«Lebendig bleiben mit Bruder David Steindl-Rast» (2023)
Ein THEATERPROJEKT von Bettina Buchholz und Johannes Neuhauser 
Transkription© von Hans Businger (2024)

(00:45) Bettina Buchholz: «Es kam alles ganz anders als geplant. Ursprünglich wollten wir eine szenische Lesung über die Klimakrise machen mit Videoeinspielungen vom Amazonasbischof Dom Erwin Kräutler und Bruder David Steindl-Rast. Mein Mann hatte sogar schon die ersten Seiten geschrieben und mit Erwin Kräutler und Bruder David Kontakt aufgenommen. Aber dann kam es zu einer Verschlechterung meiner Krebserkrankung und es war ziemlich schnell klar, dass ich mich einer mehrmonatigen Chemotherapie unterziehen musste mit anschließender Stammzellentransplantation. Dies bedeutete natürlich das AUS für unsere Pläne.

Wenn du Krebs hast, dann nimmst du die Welt plötzlich wie durch eine Lupe, einem Vergrößerungsglas wahr: Alles tritt größer, klarer und schärfer hervor. Die sonst glatt erscheinenden Oberflächen wirken auf einmal porös, die Kanten schärfer, die Risse bedrohlicher.

Du kannst diese Lupe natürlich auch anders herumhalten und dann siehst du alles viel, viel kleiner. Du verdrängst die Probleme und konzentrierst dich ausschließlich auf dich selbst, deine Krankheit und deine kleine Welt; schottest dich ab gegen alles Verwirrende, Komplexe und Bedrohliche. Meist ist es dann auch natürlich das Einfallstor in die Welt der Esoterik mit ihren Vereinfachungen und Versprechungen wie: Heilung, ist jederzeit möglich, ja, Wunder sind jederzeit möglich. Du musst es nur wollen. Lass deine Ängste los, blende alles aus, was dich belastet, die Welt da draußen ist nicht mehr wichtig, schau nur mehr auf dich selbst.

Ich bin jedoch von Natur aus so gestrickt, dass meine innere Lupe leider immer vergrößert und nicht verkleinert. Seit meiner Erkrankung ist diese Tendenz sogar noch stärker geworden. Aus einer einfachen Gedanken-Landstraße kann da schnell mal eine vierspurige Grübel-Autobahn werden.

Was will ich damit sagen? Dass ich unsere Welt jetzt noch komplexer, ambivalenter und noch vielschichtiger wahrnehme? Und dass meine innere Welt gleichzeitig reifer und tiefer wird? Reicher an Empfindungen, an Offenheit und auch an Dankbarkeit?

Aber hey, Moment: Ich will nichts beschönigen. Auch meine inneren Dämonen sind viel, viel stärker geworden. Meine Ängste, meine Unruhe und meine Erschöpfung.

Warum ich als Schauspielerin nicht frei spreche, sondern den Text ablese, den mein Mann für mich aufschrieb, da mir die Kraft dazu fehlte: Weil bei einer intensiven Chemotherapie auch die Merkfähigkeit leidet, dies betrifft vor allem das Kurzzeitgedächtnis. Das kommt zwar langsam wieder, aber das dauert. Das ist für mich als Schauspielerin, die sich früher 80 Seiten Text merken konnte, besonders schwer. Übrigens die Fotos machten mein Mann und ich mit dem Handy. Wir wollten diese Zeit auch bildlich dokumentieren und nicht einfach verdrängen.

Während einer Chemotherapie Pause führten mein Mann und ich ein Zoom-Interview mit Bruder David Steindl-Rast, der sich damals gerade in Frankreich aufhielt. Wir hatten den Interview-Termin schon vor längerer Zeit vereinbart und wollten wegen meiner Behandlung nicht einfach alles absagen. Ich kannte Bruder David ja bereits. Er war bei unserem Stück über die Jüdin Etty Hilesum zu Gast gewesen. Im Anschluss an die Vorstellung gab es eine spannende Podiumsdiskussion mit ihm. Die Tribüne Linz war damals bis zum letzten Platz gefüllt. Und das Publikum war begeistert von Bruder David.

Jetzt ‒ unter der Lupe meiner Erkrankung ‒ nahm ich Bruder Davids Persönlichkeit, seine Ausstrahlung und seine Aussagen noch einmal anders und vor allem tiefer wahr. Ich stellte ihm gleich am Beginn die Frage, ob es in unserer von Krisen geschüttelten Welt überhaupt noch möglich sei, DANKBAR zu leben? Ob dies nicht eine Beschönigung sei angesichts des Ukraine-Kriegs, der Klimakrise und nicht zuletzt auch meiner persönlichen Situation?

Wie Bruder David darauf antwortete, beeindruckte und berührte mich sehr.»

(06:06) Bruder David: «Letztlich hat Dankbarkeit ‒ und zwar nicht die oberflächliche Dankbarkeit, wo man halt danke sagt, wenn einem was nettes zustößt; wenn man glücklich ist, sondern eine Dankbarkeit als Lebenshaltung ‒ eine ganz wichtige Voraussetzung und das ist Lebensvertrauen.

Wenn man nicht auf’s Leben vertraut und auf dieses Herz des Lebens, das große Geheimnis, das manche Gott nennen: wenn wir nicht auf’s Leben vertrauen, dann können wir nicht dankbar sein.

Wenn wir aber auf’s Leben vertrauen, dann können wir jeden Augenblick ‒ ganz gleich, was uns zustößt ‒, dankbar sein. Denn auch wenn uns etwas zustößt, was lebensverneinend ist, gibt es uns eine Gelegenheit, und die Dankbarkeit richtet sich immer auf die Gelegenheit, die uns gegeben wird. Meistens ist es die Gelegenheit, uns zu freuen und dankbar mit dem Geschenk etwas zu tun. Häufig ist es aber auch die Gelegenheit zu protestieren, etwas dagegen zu sagen oder daran zu lernen, am Leid zu lernen, am Schmerz zu lernen, reif zu werden: das sind alles große Aufgaben für die wir dankbar sein können. Und so können wir auch in dieser Lage dankbar sein, was immer der Augenblick für uns bringt. Das heißt Ja sagen und daraus etwas machen.»

(08:17) Bettina Buchholz: «Ich begann langsam zu verstehen, dass sich echte und tiefe Dankbarkeit immer auf die Gelegenheit bezieht und nicht auf das Ereignis. Und dass jede Gelegenheit, also auch schwerste Herausforderungen wie die Klimakrise, der Ukraine Krieg oder meine Erkrankung gleichzeitig auch Möglichkeiten beinhalten, daran zu wachsen oder sich für andere einzusetzen. Eine Grundvoraussetzung ist jedoch, dass wir dem Leben vertrauen.»

Bettinas ältere Tochter Helene (20): «Liebe Mama, ich hab dich gern, ich hab dich lieb, denn du bist einzigartig …»

Bettina Buchhoz: «Ich wurde in der ehemaligen DDR geboren und kam bereits als ganz kleines Kind in eine sogenannte Wochenkrippe, da meine junge Mutter noch studierte. Montag bis Samstag, also sechs Tage die Woche musste ich Tag und Nacht in dieser Krippe bleiben. Meine geliebte Oma erzählte mir einmal, dass die Betreuerinnen oft überfordert waren: ‹Dieses Kind ist so anstrengend und will immer auf den Arm genommen werden: das ist uns zu viel!›

Als ich einmal sehr krank wurde, schob man mein Bettchen in ein kahles krankenhausähnliches Zimmer und schloss die Tür, da die Betreuerinnen mein Schreien und Wimmern nicht mitanhören wollten. Das passierte leider öfter. Krankenhausaufenthalte waren von da an ein Gräuel für mich und jetzt zwang mich der Scheisskrebs dazu.

Um den anstehenden längeren Krankenhausaufenthalt besser überstehen zu können, begann ich bei Harry Merl eine Psychotherapie. Ich kannte Harry ja bereits, da ich seine dramatische Lebensgeschichte hier in der Tribüne-Linz vorstellen durfte. Als jüdisches Kind überlebte er nur ganz knapp die mörderische NS-Zeit. Zuletzt mussten sich er und seine Eltern monatelang in einem kalten Kohlenkeller verstecken. Nach dem Krieg wurde Harry Merl Psychiater und gilt heute als der Pionier der Familientherapie in Österreich. Als ich ihn bat, mich therapeutisch zu begleiten, war er bereits über 80 Jahre alt. Aber er sagte sofort ja. Woche für Woche ging ich nun zu ihm in Psychotherapie und wir arbeiteten ‒ meistens übrigens ohne viel Worte ‒ mit farbigen Kärtchen an meiner Angst, aber auch an meiner Hoffnung, die Harry so schön als ‹den Traum vom gelungenen Selbst› bezeichnete.»

(11:51) Harry Merl: «Der Traum vom gelungenen Selbst ist der Traum jedes Menschen, jemand zu sein, etwas zu können und anerkannt zu sein. Und das Ziel ist immer das gleiche: Jemand zu sein, etwas zu können, geschätzt zu werden und dadurch als Mensch wieder hergestellt zu sein.»

Bettina Buchholz: «Harry Merl hat während seiner jahrzehntelangen Arbeit eine sehr kreative Methode entwickelt, mit deren Hilfe traumatisierte Menschen sich selbst und ihren Körper wieder besser spüren können. Er gab seiner Methode den schlichten Namen ‹das Gesundheitsbild›. Der Klient arbeitet mit farbigen Kärtchen, die er im Raum auflegt, um so seine Blockaden und Traumata zu erkennen und um sie dann Schritt für Schritt auflösen zu können. Erst danach treten die eigenen Stärken klarer hervor und es können wirklich überraschende Lösungsschritte entwickelt werden. Mir persönlich liegt die Arbeit mit den farbigen Kärtchen sehr, da ich als Schauspielerin diese Mischung aus therapeutischem Gespräch einerseits und kreativem Arbeiten andererseits sehr schätze. Ich bin Harry zutiefst dankbar, dass er mir diesen ganzheitlichen Zugang zu meiner Gesundheit ermöglicht hat trotz Krebs und Kindheitstraumata. Meinen ganz eigenen Traum vom gelungenen Selbst

(13:43) Harry Merl: «Und natürlich ist der Traum vom gelungenen Selbst, und das Gesundheitsbild ‒ das hängt ja zusammen ‒, so eine angenehme und elegante Möglichkeit, Menschen dorthin zu führen, in dem sie selber merken, was alles möglich ist. Ich hab’s von den Patienten gelernt, denen ich die Frage gestellt habe: ‹Angenommen Sie sind ganz gesund: wie werden Sie ausschauen›? Und dann ist schlagartig gekommen: ‹Ja da stehe ich gerade da und da schaue ich ganz anders›, und mir geht’s nur dann, wenn Sie das erlebt haben, dass Sie drauf zugehen auf dieses Bild, denn das ist ja ein wichtiger Teil: der Weg dorthin, dass Sie sich sagen: Aha, da geht es mir gut.

Sie haben plötzlich gemerkt: die Gesundheit ist nicht weg, sie ist nur versteckt. Mir gefallen die farbigen Karten, das war der Grund, warum ich auf diese Methode gekommen bin. Die Farben sind schön und vor allem, sie sind aussagekräftiger für den, der es macht, weil jede Farbe natürlich für jemanden, der das Bild macht, sofort Bedeutung hat. Das geht schlagartig. Ich muss das gar nicht wissen, was das für eine Bedeutung hat, die Menschen haben sofort ihre Bedeutung. Und so stellen sie mit Farben halt ihre Situationen da: das Schwarze für Unglück, das Rote für Trauer oder für Aufregung und das Gelbe ist immer etwas Luft: Freiheit, Erleichterung. Das sind so die typischen Zeichen, die sich so ergeben. Ich bin immer vorwärtsorientiert.»

(16:02) Bettinas jüngere Tochter Hannah (14): «Mein Name ist Hannah. Natürlich beschäftigt mich der blöde Krebs von Mama. Bevor die Stammzellentransplantation durchgeführt wurde, durfte ich Mama nur noch im Garten des Krankenhauses besuchen. Und auch dort mussten wir 2 Meter Abstand halten. Das war komisch. Danach sandte ich ihr kleine selbstgebastelte Karten ins Krankenhaus wie diese hier: ‹Liebe Mama, danke, dass du immer für mich da bist. Aber jetzt musst du dich um dich selbst kümmern. Sei stark. Doch wenn du mal Hilfe benötigen solltest, sind wir deine stützende Pinguin-Flosse. Wir kuscheln mit dir, wenn dir kalt ist und wir füttern dich im Notfall wie es eine Pinguin-Kolonie auch tun würde. Alles Liebe ‒ deine Hannah.›

Aber mich beschäftigt nicht nur Mamas Krebs, sondern auch der Ukraine Krieg. Gleichzeitig mit Mamas Chemo begann dieser schreckliche Krieg. Mama musste zwei Mal pro Woche ins Krankenhaus. Und zur selben Zeit sah ich im Fernsehen die Bilder von Raketenangriffen auf Wohnblocks in Kiew. Besonders schlimm fand ich die überfüllten Züge mit den flüchtenden Frauen und ihren Kindern. Mich interessiert es nämlich sehr, was in der Welt geschieht. Früher schaute ich täglich auf KIKA die Nachrichtensendung ‹Logo› und ich lese den Kinderspiegel. Und den von der ersten bis zur letzten Seite. Ich wollte jedoch nicht nur darüber lesen, sondern ich wollte vor allem auch helfen. Einmal durfte ich mit Monika ‒ Monika ist Pfarrassistentin in der Kirche am Froschberg ‒, ins Aufnahmequartier am Linzer Bahnhof. Ich spielte bis zum Abend mit den Flüchtlingskindern. Wir sprachen miteinander ein paar Brocken deutsch. Das meiste lief jedoch über Zeichensprache. Es macht mir große Freude mit ihnen zu spielen.

Ein anderes Mal hatten ich und meine Freundin Amira die Idee, Kuchen zu backen und diesen vor dem neuen Dom zu verkaufen. Obwohl es in Strömen regnete, hatten wir am Ende 142 € eingenommen. Ein amerikanischer Tourist spendete uns sogar einen 5 Dollar Schein. Am Abend war ich so durchnässt und mir war so kalt, dass ich richtig krank wurde und die nächsten zwei Tage mit einer Erkältung und Fieber im Bett lag. Das gesammelte Geld überwiesen wir an eine christliche Hilfsorganisation in Kiew.

Ich weiß, dass Bruder Steindl-Rast gegen den Krieg ist. Ich kenne ihn ja von früher. Als ich klein war, durfte ich dabei sein, wenn er Bücher signierte. Jetzt, einige Jahre später, interessierte mich, was Bruder David denn zu diesem schrecklichen Krieg in der Ukraine sagen würde. Und wie man vielleicht mithelfen könnte, den Krieg zu beenden, damit endlich wieder Frieden ist und es uns allen besser geht.»

(19:25) Bruder David: «Und mir scheint, dass in diesem schrecklichen, entsetzlichen Krieg etwas ganz Wichtiges ist, wozu wir immer wieder Gelegenheit haben, wenn das Gespräch darauf kommt, und das ist: der Polarisierung entgegenzuwirken. Also versöhnlich zu sein. Und daraus ergibt sich dann auch schon wieder, was wir tun können, nämlich: jeder versöhnliche Akt im täglichen Leben, der überhaupt nichts zu tun haben scheint mit dem Krieg oder sonst irgendetwas, jeder persönliche Akt ist ein Beitrag zum Frieden in der Welt. Und darum kann man zum Beispiel auch ganz ausdrücklich diese Situation zum Anlass nehmen, sich zu fragen, wo sind da noch in meinem Leben Schwierigkeiten, die nicht gelöst wurden: die in Angriff nehmen, die schon bald vergessen sind. Das will ich jetzt in Angriff nehmen und ich schreibe diesen Brief, der schon seit Jahren vielleicht hätte geschrieben werden sollen. Oder ich mache diesen Telefonanruf, ich setze mich in Verbindung. Das alles ist Beitrag zum Frieden auf Erden. Friede den Menschen auf Erden: das ist die große Botschaft der Engel zu Weihnachten und das ist ja nicht ein Versprechen, sondern es ist ein Auftrag zugleich für alle, die es hören.»

(21:43) Bettina Buchholz: «Dieses Plakat hängt bei uns zu Hause, auf dem Bruder David, Thich Nhat Hanh und der Zenmeister Richard Baker Roshi zu sehen sind. Die drei hatten sich damals einer großen Anti-Atomwaffen-Demo in New York angeschlossen. Sie engagierten sich leidenschaftlich für eine friedliche Welt ohne Atomwaffen.

Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine schien es undenkbar, dass Präsident Putin mit einem Atomschlag drohen könnte. Aber in den vergangenen Monaten ist dies leider alles in den Bereich des Möglichen gerückt. Es fühlt sich schrecklich an, wenn du durch die Chemo geschwächt, aber trotzdem schlaflos im Bett liegst und in den Nachrichten von der atomaren Bedrohung hörst. Du denkst: Wenn das Schlimmste eintreten würde, wie könntest du deine Kinder und dich wenigstens ein bisschen schützen? Wenn ein dritter Weltkrieg kommen würde, gäbe es dann noch eine Chance deine Familie in Sicherheit zu bringen? Wenn der eiserne Vorhang wie damals vor dem Fall der Mauer wieder bis an Österreichs Grenzen heranreichen würde, wie würdest du dich dann verhalten? Das alles fragte ich jetzt Bruder David.»

(23:07) Bruder David: «Ich habe eine Schwierigkeit mit dieser Frage. Es sind zu viele ‹wenn› darin. Wenn wir im Augenblick leben und nicht spekulieren, was sein könnte, was kommen könnte: Wenn wir anfangen zu spekulieren, wächst uns alles über den Kopf. Wenn wir aber im Augenblick leben, dann ist, was uns gegeben wird, immer zur Hand, wir können immer damit umgehen, wir können immer daraus etwas machen. Aber aus unsern Vorstellungen, was geschehen könnte, können wir nichts machen.

Drum würde ich sagen: Wenn solche Fragen auftauchen, ist es wohl am besten, zu sagen, das sind halt Möglichkeiten, das zeigt, wie gefährlich das Leben ist, das zeigt, wie groß die Aufgabe ist, vor der wir stehen, aber ich möchte mich nicht ablenken lassen, ich möchte hier und jetzt mit den Menschen, mit denen ich jetzt zusammenlebe, denen gegenüber friedlich sein, besonders friedlich sein in dieser Hinsicht. So würde ich es sehen.»

Bettina Buchholz: «Ja, es geht also darum im Hier und Jetzt möglichst friedlich und verständnisvoll mit den Menschen um einen herum zusammenzuleben. Dass dies natürlich alles andere als leicht ist, haben auch die vergangenen Corona Jahre und die dabei entstandenen Spaltungen und Polarisierungen gezeigt. Es gibt jedoch keine Alternative zum täglichen aufeinander zugehen. Wir müssen jeden Tag unsere Frustrationen, unseren Ärger und unsere Wut überwinden.

(26:16) Ich kam in der KARL-MARX-STADT, dem heutigen Chemnitz, zur Welt und wuchs, wie in der DDR üblich, weitestgehend ohne Religion auf. Meine Mutter war eine glühende Atheistin und mein Vater interessierte sich einfach nicht für Religion. Aber bei meinem Großvater fand ich eine zerschlissene alte Kinderbibel. Besonders die Geschichten aus dem Alten Testament beeindruckten mich sehr. Die Erzählung vom kleinen Hirtenjungen David und dem furchteinflößenden Goliath. Und natürlich auch von Daniel in der Löwengrube.

Ich wusste damals noch nicht, dass mein geliebter Opa, der leider viel zu früh verstarb, ein kleines schwarz eingebundenes Neues Testament besaß und heimlich darin las. Auch die Psalmen befinden sich in diesem unscheinbaren Büchlein. Heute gehört diese kleine Bibel mir. Und ich habe sie ganz bewusst ins Krankenhaus mitgenommen.

Als wir vor einigen Jahren im Musiktheater Linz unser Stück über die Jüdin Etty Hilesum spielten, die in Auschwitz ermordet wurde, begann ich mich mehr und intensiver mit Spiritualität zu beschäftigen. Etty beschrieb in ihrem Tagebuch ihre, auch für sie gänzlich überraschende, Hinwendung zur Spiritualität ‒ und ja ‒ auch zu Gott.[1]

‹In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden. Mein Heilmittel kenne ich jetzt. Ich brauche mich nur in einer Ecke auf dem Boden zu hocken und zusammengekauert in mich hineinhorchen. Mit Denken komme ich da nicht weiter. Denken ist eine schöne und stolze Beschäftigung, aber aus schwierigen Gemütszuständen kann man sich nicht ‹herausdenken›. Dazu muss man anders vorgehen. Man muss sich passiv verhalten und horchen.›

Mir ging es da ähnlich wie Etty. Während meiner unzähligen Kontrolluntersuchungen besuchte ich öfter die Krankenhauskapelle. Ich bemerkte, dass in der Stille dieses Raumes mein Stress nachließ und ich langsam ruhiger wurde. Sogar meine Ängste gingen etwas zurück.

(29:34) Etty fand im Gebet eine Quelle der Ruhe, der inneren Freiheit und der Inspiration. Je öfter ich ‹Etty› spielte, desto tiefer drangen ihre Einsichten in mich ein. So etwas hatte ich vorher noch nie empfunden.

‹Und dann Gott. Ich ‒ Etty, das Mädchen, das nicht knien konnte und es dann doch lernte auf einer rauhen Kokosmatte in einem unordentlichen Badezimmer. Aber diese Dinge sind fast noch intimer als die sexuellen. Ich knie, die Hände vor dem Gesicht und spüre: Die einzige Gewissheit, wie du leben sollst und was du tun musst, kann nur aus dem Brunnen aufsteigen, der aus deiner eigenen Tiefe quillt. Ich werde durch etwas zu Boden gezwungen, das stärker ist als ich selbst. Ich übe mich im Knien. Ich geniere mich noch zu sehr wegen dieser Gebärde, die ebenso intim ist wie die Gebärden der Liebe, über die man auch nicht sprechen kann, wenn man kein Dichter ist.›

Auch ich entdeckte, dass das Niederknien eine besondere Wirkung auf mich hatte, mich beruhigte. Das erinnerte mich sehr an Etty: ‹Ich übe mich im Knien.›

Als ich bei einer der nächsten Untersuchungen die Kapelle aufsuchen wollte, war sie versperrt, da sie gerade renoviert wurde. Ich konnte nur von außen durch die Glastür hineinschauen. Aber mir gefiel der plastikverpackte Christus. Zu meiner Überraschung beruhigte mich auch dieser Anblick, als würde mein eigener Stress und meine Angst auch ein Stück weit eingepackt.

(32:52) Wenn du nach einer so krassen Chemo und der anschließenden Stammzellentransplantation wochenlang auf der Isolierstation liegst, dann kannst du kaum mehr noch etwas essen, ohne dich zu übergeben. Du wirst künstlich ernährt. Deine Schleimhäute und dein ganzer Körper tun so weh, als hätte man dich mit Säure verätzt. In dir ist nur Schmerz, Übelkeit und tiefe Erschöpfung.

In dieser absoluten Ohnmacht begann ich zu beten. Ja, ich versuchte wie Etty zu beten. Natürlich weiß ich, dass das schöne schlichte Wort ‹beten› ziemlich aus der Mode gekommen ist. Ja, dass es sogar seit den unerträglichen Missbrauchsskandalen der Kirche geradezu verpönt ist. Viele Menschen verwenden deshalb heute lieber Bezeichnungen wie meditieren oder in Stille sein. Ich möchte jedoch beim alten schlichten Wort ‹Beten› bleiben. In meinem Schmerz, in meiner Ohnmacht, in meiner Wut und in meiner Verzweiflung versuchte ich zu beten. Oft war es auch ein Beten jenseits der Worte. Ein Stillwerden angesichts meiner Kraftlosigkeit und Erschöpfung. Auch das erinnerte mich an Etty.

‹Wörter wie Gott, Tod, Leiden und Ewigkeit muss man wieder vergessen. Man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das wachsende Korn oder der fallende Regen. Ausschließlich nur noch sein.›

In denen sich hinziehenden Nächten auf der Isolierstation erlebte ich das Gebet als etwas sehr Persönliches. Als ein sehr intimes Gespräch mit dem großen Du. Oft fühlte ich mich dann leichter, ruhiger und in manch schwerer Nacht auch ein Stück weit getragen. Aber es kamen auch Zweifel in mir hoch. Und so stellte ich Bruder David die Frage, ob es angesichts des unendlichen Leidens auf dieser Welt überhaupt Sinn macht zu beten?»

(35:48) Bruder David: «Nichts anderes hat Sinn, als zu beten. Aber ich würde gerne beten vielleicht anders ausdrücken oder zusätzlich noch etwas sagen, damit es auch Menschen zugänglich wird, für die beten ein schwieriges Wort ist. ‹Beten› kann man auch in anderen Worten ausdrücken, die vielleicht verständlicher und zugänglicher sind für Menschen, denen das Wort beten nicht so richtig passt. Wir alle kennen das Erlebnis, dass wir eines Tages in der Früh besonders freudig aufwachen, es ist ein schöner Tag, und unsere eigene Freude schenken wir weiter an andere. Ganz spontan. Wir können das aber auch üben und an Tagen, an denen wir uns nicht so besonders gut fühlen, auch bedenken, dass auch heute das Leben uns einen ganzen Strom von guten Dingen schenkt, sonst können wir nicht einmal atmen, wir können nicht einmal gehen oder sehen oder hören. Es sind alles Geschenke des Lebens. Und bewusst dieses Geschenk weiterschenken. Und das ist Segnung. Der Segen, den kann man sich vorstellen wie den Blutstrom des Universums. Er fließt durch uns durch. Wir können ihn weitergeben. Und wenn man das für jemanden kurz sagen will, der diese Sprache versteht, dann sagt man einfach: Ich bin dankbar für Gottes Gaben und schenke sie weiter. Und das braucht man nicht nur in der Gegenwart von andern, sondern in meinem Herzen kann ich allen Menschen in der Ukraine Liebe und Zuversicht und Lebenskraft und Mut und Ausdauer schicken. Das Leben schenkt es mir und ich lasse es weiterfließen in dieser Richtung. Dankbar für das Herz des Lebens. Das göttliche Herz des Universums, das mir das alles schenkt.»

(38:43) Bettina Buchholz: «Wenn deine Leukozyten und Thrombozyten durch die Chemo und die Stammzellentransplantation verrücktspielen, dann nimmst du Bruder Davids Satz vom Segen, der durch dich hindurchströmt wie der Blutstrom des Universums noch einmal viel tiefer und deutlicher wahr.

Überraschenderweise sprach auch mein Therapeut Harry Merl mit mir über die Möglichkeit des Betens. Er machte mich darauf aufmerksam, dass auch ich beten könnte, wenn mich die Todesangst oder die Ohnmacht zu überwältigen drohen.»

Harry Merl: «Es gibt Situationen, wo man nichts anderes mehr kann als beten. Und man kann’s ja probieren. Es ist ja keine Verpflichtung, es ist ja keine Bindung, aber es ist eine Möglichkeit, weil: Gott ist immer zur Verfügung, wenn man niemanden mehr hat, dann ist er da.»

(39:52) Bettina Buchholz: «Es fiel mir anfangs sehr schwer, den Ärzten im Krankenhaus auf Augenhöhe zu begegnen. Das Machtgefälle zwischen mir als Krebspatientin und meiner Onkologin schien mir oft unüberwindbar zu sein. Mir schwirrte jedes Mal buchstäblich der Kopf von den vielen medizinischen Fachausdrücken und den Namen der verschiedenen Zytostatika. Und dann sollst du auch noch in Minutenschnelle die richtigen Fragen stellen und vor allem die richtigen Entscheidungen treffen. Ich wollte ja nicht, dass meine Onkologin im Alleingang über meine Therapie entscheidet, sondern dass es ein gemeinsames Abwägen und vor allem Hinhören wird. Ja, in solchen Situationen fühlte ich mich schnell ohnmächtig, und ja, auch klein, schwach und hilflos. Mein ‹sogenannter› Selbstwert schrumpfte zusammen wie eine verschrumpelte Zitrone. Und ich spürte leider sehr deutlich, dass ich an meiner Durchsetzungskraft arbeiten musste, um im ärztlichen Gespräch überhaupt gehört zu werden, und um zu mir und meinen eigenen Entscheidungen stehen zu können.

Geholfen hat mir da ein Seminar des Psychotherapeuten Alois Saurugg mit dem passenden Titel «Kommunikation und Selbstwert». Alois ist ja leider im vergangenen Frühjahr gestorben. Aber sein Seminar wirkt immer noch in mir nach. Alois machte mir bewusst, wie wichtig ein höherer Selbstwert für jeden Menschen ist.»

Alois Saurugg: «Insofern ist mir so wichtig, Menschen wirklich zu unterstützen auf der Suche ihrer eigenen Wichtigkeit eigentlich und auch ihrer eigenen Würde. So….., wie ist es möglich, dass Sie Zugang finden zur Wahrheit ihres Herzens, ja, um dann zu wissen, das und das würde mir wirklich gut tun und das ist auch so. Je mehr Bewusstsein von Würde im Menschen ist, umso mehr kann er auch in der Kommunikation viel kreativer und erfolgreicher damit leben.»

Alois schenkte mir zum Abschied einen Text von Virginia Satir. Sie ist die Begründerin der Familientherapie. Auch Virginia wurde lange Zeit von ihren männlichen Kollegen, die allesamt Professoren und Doktoren waren, nicht für voll genommen und geringgeschätzt. Dabei war sie es, die den Zusammenhang zwischen der Kommunikationsfähigkeit eines jeden und seinem Selbstwert klar erkannte. Der Text von Virginia Satir trägt den schlichten Titel: ‹Wie ich dir begegnen möchte›:

‹Wie ich dir begegnen möchte:

Ich möchte mit Dir in Beziehung treten, ohne Dich einzuengen.

Dich wertschätzen, ohne Dich zu bewerten.

Dich ernst nehmen, ohne Dich auf etwas festzulegen.

Auf Dich zukommen, ohne mich Dir aufzudrängen.

Dir meine Gefühle mitteilen, ohne Dich dafür verantwortlich zu machen.

Dich informieren, ohne Dich zu belehren.

Mich von Dir verabschieden, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Mich an Dir freuen ‒ so wie Du bist.

Wenn ich von Dir das Gleiche bekommen kann,
dann können wir uns wirklich begegnen und uns gegenseitig bereichern.›

Das wäre doch schön, wenn Ärzte und Patienten so miteinander umgehen würden, oder? Dies würde doch die Arzt-Patient-Beziehung fundamental und nachhaltig verändern und wir hätten endlich eine Medizin, die sich am konkreten Menschen und seinen Bedürfnissen orientiert.»

(45:00) Hannah: «Ich fahre jeden Tag mit einem Bus der Linie 27 zur Schule. Manchmal belausche ich die Gespräche der Erwachsenen. Immer öfter höre ich, wie sie darüber sprechen, dass wir eh nichts gegen die Umweltzerstörung und den Klimawandel ausrichten können. Das regt mich jedes Mal furchtbar auf. Ich traue mich jedoch nicht, sie anzusprechen. Am liebsten würde ich ihnen ins Gesicht schreien: ‹Ich bin 14 Jahre alt und ich möchte genauso wie ihr, als ihr jung wart, in einer intakten Natur leben und nicht mit so vielen schlimmen Klimakatastrophen. Ich möchte, dass alle mithelfen, diese Welt zu retten. Jeder kann etwas dafür tun. Auch ihr! ›

Mama stellte Bruder David die Frage, wieso Erwachsene dennoch so passiv sein können? Und wie man sie doch noch dazu bringen könnte, mehr an den Klimaschutz zu denken und so die Klimakatstrophe zu verhindern oder wenigstens zu verringern.»

(46:07) Bruder David: «Die Aufgaben, die vor uns stehen heute, sind so groß, dass es recht verständlich ist, wenn jemand fast verzweifelt und meint, ich kann einfach nichts dazu beitragen, persönlich. Aber jede und jeder von uns kann ein bisschen beitragen und zwar schon überhaupt die Frage zu stellen und immer wieder darauf zurückzukommen und immer wieder mit andern darüber zu sprechen. Schon das hält das Problem im Bewusstsein, und bevor wir das Problem in die Augen fassen, können wir ja gar nicht damit umgehen. Also das erste ist schon einmal Fragen zu stellen und andere immer wieder darauf aufmerksam zu machen.»

(47:07) Hannah: «Ich will versuchen, mutiger zu werden und mich mehr und mehr trauen, den Menschen Fragen zu stellen. So wie es Bruder David vorgeschlagen hat. Aber ehrlich gesagt, war ich doch etwas enttäuscht. Konnte Bruder David nicht doch etwas Konkreteres vorschlagen, was die Menschen wirklich jetzt, gleich, tun können? Ich will, dass Veränderungen schnell stattfinden. Und warten zählt nicht gerade zu meinen Stärken. Aber unsere Erde hat keine Zeit mehr zum Warten.»

Bruder David: «Wir wissen alle, dass zum Beispiel Fleischgenuss sehr viel zum Klimawandel beiträgt. Die Abgase von den Zuchttieren verschmutzen die Atmosphäre viel mehr als alle benzinverbrauchenden Fahrzeuge, also Autos und Flugzeuge usw.. Also wir wissen, wenn wir den Fleischgenuss ein bisschen zurückschrauben ‒ man muss ja nicht plötzlich Vegetarier werden ‒, aber etwas zurückschrauben, kann ich mir sagen: Heute habe ich etwas gegen den Klimawandel getan. Und wir können uns ein bisschen auf die Schulter klopfen.»

(48:54) Bettina Buchholz: «Bruder David wurde ja in eine jüdische Familie hineingeboren, die aus religiöser Überzeugung zum Christentum übergetreten war. Das hinderte jedoch die Nazis keineswegs daran, seine Familie zu verfolgen. Zum Glück konnte sich seine geliebte jüdische Großmutter rechtzeitig in die USA absetzen. Er, seine Mutter und seine Brüder überlebten, nach der Scheidung seiner Eltern, in einem kleinen Dorf hier in Österreich. Aber auch sie bekamen ‹Besuch› von den Nazis. Die Sache ging gottseidank glimpflich aus.

Nach dem Krieg emigrierte auch die restliche Familie in die USA. Dort trat Bruder David in ein Benediktinerkloster ein. Einige Jahre später übertrug ihm sein Abt die Aufgabe, einen echten und glaubwürdigen Dialog mit den Buddhisten und anderen spirituellen Traditionen Asiens aufzubauen. Heute ist Bruder David ein enger Freund S.H. des Dalai Lama. Er war auch mit Thich Nhat Hanh, dem Begründer des sozialen Buddhismus, sehr befreundet. Bruder David wurde für sein Engagement im Dialog der Religionen mit dem renommierten Martin Buber Award ausgezeichnet. Auch hier in Linz begegne ich Juden, Christen, Muslimen, Hindus und Buddhisten.

(51:16) Ich stellte Bruder David die Frage, ob spirituelle Menschen in besonderer Weise dem Klimawandel entgegenwirken können, da ihnen ja die Bewahrung der Schöpfung besonders viel bedeuten müsste?»

Bruder David: «Alle Menschen, die der Klimakrise entgegenwirken, sind spirituelle Menschen. Die spirituellen Menschen sind nicht eine besondere Sorte von Menschen. Spirituell kommt von spiritus das heißt Lebenshauch, Lebendigkeit. Im Lateinischen spiritus ist es der Lebensatem, und je lebendiger wir werden, um so mehr werden wir uns der Gefährdungen des Lebens bewusst. Also sind alle Menschen, die sich bewusst sind, dass wir vor solchen großen Gefahren stehen, spirituelle Menschen. Und je spiritueller wir werden, das heißt je lebendiger wir werden, um so mehr werden wir tun, um der Klimakrise entgegenzuwirken. Je mehr wir tun, um der Klimakrise entgegenzuwirken, um so mehr verdienen wir spirituell genannt zu werden.»

(52:46) Musik ‒ Gemälde der älteren Tochter Helene: ‹Meine Tochter Helene versuchte meine Krebserkrankung mit Malen zu bewältigen.›

(53:44) Bettina Buchholz: «Nach einundzwanzig mir unendlich lang erschienenen Tagen durfte ich endlich die Isolierstation verlassen. Mein Körper hatte Gottseidank eine Mindestanzahl an gesunden Zellen gebildet. Ich musste jedoch die nächsten acht Wochen zu Hause weiter in vollkommener Abgeschiedenheit leben und spezielle Hygienevorschriften einhalten.

In dieser Zeit las ich Rilke. Auch Bruder David liebt Rilke über alles. Es ist für mich als Schauspielerin jedes Mal eine Freude, ihn Gedichte von Rilke rezitieren zu hören. Du kannst spüren, wie sehr er jedes Wort durchdringt. Meiner Meinung nach ist Bruder David auch ein echter Künstler. Ich lese jetzt einfach mal jene Rilke Stelle vor, die mich in den Wochen der Isolation am meisten ansprach:

Wir wissens ja oft nicht, die wir im Schweren sind,
bis über’s Knie, bis an die Brust, bis an’s Kinn.

Aber sind wir denn im Leichten froh?
Sind wir nicht fast verlegen im Leichten?

Unser Herz ist tief,
aber wenn wir nicht hineingedrückt werden,
gehen wir nie bis auf den Grund.

Und doch,
man muss auf dem Grund gewesen sein.
Darum handelt sich
s.[2]

(56:16) Wenn du so viele Wochen abgetrennt bist von fast allem und jedem, dann stellst du dir die Frage, ob es für dich ein gutes Leben überhaupt noch geben kann? Und falls dies doch noch möglich wäre, wie denn so ein erfülltes Leben ausschauen könnte trotz der Isolation der Krankheit und den vielen Krisen, die es gegenwärtig auf dieser Welt gibt?»

Bruder David: «Wie kann ein erfülltes Leben ausschauen? Das ist eine sehr schöne Frage. Ich glaube, das deutsche Wort erfülltes Leben legt die Antwort schon nahe. Sehr oft im Leben haben wir das Gefühl der Leere. Da ist nichts, da fehlt etwas. Und wenn wir krank sind, dann sagen wir: Es fehlt uns etwas. Wenn nichts mehr fehlt, dann ist das Leben erfüllt. Dann ist es voll ‒ die Schale ist voll. Dann will sie überfließen. Und dieses Überfließen ist die Dankbarkeit.»

(57:35) Bettina Buchholz: «Für mich ist das ein sehr schönes Bild, das Bruder David hier in den Raum stellt. Ich wäre gerne öfter so eine volle Schale, die nichts zurückhält, sondern dankbar überfließt. Wahrscheinlich geht es vielen von uns so.

Wenn du so eine anstrengende Krebsbehandlung erlebst, dann ist die Müdigkeit dein ständiger Begleiter. Doch ich wollte Bruder David noch eine allerletzte Frage stellen, obwohl ich ahnte, dass seine Antwort länger und vielschichtiger ausfallen könnte.

Ich hatte sein neuestes Buch mit dem Titel Orientierung finden mit großem Interesse gelesen, aber ich hatte es auf Grund seiner Komplexität nicht ganz verstanden, nicht ganz erfassen können. Also stellte ich ihm zum Schluss die Frage, ob er nicht für mich in ein paar Sätzen zusammenfassen könnte, wie man heute, in dieser so widersprüchlichen Welt, doch noch so etwas wie Orientierung und Erfüllung finden könnte?»

(58:37) Bruder David: «Ich habe ein ganzes Buch schreiben müssen, um das auszudrücken. Aber wenn ich’s in einem Satz zusammenfassen soll, ist: Lebensvertrauen ‒ dem Leben vertrauen. Das Leben ist vertrauenswürdig. Wenn wir dem Leben ‒ das heißt, dem großen Du, dem wir in jedem Augenblick des Lebens gegenüberstehen ‒, wenn wir dem vertrauen, erweist es sich vertrauenswürdig.

Das kann man leicht sagen, glauben kann man es nur, wenn man es ausprobiert. Auch in den schwierigsten Situationen immer wieder dem Leben vertrauen und hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir? Was schenkt mir das Leben? In jedem Augenblick schenkt uns das Leben etwas. Aber diese Gabe ist zugleich Aufgabe. Und das zu üben, immer wieder zu üben, das ist worauf es ankommt im Leben, scheint mir. Man kann es natürlich auch Liebe nennen, aber Liebe ist so ein schwieriges Wort, weil es so viel missbraucht und missverstanden wird. Aber wenn man unter Liebe das gelebte Ja zur Zugehörigkeit versteht ‒

Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Und Liebe ist dann, worauf es im Leben ankommt. Und Liebe bezieht sich auf jeden Menschen, jedes Tier, jede Pflanze, den ganzen Kosmos und letztlich auf das Herz des Ganzen. Denn das Ganze hat ein Herz. Und das erlebt man eben auch nur, wenn man sich darauf verlässt. Aber wenn man sich darauf verlässt, fühlt man den Herzschlag des Universums in unserem eigenen Herzen.»

(01:01:06) Nach dieser intensiven Stunde mit Bruder David verspürte ich trotz meiner Müdigkeit so etwas wie eine aufkeimende Zuversicht, einen wachsenden Mut und ja ‒ auch wieder Lebensfreude. Und ich spürte wirklich so etwas wie den Herzschlag des Universums in mir. Dies alles möchte ich in mir bewahren trotz der Scheißkrankheit, der voranschreitenden Klimakrise und des furchtbaren Krieges. Ich wollte mich gerade bei Bruder David herzlich und inniglich bedanken, aber da hatte bereits er das Wort ergriffen:»

Bruder David: «Ich wollte gerade noch sagen: Erstens danke ich euch für das wunderbare Werk, das ihr da tut, weiterhin, trotz dieser Behinderung. Und ich wollte dir sagen, dass ich für dich bete ‒ schon seit ich davon von dir gehört habe, und es auch weiterhin gerne tue. Und jetzt weißt du auch wie: Recht viel Lebenskraft schicke ich dir zu. Und Mut und Vertrauen. Und ich weiß, wie schwer das sein kann. Ich wünsche dir alles, alles Gute.»

Bettina Buchholz: «Danke, lieber Bruder David. Und Danke auch allen hier, die ihr zugehört habt. Versuchen wir alle, gut auf uns selber zu schauen. Und schauen wir gleichzeitig auf die Menschen um uns herum, die unsere Hilfe brauchen. Und noch etwas: Schauen wir doch gemeinsam auf diese so verletzliche und zugleich so wunderbare Erde. Sie ist unsere Mutter. Und sie ist das Zuhause unserer Kinder und Kindeskinder.»

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[1] Etty Hillesum: ‹Das denkende Herz: die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943›, hrsg. und eingeleitet von J. G. Gaarlandt; aus dem Niederländischen von Maria Csollány (= rororo, Bd. 15575), Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 282018

[2] R. M. Rilke im Brief an den Schriftsteller Arthur Holitscher vom 13. Dezember 1905

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