Interview mit David Steindl-Rast OSB im Einsiedler Anzeiger von Susann Bosshard-Kälin
Dank Vermittlung durch Pater Lukas Helg wurde kürzlich ein Treffen mit dem 98-jährigen, österreichisch-amerikanischen Benediktiner Bruder David Steindl-Rast im Großen Saal des Klosters Einsiedeln möglich. Der charismatische Mönch gilt weltweit als einer der großen lebenden Mystiker. Der promovierte Theologe, Philosoph und Anthropologe stammt ursprünglich aus Wien, lebte jahrzehntelang im Reformkloster Mount Saviour im Staate New York sowie als Eremit in der Kamaldulenser Einsiedelei an der Küste Kaliforniens, in Big Sur. Mit seinem interreligiösen Dialog inspiriert er weltweit Millionen von Menschen. Der wortgewandte, charismatische Bruder ist bei Oprah Winfreys Super Soul Sunday ebenso zu Gast wie bei TEDVorträgen – weit über 10 Millionen folgen ihm auf seinen Videovorträgen auf YouTube.
Besonderes Erlebnis an der Engelweihe in Einsiedeln
Bruder David Steindl-Rast lebt heute in der kleinen benediktinischen Gemeinschaft des Europaklosters Gut Aich in der Nähe von Salzburg; eine Wallfahrt brachten ihn und seine Mitbrüder kurz vor Pfingsten ins Kloster Einsiedeln.
«Ein spezielles Erlebnis verbindet mich in der Erinnerung noch heute mit Einsiedeln. Als Student weilte ich an der Engelweihe 1947 im Kloster und erfuhr, dass die Menschen im Land wegen anhaltender Dürre um Regen beteten. Während des frühmorgendlichen Stundengebets, der Matutin, hörte ich – als das Glockengeläute verstummte – plötzlich heftigen Regen aufs Klosterdach prasseln. Ein unvergessliches Erlebnis! In späteren Jahren hatte ich immer wieder guten Kontakt zu Pater Nathanael Wirth und war verschiedentlich für Vorträge und Workshops in der Propstei St. Gerold.»
Nach Jahren klösterlicher Kontemplation in den Vereinigten Staaten erhielt Bruder David in den 1960er-Jahren von seinem damaligen Abt in den USA den Auftrag, aktiv den Dialog zwischen Christentum und Buddhismus zu fördern. Er sammelte Erfahrungen bei diversen Zen-Meistern und praktiziert seither regelmässig; 1968 gründete er zusammen mit Rabbinern, Buddhisten, Hindus und Sufis in den Vereinigten Staaten das «Center for Spiritual Studies».
Bruder David, Sie haben sich mit vielen Religionen der Welt beschäftigt. Entdeckten Sie da so etwas wie einen «roten Faden»?
Ja. Die menschliche Ur-Religiosität ist eindrücklich. Ich vergleiche sie mit einem unterirdischen Wasserreservoir. Jede Religion zapft dieses Grundwasser mit einem eigenen Brunnen an. Überall fließt das gleiche Wasser. Aber in manchen Traditionen ist der Brunnen mächtig und aufwendig ausgebaut. Die Betonung liegt auf dem Brunnen. Aber: Das Wasser schenkt Leben, nicht der Brunnen! Die Weisheiten im frühen chinesischen Daoismus kommen, meiner Meinung nach, unserer menschlichen Ur-Religion am nächsten – mit einem schlichten Holztrog am Wegesrand. Das Daodejing (Tao Te King) des Laozi (Lao-Tse), das nach der Bibel am weitesten verbreitete Buch der Welt, wurde vor vier Jahren vom Schweizer Musiker und Autor Balts Nill ins Berndeutsche übersetzt. Mit ihm zusammen übertrug ich es nun ins Hochdeutsche und verfasste kurze Anregungen zu den 81 Weisheitstexten.
Sie leben seit fast einem Jahrhundert. Wie hat sich Ihre persönliche Religiosität in diesem langen Leben entwickelt?
Die erwähnte Ur-Religiosität ist in meinem Leben zentral. Über sie denke ich nach, rede und schreibe darüber. Das spricht wohl viele Menschen an. Nicht wenige sind von Religionen enttäuscht. Ich denke, Religiosität macht uns zu Menschen. Wir sind diejenigen Geschöpfe, die sich mit dem großen Geheimnis, das wir (auch) Gott nennen, auseinandersetzen können. Leider geht die Ehrfurcht vor diesem großen Geheimnis, die Ehrfurcht vor dem Leben, immer mehr verloren – die Ehrfurcht auch vor anderen, die Ehrfurcht vor der Natur. Aber ich habe Hoffnung, weil das Leben voller Überraschungen ist und wir keine Ahnung haben. Das erfuhr ich in meinem langen Leben. So werden oft die größten Kalamitäten und Tragödien zur Geburt von etwas Gutem. So eine riesige, wir könnten fast sagen kosmische Tragödie, wie wir sie aktuell auf unserer Welt durchmachen, könnte so etwas sein wie ein schwarzes Loch – und auf der anderen Seite kommt ein neues Universum heraus! Wichtig ist mir auch, immer wieder zu betonen: «Fürchte dich nicht!» Angst ist unvermeidlich. Sie gehört zum Leben, drängt uns immer wieder in die Enge. Wenn wir mit der Angst mitgehen, führt sie uns in neue Bereiche. Wenn wir uns hingegen fürchten, sträuben wir uns. Angst ist ein Gefühl der Enge, Furcht ein Sich-sträuben! Das Gegenteil von Furcht ist Vertrauen, Ur-Vertrauen. Wenn wir immer wieder versuchen, mit Vertrauen auch auf die ärgsten Ängste zuzugehen, dann führen sie zu grösserer Fülle im Leben. Das ist in einer meiner Lieblingsstellen im Evangelium überliefert: «Ich aber bin gekommen, damit sie das Leben haben – Leben in ganzer Fülle» (Jo 10,11).
Bruder David Steindl-Rast, vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre inspirierenden Gedanken.
Quelle: Einsiedler Anzeiger vom 17. Mai 2024