Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
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Alfred Fiedler: «Ein zentrales Thema in deinem Leben und Wirken nimmt die ‹Dankbarkeit› ein. Du hast auch ‹Dankbarkeitskreise› ins Leben gerufen. Erst vor kurzem schwärmte eine Bekannte, Sibylle Eisenburger, davon, die von dir inspiriert, selbst Dankbarkeitskreise ins Leben ruft. Sie lässt dich auch herzlich grüßen.
Bruder David: «Aha. Ich freue mich immer, wenn ich so höre von diesen Dankbarkeitskreisen an verschiedenen Orten.»
Bernhard Marckhgott: «Dieses Wort DANKE, was macht das mit den Menschen? Dass du so daran glaubst, an diese Heilsamkeit oder Wirksamkeit? Das Positive dieses Wortes DANKE – Wie bist du zu dieser Einsicht gekommen?»
Bruder David: «Es geht gar nicht um das Danke sagen. Das ist einfach eine Frage der Höflichkeit. Es geht um eine Lebenshaltung der Dankbarkeit. Und um über diese zu sprechen, muss man beim Vertrauen beginnen, und zwar vom Lebensvertrauen. Für unsere Großeltern hat es Gottesvertrauen geheißen, für uns heißt es heute Lebensvertrauen. Da ist wirklich kein Unterschied, vom christlichen Standpunkt aus: Gott ist der Gott des Lebens. Ob man es dann Lebensvertrauen nennt oder Gottvertrauen, ist egal. Ich fasse es lieber unter Lebensvertrauen zusammen, weil das Wort Gott sehr missbraucht wird und missverstanden wird. Und Lebensvertrauen fehlt sehr vielen Menschen heute. Sie haben Angst.
Bernhard Marckhgott: «Und wie soll man das Wort Gott verwenden?»
Bruder David: «Es ist nicht notwendig. Es kommt nicht darauf an, jemanden zu überzeugen, diese oder jene Sprache zu verwenden. Es kommt nur darauf an, eine Haltung zu erlernen und zu vermitteln. Die Haltung ist die des Vertrauens, und ich beginne eben mit Lebensvertrauen, weil man darüber mit jedem Menschen sprechen kann, ob die jetzt Gott sagen wollen oder nicht.
Über Lebensvertrauen kann man mit jedem Menschen sprechen. Und man kann jedem Menschen zeigen, dass die einzige vernünftige Haltung eines Menschen das Lebensvertrauen ist. Vernünftig! Denn jeden Augenblick, jede Sekunde erneuern sich 2 Millionen roter Blutkörperchen in unserem Körper. Jede Sekunde: 2 Millionen sterben und 2 Millionen entstehen. Kein Wissenschaftler kann überhaupt ein rotes Blutkörperchen bis zur letzten Einzelheit darstellen, geschweige denn herstellen. Und das ist nur eine von tausenden von Funktionen, die in uns walten.
Es ist viel richtiger zu sagen, das Leben lebt uns, als zu sagen, dass wir das Leben haben. Das Leben lebt uns und wir tragen Verantwortung. Und aus diesem Lebensvertrauen, also wenn ich dem Leben vertraue, muss ich auch dem anderen Menschen vertrauen. Das Leben schickt mir ja den anderen Menschen.
Daher kommt als nächster Schritt: Jeden Augenblick hinhorchen. Jeden Augenblick hat das Leben eine Gabe für mich. Und du fragst dich, was schenkt mir jetzt das Leben? Das Leben schenkt mir auch eine Aufgabe! Wenn wir das erfüllen, haben wir alles erfüllt, was die christliche Lehre oder irgendeine andere Religion sich wünschen kann. Und wir haben eine friedliche Welt.
Wir können eine persönliche Beziehung haben zum Leben – das ist sehr geheimnisvoll.
In der christlichen Sprache heißt es:
«In Gott leben, weben und sind wir.» (Apg 17,28)
Zu diesem Leben können wir auch eine persönliche Beziehung haben, wenn wir sagen, das Leben schenkt uns etwas – dann ist das nicht nur eine Vermenschlichung, eine Metapher, sondern es ist wahr – es wird uns wirklich etwas geschenkt. Und dafür steigt in uns eben auch Dankbarkeit auf. Und das ist eine Haltung: Dass man in jedem Augenblick fragt, was schenkt mir jetzt das Leben. Und wenn es ein freies Geschenk ist – darauf zu vertrauen, dass es ein gutes Geschenk ist. Und dann kann ich mir gar nicht helfen, dann bin ich schon dankbar, dann steigt schon die Dankbarkeit hoch.»
Das Geschenk innerhalb von jedem Geschenk ist die Gelegenheit!
Es ist nicht dieses Glas Wasser (zeigt auf das vor ihm stehende Glas Wasser). Dieses Glas Wasser könnte auch da draußen stehen und für mich unerreichbar sein. Es steht aber hier vor mir und ich bin dankbar, dass es hier steht und ich es trinken kann. Für die Gelegenheit bin ich dankbar!
Das einzige Geschenk in jedem Geschenk, wofür man dankbar sein kann, ist immer die Gelegenheit. Gelegenheit – meistens ‒ sich zu freuen. Das übersieht man ganz. Aber wenn man mal einmal damit beginnt, findet man es heraus: 90% der Zeit ist Gelegenheit sich zu freuen. Das ändert das Leben ganz und macht es freudiger.
Das hat man auch schon wissenschaftlich herausgefunden. Dass Menschen, die jeden Tag einen Satz niederschreiben, ein Ding wofür sie dankbar sind, sind gesünder. Wissenschaftlich haben wir diese Belege.
Gelegenheit ist manchmal nicht so leicht zu finden. Wenn ich jetzt vor dem Fernseher sitze und entsetzliche Verbrechen, Krieg und so weiter, sehe, was ist da die Gelegenheit dankbar zu sein? Dass ich darauf aufmerksam gemacht werde, damit schenkt mir das Leben eine Frage oder eine Herausforderung. Das ist die Gelegenheit etwas zu tun. Und wenn ich im ersten Moment denke, ich kann gar nichts tun, dann kann ich mich fragen, was kann ich tun? Das ist auch schon etwas.
Alfred Fiedler: «Dass bereits der Impuls die Gelegenheit für die Frage bietet, was kann ich tun, ist ein bestechender Gedanke.»
[Ein unvergessliches Zusammentreffen (2024): Interview mit Bruder David OSB von Dr. Bernhard Marckhgott und Dr. Alfred Fiedler mit Bruder David]
[Ergänzend:
1. Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach:
«Es gibt manche Situationen, in denen mir das Lebensvertrauen und die Dankbarkeit schwerfallen. Ich leide öfters unter Atembeschwerden. Nicht frei atmen zu können, ist schon eine Qual. Dann stöhnt der Körper – und er stöhnt nicht ‹danke, danke›. Dann brauche ich eine Weile, um mich zu erinnern: Ich kann ja doch noch atmen, es wird schon wieder werden. Meine Dankbarkeit wird herausgefordert, das gehört wohl zum Leben. Je mehr man aber in Übung ist, umso kürzer dauert die Zeit, bis man im schwierigen Augenblick das Geschenk erkennen kann.
Um dankbar sein zu können, müssen wir uns auf das Leben verlassen. Dieses Vertrauen brauchen wir, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die sich uns bieten. Dabei handelt es sich um Gottvertrauen. Aber ich nenne es lieber Lebensvertrauen. Denn viele Leute machen eine Unterscheidung zwischen Gott und Leben. Sie betonen, sie hätten Gottvertrauen, beklagen sich aber über ihr Leben. Dabei ist genau das Leben, das sie so schrecklich finden, der Ort der Begegnung mit Gott. Wie Paulus sagt: «In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir» (Apostelgeschichte 17,28).
Sind Gott und Leben für Sie ein und dasselbe?
Gottes Wirklichkeit geht unendlich über alles hinaus. Aber wir erleben Gottes Gegenwart nicht anders als durch unsere Lebensumstände. Die Idee, dass ein Gott hoch oben im Himmel sitzt, ist keine christliche Vorstellung. Was wir ‹Leben› nennen, ist unsere Gottesbegegnung – Augenblick für Augenblick. Darauf gilt es zu vertrauen.
Und wenn das Vertrauen sich nicht einstellt?
Vertrauen ist das Schwerste überhaupt. Darum kommt in der Bibel so häufig der mutmachende Spruch «Fürchte dich nicht» vor – in der Weihnachtsgeschichte rufen ihn die Engel den Hirten auf dem Feld zu. Angst ist unvermeidlich im Leben. Aber wir sollten lernen, nicht mit Furcht darauf zu reagieren.
Wie ist das möglich?
Ich kann mich im Vertrauen üben, dass jeder Tag mir genau das bringen wird, was ich brauche – auch wenn es nicht immer das ist, was ich mir wünsche. Ich persönlich bin dabei dankbar für die Werkzeuge der christlichen Tradition wie etwa Gebete. Aber auch Menschen, die keiner Religion angehören, erfahren immer wieder: Alles, was wir wertschätzen, wird uns vom Leben geschenkt. Wir können lernen, darauf zu vertrauen.»
2. Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern (2019): Interview mit Bruder David von Michaela Gründler:
«Das ist die große Entscheidung: Vertraut man jetzt dem Leben oder misstraut man ihm auf Schritt und Tritt? Wenn man ihm misstraut, ist das Ärgste schon passiert. Viel schlimmer kann es ja gar nicht werden. Wenn man hingegen vertraut, ist das der Einstieg zur Beziehung zum großen Geheimnis. Ich verwende daher lieber Lebensvertrauen statt Gottvertrauen, aber es läuft auf ein und dasselbe hinaus.
Weshalb sagen Sie lieber Lebensvertrauen statt Gottvertrauen?
Ich bin sehr vorsichtig mit dem Begriff Gott. Den meisten Menschen in unseren Breiten wird ja schon sehr früh eine falsche Idee von Gott gegeben: die Idee, dass wir von Gott getrennt sind – schon als Geschöpfe, und durch Sünde noch mehr. Unsere angeborene Urreligiosität weiß aber, dass wir dem göttlichen Geheimnis innig verbunden sind.
Auch in der Bibel, wo Paulus zu Griechen in Athen spricht – einfach als Mensch zu Menschen –, da kann er auf nichts zurückgreifen als auf diese allgemein menschliche Religiosität, also sagt er: ‹Eure eigenen Dichter haben es ja schon gesagt: In Gott leben wir, bewegen uns und sind.›
Das ist nicht der Gott, der uns als himmlischer Polizeimann bespitzelt, der Gott, der fern von uns im Himmel thront und uns verurteilt. Dass wir ‹in Gott leben und weben und sind›, (Apostelgeschichte 17:28) ist ein Ansatzpunkt, den heute viele Menschen guten Willens annehmen können.
Wenn man das Lebensvertrauen verliert – wie lässt es sich wiedergewinnen?
Da kommt wieder die Dankbarkeit ins Spiel. Ich spreche dabei aber nicht von Dankbarkeit im Sinne, dass man jemandem für etwas dankt. Falls es in dein Weltbild hineinpasst, Gott zu danken, wunderbar! Aber wenn jemand überhaupt kein Lebensvertrauen hat, ist es besser, zu sagen:
Schau, du kannst atmen. Du kannst sehen. Du bekommst etwas zu essen, das dir schmeckt. Das alles schenkt dir das Leben. Wenn wir dort anfangen, wo wir uns am Leben freuen, dann gibt uns das ein bisschen Lebensvertrauen. Das Leben hält ja doch viel Gutes für uns bereit.»
3. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview mit Bruder David von Anne Voigt [ebenso: Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017)]:
«Was ist Glaube für Sie?
Glaube ist ein radikales, mutiges Vertrauen in das Leben. Der Glaube an etwas kann aber auch ein Sich-Anklammern sein. Im Deutschen ist es missverständlich: Das Wort ‚glauben‘ bedeutet in der Alltagssprache gewöhnlich, etwas für wahr halten. Der religiöse Glaube wurde dann eben auch sehr häufig als ein Etwas-für-wahr-Halten von Glaubenssätzen verstanden und leider auch so gepredigt. Anstatt sich an Glaubenssätze zu klammern, ist es viel wichtiger, sich vertrauensvoll auf das Leben einzulassen.
Wie geht das, sich aufs Leben einzulassen?
Das Lebensvertrauen wird uns im Normalfall geschenkt. Erweist sich die Umwelt eines Babys als vertrauensvoll, vor allem die Mutter, ist eine Voraussetzung bereits erfüllt.
Der zweite Pfeiler ist, dass die Umwelt einem Menschen früh Vertrauen schenkt. Wenn sich jemand mir gegenüber als vertrauenswürdig erweist, darf ich mich verlassen. Und wenn mir Vertrauen geschenkt wird, kann ich mich finden. Bei einem Menschen, der diese beiden Erfahrungen schon sehr früh erlebt hat, ist das eine sehr gute Grundlage.
Hatten Sie dieses Glück?
Ich muss dankbar zugeben, dass mir das sehr früh geschenkt wurde. Das Leben bringt uns aber immer wieder in Schwierigkeiten und macht uns Angst. Es ist sehr schwierig, sich in solchen Momenten nicht zu fürchten und durch diese Ängste ins Weite zu gehen. Jeder kennt solche Situationen und jeder reagiert anders, da gibt es psychische und psychophysische Prägungen. Ich bin persönlich depressiv veranlagt.
Sie haben Depressionen?
Ich habe immer wieder Depressionen, zum Glück meistens nur sehr kurze. Das sind schon große Belastungsproben für das Lebensvertrauen. Aber worüber man mit jedem sprechen kann und sollte, ist die Frage:
Was ist die Alternative zu Lebensvertrauen. Lebensangst?
Solange wir nicht durch psychophysische Belastungen eingeschränkt sind und eine Wahl haben, kann man immer wieder nur sagen: So schlimm es auch ist: Mit Lebensvertrauen auf schwierige Situationen zuzugehen hat mehr Chancen und ist viel angenehmer, als Lebensangst zu haben.»
4. Lebensquell und Schale (2017): Interview mit Bruder David von Heinz Niederleitner:
«Die Unzufriedenheit, die wir empfinden, hängt damit zusammen, dass wir dem Leben nicht vertrauen; wir bezweifeln, dass es uns genug gibt. Wir wollen immer etwas anderes oder mehr. Dabei gehört es ganz wesentlich zum Lebensvertrauen, daran zu glauben, dass uns das Leben immer gibt, was wir brauchen.
Zum Lebensvertrauen, das ja dasselbe ist wie Gottvertrauen, gehört die Kreativität im Vertrauen darauf, dass ich aus meinem Leben etwas machen kann.
Das Leben bietet mir immer die Gelegenheit, etwas daraus zu machen, es zwingt mich nicht.
Aus dem Augenblick etwas zu machen, ist viel mehr als sich einfach mit ‹Zwängen des Lebens› zu arrangieren. Das ist keine kreative Lösung.
Lebensvertrauen heißt ja auch, dass das Leben mich nicht zwingt, sondern, dass es mir Gelegenheit anbietet.»
5. Zeit ohne Druck (2017): Interview mit Bruder David von Heinz Niederleitner:
«Zum Lebensvertrauen gehört das Vertrauen, dass das Leben mir immer genug schenkt.
Zeit ist ein ganz wichtiges Element, das uns geschenkt wird.
Deshalb ist es ein ganz wichtiger Aspekt des Lebensvertrauens, sich darauf zu verlassen, dass das Leben mir immer genügend Zeit schenkt – auch wenn es nicht so ausschaut. Und warum schaut es nicht so aus? Weil ich etwas anderes will, als das Leben mir gibt.
Natürlich darf ich mir wünschen, für dieses und jenes mehr Zeit zu haben. Aber das Gefühl, dass nicht genug Zeit da wäre, darf ich ersetzen durch vertrauensvolles Ausnutzen der Gelegenheit, die das Leben mir jetzt schenkt.
In jedem Augenblick kann ich schauen, wie ich ihn so verwenden kann, dass ich auch das bekomme, was ich mir erträume und wünsche.
Dabei werde ich unter Umständen draufkommen, dass es mir möglich ist, etwas weniger zu schlafen.
Unter anderen Umständen ist es notwendig, etwas mehr zu schlafen.
Wenn ich eine halbe Stunde früher aufstehe, habe ich vielleicht Zeit für das, was ich mir wünsche; oder wenn ich das auslasse, was mir nicht so wichtig erscheint, bietet mir das Leben die Gelegenheit, stattdessen etwas zu machen, was mich wirklich freut.
Wir können uns eine Wertordnung setzen: Wie will ich die Zeit nutzen, die mir das Leben schenkt?»]