Von Chungliang Al Huang

Während unserer mehr als zwanzigjährigen engen Freundschaft haben Bruder David und ich in unserer Zusammenarbeit viele kühne Visionen geteilt. Dankbarkeit war immer der Mittelpunkt in unserem Bewusstsein sowohl in unserer gleichgerichteten Arbeit wie in unserem Leben.

Ich wurde während der turbulentesten Zeit in China geboren, als Japan mit seiner rücksichtslosen Invasion begann. Um Haaresbreite entging unsere Familie dem unrühmlichen Nan Jing Massaker. Innerhalb einer Woche nach meiner Geburt flüchtete meine Familie von Shanghai unter konstanter Luftbombardierung nach Hongkong; dabei erlitt unser Flüchtlingsboot in einem fürchterlichen Taifun Schiffbruch. Wie durch ein Wunder wurde unsere gesamte Familie, die drei Generationen umfasste, gerettet und fand in den kleinen Dörfern von Südchina Schutz. Eines der ersten Wörter, die ich als Kind hervorbrachte, war «Dankbarkeit». Das lernte ich durch die täglichen Gebete unserer Familienältesten, angefangen bei unserer Großmutter, die eine echte Matriarchin war, bis hinunter zu unseren Hausangestellten. Nie werde ich den glückseligen «Boddhisattva/Kwanyin»-Ausdruck meiner Großmutter vergessen, wenn sie uns Kinder sanft daran erinnerte, immer dankbar zu sein für das, was wir während jener vom Krieg erschütterten Jahre empfangen durften. Verglichen mit dem Luxus, der unserer sehr privilegierten Mandarine-Familie aus der Oberschicht eigentlich zustand, war unser Lebensstandard verringert auf das Allernotwendigste. Wir liefen barfuß und aßen, was auf den Feldern erhältlich war. Wir überlebten mit minimalem Komfort in Tempeln und in barmherzigen Dorfgemeinschaften. Wir lernten, unser Schicksal anzunehmen, und waren dankbar, dass unsere Familie zusammenbleiben durfte, und dass wir unter einfachen und guten Leuten lebten, die so freundlich und liebevoll zu uns waren. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Klassenschranken, die zu anderen Zeiten unüberwindbar waren, wurden durchbrochen. Wir alle waren ein vereintes chinesisches Volk auf festem Boden, der für alle gleich war, und gemeinsam kämpften wir mit vereinten Herzen und vereintem Verstand für unser Überleben, um den eindringenden Feind zu überwinden. Unser Vater, ein junger General mit Befehlsvollmacht an der militärischen Front, brachte es fertig, die Familie immer rechtzeitig zu alarmieren, damit sie sich weiter ins entfernte Hinterland zurückziehen konnte, in das die Japaner nicht eindringen konnten. Wir haben es als eine Familie geschafft, während der acht langen Jahre des Widerstandes in Frieden und Harmonie in aller Einfachheit zu leben; trotz aller Entbehrungen und der Plünderungen im Zuge des Krieges. Immer wieder lernten wir, sehr dankbar zu sein. Und, weil wir gezwungen waren, die Städte zu verlassen, lernten wir die einfachen Freuden der chinesischen Landschaft kennen und schätzen. Wir lernten die Schönheit der Natur und die bewundernswerten Tugenden der Genügsamkeit zu ehren. Wir lernten, die Güte und warme Menschlichkeit der Landarbeiter zu schätzen, die eigentliche Grundlage der chinesischen Zivilisation.

Ganz allgemein gesprochen, stimmen wir wohl alle darin überein, dass Dankbarkeit unser wahrhaftigster Segen ist. Und doch fahren wir in dieser gestörten Welt fort, Neid, Ungerechtigkeit, Leiden und Unglück zu erzeugen! Es ist Zeit, das zu überdenken und zu ändern. Die Welt ist aus dem Gleichgewicht. Die Extreme spalten uns auf, anstatt uns zu vereinen. Die Mitte ist aus dem Lot. In meiner persönlichen täglichen Betrachtung kann ich auf meine chinesische Erziehung zählen, in der mir die Praxis der Bewegungsmeditation Tai Ji vermittelt wurde. Sie basiert auf der Integration des Yin-Yang-Gleichgewichts, des Gleichgewichts zwischen Körper, Verstand, Herz und Geist. Ständig wird dabei das Entgegengesetzte wieder vereint, sowohl in äußeren Abläufen wie auch in innerer Harmonie. Das Tao von Tai Ji ist der Lebenstanz, der die Vielzahl der kontrastierenden Elemente berücksichtigt und damit sämtlichen Wirklichkeiten des Lebens gerecht wird. In diesem Tanz des Tao sind wir dankbar für alle Dinge, unabhängig von ihren äußerlich entgegengesetzten Erscheinungen: Krieg und Frieden, Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Schwarz und Weiß, Tag und Nacht, jung und alt, männlich und weiblich, Osten und Westen, reich und arm, hoch und niedrig, etc. ...

Das lernen wir auch in der chinesischen Philosophie, in der «jede Krise sowohl eine Gefahr wie auch eine Gelegenheit ist». Der Tanz des Lebens vereint sämtliche dynamischen und kontrastierenden Kräfte, die wir alle schon erfahren haben. Und ich bin äußerst dankbar, in dieser Welt lebendig zu sein, trotz aller Mühen.

Ich erinnere mich an den Anschlag für das gemeinsame Seminar zum Thema «Body Poetry: East and West» («Körper Poesie: Ost und West»), das Bruder David und ich während mehrerer Jahre im Esalen Institut in Big Sur durchführten. Wir haben es damals so angekündigt: «Die alten taoistischen Weisen, die berühmt waren für ihr Leben in Harmonie mit der Natur und ihre Langlebigkeit, wären einverstanden gewesen mit dem Christuswort: ‹Ich bin gekommen, damit du leben kannst.› Leben im Überfluss. Indem wir achtsam werden auf unsere Lebensrhythmen, durch Natur, Poesie und Bewegung wachsam werden, können wir lernen, auf neue Art und Weise unsere angeborene Kreativität wiederzuerwecken. So erfahren wir Körper und Seele mit erneuerter Freude. Das Ziel ist, völlig lebendig zu werden und das Leben zu feiern!»

Ich feiere mit Bruder David das Geschenk unserer so reichlich vorhandenen kreativen Lebenskraft. Und wir feiern die Gabe, dankbar zu sein!




Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 172-174
© Chungliang Al Hung (2006)

Chungliang Al Huang, *1930 in Shanghai, China, ist Tai Ji Meister, Philosoph, Kalligraph und Flötenspieler. Er stammt aus einer alten aristokratischen chinesischen Gelehrtenfamilie. Studium der Architektur, Kulturanthropologie und Choreographie. Bis 1971, Lehrtätigkeit an der Universität von Illinois. Mitglied der World Academy of Arts and Science, Stockholm. Präsident der Living Tao Foundation, Ost-West-Synthese/kulturübergreifende Kommunikation. Direktor des Lan Ting Institute in den Wu Yi Bergen, China. Veröffentlichung zahlreicher Bücher und Lehrvideos.

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