Text und Video von Br. David Steindl-Rast OSB

hoffnung titelCopyright © - Georg Stahl

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!

So oft ich den Computer öffne, finde ich Berichte
von zerschellten Hoffnungen
für unsere Umwelt oder für unsere Zukunft.
Freunde berichten, dass sie alle Hoffnung verloren haben.
Allerdings haben sie wohl nur Hoffnungen verloren,
nicht unbedingt  d i e  Hoffnung.
Hoffnungen sind heiß ersehnte Zukunftsvorstellungen.
Echte Hoffnung ist Offenheit für  u n vorstellbare Überraschungen.
Wenn Erhofftes unerfüllt bleibt,
will ich heute offen bleiben
für unvorstellbar Besseres,
weil ich dem Leben vertraue.
Möge Lebensvertrauen
mein Denken und Tun fruchtbar machen
für eine Zukunft,
die alle Vorstellungen noch weit übertrifft.
Amen.»
[1]

Worauf ist tragfähige Hoffnung dann letztlich gegründet? Die Antwort lautet: auf Lebensvertrauen.

Hoffnung ist
«die freudig vertrauensvolle Erwartung
des Unvorhersehbaren»
.
Das Unvorhersehbare schlechthin
aber ist das Leben.

Wir alle wissen aus Erfahrung: Wenn etwas lebendig ist, dann ist es überraschend; und wenn es nicht überraschend ist, dann ist es sicher mechanisch. Gerade auf die überraschende Unvorhersehbarkeit des Lebens aber verlässt sich die Hoffnung mit freudigem Vertrauen.

Lebensvertrauen als bewusste Haltung heute Seltenheitswert.

Ohne dass es uns bewusst wird,
vertrauen wir jedoch alle dem Leben,
Augenblick für Augenblick.

Wer bezweifelt etwa, dass das Leben den unglaublich komplizierten Vorgang der Verdauung für uns zustande bringt – eine Leistung, die unsere eigene Einsicht und Fähigkeit total übersteigt? Wir stehen vom Tisch auf und verlassen uns darauf, dass das Leben alles weitere übernimmt, ohne dass wir überhaupt daran denken. Ähnlich ist es mit unserem Blutkreislauf und mit unserer Atmung. Wir dürfen beim Einschlafen auf das Leben vertrauen, dass es unser Herz die ganze Nacht lang schlagen lassen wird. Auch über unseren Atem brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Das Leben atmet sozusagen in uns. Ja, in all diesen körperlichen Belangen dürfen wir eigentlich darauf vertrauen:

Das Leben lebt uns.

Wenn wir also Grund haben, unserem biologischen Leben zu vertrauen, wie sieht es dann mit dem biografischen aus? Haben wir auch Grund, der Lebenskraft zu vertrauen, die uns von Kindheit an durch die Abfolge der Lebensphasen führt, in denen wir Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen?

Gewiss, denn es ist ja dieselbe geheimnisvolle Lebendigkeit, die sowohl unser biologisches als auch unser biografisches Leben trägt. Wir brauchen auch gar nicht alt zu sein, um rückschauend erkennen zu können, dass das Leben uns durch kleinere und größere Fehlschläge doch immer wieder zu neuen und besseren Anfängen führt.

Immer wieder wird das,
was uns als ein kleiner Tod erscheint,
zu einer neuen Geburt,
auch wenn manche «Schwergeburten»
lange dauern.

Dieses Stirb und werde findet erfahrungsgemäß so verlässlich statt, dass wir uns auch in dieser Hinsicht auf das Leben verlassen dürfen.

Das ist übrigens auch der Grund, warum wir vertrauen dürfen, dass unser endgültiger Tod zu einer endgültigen Neugeburt führen wird, obwohl wir uns das ebenso wenig vorstellen können wie eine Raupe ihr Leben als Schmetterling.

So können wir mit Recht sagen: Leben aus der Hoffnung ist auf Lebensvertrauen gegründet. Wir können also hoffnungsfrohe Menschen werden, indem wir unser Lebensvertrauen auf zweierlei Weise stärken:

  • Wir können uns dankbar bewusst machen, wie weitgehend wir uns auf körperliche Lebensprozesse verlassen dürfen, z. B. dadurch, dass wir mehrmals am Tag innehalten und auf unseren Atem achten.
  • Wir können uns abends einige besinnliche Augenblicke gönnen, in denen wir den Tag überdenken und uns dankbar bewusst werden, dass das Leben es gut mit uns meint. Unsere Lebenserfahrung legt Lebensvertrauen nahe.

Das gilt für alle Menschen. Wenn wir es in christlicher Sprache sagen wollen, dann dürfen wir hinzufügen:

Lebensvertrauen ist Gottvertrauen.

Was meinen wir denn mit dem Wort «Gott», wenn nicht das innerste Geheimnis aller Lebendigkeit?

Der Apostel Paulus kann vom lebendigen Gott genau das sagen, was vom Leben gilt:

«Denn in ihm leben wir,
bewegen wir uns und sind wir.» (Apg 17,28)

Oder denken wir an eine Strophe des bekannten Kirchenliedes «Lobe den Herren» von Joachim Neander (1650–1680):

«Lobe den Herren, der künstlich
und fein dich bereitet,
der dir Gesundheit verliehen,
dich freundlich geleitet.
In wie viel Not
hat nicht der gnädige Gott
über dir Flügel gebreitet.»
[2]

In den ersten vier Zeilen geht es um die biologischen Gründe für Lebensvertrauen/Gottvertrauen, in den nächsten um die biografischen. Wenn uns der Zusammenhang einmal aufgefallen ist, dann entdecken wir überall und immer wieder: Was für Lebensvertrauen gilt, gilt auch für Gottvertrauen, auf dem die Hoffnung gründet.

Christlich verstanden, ist Lebensvertrauen/ Gottvertrauen
der
Glaube, aus dem die Hoffnung aufblüht.

Zu einem Leben aus der Hoffnung heranzuwachsen ist unsere Aufgabe als Einzelne. Der nächste Schritt aber muss die Zusammenarbeit vieler sein, denn die Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam bewältigen ‒ gemeinsam und mit jenem freudigen Vertrauen, das Menschen ausstrahlen, die aus der Hoffnung leben.

Wo alle, denen die Hoffnung fehlt, vor Angst erstarren, da bringt dieses Vertrauen Schwung in unseren Einsatz – sei es im privaten Bereich oder in den großen Aufgaben unserer Tage.[3]

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt.

Im Weltall soll es so viele Sonnen geben,
wie es Sandkörner gibt an allen Ständen der Erde.
Jedes Sandkorn wieder enthält mehr Atome
als es Sonnen gibt im Weltall.
Begeistert von diesem Übermaß
im Kleinsten wie im Größten,
möchte ich jubeln und dir zu Ehren singen.
Dir zu Ehren?
Kanarienvögel singen, wenn sie springlebendig sind.
Jeses Wesen singt, wenn es sich freut,
dem Leben ein dankbares Ja entgegen.
Durch ein solches Ja soll heute
mein dankbares Staunen Dich preisen,
Du, Urquell allen Lebens. Amen.»

Es lässt sich nicht vorhersagen, was die Zukunft bringen wird. Daher ist eines sicher: Die Zukunft wird überraschend sein. Was immer auch kommen mag: Wenn wir uns in der Hoffnung üben, werden wir gut vorbereitet sein, denn Hoffnung ist ja vertrauensvoll offen für Überraschung.[4]

[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 3f.]

[Ergänzend:

1. Gottvertrauen im Leiden und Sterben; Gottvertrauen in Entbehrung und Unglück

2. Sinnvoll leben, dankbar leben (2024): Interview von Olivia Röllin mit Bruder David in der ‹Sternstunde Religion›, siehe das Video Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024):

(034:32) «Ich möchte weder Optimist noch Pessimist sein, sondern Realist, Realist mit Hoffnung. ‹Hoffnung› im spirituellen Sinn ist etwas anderes als ‹Hoffnungen›.
Hoffnungen – im Plural – beziehen sich immer auf etwas, was man sich konkret vorstellen kann. Hoffnung dagegen ist Offenheit für Überraschung. Überraschend ist immer etwas, was unvorstellbar ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es in einer Welt, in der wir heute leben, überhaupt weitergehen kann. Aber ich bin voll Hoffnung, dass es weitergehen wird. Denn dass immer wieder Überraschungen kommen, das habe ich auch in meinem eigenen Leben erfahren.»

«Man kann also sagen: Bruder David ist voll unkonkreter Hoffnung – und das trägt ihn weiter?»

«Wir wissen doch aus Erfahrung – und auch mein eigenes langes Leben zeigt das: Konkrete Hoffnungen zerschlagen sich immer, früher oder später. Aber wenn sie zerschlagen werden, schenkt uns das Leben etwas noch Besseres. Was ich gelernt habe, ist Lebensvertrauen. In meinem Alter ist jeder Tag, an dem ich wieder aufwache, ein Geschenk. Jeder neue Tag vermehrt das Vertrauen ins Leben. Und auch wenn etwas schief geht – das Leben schenkt uns etwas noch Besseres.»

(10:10) «Du sprichst vom Leben so, als wäre es ein Subjekt. Was ist das: ‹das Leben, das etwas von mir will›?»

«Es ist unser großes ‹Du›, und es ist das ‹Es›, das alles gibt. Es gibt sogar mich! Was ist dieses Es? Es ist das geheimnisvolle Herzstück, die Mitte des Lebens. Wir stehen ständig im Dialog damit.»

______________________

[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹66 ‒ Hoffnung›, 75

[2] Gotteslob 392, 3. Strophe, siehe auch Gotteslobvideo (GL 392): Lobe den Herren

[3] Seien wir offen für das Unvorstellbare: Lebens- und Gottvertrauen als Quelle wahrer Hoffnung (2024)

[4] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹20 ‒ Staunen›, 29, und die Schlusszeilen des Textes in Anm. 3



Quellenangaben

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