Von Eido T. Shimano

Eine meiner lebendigsten Erinnerungen an Bruder David reicht mehr als 35 Jahre zurück. Nach dem Ende eines Retreats in Connecticut fuhren wir gemeinsam in einem gemieteten Bus. Unter den 40 Personen im Bus waren zwei, die auf Deutsch zu singen begannen: mein Lehrer Soen Roshi, ein Zen-Meister, und Bruder David, ein katholischer Mönch. Das Lied, das sie sangen, war die «Ode an die Freude» von Friedrich Schiller, das herrliche Gedicht, das in Beethovens Neunter Symphonie gesungen wird.

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

Dieses Sesshin, von dem ich erzähle, hatte zufällig in einem katholischen Konvent stattgefunden, bei einer Gruppe Nonnen vom Orden «The Daughters of Wisdom / Töchter der Weisheit». Soen Roshi war vom Namen ihres Ordens sehr beeindruckt. Er erinnerte ihn an jene Zeile in Schillers Gedicht «Tochter aus Elysium». Am Ende unserer Klausurtagung hatten wir eine Aufnahme des vierten Satzes von Beethovens Neunter Symphonie gehört. Man kann sich den Schock und gleichzeitig die ehrfürchtige Ergriffenheit der Teilnehmer vorstellen, als sie den Chor die triumphierende Ode «An die Freude» singen hörten. Nach einigen Tagen in stiller Meditation, die wir gemeinsam verbracht hatten, war dieser Aufbruch überwältigend. Dieses Gefühl blieb in uns über das Sesshin hinaus und auch jetzt, wo ich darüber schreibe, wie Bruder David und Soen Roshi vor so langer Zeit im Bus sangen, erinnere ich mich wieder, wie tief bewegend dieses Sesshin wirklich war.

Ich habe Bruder David das erste Mal Mitte der 60er-Jahre in New York City getroffen. Wir verbrachten gemeinsame Stunden im meditativen Sitzen (Zazen) oder im Gespräch. Ich dachte oft, dass er wie ein zweiter Thomas Merton war. Ich meine damit, dass er, der doch ein katholischer Mönch war, Zazen mit einem offenen Herzen praktizierte. Eines Tages vor langer Zeit, erzählte er mir von seinem Leben in seinem Kloster in Upstate New York. Er hatte gelobt, Teil der benediktinischen Gemeinschaft seines Klosters zu sein, aber er hatte das Gefühl, dass seine Meditationspraxis dort durch die Strenge der klösterlichen Regeln und Rituale behindert würde. Er fragte mich, ob ich in sein Kloster kommen könnte, um seinen Abt und seine Mitbrüder zu treffen. Damals war ich bei weitem nicht so beschäftigt wie heute, und da ich dachte, das sei eine gute Gelegenheit, um eine Brücke zwischen Buddhismus und Christentum zu bauen, ging ich hin. Die Atmosphäre in diesem katholischen Kloster unterschied sich sehr von der eines japanischen Rinzai-Zen-Klosters. Obwohl es in diesem Benediktinerkloster kein Zazen als solches gab, hatten die beiden Lebensarten zwei Dinge gemeinsam: hingebungsvolle Arbeit und intensives Gebet. Damals hegte ich die Hoffnung, Bruder David aus dem Kloster «retten» zu können, und ich fragte mich, ob mir dies gelingen würde. Bald darauf erhielt Bruder David aus Gründen, die ich nicht kenne, von seiner Mönchsgemeinschaft eine gewisse Freiheit. Und er begann damals, ganz offiziell, sich mit dem Studium und der Praxis des Buddhismus zu beschäftigen. Von da an hatte er auch die Freiheit, an vielen Sesshins teilzunehmen, wovon eines das berühmte Ode-«An-die-Freude»-Sesshin war, das ich eingangs erwähnt habe.

In den 80er-Jahren trafen wir uns mehrere Male in Boulder, Colorado, mit Chögyam Trungpa Rinpoche zu christlich-buddhistischen Konferenzen. Gemeinsam mit anderen religiösen Führern tauschten wir unsere Ansichten und religiösen Erfahrungen aus und teilten in einem offenen Dialog unsere Sichtweisen mit, sowohl auf das Christentum als auch auf den Buddhismus.

Nun sind beinahe vier Jahrzehnte vergangen, seit wir uns das erste Mal begegnet sind. Ich möchte hier vor allem zum Ausdruck bringen, dass ich ganz einfach dankbar bin, Bruder David zu kennen und das nun schon während einer so langen Zeit. So viele Dinge habe ich von ihm gelernt. Wenn ich zurückblicke und heute wie damals denke, dass Bruder David wie ein zweiter Thomas Merton ist, dann weiß ich, dass ich damit nicht falsch liege. Es ist mein aufrichtiger Wunsch, dass Bruder David auch weiterhin eine starke Brücke zwischen Osten und Westen sein wird, zwischen Buddhismus und Christentum. Ich habe seine Brückenarbeit unmittelbar miterlebt und erfahren. Tief beeindruckt bin ich von seinem lebendigen Vorbild und seiner Art zu zeigen, dass tatsächlich «alle Menschen Brüder» werden.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 143-145
© Eido T. Shimano (2006)

Eido T. Shimano, *1. Oktober 1932,; †18 Februar 2018. Er war ein Rinzai-Zen-Meister und wurde in Ryutakuji, Mishima Japan, von Soen Nakagawa Roshi ausgebildet, der ihn 1972 mit der Dharma Überlieferung betraute. Er leitete das Berg-Kloster Dai Bosatsu Zendo Kongo-ji in Upstate NewYork und das New York Zendo Shobo-ji in Manhattan. Eido Roshi lebte und lehrte viele Jahre in Amerika. Er reiste regelmäßig nach Japan und Europa, hielt Vorträge und leitete Seminare und Sesshins.

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