Br. David Steindl-Rast OSB
Von Adam zu Jesus und der springende Punkt im biblischen Schöpfungsbericht
Der Mensch ist nun im biblischen Schöpfungszusammenhang das Herz dieser Schöpfung. Während nämlich alles Übrige von Gott ausgesprochen wird, wird der Mensch innerhalb dieses Ausgesprochenen angesprochen. Der Mensch, wie Ferdinand Ebner dies sagt, ist der im Ausgesprochenen Angesprochene. Er ist angesprochen, er ist aufgerufen, er ist sich selbst geschenkt. Als der Ausgesprochene ist er ein Wort Gottes. Aber er ist zugleich der Angesprochene, von dem Gott erwartet, dass er ihm Gehör schenkt. Er ist aufgerufen zu antworten. Und nun finden wir im biblischen Bericht, dass Adam nicht vom Worte Gottes lebt. Und daher muss er sterben. Denn sein Leben ist ja das «Vom Worte Gottes leben», und wenn er nicht vom Worte Gottes leben will, wenn er in Ungehorsam fällt, so muss er sterben. Man kann ja nur vom Worte Gottes leben. Nicht weil Gott irgendwie willkürlich die Todesstrafe ansetzt, sondern weil eben das Leben des Menschen, das wahre Leben des Menschen, das «Von Gottes Wort leben» ist. Und so ist jedes Sich-dem-Wort-Gottes-Verschließen schon beginnender Selbstmord. Daher ist der Lohn der Sünde der Tod (Röm 6,23).
Aber Gottes Plan erreicht doch sein Ziel; das ist die Frohe Botschaft. Man könnte sagen: Gott erreicht sein Ziel trotz des menschlichen Widerstandes; aber es wäre vielleicht besser und mehr im Sinne der ganzen Heilsgeschichte, zu sagen, dass Gott sein Ziel erreicht unter Verwendung des Widerstandes. Theodor Haecker beschreibt es einmal sehr schön, dass der menschliche Künstler mit immer widerstrebenderem Material arbeite: mit Ton, mit Holz, mit Stein, mit Erz – Gott aber mit dem allersprödesten Material, dem freien Willen des Menschen. Und so, wie das große Kunstwerk auch das Material mitsprechen lässt, so zeigt sich in der Heilsgeschichte, dass Gott, «auch die Sünden», wie Augustinus sagt, miteinbezieht. Gott erreicht sein Ziel – und das ist nun die Frohe Botschaft der Bibel – in Jesus.
Die Erlösung wird ja, wenn wir die Bibel richtig lesen, keineswegs als eine Art Flickwerk dargestellt, sondern als Vollendung der Schöpfung. In Jesus wird der Mensch endlich völlig erschaffen. Es ist eine recht unzulängliche Auslegung, dass Gott zuerst einen Versuch macht, der misslingt; dann flickt er halt alles wieder zusammen und macht noch einmal einen Versuch, und der zweite Versuch gelingt im zweiten Adam. Wenn wir es richtig sehen, so beginnt die Schöpfung des Menschen mit dem ersten Adam und ist vollendet im zweiten Adam, in Jesus, in dem Menschen schlechthin. Es ist alles aus einem Stück. Jesus ist Wort und Offenbarung Gottes als der erste richtige Mensch, könnten wir sagen. Er ist der erste erfolgreiche Mensch; erfolgreich von beiden Seiten her, von der Seite Gottes und von der Seite des Menschen. Gott erschafft ja den Menschen nicht von außen, sondern nur unter Mitwirkung des Menschen selbst. Das ist die Freiheit des Menschen. Jesus ist also die Höchstleistung Gottes in der Schöpfung und zugleich die Höchstleistung des Menschen. Die beiden sind untrennbar miteinander verbunden.
Jesus ist der neue Adam – in einem sehr tiefen Sinn; der alte Adam war gewissermaßen schon alt am ersten Tag. Er war der, der sich nicht auf Abenteuer einlassen wollte. Es scheint vielleicht, dass Adam, der die Hand ausstreckt nach der Frucht, sich dabei auf ein Abenteuer einlässt, aber in Wirklichkeit versucht er dadurch dem eigentlichen Abenteuer des Gehorsams zu entgehen. Er streckt die Hand aus; er will sein eigenes Schicksal manipulieren, anstatt zu vertrauen; das ist die Bemühung um eine doch noch letzte Sicherheit vor dem lebendigen Gott. Es ist bezeichnend, dass in der christlichen Ikonographie zweimal dieses Ausstrecken der Hand bedeutsam wird: das erste Mal, da Adam die Hand ausstreckt nach der Frucht; das zweite Mal, da Judas die Hand ausstreckt nach dem Bissen. Die anderen empfangen; er streckt die Hand aus; er greift nach dem, was ihm noch nicht angeboten ist. («Der mit der Hand mit mir in die Schüssel taucht …» ist die Schriftstelle, die darauf hinweist – Mt 26,23 – und dann von der Kunst so ausgelegt wird.) Auch Adam streckt die Hand aus; er reißt an sich, was Gott ihm schenken wollte, und zerstört es so. Er will sein wie Gott. Dazu wurde er ja erschaffen. Aber der Weg dahin führt über den Gehorsam. «Wiewohl er Gottes Sohn war, musste er doch durch Leiden Gehorsam lernen» (Hebr 5,8). Adam wollte das nicht. Er macht das Gott-gleich-Sein zum Raub. Jesus hingegen wird, gehorsam bis zum Tode» (Phil 2,8), und so erfüllt er, was es heißt, Mensch zu sein. Eben darin ist sein Gott-gleich-Sein verwirklicht.
Genau in diesem Sinn finden wir in den Evangelien Jesus als den Menschensohn. Wie nun etwa «Sohn des Friedens» in der biblischen Sprache einen durch und durch friedliebenden, Frieden ausstrahlenden Menschen bezeichnet, oder wie man sagen kann: «Sohn des Verderbens» und man damit einen durch und durch verdorbenen Menschen meint, so kann man sagen: «Sohn des Menschen» – «Menschensohn», und meint damit einen Menschen, der durch und durch menschlich ist. Wir sagen «Menschenskind». Menschensohn ist einfach im biblischen Sprachgebrauch die Bezeichnung für einen Menschen – irgendjemand, jedermann. So bezeichnet sich Jesus, wenn er von sich als Menschensohn spricht, als Mensch schlechthin, als typisch menschlich. Der Prophet Daniel will uns schockieren, wenn er sagt, dass ein Menschensohn beim Thron Gottes steht, einer, der durch und durch menschlich ist. Es ist aber gerade diese Bezeichnung, die Jesus aufgreift (Dan 7,73; Lk 21,27).
Jesus ist der wahre Mensch, und das ist im Mund der Evangelisten nur eine andere Form desselben Themas, das Paulus unter den Titel des zweiten Adam stellt. Jesus kommt nun als der Menschensohn, als der Mensch, und sagt: Ihr seid gerettet. Weil einer es geschafft hat, seid ihr alle gerettet. Er kommt nicht, um uns zu sagen, was wir tun müssen, damit wir gerettet werden. Das wäre keine Frohe Botschaft. Es kamen ja schon viele, die uns sagten, was wir tun müssten, um gerettet zu werden, und wir konnten es doch nicht tun. Das Neue, das mit Christus anbricht, fasst Markus (1,1.5) ganz klar zusammen: «Die Zeit ist erfüllt» (jetzt). «Das Reich Gottes ist herbeigekommen» (hier). Ihr seid also erlöst. ,«Tut Buße und glaubt die Botschaft!»
Nun hängt alles daran, was wir darunter verstehen: «Tut Buße!» Es gibt eine weltliche Auffassung von Buße, und es gibt eine christliche Auffassung. Buße tun heißt umdenken. Dass wir das mit «Buße tun» übersetzen, ist etwas gefährlich, etwas zu weltlich. Die weltliche Auffassung von Buße ist alt: Wir haben etwas falsch gemacht, und wir müssen es jetzt so schnell wie möglich gutmachen. Das Beste was dabei herausschauen kann, ist Flickwerk, und auch das geling uns selten, wie wir wissen. Das Neue ist: Gott hat es getan! Es ist bereits geschehen. Wir sind erlöst. Wir müssen nur umdenken, neu denken. Es heißt nicht: Tut zuerst Buße, und glaubt danach! Sondern: Tut Buße, indem ihr umdenkt und glaubt, was zu gut scheint, um wahr zu sein. Die ganze Polemik zwischen Gesetz und Gnade steckt in diesem einen kleinen Satz: Denkt um und glaubt! Glauben ist Umdenken. Verlasst euch nicht darauf, was ihr als Buße tun könnt, um alles wieder zusammenzuflicken; das ist alles noch weltlich. Denkt wirklich um; glaubt, vertraut, verlasst euch auf die Frohe Botschaft: Einer ist gekommen, der es geschafft hat, der das geworden ist, was der Mensch sein sollte: Gottes Sohn. Es ist endlich Wirklichkeit geworden, und wir können alle daran teilnehmen durch unser gläubiges Leben.
Was sollte denn der Mensch von Anfang an sein nach dem biblischen Menschenbild? Wir sagten: angesprochen in der Schöpfung, im Ausgesprochenen; Gottes Sprache sprechend; aus reiner Gnade, als reines Geschenk, aber doch wirklich in Gottes Seinsweise versetzt: Sohn Gottes. Wie ist es nun im biblischen Schöpfungsbericht dargestellt, dass der Mensch in Gottes Seinsweise versetzt sei? Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht. Er gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.
Wenn Adam sündigt, versündigt er sich also gegen das Leben seines Lebens und lebt dadurch auf den Tod hin. Jesus, der im Gehorsam lebt, stirbt in die Fülle des Lebens hinein, wenn er im Gehorsam stirbt: die gegensätzliche Bewegung. Das Leben des einen Menschen, der es geschafft hat, der in die Fälle des Lebens hineinlebt und sogar hineinstirbt, in die Auferstehung hinein, ist Offenbarung. Hier wird der Sinn der Schöpfung endlich offenbar. Und wir sind nun eingeladen, durch den Glauben, durch gläubiges Vertrauen auf Jesus, einzutreten in diese jetzt wirklich neue Schöpfung. Jetzt ist alles vollkommen offen auf das Abenteuer, auf die Neuheit hin, und alles, was von uns verlangt wird, ist das Wagnis. Ohne Wagnis kein Abenteuer. Die Offenbarung in Jesus ist die Offenbarung dessen, was Gott für uns im Sinn hat: Fülle des Lebens aus dem Wagnis des Gehorsams. Das ist Erlösung. Das ist es also, was es heißt, Mensch zu sein: Gotteskind sein. Das ist es, was es heißt, Menschensohn zu sein: Sohn Gottes sein. Der erste, von dem im Neuen Testament ausgesagt wird, dass er Sohn Gottes sei, ist ja nicht Jesus, sondern Adam. «Adam, der Sohn Gottes», wie Lukas (3,38) sagt. Adam war dazu bestimmt, Sohn Gottes zu werden, wurde es aber nie, weil er nie Menschensohn, nie völlig menschlich wurde. […]
Sehr früh schon hat die christliche Theologie die kühne Formulierung ausgesprochen, dass Gott Mensch wurde, so dass der Mensch Gott werden möge. Noch früher hat Paulus als Ende der ganzen Heilsgeschichte in Aussicht gestellt, dass «Gott alles in allem» sein werde (1 Kor 15,28).
Quelle: Auszug aus dem Buch Die Frage nach Jesus, S. 9-67 Jesus als Wort Gottes (1973)