Br. David Steindl-Rast OSB
LEBENS- UND GOTTVERTRAUEN ALS QUELLE WAHRER HOFFNUNG
Wer möchte nicht lieber ein Leben voll Hoffnung führen, anstatt verzagt dahinzuvegetieren? Bevor wir aber erwägen, wie wir hoffnungsfrohe Menschen werden können, müssen wir ein weitverbreitetes Missverständnis aufklären. Wir müssen klar unterscheiden zwischen Hoffnung und Hoffnungen. Unsere Hoffnung ist nicht einfach die Haltung des Hoffens, die unseren Hoffnungen zugrunde liegt. Hoffnung ist nicht eine zuversichtliche Vorstellung der Zukunft, wie wir sie uns wünschen. Wahre Hoffnung ist weit mehr. Wir können Hoffnung definieren als freudig vertrauensvolle Erwartung des Unvorhersehbaren. Unsere Hoffnungen sind immer auf etwas gerichtet, was wir uns vorstellen können. Hoffnung im vollen Sinne aber ist Offenheit für das Unvorstellbare.
Freudiges Vertrauen
Ein klares Verständnis dessen, was Hoffnung bedeutet, zeigt uns auch, warum Hoffnungen heute nicht mehr ausreichen. Was in unserer Welt vor uns liegt, das können wir auch mit den raffiniertesten Mitteln, die der Forschung zur Verfügung stehen, nicht mehr vorhersagen. Es hängt vom Leben in seiner unvorhersehbaren – weil zu komplexen – Entfaltung ab. Diese Tatsache weist aber zugleich auf eine Frage hin, die wir im Zusammenhang von «Leben aus der Hoffnung» unbedingt beantworten müssen: Worauf ist tragfähige Hoffnung dann letztlich gegründet? Die Antwort lautet: auf Lebensvertrauen. Hoffnung ist «die freudig vertrauensvolle Erwartung des Unvorhersehbaren», haben wir gesagt. Das Unvorhersehbare schlechthin aber ist das Leben. Wir alle wissen aus Erfahrung: Wenn etwas lebendig ist, dann ist es überraschend; und wenn es nicht überraschend ist, dann ist es sicher mechanisch. Gerade auf die überraschende Unvorhersehbarkeit des Lebens aber verlässt sich die Hoffnung mit freudigem Vertrauen.
Das Leben lebt in uns
Lebensvertrauen als bewusste Haltung heute Seltenheitswert. Ohne dass es uns bewusst wird, vertrauen wir jedoch alle dem Leben, Augenblick für Augenblick. Wer bezweifelt etwa, dass das Leben den unglaublich komplizierten Vorgang der Verdauung für uns zustande bringt – eine Leistung, die unsere eigene Einsicht und Fähigkeit total übersteigt? Wir stehen vom Tisch auf und verlassen uns darauf, dass das Leben alles weitere übernimmt, ohne dass wir überhaupt daran denken. Ähnlich ist es mit unserem Blutkreislauf und mit unserer Atmung. Wir dürfen beim Einschlafen auf das Leben vertrauen, dass es unser Herz die ganze Nacht lang schlagen lassen wird. Auch über unseren Atem brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Das Leben atmet sozusagen in uns. Ja, in all diesen körperlichen Belangen dürfen wir eigentlich darauf vertrauen: Das Leben lebt uns.
Verlässlichkeit des «Stirb und werde!»
Wenn wir also Grund haben, unserem biologischen Leben zu vertrauen, wie sieht es dann mit dem biografischen aus? Haben wir auch Grund, der Lebenskraft zu vertrauen, die uns von Kindheit an durch die Abfolge der Lebensphasen führt, in denen wir Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen? Gewiss, denn es ist ja dieselbe geheimnisvolle Lebendigkeit, die sowohl unser biologisches als auch unser biografisches Leben trägt. Wir brauchen auch gar nicht alt zu sein, um rückschauend erkennen zu können, dass das Leben uns durch kleinere und größere Fehlschläge doch immer wieder zu neuen und besseren Anfängen führt. Immer wieder wird das, was uns als ein kleiner Tod erscheint, zu einer neuen Geburt, auch wenn manche «Schwergeburten» lange dauern. Dieses «Stirb und werde!» findet erfahrungsgemäß so verlässlich statt, dass wir uns auch in dieser Hinsicht auf das Leben verlassen dürfen. Das ist übrigens auch der Grund, warum wir vertrauen dürfen, dass unser endgültiger Tod zu einer endgültigen Neugeburt führen wird, obwohl wir uns das ebenso wenig vorstellen können wie eine Raupe ihr Leben als Schmetterling.
Lebensvertrauen durch Lebenserfahrung
So können wir mit Recht sagen: Leben aus der Hoffnung ist auf Lebensvertrauen gegründet. Wir können also hoffnungsfrohe Menschen werden, indem wir unser Lebensvertrauen auf zweierlei Weise stärken:
- Wir können uns dankbar bewusst machen, wie weitgehend wir uns auf körperliche Lebensprozesse verlassen dürfen, z. B. dadurch, dass wir mehrmals am Tag innehalten und auf unseren Atem achten.
- Wir können uns abends einige besinnliche Augenblicke gönnen, in denen wir den Tag überdenken und uns dankbar bewusst werden, dass das Leben es gut mit uns meint. Unsere Lebenserfahrung legt Lebensvertrauen nahe.
Gottvertrauen
Das gilt für alle Menschen. Wenn wir es in christlicher Sprache sagen wollen, dann dürfen wir hinzufügen: Lebensvertrauen ist Gottvertrauen. Was meinen wir denn mit dem Wort «Gott», wenn nicht das innerste Geheimnis aller Lebendigkeit? Der Apostel Paulus kann vom lebendigen Gott genau das sagen, was vom Leben gilt: «Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.» (Apg 17,28) Oder denken wir an eine Strophe des bekannten Kirchenliedes «Lobe den Herren» von Joachim Neander (1650–1680):
«Lobe den Herren, der künstlich
und fein dich bereitet,
der dir Gesundheit verliehen,
dich freundlich geleitet.
In wie viel Not
hat nicht der gnädige Gott
über dir Flügel gebreitet.»
(GL 392, 3. Strophe)
und fein dich bereitet,
der dir Gesundheit verliehen,
dich freundlich geleitet.
In wie viel Not
hat nicht der gnädige Gott
über dir Flügel gebreitet.»
(GL 392, 3. Strophe)
Freudiges Vertrauen
In den ersten vier Zeilen geht es um die biologischen Gründe für Lebensvertrauen/Gottvertrauen, in den nächsten um die biografischen. Wenn uns der Zusammenhang einmal aufgefallen ist, dann entdecken wir überall und immer wieder: Was für Lebensvertrauen gilt, gilt auch für Gottvertrauen, auf dem die Hoffnung gründet. Christlich verstanden, ist Lebensvertrauen/ Gottvertrauen der Glaube, aus dem die Hoffnung aufblüht. Zu einem Leben aus der Hoffnung heranzuwachsen ist unsere Aufgabe als Einzelne. Der nächste Schritt aber muss die Zusammenarbeit vieler sein, denn die Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam bewältigen – gemeinsam und mit jenem freudigen Vertrauen, das Menschen ausstrahlen, die aus der Hoffnung leben.
Offen für Überraschung
Wo alle, denen die Hoffnung fehlt, vor Angst erstarren, da bringt dieses Vertrauen Schwung in unseren Einsatz – sei es im privaten Bereich oder in den großen Aufgaben unserer Tage. Es lässt sich nicht vorhersagen, was die Zukunft bringen wird. Daher ist eines sicher: Die Zukunft wird überraschend sein. Was immer auch kommen mag: Wenn wir uns in der Hoffnung üben, werden wir gut vorbereitet sein, denn Hoffnung ist ja vertrauensvoll offen für Überraschung.
Quelle: Erstveröffentlichung im Jahrbuch 2025 der Diözese Gurk