Von Pier Luigi Luisi

Wenn ich an Bruder David im Zusammenhang mit dem Thema der Dankbarkeit denke, sehe ich ihn sofort in Cortona. Ich, wie so viele andere «Anhänger» der Cortona-Wochen, bin ihm zutiefst Dank schuldig für seine unermüdliche und fortwährende Unterstützung und seine kostbaren Beiträge in all den Jahren seit ihrem Beginn. Von Anfang an war er mit dabei, und ich erinnere mich gut, wie ich ihn zum ersten Mal in Cortona sah ‒ ich hatte ihn vorher nur einmal kurz getroffen ‒, mit seiner schwarz-weißen Kutte und zu jener Zeit, einem recht strengen Blick. Es war für mich sehr interessant zu sehen, wie seine Augen über die Jahre immer weniger streng wurden, wenn auch keineswegs weniger klar und bestimmt, aber einfach größer und mit mehr Mitgefühl im Ausdruck.

Die Erscheinung jener mönchischen Kleidung in der vielfarbigen, jugendlichen Cortona-Fauna, war für manche störend. Heute klingt dies seltsam, aber in jenen Jahren, den mittleren Achtzigern, war der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion noch kein populäres Thema und ein Benediktiner Mönch unter ETH-Studenten und jungen Forschem der Naturwissenschaft war eine Neuigkeit. Ich erinnere mich, dass ein ETH-Professor, ein weitblickender und offenherziger Mann, der später Präsident der ETH werden sollte, zu mir kam und mich sehr irritiert fragte: «Wer ist das? Warum trägt er diese Kleider? Musst du ihn wirklich dabei haben?»

Ich konnte zuerst die Reaktion dieses Kollegen nicht verstehen, aber es war klar, dass er wirklich beunruhigt und unglücklich war durch diese Konfrontation. Doch dann begann ich zu sehen, dass dies möglicherweise mit der großen Schwierigkeit von so vielen aus meiner Generation mit dem Christentum und der Kirche zu tun hatte. Ich selbst komme aus einer kleinen provinziellen Stadt in Italien, Piombino. Dort bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen. Zu jener Zeit ‒ es waren die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ‒ war die Zeit großer politischer Unruhen in Italien. Es gab polarisierte Fronten zwischen Arm und Reich, mit vielen Streiks der Arbeiter, die für bessere Lebensbedingungen kämpften, und einer brutalen Polizeimacht, welche mit Knüppeln und gepanzerten Jeeps für Ordnung sorgte. Und die Priester waren immer auf der Seite der Polizei, immer auf der Seite der Reichen. Wir hatten Religionsunterricht und ich erinnere mich genau an das Gesicht unseres Religionslehrers. Auf meine Frage hin antwortete er, dass kein indischer oder muslimischer Heiliger je in den Himmel komme, weil er nicht getauft war und weil er Christus nicht anerkannte. Dies machte mich so wütend, dass ich von da an nicht mehr zur Religionsstunde und auch nicht mehr in die Kirche ging.

Ich habe oft gedacht, dass meine Beziehung zur christlichen Religion wohl eine sehr andere Wendung genommen hätte, hätte ich damals einen Lehrer gehabt wie Bruder David. Bei jenem allerersten Mal, als wir uns in Cortona trafen, fragte ich ihn: «Kannst du auch einen Ungläubigen umarmen?» Er lachte, öffnete seine Arme und umarmte mich.

Der Buddhismus, dem ich in reiferen Jahren immer näher kam, war in der Tat sehr anders als das Christentum, das ich kannte. Der Buddhismus gibt keine Antworten. Gibt es einen Gott? ‒ Buddha gibt keine Antwort. Gibt es keinen Gott? ‒ Auch keine Antwort. Gab es eine Schöpfung oder eher keine? ‒ Wieder keine Antwort. Der Buddhismus lässt dich ohne Gewissheiten. Du musst deine Antworten in der unendlichen Bodenlosigkeit finden. Trotz allem, was ich von Bruder David in den vergangenen Jahren habe lernen können, gibt es dennoch auch Überschneidungen der beiden Traditionen. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er mir dies verständlich gemacht und so einen versöhnlicheren Zugang zum Christentum ermöglicht hat.

Vielleicht hätte mein Kollege von damals, hätte er das Geschenk der langjährigen Freundschaft mit Bruder David bekommen, eine ähnliche, «Konversion» erfahren.

Im Zusammenhang mit diesem Lernen über die beiden großen Traditionen und über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion kam Bruder David oft nach Cortona, und seine Vorträge und Workshops wurden sowohl von den jungen wie auch älteren Teilnehmern der Cortona-Woche hoch geschätzt und mit größtem Interesse verfolgt. In jenen Anfangsjahren war er immer noch ein Zen-Benediktiner oder «Zenediktiner», wie er selbst sich scherzhaft nannte. Er hatte viele Jahre Zen studiert und war auch ein Zen-Lehrer. In den späteren Jahren allerdings kehrte er wieder ganz zu seinen christlichen Wurzeln zurück. Am Anfang war er mit Vanja Palmers gekommen, seinem Freund und Assistenten, seinerseits ein Zen-Schüler, der später unser Zen-Lehrer in Cortona werden sollte. Danach kam eine Zeit der gesundheitlichen Instabilität, die es ihm für mehrere Jahre nicht mehr erlaubte, nach Europa zu reisen. Seine Basis war damals sein Mutterhaus in Kalifornien und Esalen, Big Sur, wo er als spiritueller Leiter tätig war. Die Cortona-Wochen gingen weiter, aber wir vermissten ihn alle sehr.

Dank seiner Präsenz hatte die Cortona-Woche eine deutliche Gewichtung in Richtung Spiritualität bekommen. Die Cortona-Woche war erdacht worden für Studenten und Doktoranden der ETH Zürich und dank Bruder David wurde die Thematisierung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion sehr gefördert und dann durch weitere Vorträge und Workshops erweitert und vertieft. Für viele unserer Studenten war diese Beziehung etwas, von dem sie bis dahin nie gehört hatten, und die meisten waren und sind Bruder David sehr dankbar dafür, dass er ihnen da einen Weg gezeigt und ihren inneren Horizont beträchtlich erweitert hat. Er hat dies in seiner sehr sanften und ausgewogenen Art getan und immer betont, dass Spiritualität, als Kultivierung unseres inneren Wachstums und Erweiterung unserer eigenen Kontakte mit dem Numinosen, als etwas von innen her Kommendes verstanden werden sollte. Und so war auch seine Definition von Gott: Keine äußere Figur, irgendwo da draußen, sondern eine innere Erfahrung, ein innerer Wert und ein Dialog ohne Ende.

Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion ist auch zu einem konkreten Dialog-Thema zwischen Bruder David und mir geworden, haben wir doch in Österreich und in den USA (Esalen-Institute) mehrere Workshops zusammen gegeben. Bruder David wiederholte darin immer wieder, wie wichtig eine innere Erfahrung Gottes sei, welche von jedem Menschen persönlich gepflegt werden will. Ich, als Naturwissenschaftler und der Schule der Autopoiesis angehörend (Francisco Varela brachte uns diese Sichtweise auch nach Cortona), neige sehr dazu, mich diesem Paradigma anzuschließen. Gemäß der Autopoiesis kann jeder lebende Organismus als ein System angesehen werden, dessen Hauptfunktion die Selbsterhaltung beziehungsweise die Erhaltung seiner eigenen Identität ist. Dies wird möglich durch eine Reihe von Prozessen in seinem Inneren, welche vom Organismus selbst hervorgebracht werden. Und so könnte auch das Bewusstsein als emergente Eigenschaft verstanden werden, welche aus der inneren Struktur des lebenden Systems im Austausch mit der äußeren Welt entsteht. Die ldee eines Gottes kann, gemäß dieser Sichtweise, als Produkt des Bewusstseins und somit als etwas, das aus dem Inneren entsteht, verstanden werden. Darauf haben wir unsere Gespräche aufgebaut. Über die Jahre hatte ich den Eindruck, dass sich Bruder David nicht wesentlich gegen diese Auffassung gewandt hat. Jedoch hat er etwas für ihn äußerst Wichtiges beigefügt, das, was er das «kosmische Bewusstsein» nennt, welches unser Mensch-Sein auf dieser Erde charakterisiert. Ich fragte ihn, ob dies nicht auch als etwas gesehen werden könnte, das aus unserem Inneren kommt, aber er war damit nicht einverstanden. Und somit hat er in mir einen inneren Zweifel gelassen, den ich als Wissenschaftler nicht so gern habe. Dafür bin ich ihm aber sehr dankbar.

Kürzlich erfuhr ich ‒ und war sehr beeindruckt, zu hören ‒, dass Bruder Davids Website www.gratefulness.org über 20.000 Besuche pro Tag erhält. Dies ist ein klarer Hinweis auf das tiefe Bedürfnis einer Welt, die sich nach spirituellen und ethischen Werten sehnt und vielleicht nach einer globalen Sangha der gegenseitigen, liebevollen Wahrnehmung und Unterstützung und einer weltlichen Spiritualität. Scherzend sagte ich, als ich Bruder David zu diesem Erfolg gratulierte, dass es für Menschen einfacher sei, sich in Dankbarkeit zu verbeugen, wenn sie es vor einem Gott «da draußen» tun können. Für Menschen wie mich, die zwar sehr dankbar sind für so vieles, was das Leben ihnen gegeben hat, die aber diesen äußeren Anker nicht haben, ist es schwieriger: Wohin sollen sie sich mit ihrer Dankbarkeit wenden? Er antwortete darauf mit seinem feinen Lächeln, dass das Wichtige darin liege, die Dankbarkeit innen drin zu fühlen, die Adresse sei dann fast irrelevant. Für diese Lektion bin ich ihm erneut sehr dankbar.




Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 185-189
©Pier Luigi Luisi (2006)

Pier Luigi Luisi, Prof. Dr., *1938 in Piombino (Italien). Studium der Chemie in Pisa, Postdoktorand in Pisa, Uppsala, Straßburg und Eugene (Oregon, USA). Seit 1984 ordentlicher Professor für Makromolekulare Chemie an der ETH Zürich. Forschungsschwehrpunkt: Selbstorganisation chemischer Systeme im Zusammenhang mit Fragen über die Entstehung des zellulären Lebens auf der Erde. Initiator und Leiter der seit 1985 regelmäßig in Cortona (Italien) stattfindenden Cortona-Konferenz zum Thema «Naturwissenschaft und die Ganzheit des Lebens» einer interdisziplinären Begegnung von Nafur- und Humanwissenschaftlern, unterstützt von der ETH Zürich. Nach seiner Emeritierung an der ETH Zürich lehrt er seit 2003 als Professor der Biochemie an der Universität Rom. Autor einer Reihe von Kinderbüchern und Romanen in italienischer Sprache.

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