AUDIO Vorträge

AUDIO Vorträge

Würde und unsere Einzigartigkeit (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (37:25-45:52),
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


«Und deshalb muss unser Bewusstsein der Vernetztheit einschließlich, all-einschließlich sein. Und um diese Einschließlichkeit beizubehalten, müssen wir uns vor Gruppendruck hüten. Der Gruppendruck ist überall sehr stark, besonders, wenn wir ihn nicht bemerken, und drängt auf Ausschließlichkeit hin. Ich erinnere mich noch an das Plakat von Christoph Blocher vor einigen Jahren mit den weißen Schafen und einem schwarzen Schaf.[1] Ich erinnere mich noch, wie jemand bei einem Plakat über das Haxerl (Bein) des schwarzen Schafes ein Herzerl malte: Jemand, der auf seinen eigenen Füßen gestanden ist.

Und das gehört eben ganz wichtig zur Würde dazu: Wer Würde erlebt und Würde hat, ist unbestechlich, ist unverführbar. Zur Würde gehört: Ich weiß, was ich tue, ganz gleich, ob das andere tun oder nicht. Und da wirkt von Kindheit an der Gruppendruck sehr stark in die gegenteilige Richtung.[2]

Um es nochmals zusammenzufassen: Ich gehöre dazu zu dem Ganzen. Die Evolution hat mir ein Heim bereitet.[3] … Es ist etwas ganz Außergewöhnliches, dass unser Planet wie ein Heim vorbereitet ist, um uns zu empfangen. Und das Leben erhält mich am Leben.

Das Leben, diese geheimnisvolle Wirklichkeit: Wir sprechen so leicht über das Leben: ich habe mein Leben, ich nehme mir das Leben, ich kann mir das Leben nehmen.

Hast du wirklich das Leben, oder hat das Leben dich? Vielmehr: das Leben hat mich! Ich könnte keinen Augenblick überleben, wenn nicht das Leben mich am Leben erhielte.

Ich habe keine Ahnung, wie ich überhaupt mein Herz klopfen lassen kann. 92 Jahre hat dieser Muskel sich immer wieder zusammengezogen. Gewöhnlich genügen 15 Minuten, wenn man einen Muskel anspannt, bis man völlig erschöpft ist. Und das Herz hat immer geschlagen.

Die Verdauung: Bitte verdauen sie jetzt ihr Frühstück. Nicht einmal die Biologen kennen alle die Namen von den tausenden Enzymen, die notwendig sind, um unsere Verdauung zu regeln. ‒ Das Leben erhält uns am Leben: also wir gehören zum Ganzen.[4]

Jetzt haben wir über die Zugehörigkeit nachgedacht, über die Eigenart könnten wir auch nachdenken: Nicht zwei Menschen, nicht einmal Zwillinge haben den gleichen Fingerabdruck. Das heißt aber auch, dass niemand einen Strauß Tulpen so gesehen hat ‒ vorher oder nachher in der Geschichte ‒, wie jede und jeder jetzt diese Tulpen sieht. Denn was wir da sehen, ist ja nicht nur Licht, das unsere Augen trifft: Sehen heißt, es erleben. Und erleben hängt davon ab, wer wir sind. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht zwei Menschen das gleiche erleben können. Das ist auch unser Beitrag zur Menschheitsgeschichte, dass wir das wirklich erleben.

Rilke sagt: ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren, und wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren›.[5] Das ist unsere Aufgabe im Leben. Und das mit allen Sinnen zu machen. Und jede und jeder von uns kann das nur ganz anders machen wie alle andern. Wir unterscheiden uns so voneinander.

Dann unsere einzigartigen Begabungen: Wir können uns fragen: Was mache ich gerne, was mache ich gut? Und das ein bisschen unterstreichen: das ist wichtig! Uns immer wieder fragen: Was mache ich gerne ‒, was mache ich ein bisschen besser? Wie kann ich mich selber übertreffen darin?

Und auch unsere Behinderungen, unsere Fehler: Unsere Behinderungen sind auch etwas, was zu unserer Einzigartigkeit beiträgt, und zwar positiv! Helen Keller (1880-1968): blind, taub, stumm, ist eine der großen Erzieherinnen der Menschheit geworden. Wenn sie nicht ganz früh taub und stumm geworden wäre, wäre sie wahrscheinlich auch eine große Frau geworden, aber es war durch ihre Behinderungen, dass sie diesen Beitrag zur Welt geleistet hat.[6]

Also zusammenfassend: Ich bin in das Geheimnis des Lebens eingebettet, engstens verschlungen, verwoben: wir können gar keinen genügend starken Ausdruck finden, wie eng wir in das Leben eingebunden sind.[7]

Und offensichtlich will das Leben mich so, als mich entfaltend in meiner Eigenart, weil: dieses so ist nicht statisch, es will mich so in meiner Eigenart, die bis zum letzten Augenblick noch nicht völlig entfaltet ist.

Rumi sagt: ‹Niemand wird meinen wirklichen Namen kennen› ‒ das heißt, niemand wird wissen, wer ich wirklich bin ‒, ‹bevor mein letzter Atemzug ausgegangen ist›, weil ich es selber nicht weiß; und alles das gilt auch von allen anderen Lebewesen.»

________________

[1] Sicherheit schaffen ‒ SVP-Plakat 2007

[2] Siehe auch Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Erstes Kamin-Gespräch mit Bruder David und die Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David: Anm. 7, mit Zitaten aus dem Buch Würde (2018) von Gerald Hüther.

[3] Siehe den Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975)

[4] Dankbarkeit ‒ alles ist Gelegenheit (2013): Interview von Rudolf Walter mit Bruder David:

«‹Das Selbst› ‒ das bin ich letztlich wirklich. Um das zu verstehen, ist ein Ansatzpunkt, zu fragen: Du lebst ‒ was heißt das? Unzählige Lebensprozesse gehen in deinem Körper vor sich. Wer kontrolliert die denn? Bist  d u  das? Kannst  d u  jetzt dein Frühstück verdauen? Versuch's einmal. Das musst du etwas anderem überlassen, eben dieser Kraft in dir, die du selbst bist und die du mit allen anderen teilst. Und die sich nicht trennen lässt von der Kraft, die Bäume wachsen lässt und den Regen sendet und die Erde um die Sonne kreisen lässt und die Sonne in ihrer Bahn führt: Das alles ist eine Kraft, die auch in dir wirkt.»

[5] Das Zitat von Rilke in Rühmen, Er-innern, Aufheben

[6] Siehe dazu Berufung

[7] Auf dem Weg der Stille (2016), 72; siehe ausführlicher in Zugehörigkeit: Ergänzend: 2.:

«Aber das eine, was du nicht unterlassen solltest, ist, dass du dich fragst: ‹Wo ist mir schon einmal für den Bruchteil einer Sekunde aufgegangen, dass ich dazugehörte, und ich das bis in meine Knochen hinein empfand, und dass ich mit allem eins war und alles mit mir eins war›?

Das ist das Wesentliche, und das ist eine Art des Erkennens, und zwar die größtmögliche Art des Erkennens, die nicht auf Gedanken beschränkt ist, nicht auf Gefühle und nicht auf irgendeine andere Art des Erkennens. Und das ist Gemeinsam-Sinn (common sense) in der tiefsten Bedeutung dieses Wortes.

Es ist ein Wissen, das so tief geht, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen seines Gemeinsam-Seins hat.

Darin ist alles beschlossen: Mittels deiner eigenen Glückseligkeit kennst du die Glückseligkeit von allem und jedem, was es in der Welt gibt, denn in diesem Augenblick der Glückseligkeit hast du sozusagen ans Herz der Welt ‒ die spirituelle Erkenntnis ‒ gerührt, an das Wissen, dass alles ‹zusammen sinnt› (commonsense knowledge).»

 

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.