinander von Gedanken ist durch die Disziplin dieser Stille beruhigt.

Eliot sagt:

«Wait without thought, for you are not ready for thought:
«Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif,
So the darkness shall be the light, and the stillness the dancing.»
Dann wird das Dunkel das Licht sein und die Stille der Tanz.»[18]


Der Tanzmeister spiritueller Disziplin stellt hohe Anforderungen.

Die Stille und das Dunkel, in der Hoffnung geläutert wird, ist ein

«A condition of complete simplicity
(Costing not less than everything)»

«Zustand vollendeter Einfalt
(Der nicht weniger kostet als alles)»
[19]


Das Bild des Tanzes weist auf einen Aspekt der Hoffnung hin, den Joseph Pieper, der meisterhaft über diese Tugend schrieb, aufzeigte:

Hoffnung steht im engen Zusammenhang mit Jugendlichkeit.

Dies ist nicht nur in dem Sinne wahr, dass wir von jungen Leuten erwarten, dass sie voller Hoffnung seien.

Auch alte Leute, sofern sie die Tugend der Hoffnung erlernten, strahlen eine unerwartete Jugendlichkeit aus.

«Deshalb sind wir nicht verzagt», schreibt Paulus, «wenn wir auch äußerlich aufgerieben werden, so werden wir doch innerlich von Tag zu Tag jünger» (2 Korinther 4,16).

Tanzen verjüngt uns.

In der Jugendlichkeit der Hoffnung ist wartendes Stillehalten eins mit dem Tanzen und bedeutet den Punkt erreicht zu haben,

«At the still point oft he turning world. … «den ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt»,
Neither from nor towards;  
at the still point, there the dance is, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel,
but neither arrest nor movement. And do not call it fixity,  
Where past and future are gathered.» «wo Vergangenes und Zukunft vereint sind.»[20]
«Neither movement from nor towards, «Weder Fortgehen noch Hingehn,
Neither ascent nor decline. Weder Steigen noch Fallen.
Except for the point, the still point, Wäre der Punkt nicht, der ruhende
There would be no dance, So wäre der Tanz nicht ‒
and there is only the dance.» Und es gibt nichts als den Tanz.»[21]
«And the way up ist the way down, «Und der sei der Weg hinab,
the way forward ist the way back.» der Weg voran der Rückweg.»[22]


Das einzig Wichtige ist der Ruhepunkt des Tanzes.

Alte Leute fragen sich häufig, worauf es sich noch zu warten lohnte, und sie fühlen sich zum Tanzen zu steif.

Aber irgendwo zwischen kindischem Optimismus und senilem Pessimismus liegt der jugendliche Tanz der Hoffnung, anmutig in seiner Stille, da er in völliger Sammlung auf jeden neuen Einsatz zu warten weiß.

Warten ist nur dann ein Ausdruck von Hoffnung, wenn es ein «Warten auf den Herrn» ist, auf Gott, dessen Name Überraschungen  heißt ‒ und auf sonst nichts.

Solange wir auf eine Verbesserung der Situation warten, machen unsere Ambitionen einigen Lärm.

Und wenn wir auf eine Verschlechterung der Situation warten, dann werden unsere Ängste laut.

Die Stille, die in jeder beliebigen Situation auf das Aufleuchten des kommenden Herrn wartet ‒ das ist die Stille biblischer Hoffnung.

Diese Stille verträgt sich nicht nur gut mit tatkräftigem Dienst an der Welt, wenn das unsere gottgegebene Aufgabe ist.

Sie ist sogar unbedingt nötig, wenn wir klar und deutlich hören wollen, was unsere Aufgabe eigentlich ist.

Auch wie tüchtig wir unsere Aufgabe angehen, beweist sich durch Stille.

Die Stille der Hoffnung ist der Ausdruck einer vollkommenen Energiekonzentration auf die aktuelle Aufgabe.

Die Stille der Hoffnung ist deshalb die Stille der Integrität.

Hoffnung integriert.

Sie macht ganz.

Und so bietet die Hoffnung eine gesunde Basis für spirituelle Disziplin, eine solide Verankerung.

(Es ist kein Zufall, dass das traditionelle Zeichen der Hoffnung ein Anker ist.)

«A condition of complete simplicity «Ein Zustand vollendeter Einfalt
(Costing not less than everything) (Der nicht weniger kostet als alles)
And all shall be well and Und alles wird gut sein,
All manner of thing shall be well …» Und jederlei Ding wird gut sein ...»[23]


Aber bevor jederlei Ding gut sein wird, steht uns die schmerzhafteste Prüfung unserer Hoffnung noch bevor.

«The unattached devotion which might pass for dovotionless, «Das ziellose Frommsein, nach außen unfromm erscheinend,
In a drifting boat with a slow leakage …» Im treibenden Boot, das langsam dahinleckt ...»[24]


Dieses langsame Dahinlecken, das T.S. Eliot beschreibt, kommt daher, dass für unsere Hoffnungen, die sich im Strom der Zeit bewegen, die Zeit ausläuft.

Für die Hoffnung aber, die «verweilt», erfüllt sich die Zeit auf jene Fülle hin, die sich uns jeweils hier und jetzt schenkt.

«Here the impossible union «Hier wird die unmögliche Einheit
Of spheres of existence is actual Der Sphären des Seins Ereignis.
... ...
For most of us, this ist the aim Dies Ziel ist hienieden
Never here to be realised; Den meisten von uns unerreichbar,
Who are only undefeated Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Because we have gone on trying.» Weil wir es stets aufs Neue versuchten.»[25]
   
«For us, there is only the trying. «Für uns gilt nur der Versuch.
The rest ist not our business.» Der Rest ist nicht unsere Sache.»[26]


Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als «tranquillitas ordinis», die Stille der Ordnung.

Ordnung  ist untrennbar von Stille, aber diese Stille ist dynamisch.

Die Ruhe der Ordnung ist eine dynamische Ruhe, es ist die Stille einer unbewegt brennenden Flamme, eines Rades, das sich so schnell dreht, dass es still zu stehen scheint.

Stille in diesem Sinn ist nicht nur eine Eigenschaft der Umwelt, sondern vor allem eine innere Haltung, die Haltung des Hinhorchens.

Jeder von uns ist eingeladen, dieses Geschenk der Stille allen anderen weiterzuschenken.

Wir wollen einander Stille schenken.

Lasst uns hier und jetzt damit beginnen.

Lasst uns einander das Geschenk der Stille geben, so dass wir gemeinsam horchen und einander zuhorchen können.

Nur in dieser Stille wird es uns möglich sein, den sanften Atem des Friedens zu hören, die Musik der Sphären, die allumfassende Harmonie, in der zu tanzen wir hoffen.

Sinn ist Stille.

Er erfüllt sich, indem er Gestalt annimmt; er nimmt Gestalt an, indem er zum Wort wird.

Aber Sinn als solcher ist Stille.

Und

«Words, after speech, reach into the silence.» «Worte, nachdem sie gesprochen, reichen in das Schweigen hinein.»[27]


_________________________

[1] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V [17] BLUMENMUSKEL, der der Anemone
[2] Dieser Beitrag ist eine Komposition mit Texten aus den
Kapiteln «Hoffnung: Offenheit für Überraschungen» in FN
und «Die Umwelt als Guru», sowie «Spiegel des Herzens» in AH
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt
[3] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V in den stillen Blütenstern gespannter 
[4] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V Muskel des unendlichen Empfangs, 
[5] Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(3. Juni 2011)
Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(05:46) Pilgerfahrt im Unterschied

zur Reise: Die beiden Alten (Leo N. Tolstoi)
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs
kaum vermag die weitzurückgeschnellten
[6] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch:
TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL II, 83
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten!
[7] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten!
[8] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
[9] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V Aber wann, in welchem aller Leben, 
[10] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V  sind wir endlich offen und Empfänger?  
[11] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V,
Übersetzung aus: T. S. Eliot: Vier Quartette. Four Quartets.
Englisch und deutsch; übertragen von Norbert Hummelt, Berlin,
Suhrkamp Verlag 2015, 61
R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, V, siehe auch:
Leidenschaft für das Mögliche
[12] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II [18] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III
[13] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, I [19] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V
[14] Impulskontrolle finden (2022) [20] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II
[15] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, III [21] T. S. Eliot : Four Quartets: Burnt Norton, II
[16] Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Vortrag:«Sehen lernen»:
(01:15:11) Das Wort Disziplin stammt aus dem

Umfeld der Schule, nicht des Militärs: «Der «Discipulus», der Schüler,
schaut den Lehrer an und sieht sich selber in der Pupille des Lehrers.
«Pupilla», engl. «pupil», ist «der kleine Schüler», der sich in den Augen
des Lehrers sieht, und wenn man so ist Aug zu Auge ist mit dem
Lehrer, dann lernt man Disziplin, dann wird man wirklich Schüler.»
[22] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III
[23] T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V
[24] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II
[25] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V
[26] T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V
[27] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V, siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS  TEIL I, 25




Quellenangaben

Text von Br. David Steindl-Rast OSB

leidensch d moeglichen titelCopyright © - pixabay

Der Dichter Rilke blickt in den weit geöffneten Blütenstern einer Anemone und staunt über den Blumenmuskel, der den Blütenkelch nach und nach dem Morgenlicht erschließt.

Jener Muskel des unendlichen Empfangs, in den stillen Blütenstern gespannt, ist manchmal so von der Fülle des Lichts übermannt, das er kaum vermag, die weitgeöffneten Blüten bei Sonnenuntergang wieder zu schließen.

Und wir, so fragt der Dichter ‒ «wann sind wir endlich offen und Empfänger?»[1]

Erinnert uns das nicht wieder an jene Augenblicke, in denen wir selbst von des Lebens Fülle überwältigt waren?

Da waren wir von Freude überrascht.

Wie flüchtig diese Erfahrung auch war, jetzt kennen wir die Freude, für Überraschungen offen zu sein.

Einen Moment lang fühlten wir uns uneingeschränkt willkommen, und das erlaubt uns seither, das Leben ohne Einschränkungen willkommen zu heißen.

Der Geschmack jener Augenblicke erweckt in uns eine Leidenschaft für das Leben mit seinen schier grenzenlosen Möglichkeiten.

Jene Leidenschaft ist Hoffnung: «Leidenschaft für das Mögliche.»

Die Formulierung «Leidenschaft für das Mögliche» wurde von einem zeitgenössischen Propheten der Hoffnung geprägt.

Es sind die letzten Worte auf der letzten Seite von William Sloane Coffins Autobiographie, «Once to Every Man» («Einmal für jeden Menschen»).

Dieses Buch hat mich tief bewegt. Meine Liebe und meine Bewunderung für den Autor hat sicherlich dabei eine Rolle gespielt. Aber objektiv betrachtet, war ich betroffen von der Art und Weise, in der er sich mit den entscheidenden Anliegen unserer Zeit auseinandersetzt.

Mutig nimmt er sich diese Anliegen zu Herzen, mit all dem Leiden, das ihn das kostet und erlaubt jener Leidenschaft (das Leiden schwingt ja in dem Worte mit), seine Hoffnung zu läutern.

Das Leben selbst wird unsere Hoffnung Schritt für Schritt läutern, wenn wir mit Leidenschaft für das Mögliche leben.

Indem wir voranschreiten, werden die Grenzen des Möglichen weiter und weiter, bis in den Bereich des scheinbar Unmöglichen hinausgeschoben.

Früher oder später erkennen wir, dass das Mögliche keine festen Grenzen kennt.

Was wir für eine Grenze hielten, stellt sich als Horizont heraus.

Und wie jeder Horizont weicht er zurück, während wir uns ins volle Leben hineinbegeben.

Diese Entdeckungsfahrt, die ihren Ursprung in der Leidenschaft für das Mögliche hat, ist unsere religiöse Suche, angetrieben von der Ruhelosigkeit unseres menschlichen Herzens.

Jedes «noch nicht» lässt unsere Suche ruhelos bleiben. Jedes «schon jetzt» hält jene Ruhelosigkeit gesammelt.
[FN 1) 107-109; 2-5) 109-111; 6) 110f.]

Hoffnung kann sehen, was kein Spiegel der Welt zeigen kann.

Und so,

Happy fault, the flaw, which offending,
lets us see we have eyes for the perfect …
[2]

Glückliches Versehen, der Fehler, dessen Missfallen
uns erkennen lässt, dass wir Augen für das Vollendete besitzen.

Unsere Augen für das Vollkommene sind die Augen der Hoffnung.

Hoffnung betrachtet alles so, wie eine Mutter ihr Kind anschaut, mit einer Leidenschaft für das Mögliche.

Diese Art zu sehen ist schöpferisch.

Sie erschafft den Raum, in dem sich Vollkommenheit entfalten kann.

Mehr noch, die Augen der Hoffnung schauen durch alles Unvollkommene hindurch in das Herz aller Dinge und finden dort Vollkommenheit. [FN 1) 122; 2-5) 124f.; 6) 125]

Hoffnung als Leidenschaft für das Mögliche schärft unsere Sinne für praktische Möglichkeiten.

Sie gibt uns eine Jugendlichkeit, die das Mögliche nur durch einen immer weiter zurücktretenden Horizont begrenzt sieht.

Der adelige Geist der Hoffnung verlangt und bestimmt unseren moralischen Einsatz.

Denn Hoffnung wurzelt in unserem Herzen, wo wir mit allen verbunden ‒ und damit für alle verantwortlich sind.
[FN 1) 123; 2-5) 126; 6) 126]

Hoffnung ist eine Leidenschaft für das Mögliche.

Das «Leiden» gibt dem Wort «Leidenschaft» im Licht des Kreuzes Jesu eine neue Bedeutung.

Hoffnung, als Leidenschaft für das Mögliche, fordert leidenschaftliche Hingabe an das Mögliche ebenso, wie das Leiden für seine Verwirklichung.

Nur Geduld kann diese Doppelaufgabe leisten.

Mütterliche Geduld ist die Leidenschaft der Hoffnung.

Und da Geduld ebenso ansteckend ist wie Ungeduld, gibt sie uns die Möglichkeit, einander in der Hoffnung zu stärken.

Geduld verlangt Leidenschaft für unsere Ziele, ja, Leidenschaft selbst für unsere Hoffnungen, für die wir bereit sein müssen zu leiden, ohne uns in sie zu verkrampfen.

Im stillen Zentrum unseres Herzens begegnen wir der Fülle des Lebens als einer großen Leere.

Es muss so sein.

Denn diese Fülle ist größer als alles, was das Auge gesehen und das Ohr gehört hat.

Nur Dankbarkeit  in der Form einer grenzenlosen Offenheit für Überraschung kann die Fülle des Lebens in Hoffnung erahnen.
[FN 1) 136-138; 2-5) 139-14; 6) 140f.]

______________________

[1] Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schoß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,

in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
dass der Ruhewink des Untergangs

kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
du, Entschluss und Kraft von wieviel Welten!

Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber wann, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?

R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, V, siehe auch: Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH:
Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 8]

[2] Dorothy Donnelly in «Trio in a mirror»



Quellenangaben

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