Von David R. Streeter

Where there is birth,
there is death.
How rare!
How strange!

Wo Geburt ist,
Ist Tod.
Wie selten!
Wie seltsam!

Einmal hörte ich, wie jemand sagte: «Wenn du einen Baum gesehen hast, hast du alle gesehen!» Da hat wohl einer ausgesprochen, wie er selbst die Welt wahrnimmt. Wenn wir durch unser Umfeld an Reizüberflutung gewöhnt sind, dann werden wir einfache, alltägliche Dinge aller Wahrscheinlichkeit nach für selbstverständlich erachten oder gar übersehen. Und wenn es so ist, dann wird es sehr schwierig, noch echte Dankbarkeit empfinden zu können. Aber wenn du innehältst und genauer hinschaust auf das, was dich umgibt, und darauf achtest, was dich im Innersten bewegt, dann können plötzlich neue Möglichkeiten und Sichtweisen auftauchen, von denen du nicht einmal geahnt hast, dass es sie gibt. Im Zustand der Dankbarkeit wirst du davon ausgehen, dass alles Profane und Gewöhnliche voller Bedeutung ist. Um dieses «Sehen zum ersten Mal» geht es, um eine Erfahrung, die sich wieder und wieder einstellt. Sie ist der Kern dessen, wovon ich spreche. Mag sein, dass ich mich wiederhole, wenn ich gleich noch mehr darüber sage.

Eines Tages saß ich im Meditationsraum und schaute auf, als ein alter Mönch eintrat, um ebenfalls zu meditieren. Als er an seinem Platz angelangt war, legte er sorgsam sein Kissen ab und schlug seinen Umhang über die Schulter. Gleichzeitig nahm er seine Sitzhaltung ein. Er tat dies mit solcher Leichtigkeit und Eleganz, dass es mich körperlich beeindruckte. Diese so einfache Bewegung war offensichtlich das Ergebnis jahrelanger Übung in Achtsamkeit.

Wenn unsere Augen geöffnet sind, können wir zusehen, wie die Erscheinungen zu etwas Überströmendem werden. Das kann nicht geschehen, ohne dass uns zugleich Dankbarkeit durchfließt, ohne dass wir dankbar sind, nicht nur für unser Leben, sondern für das Leben an sich. Wenn wir die Welt so behandeln, als wäre sie das kostbare Geschenk, das sie ohne Zweifel ist, dann bekommen die alltäglichsten Dinge für uns nicht nur einen besonderen Wert, sondern wir besitzen sie dadurch auf eine besondere Art und zwar immer wieder neu. In anderen Worten: Wir machen und erhalten das Beste aus unserem Leben.

Es kann passieren, dass eine ganz unscheinbare Einsicht oder ein Gefühl unser Leben sinnvoll macht und weniger bedeutungslos. Für mich geschah dies in dem Augenblick, als ich wahrnahm, wie dieser alte Mönch sich setzte.

Eins und eins zählt sich zusammen. Nach und nach werden diese kleinen alltäglichen Dinge immer mehr und ergeben schließlich alle gemeinsam ein Gesamtbild. Diesen wundervollen Prozess zu erkennen und dafür dankbar zu sein, ist schon genug. Mehr gibt es für uns nicht zu tun. Man muss sich vorstellen, dass ein Künstler die Dinge auf diese Weise sieht. So kann etwas, was wir die meiste Zeit überhaupt nicht beachtet haben, auf einmal ein großartiger Teil unseres Lebens werden und noch mehr, wenn wir dafür wirkliche Dankbarkeit empfinden können.

Es gibt eine einfache Methode, die uns auf diesem Weg helfen kann: Sie besteht darin, dankbar zu sein für die Dinge, die uns begegnen, ob sie nun angenehm sind oder nicht so angenehm. Mit dieser Einstellung wird es möglich, das Gute zusammen mit dem Schlechten zu akzeptieren. Und beides in Dankbarkeit anzunehmen. Es wird uns leichter fallen mit der unsteten Natur des Lebens umzugehen, wenn die Grundhaltung eine der Dankbarkeit ist.

Nicht zu leiden, heißt, nicht zu begehren.
Nicht zu begehren,
ist ein anderer Weg der Dankbarkeit.

Es ist außerdem möglich, unnötigem Leiden zu entgehen, indem wir dankbar sind. Das klingt so einfach und ist doch so tiefgründig. Nicht nach Mehr zu verlangen und sich zufrieden zu geben mit dem, was wir zur Hand haben, ist die einfachste und doch auch die schwierigste Übung, die wir uns zumuten können. Zufrieden zu sein mit dem, was wir haben, ist das Äußerste und das Nächste. Es wird der Weg genannt.

Dankbarkeit ist etwas,
das wir erhalten haben.
Dieses «Etwas» ist es,
das uns gegeben wurde,
damit es uns sicher
nach Hause geleite.

Jeder und jede von uns braucht ein Zuhause ‒ irgendwo. Wenn wir uns nirgendwo zugehörig fühlen, kommen wir um. Für den Saddhu oder den Wandermönch ist dieses Zuhause die Kammer seines Herzens. Für den König und die Königin mag es ein luxuriöses Schloss sein. Für den Toten ist es der Himmel oder die Hölle. Zugehörigkeit bringt wahren Reichtum: Erfüllung. Erfüllung beschert einen Sinn für Wunder, und Wunder weisen den Weg zur Dankbarkeit. Dankbarkeit schafft Glück, und Glück bringt uns dahin zurück, wo wir zu Hause sind.




Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 169-171
© David R. Streeter (2006)

David R. Streeter , *geb.1944 in Oakland, Kalifomien, begann seine religiösen Studien mit 20 Jahren als Yogi- und Zen-Schüler. Nach fast zehnjährigem, intensivem Training in Kriya Yoga trat er in den strengen Camaldoleser Einsiedlerorden ein. Er erhielt nach fünf Jahren in Stille und Einsamkeit Diksha (Übertragung) als Brahmacharya in Indien von Dom Bede Grifftiths. Danach zog er sich in die Ventana Wildnis bei Big Sur, Kalifornien zurück und schrieb Gedichte, die zu kleinen Poesiebüchem wurden. Heute ist er Mitglied des Esalen-Instituts in Big Sur und unterrichtet dort Körperarbeit und Meditative Praxis.

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