Von Rüdiger Dahlke

Dankbarkeit hat heute, in Zeiten von Wellnessboom und Fun-Gesellschaft, keine gute Konjunktur, obwohl sie das Leben so sehr bereichern könnte. Persönlich habe ich in Sachen Dankbarkeit von Bruder David vieles lernen können. Vor vielen Jahren erlebte ich einmal, wie er ‒ ohne es überhaupt zu merken ‒ meinen eigenen, damals reichlich aggressiven Vegetarismus verwandelte. Einige Monate vorher war ich Zeuge gewesen, wie meine Freundin Mechthild Scheffer neben einem spirituellen Lehrer, der gerade vorher uns allen und einem großen Publikum einen flammenden Vortrag über die zwingende Notwendigkeit des Vegetarismus für anständige Menschen gehalten hatte, seelenruhig und mit offensichtlichem Behagen ein Stück Fleisch vertilgte. Als dieselbe Mechthild aber neben David saß, der in seinem vorausgehenden Vortrag nur ganz nebenbei erwähnt hatte, dass er dankbar sei, dass es ihm schon früh vergönnt gewesen sei, auf Fleisch verzichten zu können, war ihr offenbar so unbehaglich, dass sie am Morgen auf der Karte ein Stück Fleisch angekreuzt hatte, dass sie versuchte, es umzubestellen. Als David den Zusammenhang bemerkte, legte er ihr nur die Hand auf den Unterarm und beruhigte sie mit den Worten, dass seine Bemerkung keinesfalls persönlich gemeint gewesen sei.

Die Geste werde ich nicht vergessen, und ich weiß bis heute nicht, ob es überhaupt je Davids Anliegen war, Vegetarismus zu verbreiten. Auf jeden Fall machte es mir spontan klar, dass es ‒ wenn überhaupt ‒ nur so geschehen könnte und dass wir Kämpfer für eine vermeintlich bessere Welt diese Welt erst einmal in uns verwirklichen müssen, damit andere sie spüren und wertschätzen können. Und nur so könnte diese ansteckende Achtsamkeit und Dankbarkeit, die von David ausgeht, eine weltweite Epidemie werden.

Ich stand dabei und erinnere mich zum Beispiel an seine staunende Reaktion auf einen Fragenden, der glaubte, in seinem Leben gar keinen Grund für Dankbarkeit zu finden. Als David all die Facetten seiner eigenen täglichen Dankbarkeit aufzählte, wurde mir selbst erst klar, wie sehr ich mein Glück für selbstverständlich nahm und wie wenig Augenmerk ich auf die kleinen alltäglichen Geschenke richtete. Meine robuste Gesundheit war mir damals fast selbstverständlich geworden, und als ich anfing, dafür dankbarer zu werden ging es mir noch deutlich besser ‒ vor allem im Herzen und in der Seele. Da war plötzlich die Fähigkeit, zu atmen und dadurch genug Energie und Kraft zu bekommen ‒ ein Grund zum Dank. Allein die ungeheure Chance, ohne spürbare Anstrengung einen Überfluss an Atemenergie einfach so selbstverständlich und in jedem Moment hereinfließen zu lassen, ist ein Geschenk, das mir in seiner ganzen Tragweite erst bewusst wurde, als ich anfing, Asthmatiker zu behandeln und ihre (Atem-) Not mitzufühlen. Später durfte ich erleben, dass es einen Atem zum Überleben gibt und einen zum Leben, und dieses besondere Geschenk, das für mich mit der Technik des «verbundenen Atems» zusammenhing, ist seitdem eine Quelle großer Dankbarkeit.

Das Geschenk eines ruhigen harmonischen und regelmäßigen Pulsschlages konnte ich erst wirklich schätzen als ich das Gegenteil bei vielen Herzpatienten spürte und aus ihrer Lebensgeschichte ersehen konnte, was es bedeutet, unrund und unrhythmisch auf der Lebensreise unterwegs zu sein.

Ähnliches aber gilt natürlich auch für einen guten Schlaf. Denn erst, wenn ich den normalen Schlaf wiedergewinne und als Geschenk in Dankbarkeit annehme, öffnen sich die Tore zu jenem bezaubernden und beschwingten Schlaf, der die Nacht zur besseren Hälfte des Tages macht und in Erfahrungen wie dem Yoga-Schlaf oder dem tibetischen Traumyoga münden kann.

Letztlich wird auf diesem Weg natürlich jedes Symptom und Krankheitsbild eine Chance, zu wachsen, und kann zu einem Neuanfang führen. Jedes Symptom wird so zum Fehler, der Fehlendes offenbart, und anregt, es ins Leben zu integrieren, was in einem zweiten Schritt Dankbarkeit zur Folge hat. Alle harmonischen und natürlichen Funktionen und Fähigkeiten könnten dagegen schon gleich in erster Linie Dankbarkeit auslösen.

Als ich mir bei einem Skiunfall ein Bein brach, war ich anschließend sehr froh, als ich es nach einigen Wochen aus dem Gipsverband «zurückbekam» und wieder ganz normal laufen und bald auch wieder springen konnte. Leider gewöhnte ich mich viel zu rasch an die zurückgewonnene alte Freiheit, und so brauchte ich in der nächsten Skisaison schon wieder einen Bruch des anderen Beines. Wieder war ich dankbar, als ich auch das überstanden hatte und wie früher das Leben auf zwei gesunden Beinen genießen konnte. Als auch diese Dankbarkeit nicht lange anhielt, brach ich mir anschließend gleich noch die Schulter bei einem Rennen. Jetzt war ich richtig verzweifelt und brauchte Jahre, um zu verstehen, dass auch das ein Grund für sogar noch tiefere Dankbarkeit war. Denn dieser dritte Unfall beendete eine erträumte Skikarriere. Und wie bin ich heute froh, dass ich keine alternde Werbefläche geworden bin! Ohne meine Brüche hätte ich möglicherweise einen ganz anderen Weg eingeschlagen und vielleicht gar nicht Medizin studiert ...

So dauert es ‒ jedenfalls bei mir ‒ manchmal recht lange, bis man zur Dankbarkeit vordringt. Letztlich gibt es immer und für alles Grund dankbar zu sein, auch gerade für die großen und schweren Lektionen, die man vom Schicksal, oder wie immer man diese Instanz nennen möchte, vorgesetzt bekommt. Am wunderbarsten hat das Schicksal meiner Frau und mir diese Erfahrung über unsere Tochter Naomi beschert. Sicher wäre es besser gewesen, es hätte noch keinen hochauflösenden Ultraschall gegeben und wir hätten erst mit der Geburt und nicht schon im vierten Monat erfahren, dass sie einen schweren Herzfehler mit auf die Welt bringen und wahrscheinlich ganz anders als erwartet sein würde, nämlich ein Kind, das unter dem Down-Syndrom leidet. Aber in diesen Zeiten wissen wir eben alle mehr ‒ und oft zu unserem Schaden. Es war, besonders natürlich für meine Frau, eine harte Zeit, aber sie hat sie bewältigt und wir haben beide daran und mit Naomi wachsen können und sind heute ‒ 14 Jahre später ‒ im Rückblick sehr, sehr glücklich, dass wir Naomi bekommen haben. Dieses Glück und die Dankbarkeit sind rasch gewachsen. Wir haben zwei große Operationen mit Naomi und ihrem kleinen Herzen überstanden und ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben so richtig das Gefühl, der Schulmedizin von Herzen dankbar zu sein.

Heute sind die Möglichkeiten kaum noch aufzuzählen, die uns Naomi und ihr besonderes Schicksal geboten haben, um innerlich zu wachsen und Dankbarkeit zu erleben. Nach vier Jahren des Stillens war es für meine Frau Margit etwas ganz Besonderes, wieder freier zu sein und sich an Naomis zunehmender Selbstständigkeit zu freuen. Nach sieben Jahren des Windelwechselns war die Freiheit in dieser Hinsicht ein besonderer Anlass zu Dankbarkeit, ganz zu schweigen von all den kleinen Momenten und kostbaren Augenblicken, die sie uns so ganz nebenbei schenkte, mit ihrem liebevollen Wesen, ihren strahlenden Augen, ihrer bezaubernden Freundlichkeit und ihrer Liebe. In ihrer Unbestechlichkeit lehrte sie uns Dankbarkeit in vielen unerwarteten Momenten und Bereichen. Mit besonderer Dankbarkeit erfüllte mich die Erkenntnis, dass wahrscheinlich Naomi selbst viel weniger gelitten hat als meine Frau und ich, und dass sie ziemlich sicher bisher ein ausgesprochen wundervolles Leben führen durfte, das vor allem darin besteht, anderen und sich selbst Freude zu bereiten. Auch ich hätte diese Möglichkeiten, bin aber noch nicht fähig dazu. Mit Naomi habe ich aber immerhin ein Vorbild, das mich mit großer Dankbarkeit erfüllt.

All den Psychotherapien, die ich erleben durfte, bin ich heute dankbar, selbst meiner Psychoanalyse in ihrer etwas hilflosen, langwierigen und am Wesentlichen vorbeizielenden Art. Zu jener Zeit war das eine wichtige Chance und ein ebensolches Opfer für mich, das zu bringen mir ‒ rückwirkend gesehen ‒ gut getan hat. Die überaus hilfreichen und wichtigen Erfahrungen in und mit der Reinkarnationstherapie sind rückwirkend erst recht Grund für Dankbarkeit. All diese Erfahrungen treten aber hinter den Lehren, die mir das Schicksal durch Naomi vermittelte, zurück.

Durch unsere Tochter konnte ich erleben, wie behindert wir alle sind. Es kommt nur auf den Blickwinkel an. Und auch diese Erfahrung macht demütig und dankbar. Gemessen an den Delphinen etwa, mit denen ich schwimmen durfte, bin ich in der Wasserwelt extrem behindert. Bis ich mit Delphinen schwamm, hatte ich mich immer nur mit Menschen oder gar anderen Männern im Wasser verglichen und da ich dabei gut abschnitt, war ich zufrieden, wenn nicht gar stolz. Erst im Vergleich mit den Delphinen, die übrigens ausnahmslos großzügig und liebevoll mit mir umgingen, erlebte ich meine Behinderung und daraus folgend dann auch Dankbarkeit, überhaupt so gut im Wasserelement unterwegs zu sein. Ähnlich ergeht es mir heute mit Pferden. Was für eine Kraft gegen meine lächerlichen Möglichkeiten ‒ und alles nur vom Grasfressen!

Beim Fasten wird man wieder dankbar für das Essen und beim Schweigen für die Fähigkeit des Sprechens, die Dunkelheit lässt uns dankbar das Licht schätzen und der überstandene Konflikt den Frieden. Seit ich die (Spiel-) Regeln des Lebens und das Wirken der Urprinzipien ‒ ungefähr ab der Mitte des Studiums ‒ kennen und mich dadurch in der Welt verstehen lernte, bekam mein Leben eine ganz andere Qualität, und Dankbarkeit war wiederum ein wichtiger Aspekt davon. Es macht so unendlich viel mehr Freude, dieses Spiel des Lebens als solches zu erkennen und zu spielen, wenn man seine Regeln kennt und das Arbeiten mit Urprinzipien beherrscht, statt sich hilflos herumgestoßen zu fühlen. Und auch dieses spielerische, leichte Element, das Glücks- und Gipfelerlebnisse und die Leichtigkeit des Schwebens mit sich bringt, kann und muss einen auf die Dauer mit Dank erfüllen.

Rückwirkend betrachtet, waren Gefühle der Dankbarkeit für mich immer mit guten Zeiten verbunden. Wenn ich mir die Muße nahm, dankbar zu sein ‒ am Abend, beim Tagesrückblick vor dem Einschlafen nach einer tiefen Meditation oder einer ekstatischen Erfahrung ‒ hat das die wunder-volle Zeit verlängert und nicht selten das nächste wunderbare Erlebnis wahrscheinlicher gemacht. Insofern wäre Dankbarkeit auch besonders etwas für Egoisten, die Wert darauf legen, dass es ihnen selbst gut geht. Dankbarkeit ist ein Weg zum eigenen Wohlempfinden, und wahrscheinlich einer der besten, wenn nicht überhaupt der nachhaltigste. Wer es lernt, die guten Dinge dankbar zu genießen, die schwierigen als willkommene Herausforderungen und als Lernerfahrungen zu schätzen, um daran in Dankbarkeit zu wachsen, wird mit der Zeit auch lernen, die auf den ersten Blick negativen Dinge zu nutzen, um daran demütiger und dankbarer zu werden für das, was noch immer wunder-voll läuft, und für das, was man wiedergewinnen kann, wenn man am bewältigten Problem gewachsen ist.

Wer sein Glück an Bedingungen hängt und erst glücklich wird, wenn er alles bekommt, was er will, verschiebt dieses Glück auf eine unerreichbare Zukunft. Wer dagegen dankbar nimmt, was er bekommt, ist in jedem Fall und sofort voller Dankbarkeit und damit zugleich glücklich.



Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 107-112
© Rüdiger Dahlke (2006)

Rüdiger Dahlke, Dr. med., geb. 24. Juli 1951 in Berlin, Arzt für Naturheilweisen und Psychotherapeut. Der Öffentlichkeit wurde er als Autor von Büchern wie «Krankheit als Sprache der Seele», «Lebenskrisen als Entwicklungschancen» «Krankheit als Symbol» und «Aggression als Chance», als Vortragender und durch zahlreiche Femsehauftritte bekannt. Aus der anfänglichen Zusammenarbeit mit Thorwald Dettlefsen ging das Buch «Krankheit als Weg» hervor. 1989 gründete er mit seiner Frau Margit das Heilkunde-Zentrum Johanniskirchen in Niederbayern. In Österreich, der Schweiz, Italien und Deutschland hält er regelmäßig Vorträge und (Ausbildungs-) Seminare über die seelische Be-Deutung von Krankheitsbildern, Atem und Psychotherapie, bewusstes Fasten und Meditation. 2003 ausgezeichnet mit dem Europäischen Medizinpreis .

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