Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014)
Vortrag von Bruder David,
zusammengestellt von Hans Businger
Das Thema der ganzen Veranstaltung hier ist zugleich auch das Thema meines Vortrags: «Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog».
Ich möchte in drei Schritten auf dieses Thema eingehen und hauptsächlich die Begriffe klären.
Immer wieder nehme ich an Tagungen teil, an denen über irgendetwas, zum Beispiel Dankbarkeit, gesprochen wird und bei allem, was man hört kommt niemals eine Definition von dem vor, worüber gesprochen wird. Daher kommt’s zu allen möglichen Verwirrungen und Irrtümern. Das Entscheidende scheint mir, zu definieren, wovon wir sprechen.
Wir müssen uns nicht einigen auf diese Definition. Aber für die Zeit, die wir gemeinsam sind, müssen wir uns darauf einigen. Später kann man seine eigenen Wege gehen und sich verbessern.
So können wir zunächst einmal anfangen mit der Definition von Dankbarkeit, oder ‒ vielleicht ein besserer Ansatz ‒, fangen wir mal mit Achtsamkeit an.
Jeder weiß, was Achtsamkeit bedeutet: Ganz dabei sein. Wenn man achtsam ist, ist man ganz dabei. Ganz bei der Sache sein, aufmerksam sich ganz einstellen auf das, was zur Hand ist. Das Einstellen ist etwas mehr Intellektuelles; es gehört aber auch etwas Willentliches dazu: Man muss sich einlassen auf etwas.
Das ist so das Gegenteil von dem, was man in Österreich nennt: «Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!» Wir haben immer wieder diese Einstellung.
Achtsamkeit ist genau das Gegenteil: Man stellt sich drauf ein. Man lässt sich drauf ein. Und man fühlt sich hinein. Also der Intellekt, der Wille und das Gefühl: Alle drei kommen ins Spiel, wenn es um Achtsamkeit geht, und mit Leib und Seele geht man darauf ein. Dieses ein kommt immer wieder: einstellen, einlassen, einfühlen, eingehen: es geht um das hineingehen in das, worum es im Augenblick geht.
Und wenn uns das gelingt, dann werden wir völlig lebendig. Wir brauchen uns ja nur das Gegenteil vorstellen: Unaufmerksamkeit, Gleichgültigkeit, Gefühlslosigkeit: das ist nicht sehr lebendig. Je mehr wir uns einstellen, eingehen, uns einlassen, umso mehr werden wir lebendig.
Und darum ist Achtsamkeit so wichtig im Zusammenhang mit Spiritualität, denn Spiritualität kommt von dem lateinischen Wort Spiritus: Das heißt Lebensatem, und Spiritualität ist Lebendigkeit.
Achtsamkeit führt zur Lebendigkeit auf allen Ebenen. Und Lebendigkeit auf allen Ebenen, das ist Spiritualität. Das ist die Definition: Spiritualität ‒ Lebendigkeit auf allen Ebenen.
Und manchmal denken wir, dass Spiritualität so irgendwie in den oberen Regionen sich abspielt. Aber wer nicht mit dem Leib lebendig ist, der kann so ein Obergeschoss bauen und es steht auf nichts. Das ist sehr gefährlich bei der Spiritualität. Es stimmt schon, es gehören alle Bereiche dazu, auch der Bereich der Transzendenz, wirklich spirituell zu sein, heißt auch: für den Bereich der Transzendenz lebendig zu sein.
Aber wenn wir uns wirklich einlassen auf das, was zur Hand ist ‒ und das ist Achtsamkeit: Sich völlig einlassen auf das, was zur Hand ist, dann sind wir schon auch zugleich im Bereich des Transzendenten. Denn das Transzendente ist nicht ein Obergeschoss, sondern eine Dimension von allem, was es gibt. Goethe hat das sehr schön gesagt:
«Willst du ins Unendliche schreiten,
Geh nur im Endlichen nach allen Seiten.»[1]
Das wäre also ein Ansatz, wie man zur Spiritualität gelangt, wenn man mit Achtsamkeit beginnt.
(05:28) Nun können wir auch mit Dankbarkeit beginnen und das hat gewisse Vorzüge, aber vielleicht auch gewisse Nachteile. Jedenfalls, wenn wir mit Dankbarkeit beginnen, dann fragen wir uns zunächst:
Was meinen wir mit Dankbarkeit?
Und wieder, so wie Achtsamkeit: ganz dabei sein, so kann man auch sagen, Dankbarkeit ist einfach Freude durch beschenkt sein.
Das ist Dankbarkeit: die Freude, die da in uns aufsteigt, wenn wir beschenkt sind.
Freude und Dankbarkeit sind ganz eng verbunden.
Wir sagen ja sogar: Wir wollen jemandem eine Freude machen. Das heißt: Jemandem etwas schenken. Und die Freude kommt aus diesem Geschenk.
Die Freude kommt aus dem Geschenk, wenn zweierlei zusammentrifft:
Erstens: Es muss wertvoll sein für uns. Wenn uns jemand etwas schenkt, was nicht wertvoll ist, werden wir vielleicht sagen: «Das war recht nett, aber es wird keine besonders große Freude auslösen.
Und es muss wirklich geschenkt sein. Wenn es sich später herausstellt, dass das nur eine Leihgabe ist, oder, dass wir dafür dann doch noch bezahlen müssen auf irgendeine andere Art, so ist das nicht ein volles Geschenk. Beides muss zusammentreffen: Völlig geschenkt und wertvoll.
(07:12) Und bis hierher ist Dankbarkeit noch nicht «dankbar leben».
Und es erscheint mir sehr wichtig, zu betonen, dass hier in unserm Treffen es um «dankbar leben» geht und das muss man klar unterscheiden von Dankbarkeit, die hie und da mal auftritt, wenn uns etwas offensichtlich Wertvolles geschenkt wird.
Es ist nicht eine spontane Reaktion oder Antwort auf ein Geschenk, sondern ist eine Haltung dem Leben gegenüber.
So wie auch Achtsamkeit im Leben jedes Menschen auftritt, wenn der Wecker läutet wird man achtsam, ob man es will oder nicht: Aber Achtsamkeit im Sinne einer spirituellen Praxis ist eine Lebenshaltung der Achtsamkeit.
Und so gibt es eine Achtsamkeit, die hie und da auftritt, dann die Achtsamkeit, die spirituelle Praxis ist, und eine Dankbarkeit, die halt hie und da auftritt, und eine Dankbarkeit, die eine Lebenshaltung ist: dankbar leben.
Und um den Schritt zu dankbarem Leben zu machen, müssen wir uns also im Sinn behalten: Es geht um etwas Wertvolles, das uns geschenkt wird: Dann steigt diese Freude der Dankbarkeit auf ‒ und wer will nicht diese Freude?
Aber die ganz entscheidende Einsicht ist, dass uns in jedem Augenblick etwas geschenkt wird, was wir uns unter keinen Umständen selber erwerben, kaufen, eintauschen oder sonst irgendwie verdienen können: Und das ist das Jetzt: dieser gegebene Augenblick mit allen den Gelegenheiten, die er uns bietet. Das ist das Entscheidende.
Dankbarkeit kennt jeder Mensch, kennt schon jedes Kind. Dass Dankbarkeit zur Freude führt, wissen wir auch, also wollen wir eigentlich Dankbarkeit, weil wir Freude wollen. Darum geht’s im Leben. Wer will das nicht?
Aber jetzt: dass jeder Augenblick das Wertvollste von allen Geschenken gibt, nämlich die Gelegenheit etwas zu tun.
Wenn uns der nächste Augenblick nicht gegeben wäre, wäre nichts gegeben, überhaupt nichts. Kein anderes Geschenk, das man sich erträumen oder vorstellen kann, ist uns gegeben. Es ist uns alles dadurch gegeben, dass uns jeder Augenblick Gelegenheit bietet. Und also richtet sich die Dankbarkeit eigentlich letztlich immer auf Gelegenheit. Meistens die Gelegenheit uns zu freuen, manchmal auch die Gelegenheit, etwas zu lernen; das kann schwieriger sein: an etwas zu wachsen, gegen etwas zu protestieren: Es gibt schwierigere Gelegenheiten.
Aber in jedem Augenblick können wir dankbar sein, obwohl wir nicht für alles dankbar sein können.
Jeder von uns kann im Augenblick viele verschiedene Dinge nennen, für die wir nicht dankbar sein können, für die kein Mensch dankbar sein kann. Wir können nicht dankbar sein für Krieg, Gewalttätigkeit, für Ausbeutung, Unterdrückung, Zerstörung der Umwelt, Untreue ‒ tausende Dinge, für die niemand dankbar sein kann.
Aber auch in dem Augenblick, wo wir konfrontiert sind, mit etwas, wofür wir nicht dankbar sein können, können wir dankbar sein für die Gelegenheit, die uns das bietet. Und wenn es nicht die Gelegenheit ist, uns zu freuen ‒ und wie oft es die Gelegenheit ist, uns zu freuen ‒, sehen wir erst, wenn wir beginnen, dankbar zu leben. Aber wenn es nicht die Gelegenheit ist, uns daran zu freuen, dann ist es die Gelegenheit, daran zu wachsen. Und das ist auch ein wichtiges Geschenk, ganz großes Geschenk. Oder ‒ wie gesagt ‒ zu protestieren. Das kann etwas sehr Wichtiges sein. Besonders auch, wenn es um Schwierigkeiten geht, mit denen Andere konfrontiert sind. Um anderer willen sich auf die Hinterbeine zu stellen und zu sagen: So geht es nicht!
(12:01) Also Dankbarkeit, haben wir gesagt, ist die Freude des Beschenktwerdens.
Und dankbar leben heißt jeden Augenblick auf das Beschenktwerden achtsam sein.
Und da schließt sich jetzt wieder der Kreis zur Achtsamkeit: Jeden Augenblick können wir achtsam darauf achten, uns darauf einlassen, dass uns in diesem Augenblick eine einzigartige Gelegenheit geschenkt wird.
Und da kommen wir jetzt wieder zurück auf die Achtsamkeit, denn die Achtsamkeit ist als solche vollkommen wertvoll und vollkommen bejahenswert.
Aber es hat sich leider etwas herausgestellt, und zwar in der Art wie die Achtsamkeit jetzt in den letzten zwei Jahrzehnten ‒ vorher hat ja kein Mensch über Achtsamkeit überhaupt gesprochen, aber so in den letzten beiden Jahrzehnten langsam, langsam die Achtsamkeit ins allgemeine Bewusstsein getreten ist ‒, stellt sich heraus, dass eine gewisse Verschiebung, eine gewisse Verlagerung, ‒ entweder darin, wie die Achtsamkeit gelehrt wird, oder darin, wie sie verstanden wird, oder beides ‒, es sich ein bisschen auf das Ich verschiebt. Es wird ein bisschen egoistisch:
Das: ich lasse mich ein, ich merke auf, ich bin aufmerksam auf meine Eindrücke: das wird sehr betont:
Ich lasse mich ein auf meine Bewertungen, auf meine Wünsche. Ich fühle ‒ das ist sehr betont ‒, meine Gefühle ‒ wie fühle ich mich?
Und wir sehen plötzlich, dass eine andere Dimension, die zum Ganzen dazugehört, vernachlässigt wird.
Da hab ich vor ungefähr eineinhalb Jahren, im Oktober 2012 in einem Dialog mit dem Dalai Lama das auch zur Sprache gebracht, und auch der Dalai Lama findet stark, dass diese Achtsamkeit jetzt oft missverstanden wird, in diesem «egoistischen» Sinne missverstanden wird, und darum war er auch sehr offen für die Möglichkeit, dass eben dadurch, dass man den Ansatz vielleicht nicht zunächst mit der Achtsamkeit macht, sondern mit der Dankbarkeit, die Gelegenheit, also die Beziehung, die Bezogenheit, die Gegenseitigkeit, gleich von Anfang an hineinbringt.
Es handelt sich dann nicht nur um «meine Eindrücke», sondern um das: Wovon werde ich jetzt beeindruckt? ‒ Der Augenblick ist die Gelegenheit achtsam zu sein auf das, was auf mich zukommt, mich anspricht: auf die Gelegenheit eben, nicht auf meine Wünsche und Bewertungen, sondern auf die Gelegenheit, die das Leben mir bietet. Und nicht nur auf meine Gefühle, sondern auch auf alles, was diese Gefühle auslöst, und dadurch auch auf die Gefühle aller andern.
Es ist nur ein ganz feiner Unterschied, es ist keineswegs so ein großer Gegensatz schwarz und weiß ‒ schon überhaupt nicht ‒, hellgrau und dunkelgrau ‒nicht einmal das ‒, es ist beides:
Dankbarkeit ist Achtsamkeit in Beziehung und Achtsamkeit führt unweigerlich zu Dankbarkeit.
Aber es ist jetzt so ‒ dadurch, dass Achtsamkeit jetzt sehr in aller Munde ist, und diese Verlagerung auf das «Egoistische» hin zulässt ‒, es sehr wichtig sein könnte, jetzt auch die Dankbarkeit zu unterstreichen und zu betonen.
(16:39) Und jetzt möchte ich das noch auf zwei anderen Ebenen ein bisschen erläutern.
Warum ‒ erstens ‒, warum es so leicht ist, die Verschiebung auf das Ego hin? Wir müssen uns ja erst überhaupt bewusst werden: Was meinen wir mit Ego? Was geht denn da überhaupt vor? Also auf der persönlichen Ebene möchte ich da noch einmal überprüfen ‒ gemeinsam ‒ und dann die Implikationen für die gesellschaftliche Ebene noch auf einer weiteren Basis.
Jeder weiß, dass, wenn ich sage: Achtsamkeit neigt dazu, vom Ego ein bisschen vereinnahmt zu werden, oder bietet die Möglichkeit mehr so als Dankbarkeit, dann weiß jeder, Ego ist etwas Negatives. Aber das genügt nicht: Wir müssen uns genau bewusst sein: Was meinen wir eigentlich mit «Ego»?
Da müssen wir beginnen mit einer sonderbaren sprachlichen Tatsache ‒ die Sprache hilft uns da immer sehr, Heidegger hat sein ganzes Philosophieren «ein der Sprache nachdenken», nicht über die Sprache, sondern «der Sprache nachdenken»[2] genannt, also wie man einem Weg nachgeht, so kann man auch der Sprache nachgehen, und wenn wir das versuchen, dann können wir beginnen, uns zu wundern, warum wir manchmal Ich sagen und manchmal Ich selbst.
Eine meiner Sprachlehrerinnen hat immer wieder betont, wenn’s zwei verschiedene Ausdrücke sind, bedeutets zwei verschiedene Dinge. Nicht sagen: «Das ist das», nie ist eins das andere: Wenn’s zwei verschiedene Wörter oder Ausdrücke sind, sind’s zwei verschiedene Dinge.
Was meinen wir, wenn wir Ich sagen und was meinen wir, wenn wir Ich selbst sagen?
Da kann uns ein Gedankenexperiment helfen. Ich selbst kann mein Ich beobachten. Das können wir jetzt im Augenblick schon tun. Jede, jeder von uns kann unser Ich ‒ wir können unser Ich beobachten. Wie machen wir das? Man kann das nicht so ‒ nur ein bisschen so dichterisch ausdrücken, aber wir treten irgendwie zurück und sehen uns da, so wie wenn wir in einem Traum uns selber sehen. Aber es ist einfach eine Tatsache, eine Gegebenheit. Wer von uns ‒ hat jemand Schwierigkeiten jetzt zum Beispiel, im Augenblick, sein Ich zu beobachten? … Ich sehe keine Hände, es ist uns allen möglich. Vielleicht beobachten Sie zur Zeit auch noch den Beobachter. Da ist das Ich ‒ das sitzt da irgendwo ‒, der Beobachter, und dann ist noch jemand, der den Beobachter beobachtet: Dann sind wir noch nicht dort, wo wir hinwollen. Wir müssen noch einen Schritt zurücktreten ‒ auch nur eine dichterische Ausdrucksweise ‒, aber wir wissen, was damit gemeint ist ‒ wir müssen zurückgehen, bis wir der Beobachter sind, den niemand mehr beobachten kann. Das ist das Selbst. Und wenn ich sage: Ich selbst, dann stelle ich mich in einen Doppelbereich hinein. Darauf kommen wir dann noch zu sprechen.
(20:41) Ich erlebe etwas Doppeltes: Ich erlebe mich als Ich und ich erlebe dieses Ich als Ausdruck des Selbst. Mein Selbst drückt sich in diesem Ich aus.
Und da ist jetzt ein ganz großer Unterschied zwischen dem Ich und dem Selbst, den wir sofort bemerken: Mein Ich ist völlig einzigartig, ist ganz unvergleichbar mit jedem andern. Ich glaube, selbst wenn wir Zwillinge sind, sind wir völlig anders als unsere Zwillingsschwester oder der Zwillingsbruder, sind ganz einzigartig und einzigartig in der Geschichte. Nie wieder wird jemand kommen, der auch schon physiologisch diese Eltern und Ureltern und Vorfahren hat, diese Geschichte, in diesem Augenblick in diese Familie geboren wurde, mit so einer Lebensgeschichte. Wir sind ganz einzigartig, voneinander unterscheidbar. Und wir haben eine gewisse Größe und eine gewisse Lebenslänge. Alles das kann man messen und wir sind im Bereich der Materie. Unser Ich ist im Bereich der Materie.
Unser Selbst ist eines. Wenn wir wirklich soweit zurückkommen, wo wir der Beobachter sind, den niemand mehr beobachten kann. Wir sind ja alle dort, wir erleben‘s ja, wir können ja dorthin gehen. Was unterscheidet uns dort? Nichts. Es gibt nichts, wodurch wir uns ‒ die «Selbste» ‒ unterscheiden können. Es gibt nur ein Selbst und das ist unser gemeinsames Selbst. Und ‒ es ist zwar nur eine Ausdrucksweise zu sagen, dass das Ich jetzt eine Ausdrucksweise dieses Selbst ist, aber es passt. Und es hilft uns auch, unser Leben irgendwie zu verstehen.
Ein Bild, das da sehr hilfreich sein kann, ist das Selbst so wie ein Puppenspieler ist, der mit verschiedenen Puppen ein Stück aufführt. Im Kloster Gut Aich, wo ich jetzt sehr viel Zeit verbringe, haben wir immer am ersten Sonntag des Monats Kindergottesdienst und nachher Kasperltheater, viel anziehender für die Kinder als wie der Gottesdienst. Und eine Person kann da ‒ wie wir alles wissen ‒ ein ganzes Stück spielen. Die Prinzessin wird ausgezogen, stattdessen wird der Drache angezogen oder der Prinz kommt mit der einen Hand und das Krokodil mit der andern. Es ist ein und dieselbe Schauspielerin, die verschiedene Rollen spielt. Und es ist hilfreich sich vorzustellen, dass das Selbst, das eines für uns alle ist, alle unsere Rollen spielt. Und wenn wir uns dessen bewusstwerden, und jedes Mal, wo wir Ich selbst sagen ‒ das sagen wir immer, wenn wir sehr betonen wollen, wer wir wirklich sind, sonst aber Ich: Ja, Ich selbst ‒ das ist sehr betont, jedes Mal, wenn wir Ich selbst sagen, haben wir ausgedrückt, dass Ich eben nur eine Rolle bin, die dieses Selbst spielt.
Und wenn ich mir dessen bewusstwerde, schaue ich ja die Andern ganz anders an: das ist ja nur die andere Hand, die da spielt. Es ist ein und dasselbe Selbst und das ist mein Selbst, das spielt auch mich. Das kann sehr hilfreich sein.
Aber das Spiel wird sehr ‒ wie wir alle wissen ‒ dieses Spiel des Lebens kann sehr spannend werden. Spannend in dem, was vorgeht und spannend durch die Spannungen, die entstehen, ziemliche Spannungen zwischen dem Krokodil und den anderen Figuren, die da spielen.
Und in dieser Spannung kann es vorkommen ‒ und leider kommt es häufig vor ‒, dass das Ich ‒ das Ich ist diese Figur, das Ich ist die Rolle ‒ dass das Ich vergisst, dass es ja eigentlich das Selbst ist, es ist nur ein Ausdruck des Selbst. Und im Augenblick, wo das Ich das Selbst vergisst, ist es das Ego geworden.[3] Und jetzt haben wir das Ego gefunden. Wo ist das Ego? Das Ego ist das Ich, das das Selbst vergessen hat.
Nun spielt sich das aber nicht so schlagartig ab, sondern es ist wie eine Skala, eine lange fließende Skala, und auf der einen Seite wird’s mehr und mehr Ego und auf der anderen Seite wird’s mehr und mehr «Selbst». Und wenn wir uns unsere Bekannten und Verwandten anschauen, dann sehen wir, dass manche mehr auf der Ego-Seite sind und andere mehr auf der Selbst-Seite sind und gewöhnlich die Menschen, die wir besonders bewundern, die sind so durchleuchtend für das Selbst, dass das Ich schon fast verschwindet, es wird so ganz durchscheinend. Und beim Ego ist das Ich recht handfest.
(26:44) Warum ist das Ego aber schlecht, was ist das Problem, wenn man vergisst, dass wir alle eins sind? Darum geht’s ja: Wenn man das Selbst vergisst, hat man vergessen, dass wir alle eins sind. Warum ist das so problematisch?
In dem Augenblick beginnt alles schief zu gehen.
Und zwar das Erste, das immer passiert, ist: Wir bekommen Furcht. Wir fürchten uns. Wenn ich glaube, dass ich jetzt allein bin ‒ man braucht sich ja nur einen Augenblick in dieses Ich jetzt einlassen und ganz wirklich versuchen, das Selbst ein bisschen auszublenden und zu vergessen, dann muss ich mich ja fürchten. Da sind diese ganzen Millionen und Milliarden von anderen Ich rund und mich herum: Wir haben nichts gemeinsam oder sehr wenig und jedes Ich ist die Mitte seiner Handlungen und seines Lebens. Da muss ich mich ja fürchten, dass die Anderen mir was antun.
Also das erste, was immer der Furcht entspricht, ist Gewalttätigkeit.
Ich muss mich wehren. Das ist ganz instinktiv und notwendig. Sobald ich das Selbst vergesse, muss ich mich wehren. Ich muss mich wehren, die Anderen könnten ja mir vorankommen, auf mich steigen, höher klettern als ich. Da beginnt der Konkurrenzkampf.
Furcht führt zu Gewalttätigkeit, führt zu Konkurrenzkampf, ich muss mich wehren gegen die Anderen, ich muss ihnen zuvorkommen ‒ Konkurrenzkampf ist ja auch ein Kampf ‒, und dann kommt der Kampf ums tägliche Brot. Und das artet aus in Gier, weil ich wieder Angst habe, Furcht, dass da nicht genug ist für so viele; um Himmelswillen! ‒ ist ja nicht genug. Da muss ich mich bereichern. Da muss ich schauen, dass auch für mich genug da ist.
Also alles, was in unserer Welt zum Verderben führt: zunächst die Furcht, dann die Gewalttätigkeit, dann die Konkurrenz ‒ der Konkurrenzkampf ‒, und dann die Gier: Das entspringt alles dem Ego. Und das in unserem persönlichen Leben.
Und wenn uns das bewusst wird, dann ist es ziemlich einleuchtend, dass wir immer auf dieser fließenden Skala, zwischen dem ganz in sich verschrumpften kleinen Ego und dem weit offenen lebensfrohen Ich-Selbst, immer auf das Ich-Selbst zugehen wollen, dass wir immer uns des Selbst bewusstwerden wollen. Und wodurch tun wir das? Durch Meditation. Das war ja immer wieder erwähnt worden, schon gestern in den Vorträgen.
Wie kommen wir in Kontakt mit unserem Selbst? Durch alle die verschiedenen Formen der Meditation und der spirituellen Praxis. Auch dankbar leben ist ein ganz ebenso gültiger Weg wie jede andere spirituelle Praxis, ein Weg mit dem Selbst in Kontakt zu kommen, aus dem Selbst heraus zu leben.
Vielleicht können wir, wenn nötig, dann in der Frageperiode auch noch näher darauf eingehen.
(30:31) Jetzt möchte ich noch einen anderen Ansatz zeigen:
Denn bisher habe ich mehr über das Leben gesprochen, also um wirklich freudig zu leben ‒ und darum geht’s uns allen, auch wenn wir glauben, wir müssen uns unglücklich machen, um wirklich freudig zu leben ‒ das gibt es, nicht so selten der Fall ‒, das Ziel ist doch immer, freudig zu leben.
Um wirklich freudig zu leben, müssen wir auch mit dem Sterben auskommen. Das Sterben gehört zum Leben dazu und wir müssen irgendwie auch unser Sterben verstehen.
Sterben lernen heißt leben lernen und leben lernen heißt sterben lernen.
Und da können wir jetzt einen anderen Ansatz machen ‒ wir werden sofort sehen, wie eng die beiden verbunden sind ‒, und zwar können wir wieder der Sprache nachforschen und sehen, dass wir sagen: Ich habe einen Leib. Das ist eine sehr sonderbare Feststellung. Wer hat denn diesen Leib? Wer sagt denn das? Das ist ein Leib, der das sagt; wenn er keinen Mund hätte, könnte er es nicht sagen: Ich habe einen Leib. Ist da so ein Kleiner irgendwie, der da drinnen sitzt und einen Leib hat. Sonderbare Situation: Ich bin ein Leib, der da sagt, ich habe einen Leib. Und das ist das Geist Materie Problem, auf das wir auch immer wieder stoßen.
In unserem Selbst, weil wir eben in diesem Doppelbereich von Materie und Geist leben, kennen wir etwas, was nicht gemessen und nicht geteilt werden kann, und alles, was materiell ist, kann gemessen und geteilt werden. Aber unser Selbst kann nicht gemessen und nicht geteilt werden. Es ist eines. Und das kennen wir.
Wir kennen es nur von innen ‒und das ist der Unterschied ‒ und nicht von außen. Von außen kennen wir die Dinge, die geteilt und gezählt werden können. Es gibt eben verschiedene Perspektiven. Und die Geist Perspektive ist eine Erste-Person-Einzahl Perspektive. Von innen her erleben wir das.
Ken Wilber, mit dessen Werk sicher viele von ihnen vertraut sind, hat das ja sehr eingehend und am besten von allen, die darüber schreiben, dargestellt, dass wir immer, was er die Quadranten nennt, beobachten müssen. Also wir müssen beobachten: In welcher Perspektive sprechen wir jetzt? Und über den Geist können wir nur in der ersten Person sprechen. Über die Materie in der dritten Person.
(33:58) Und jetzt leben wir in diesem Doppelbereich: Wir sind Leib und haben Leib. Und das ist die Aufgabe in unserem Leben. Und worum geht es im Leben? Worum geht es? Mit einem Wort: Um Erfahrung oder um Reife, um reif werden.
Was immer für ein Wort wir finden, wir merken, dass im Bereich der Materie ‒ also im Bereich unseres Leibes ‒ ein anderer Vorgang sich abspielt im Leben als im Bereich des Geistes.
Im Bereich des Leibes, der Materie, nehmen wir teil in dem Leben, das wir überall rund um uns beobachten können auch von außen her, und das ist, was Goethe das große «Stirb und Werde» nennt:[4]
Es beginnt mit einem Samen, es führt zu einer Geburt, es kommt zur Blüte, es treibt Früchte, es verwelkt, es stirbt. Und es bleibt vielleicht noch ein Same, der wieder aufwächst und wieder blüht und wieder Früchte trägt: Es ist dieses «Stirb und Werde.» Dem gehören wir an, dem gehört jede und jeder von uns an, weil wir eben im Bereich der Materie leben.
Im Bereich des Geistes geht es um etwas ganz anderes. Da geht es nicht um Entwicklung, sondern um etwas, was man Anreicherung nennen könnte.
Brigitte hat gestern schon in ihrem Vortrag auf das schöne Wort von Rilke hingewiesen, der sagt von uns Menschen:
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren ‒ und das heißt, den Nektar des Sichtbaren und mit allen Sinnen Erfahrbaren: darum leben wir in dieser Körperlichkeit im Bereich der Materie ‒ Wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[5]
Und das ist der Bereich des Geistes. Das ist, was ich Anreicherung nenne und das kann niemand von außen beobachten, das können wir nur aus eigener Erfahrung, nur von innen her.
Dinge, die großartig von außen ausschauen, tragen vielleicht sehr wenig zu unserer Bereicherung innerlich bei. Und andere Kleinigkeiten, die sonst von außen kaum jemand bemerkt, können uns unglaublich Reichtum schenken.
Also, so wie wir im Bereich der Materie diesem «Stirb und Werde» angehören, so geht es im Bereich des Geistes um Erfahrungsreichtum: um Erfahrungsreichtum ansammeln.
Und wenn wir das sehen, dann haben wir schon einen Zugang, nicht nur zu dem, worum es im Leben geht ‒ eben in diesem Doppelbereich um zweierlei, das innigst miteinander verwoben ist ‒, sondern wir haben auch Zugang zu dem Sterben:
Das Sterben kann sich nur auf das Materielle beziehen.
Das, was nicht geteilt und nur innerlich erlebt werden kann, ist nicht diesem Sterben unterworfen.
Und das kann ein großer Trost sein, nicht was äußerlich Beweiskraft hat, aber etwas, das innerlich Trost und Stärke geben kann. Dass wir in diesen großen goldenen Honigwaben etwas ansammeln, was durch unser Sterben, das eben zum Leben gehört ‒ zum Leben gehört das Sterben ‒, überhaupt nicht betroffen wird, sondern eben: Sein ist über den Tod erhaben. Sterben ‒ Tod ist nicht das Gleiche.
(38:48) Also damit, was ich jetzt gesagt habe, wollte ich darauf hinweisen, wie wichtig es ist, diese Unterscheidung zwischen dem Ego und dem Selbst klar zu sehen, weil die so viel damit zu tun hat, dass Achtsamkeit recht verstanden wird und Dankbarkeit und Achtsamkeit ‒ besonders Achtsamkeit ‒ neigt dazu, von dem Ego ausgenützt zu werden.
Denn das Ego ist gekennzeichnet ‒ haben wir gesagt ‒, durch Gier und will also auch ganz gierig an sich ziehen alles, was verwendbar ist. Und wenn etwas so Nettes daherkommt wie Achtsamkeit, Spiritualität: selbstverständlich will das Ego das so viel wie möglich. Und man wundert sich manchmal, wieviel Ego da drinnen ist, und zwar nicht durch Beobachtung, sondern wenn wir auf uns selber schauen. Wir leben ja auf dieser fließenden Skala. Und wenn wir dann nach Hause kommen von so einer Tagung, wo wir uns wieder mit Spiritualität bereichert haben, … ein bisschen zu viel Ego dabei.
Noch ganz kurz möchte ich auf die soziale Ebene hinweisen, die soziale Dimension, in der sich das ausdrückt.
Wir leben in einer Zeit, in der viele von den Menschen, die in den verschiedenen Bereichen die größten und tiefsten Einsichten haben, sehen, dass es so nicht weitergeht.
Unsere Zivilisation ist jetzt wahrscheinlich 6000 Jahre alt oder älter und hat einen Punkt erreicht ‒ muss sich ja immer ändern ‒, aber hat einen Punkt erreicht, wo es wirklich so nicht weitergehen kann. Und zwar warum? Weil sie sich selbst zerstört. Also das ist der Grund, das ist eine ganz einleuchtende Antwort. Wenn etwas sich selbst zerstört, wenn etwas einen Punkt erreicht hat, wo es sich selbst zerstört, kann es so nicht weitergehen.
Und unsere Zivilisation war von Anfang an eine Ego-Zivilisation.
Sie war von Anfang an und in der ganzen Geschichte gekennzeichnet durch Gewalttätigkeit, durch Wettbewerb, Konkurrenzkampf, Unterdrückung, Ausbeutung und Gier.
Sie ist eine Pyramide.[6]
Unsere Pyramide ist das typische Bild: Eine große Zivilisation, die die Pyramiden gebaut hat, die ägyptische, war irgendwie ein Vorbild für jede Zivilisation. Kein Zufall, dass sie diese Pyramiden gebaut hat, aber jede Zivilisation, die wir gekannt haben im Lauf der Geschichte, war eine Pyramide. Und ist es immer noch. Wer oben sitzt, möchte oben bleiben und verteidigt sich mit Gewalt, hat Angst. Je höher man oben ist, umso mehr Angst hat man. Wer weiter unten ist, braucht weniger Angst zu haben, weil er weniger zu verlieren hat. Ganz unten ‒ kaum Angst.
Oben große Furcht, diese Stellung zu verlieren. Ein bisschen weiter drunten beginnt schon der Konkurrenzkampf. Und überall die Gier. Und diese Zivilisation, die wir da gebaut haben, dieses Sozialsystem, das wir gebaut haben, ist auf Angst, Gewalttätigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung gegründet und ist selbstzerstörerisch, das heißt, lebensfeindlich und widernatürlich.
Und widernatürlich ‒ dieser Ausdruck: widernatürlich ‒ zeigt uns schon, wo wir die Rettung finden können, weil ‒ wir wollen ja nicht einfach aufgeben: ja jetzt bricht alles zusammen. Ja, es bricht zusammen, aber wir müssen jede und jeder zusammen unser Bestes tun, einen Übergang zu finden, das Beste zu retten, hinüber zu retten. Und da müssen wir uns von der Natur leiten lassen.
Weil diese egoistische Zivilisation widernatürlich ist, müssen wir uns von der Natur leiten lassen. Und die Natur besteht aus Netzwerken.
Die Natur ist ein Netzwerk von Netzwerken, von einer Komplikation und von einer Feinheit, wie wir sie uns überhaupt nicht vorstellen können. Je mehr wir darüber erfahren, umso mehr staunen wir. Und so müssen wir diese Pyramide ersetzen durch ein Netzwerk von Netzwerken. Das ist unsere große Aufgabe und das sehen wir auch wieder, wenn wir klarsehen ‒ den Unterschied sehen ‒ zwischen Ich, Selbst und Ego: Ich, Selbst, Ego und unsere Erwägungen über Dankbarkeit und Achtsamkeit, haben uns darauf hingeführt.
Und von Anfang an haben wir schon immer gesagt bei diesem Netzwerk «dankbar leben», dass es eigentlich zum Ziel hat, durch die Webseite ein Netzwerk kleiner Netzwerke dankbaren Lebens zu schaffen. Und ich freu mich sehr, dass wir jetzt schon wirklich in der ganzen Welt und Rosa Paeng, unsere chinesische Freundin: Bitte steh auf Rosa, Du bist gerade gekommen ‒ Wenn sogar in China diese kleinen Netzwerke dankbaren Lebens beginnen, dann gibt uns das große Hoffnung. Und mit der großen Hoffnung möchte ich schließen und Euch ‒ jeder und jedem ‒ danken für Euren eigenen Beitrag dazu.
Br. David in der Fragerunde:
(46:15) Etwas, das so wie ein Spinnennetz ist, wo man von jedem Punkt aus die Fäden ziehen kann und alles zusammenfassen, das ist nicht die Art von Netzwerk von der wir sprechen, sondern eine Vernetzung im menschlichen Bereich heißt eine Vernetzung von Gemeinschaften, die klein genug sind, dass man noch einander irgendwie kennen kann.[7] Und wenn das nicht mehr möglich ist, wieder in kleinere noch weiter zurückgeht, bis man wieder zurückkommt, wo die kleinsten Netzwerke sind. Und das Entscheidende ist ja: Wo werden die Entscheidungen getroffen? Darum geht’s: Die Entscheidungen werden in der Natur und sollten bei uns in der Kultur immer auf der niedrigsten Stufe getroffen werden, auf der sie getroffen werden können. Und nur, wenn es um etwas geht, was weitere Bereiche einbezieht, dann auf der nächsten Stufe.
Zum Beispiel ‒ kein besonders großartiges Beispiel ‒, aber sagen wir
bei einem Eisenbahnnetz: Wie die Station angelegt ist und wie sie aufgeräumt und sauber gehalten wird, das kann an Ort und Stelle entschieden werden. Der Fahrplan muss offensichtlich auf einer anderen Ebene entschieden werden, denn dann sind mehrere Stationen beteiligt. So muss man sich das vorstellen. Und wenn es um Vernetzungen geht, sollte man sich immer fragen: Ist das eine Vernetzung, die von unten kommt, und wirklich organisch aufgebaut ist, oder ist das so ein Netz, in dem man etwas fängt.
(48:36) Die Verbindung von Mitgefühl und Dankbarkeit.
Mir scheint, das Selbst ist die Verbindung. Denn, was sich im Mitgefühl ausdrückt, ist ja: Das bin Ich selbst. Das drückt sich aus in dem Mitgefühl. Also wenn ich jemanden Andern anschaue, und wirklich als Ich selbst den Andern anschaue, und nicht als dieses verschreckte Ego, sondern als Ich selbst, dann sehe ich ja in dem Andern mein eigenes Selbst. Es ist nur ein Selbst. Und in Dankbarkeit fließt das Selbst in die Tätigkeit. So müsste man noch etwas mehr über dankbar leben sagen. Dankbar leben heißt, immer im Augenblick leben. Drum unsere kleine Übung Stop ‒ Look ‒ Go[8]. Das Stop bringt uns in den Augenblick. Wir sind immer in dem Fluss der Zeit und wir müssen uns herausnehmen in die Gegenwart.
Und wenn wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, dann sind wir im Selbst. Und also sowohl durch Dankbarkeit ‒ im Jetzt bin ich schon im Selbst, also Dankbarkeit bringt mich ins Selbst, das ist ja das Ziel jeder spirituellen Übung ‒ und im Mitgefühl drückt sich dieses Selbst aus. Also «Selbst» scheint mir das Konzept zu sein ‒ und nicht Konzept ‒, die Wirklichkeit, die wir erfahren, die in beiden sich ausdrückt. Und drum ist es mir auch einleuchtend gewesen gestern bei deinem Vortrag, dass die Meditierenden so leicht Zugang dazu haben, sowohl zu Dankbarkeit wie zu Mitgefühl, weil: durch die Meditation gehen wir in das Jetzt und wenn wir in das Jetzt gehen, gehen wir in das Selbst.
(51:46) Die Frage, wieso wir Menschen finden, die wirklich aus dem Ich selbst leben, Ich selbst sind und wirklich dieses Selbst ausstrahlen, ohne zu meditieren?
Meine Antwort darauf ist, dass sie spontan das tun, was Meditierende mühevoll durch die Meditation tun. Sie sind mit dem Leben verbunden, dankbar verbunden. Hier im Westen, wenn sie an ihre Großeltern zum Beispiel denken oder Urgroßeltern, wenn sie sie noch gekannt haben, da hat es weder das Wort Meditation gegeben noch das Wort Achtsamkeit ‒ na ja, gegeben hat es schon, aber kein Mensch hat’s verwendet, und Spiritualität schon überhaupt nicht ‒, aber die Spiritualität der Menschen war, dankbar leben. Ich glaube, wer seine Großeltern oder Urgroßeltern gekannt hat, wird fast sicher sagen müssen, entweder: es waren sehr unglückliche Menschen oder sie haben wirklich dankbar gelebt. Und wer dankbar lebt, der strahlt dieses Licht aus. Und warum?
Also ich meine, weil dankbar leben uns mit dem Leben in Bezug setzt. Es heißt eben: Jeden Augenblick: Was bietet mir das Leben an? Und darauf antworten: Innehalten: schauen, was bietet mir das Leben an? ‒ das ist die Gelegenheit ‒ und Zusammenarbeit. Und wer das tut, der hat das, worauf Meditation hinzielt, der hat das schon. So würde ich wenigstens das beantworten. Ich hoffe, es stimmt.
(53:47) Und was die Frage betrifft, ob das Selbst göttlich ist, da muss man vorsichtig sein, was man mit Gott meint, nicht?
Also die kurze Antwort ist: Ich glaube ja, das ist die Antwort, aber man muss vorsichtig sein, denn das Wort Gott wird sehr häufig missverstanden, und es hilft sich daran zu erinnern, dass Gott ja kein Name ist, sondern eine Bezeichnung für ‒ ursprünglich sächlich ‒ das Angerufene ‒ das heißt Gott. Gott heißt ursprünglich das Angerufene. Das kann auch heißen: Das uns anruft. Das mit dem wir in Beziehung stehen, das ist das Entscheidende. Das Geheimnis, weil: sonst kann man nichts darüber aussagen ‒ das Geheimnis. Wenn man glaubt, dass man weiß, wenn man Gott sagt, dann weiß man’s nicht, das ist schon sicher. Aber solange man weiß, es ist das Geheimnis, es weist auf etwas hin ‒ auf das Geheimnis.
Zu diesem Geheimnis gehört auch unser innerstes Sein an, nämlich unser Selbst. Es ist uns ein Geheimnis, wir können ja weiter nichts darüber sagen. Wir erleben es, aber wir können es nicht begreifen, wir können’s nicht in den Griff bekommen, das heißt ja begreifen.
Also unser Selbst gehört zu diesem unbegreiflichen Geheimnis an, dass die, die das Wort «Gott» richtig verwenden, mit dem Wort «Gott» auf das hinweisen.
So würde ich sagen: Ja. Denn der Irrtum, den wir unter allen Umständen vermeiden müssen, ist, dass wir irgendwie von Gott getrennt sind. Und drum ist dieses Wort «Gott» so gefährlich, weil: wenn‘s Gott ist, bin’s nicht ich. Und Thomas Merton, den vielleicht viele von ihnen kennen, ein Schriftsteller, ein Zisterzienser, ein Amerikaner, 20. Jh., hat ganz ausdrücklich, sehr treffend gesagt: «Gott isn‘t somebody else» ‒ «Gott ist nicht ein Anderer». Wenn man denkt, ich und Gott ‒ ein Anderer ‒ schon falsch. Wir sind völlig eingetaucht in dieses Geheimnis und das Geheimnis ist völlig in uns: Das göttliche Geheimnis, wenn wir wollen.
Für viele Menschen ist es leichter, vom Leben zu sprechen. Das Leben ist ja dieses Geheimnis. Die Wissenschaft hat keine Ahnung, was das Leben ist, kann ein bisschen etwas über Leben aussagen, aber: Was ist das Leben? Und doch kennen wir’s, wir leben. Wir kennen’s von innen her: wir sind lebendig. Wir kennen die Quelle des Lebens nicht: Woher kommt Leben? Nicht: Wie entsteht Leben? Sondern: Was ist Leben? Was ist der Ursprung vom Nicht Leben, der Sprung in das Leben, in Lebendigkeit? Keine Ahnung! Wie macht man’s, wie lebt man? Keine Ahnung! Durch Leben. Wir sind völlig in dieses Geheimnis eingebettet und es ist völlig in uns.
Und das ist das panentheistische Verständnis unserer Beziehung zum Göttlichen, zum göttlichen Geheimnis. Panentheistisch heißt, so wie «pantheistisch»: Alles, was der Pantheismus sagt, und noch dazu: Ja, aber, dieses Geheimnis geht noch über alles hinaus. Alles ist dieses Geheimnis und dieses Geheimnis ist in allem und geht noch unendlich über alles hinaus. Das ist diese kleine Silbe «en», die da zum Pantheismus hinzugefügt wird. Und dieses panentheistische Verständnis des göttlichen Geheimnisses, das ist eigentlich heutzutage das Gängige.
(58:48) Gibt es nicht auch die andere Geschichte des Christentums und des Glaubens, die Tradition der Liebe, nicht nur die Gewalttradition?
«Das ist sehr wichtig, das zu betonen. Allerdings hat die nicht Geschichte geschrieben, sondern die Machtpyramide hat die Geschichte geschrieben. Aber unten durch hat’s immer wieder die kleinen Gemeinschaften gegeben, die Sangha des Buddha und unzählige Sanghas des Buddha und das Reich Gottes, das Jesus gegründet hat. Aber das typische daran ist, dass die immer wieder zerstört und unterdrückt wurden von der Machtpyramide, und wir jetzt an einer Schwelle stehen, wo die Machtpyramide zusammenbricht und mehr Menschen als früher sehen, dass die einzige Rettung ist, dass dieser Untergrund ‒diese untergründliche Wasserader der Netzwerke ‒, dass dort das eigentliche Leben ist. Und auf das zu verlassen.
(01:00:11) Und das Göttliche als die Liebe: Da muss man wieder sehr vorsichtig sein, wie man Liebe definiert oder zumindest eine Work in Definition für Liebe gibt, und da hilft mir immer ‒ es gibt ja so viele Arten von Liebe ‒ wir sprechen von Liebe: Meine ich jetzt die romantische Liebe oder die Liebe zu meinen Tieren oder die Liebe zu meinem Vaterland oder die Liebe zur Erde oder die Liebe zu ‒ alles ‒ Eltern, Kinder: Was haben sie alle, diese Formen der Liebe gemeinsam? Es handelt sich immer um ein Ja zur Zugehörigkeit, ich sage: Ein gelebtes Ja zur Zugehörigkeit.
Und das weist wieder darauf hin, das Leben, dieses Geheimnis, wir können es austauschen heutzutage: Wenn man vorsichtig ist, kann man sagen: Die das Wort «Gott« richtig verwenden, meinen das, was die Anderen meinen, wenn sie sich wirklich ganz tief auf Leben einlassen: Dieses Geheimnis, in das wir eingebettet sind und in dem wir leben, uns bewegen und sind. Und das ist Liebe, denn das ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. In dem Augenblick, wo wir das Ja nicht sagen, oder auch nur ein bisschen verweigern, sind wir weniger und weniger lebendig. So würde ich das sehen. Aber danke vielmal für den Hinweis.
(01:02:28) Lässt das Bild von der Welle und dem Meer eine persönliche Beziehung zu Gott zu?
Ich habe diese Frage einmal einem meiner Zen Lehrer vorgelegt und habe gesagt: Du sprichst von unserem Leben so als eine Welle und dann geht sie wieder ins Meer zurück und jetzt haben wir Bewusstsein und Beziehung und alles Positive, was dazu gehört, und wenn wir dann zurückgehen, scheint es uns, dass wir so irgendwie in einen kosmischen Pudding zurückgehen. Und darauf hat er sehr treffend geantwortet:
«Woher hätte die Welle Beziehung und Bewusstsein und Selbstbewusstsein, wenn’s nicht das Meer hätte?»
Eine befriedigende Antwort.
Und aus unserem eigenen Erleben wissen wir: Wenn wir Ich sagen, setzt das schon eine Beziehung zum Du voraus. Und zwar zu dem Ur-Du. Es ist nicht die Summierung aller Du’s, die wir in unserem Leben treffen. Und das können wir uns auch dadurch bewusst machen, dass dieses Du, das mit meinem innersten Ich mitgegeben ist, ich immer wieder suche und in allen Menschen immer wieder suche und auch in den liebsten und nächsten Menschen nicht ganz vollkommen finde. Es ist dieses Du, dem wir unser Leben erzählen. Darum ist unser Leben eine Lebensgeschichte und nicht eine Aufeinanderfolge von Ereignissen, weil wir sie als Geschichte diesem Du erzählen durch das ich erst so Ich bin: Ich bin erst Ich, weil es dieses Du gibt. Martin Buber und Ferdinand Ebner haben das ja sehr weit ausgebaut und weitere Überlegungen angestellt.
Ich ende mit einer Geschichte vielleicht von Henry Nouwen, den viele von Ihnen auch kennen, ein belgisch amerikanischer Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, und der war Professor in Yale eine Zeitlang ‒ an der Yale University ‒ und seine Schüler haben ihn sehr verehrt, hatte eine ganze Gruppe von Studenten gehabt, die immer bei ihm waren, und wenn er auf Reisen war, hat er dann Dias mitgebracht, das war noch die Zeit, wo man nicht mit dem Handy die Fotos gemacht hat, sondern so Dias mitgebracht hat. Und dann hat er die Dias gezeigt, wenn er zurückgekommen ist, und die Studenten waren recht geduldig und so 30, 40 Dias haben sie sich gerne angeschaut. Aber dann ist es einfach zu viel geworden, worauf Henry Nouwen gesagt hat: «Ich weiß, wie es gehen wird, wenn ich in den Himmel komme. Der liebe Gott wird sagen: ‹Henry, da bist du, zeig mir deine Dias!›»
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[1] Goethes Gedichtsammlung von 1815, Abteilung «Gott, Gemüt und Welt»
[2] Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart, Klett-Cotta 2022
[3] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 112-115, 150
[4] «Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.» (Johann Wolfang Goethe, Selige Sehnsucht)
[5] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 105-107. Br. David spricht in diesem Vortrag von Bereicherung, meint aber dasselbe wie Anreicherung.
[6] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 113f.
[7] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 114
[8] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 82-92