AUDIO Vorträge

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Würde lebt von Verbundenheit (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (22:27-37:25)
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


«Daraus ergeben sich jetzt Fragen für uns alle: Wie habe ich Zugang gefunden zu meinem Bewusstsein von Würde, wie habe ich es gelernt, was waren die Hindernisse, es zu lernen, was hat mir gefehlt, was hat es erleichtert, was hat es erschwert? Und das ist schon wichtig, dass jede und jeder von euch sich das überlegt: Was bedeutet mir Würde ganz persönlich? Wie erlebe ich sie?

Und jetzt kommen wir zum zweiten Schritt, zur begrifflichen Klärung, die auch notwendig ist, und da ist wieder die Zugehörigkeit und der unbedingte Eigenwert. Beides kommt zusammen, also nicht bloss Zugehörigkeit oder Zugehörigkeit unter der Bedingung, dass man sich anpasst.

Nachdem diese beiden Dinge zusammengehören, müssen wir nachdenken über unsere eigene Zugehörigkeit und unsere eigene Eigenart. Denn ich habe bemerkt, dass ich selber, und offensichtlich sehr viele Menschen, gar nicht gründlich über diese beiden Dinge nachdenken. Es ist uns wirklich kaum bewusst, wie eng vernetzt wir sind.

Unsere Zugehörigkeit ‒‒ da ist so viel, was man lernen und worüber man nachdenken muss ‒, zum Beispiel: Wie stark die Familie, der wir angehören, eine Einheit ist, ohne dass wir es wollen, auch wenn sich alle zerstritten haben, und zwar nicht die Familie, die lebt, sondern auch, wie eng wir mit unsern Vorfahren verbunden sind: Wir sind einfach unsere Vorfahren um diese Zeit der Geschichte. Wenn man darüber nachdenkt, wenn man das ein bisschen durchfühlt, alte Fotografien anschaut, dann wird einem das mehr bewusst.

Ich habe einmal eine Cousine von mir nicht erkannt, als ich in der Straßenbahn fuhr. Ich war damals sechszehn Jahre alt und sie hatte mich zuletzt gesehen im Alter von sechs Jahren. Ich schaute auf die Uhr und im Augenblick hat sie gewusst, wer ich bin: So hat nur mein Vater auf die Uhr geschaut.

Es ist unglaublich, wie eingebettet wir sind, und das geht weiter zurück bis zu unseren vormenschlichen Vorfahren. Die Wissenschaft sagt, dass wir alle nur von fünf oder sechs Urmüttern abstammen: Wir sind alle verwandt. Dieser Verbundenheit, der kann man mal schon nachfühlen.

Dann unsere Verbundenheit zur Erde. Das darf nicht so nur da oben im Gehirn bleiben, das muss erlebt werden: Wir essen Erde ‒ nur Erde, in verschiedenen Formen, aber es ist immer Erde; wenn es Rindsbraten ist, das ist Erde: zuerst einmal Klee, und der Klee wurde vom Rindvieh gefressen und verarbeitet und wir fressen das Rindvieh: Wir essen Erde und werden zu Erde. Wir sind Erde ‒ Wasser hauptsächlich ‒ und werden wieder zu Erde. Auch was wir täglich essen, ist Erde. Wir sollten uns einmal wirklich vor den Teller setzen vor dem Tisch und sagen: Erde. Manches ist direkt Erde, wie das Salz, anderes ist ein bisschen weiter entfernt, aber wir sind völlig in diesem Kreislauf drin.

Alles wäre anders, undenkbar anders, wenn ein kleines Stückchen der Geschichte anders gekommen wäre. Wenn die Römer nicht in die Schweiz gekommen wären, wie würde die Schweiz jetzt ausschauen? Wie würden Schweizer sich jetzt benehmen? Wir sind mit allem verbunden, was sich in der Geschichte je ereignet hat, dadurch, dass es uns beeinflusst. Wir schauen auf alte Gebäude: die haben Menschen gebaut und bewohnt, die uns beeinflussen, sonst wären wir nicht, wer wir sind.

Und wir sind auch physisch verbunden mit allen Menschen, die je gelebt haben. 1% der Luft, die wir atmen, ist Argon. Das ist ein Edelgas, das heißt, es geht keine Verbindungen ein. Der Prozentsatz bleibt mehr oder weniger gleich durch Jahrtausende. 1% der Luft ist ziemlich viel, eine unvorstellbare Menge von Argon Atomen, die wir mit jedem Atemzug einnehmen. So viele, dass statistisch gesprochen, du von jedem Menschen in der Geschichte ‒ Cicero und Cäsar, Wilhelm Tell, wenn er gelebt hat ‒ in jedem Atemzug mindestens ein Argon Atom einatmest, das auch Wilhelm Tell eingeatmet hat. Schon rein physisch sind wir verbunden mit der ganzen Geschichte. Wir gehören dazu, aber das muss man sich eben bewusst machen.[1]

Oder wir können uns jetzt anschauen, was wir an uns tragen an Kleidung. Wo kommt sie her? Wie viele tausende und abertausende Menschen haben daran gearbeitet, diese Baumwolle zu pflanzen, zu ernten, zu spinnen, zu transportieren, zu designen: Was da alles hineinkommt für jedes kleinste Kleidungsstück, das wir tragen. Durch jedes Kleidungsstück sind wir verbunden mit abertausenden von Menschen, deren Namen wir nie kennen werden, aber wir sind verbunden.

Mir fällt gerade ein, es gibt ein Kurzvideo auf YouTube,[2] wo Arbeiter, die Kakaobohnen ernten, zum ersten Mal mit Schokolade in Kontakt kommen. Diese Arbeiter haben keine Ahnung, was mit den Kakaobohnen, die sie ernten, geschieht. Zum ersten Mal bringt ihnen jemand ein Stück Schokolade und sagt ihnen, was aus ihren Kakaobohnen gemacht wird. Ganz berührend. Schon der Gesichtsausdruck: das sind arme Menschen, die schuften den ganzen Tag, und sie schmecken die Schokolade ‒ die haben uns ja die Schokolade gebracht ‒, wo kommt sie denn her? Wie oft denken wir daran, wenn wir Schokolade essen? Und so ist es mit jeder Speise. [3]

Und all die verborgenen Dienstleistungen: Kennen wir die Leute, die den Müll abführen? Nur wenn er nicht abgeführt wird, wird uns bewusst, dass da normalerweise jemand ist, der den Müll abführt, der die Strassen reinigt ‒ jetzt vom Schnee ‒, wieder tausende und hunderttausende Menschen, von denen wir abhängen. Die ganze Nacht muss jemand im Elektrizitätswerk arbeiten, damit der Strom normal fließt. Wir drehen das Licht auf: Wer denkt da schon, dass da noch jemand dahintersteht, und zwar wieder tausende und abertausende.

Also, wenn wir uns diese Zusammenhänge auch gefühlsmäßig vergegenwärtigen, dann wird uns unsere Vernetzung und Zugehörigkeit noch viel mehr bewusst, und das ist eben einer der beiden ganz wichtigen Bestandteile der Würde.

Und da kommt dann herein, dass wenn jemand ‒ auch in der Familie ‒ sagt, mir wurde nie bedingungslose Liebe erwiesen ‒ ich wurde immer geliebt, wenn ich gute Zeugnisse gebracht habe, das kann ich niemals nachholen ‒, das kann man nicht nachholen. Aber man kann das Bewusstsein der bedingungslosen Zugehörigkeit, das ja das Entscheidende ist, im Jetzt erleben, wenn man sich bewusst macht, wie wir alle vernetzt sind.

Die wichtigste Vernetzung ist die Ermunterung, die wir durch andere Menschen erfahren. Und wenn jemand sagt: Ermunterung? Ich erlebe nie eine Ermunterung ‒, da müsste man sich vorstellen, wie mein Leben ausschauen würde, wenn mich andere Leute nicht ermuntern würden. Nur schon ein Lächeln ermuntert die andern. Und eine Berührung.

Da hat man eine wissenschaftliche Untersuchung gemacht ‒ sehr überzeugend ‒, in der die Studenten mit einer Karte in der Mensa bedient wurden. Und manche Studenten hat die Frau, die sie austeilte, ganz leicht berührt. Und andere hat sie nicht berührt. Statistisch relevant in der Befragung später konnten sich alle, die sie nicht berührt hat, kaum mehr an sie erinnern. Und jene, die sie berührt hat, erinnerten sich genau: ‹Das war eine sehr nette Frau›.

So können auch wir so viel beitragen zu dieser Vernetzung, wenn wir nur unser unbenütztes Lächeln auspacken, und uns am Abend fragen, wieviel unbenütztes Lächeln habe ich noch übrig: Wir sind auch vernetzt dadurch, dass Menschen sich gegenseitig ermuntern.[4]

Wenn wir diese Vernetzung wirklich erleben, dann wird uns auch unsere Beziehung zu den Tieren und zu den Pflanzen viel mehr bewusst. Erstens sind wir Tiere ‒ menschliche Tiere, da gibt’s einen wichtigen Unterschied, aber trotzdem, wir sind Tiere in jeder Hinsicht ‒, wie es die lateinische Definition ausdrückt: Der Mensch ist ein ‹animal rationale›, ‹ein vernunftbegabtes Tier›.

Also zur Würde gehört auch unsere Beziehung zu den Tieren und die Würde der Tiere: dass die Tiere auch zu dem Ganzen gehören und ganz eigenartig sind: jedes Tier ist eigenartig. An den Haustieren merkt man das, den andern ist man nicht nahe genug, um das zu bemerken. Aber was für Menschen gilt ‒ unsere Einzigartigkeit und Zugehörigkeit ‒, gilt auch für Tiere, mutatis mutandis, aber es gilt.»

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[1] Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): ‹Wo stehen wir?›:

«Und tatsächlich sagt uns die Wissenschaft, dass wir mit jedem Atemzug ganz kleine Spuren von Edelgas einatmen. Zum Beispiel macht das Argon 1% unserer Atemluft aus. Da es keine Verbindung eingeht, ist es von allem Anfang an in der Luft gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach atmen wir daher mit jedem Atemzug Argonatome ein, die Buddha eingeatmet hat, und Jesus und Moses. Auch in diesem Augenblick hat jeder von uns Atome in sich, die jeder große Mann und jede große Frau der Geschichte, an die Sie denken mögen, nach wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit einmal ebenfalls in sich hatten. So sind wir bereits physisch mit der ganzen Geschichte von Anfang bis Ende und mit jedem Ort der Erde verbunden.

Wir wissen darüberhinaus, dass unser Körper aus Sternenstaub gemacht ist, aus demselben Stoff also wie die Himmelskörper, die wir nur mit den stärksten Teleskopen überhaupt sehen können, die Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt von uns sind. ‒ Die Materie war ursprünglich eins. Und so hängen wir schon über Raum und Zeit mit allem zusammen.»

[2] First taste of chocolate in Ivory Coast (2014) und Diese Kakao-Bauern essen zum ersten Mal in ihrem Leben Schokolade (2014)

[3] Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökonomie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog; siehe auch Achtsamkeit:
(46:09) Die Natur wieder achten lernen: Jede Pflanze hat ihren eigenen Engel ‒ Buddhistisches Tischgebet:

Bruder David: «Ein Wort, das du gerne verwendest, ist Sensibilität. Und diese Sensibilität zu steigern, das ist auch etwas, was zu der Spiritualität sehr dazugehört. Dass wir sensibel werden für das, was hinter den Dingen steht, dass man sieht: Woher kommen diese Dinge. Die Buddhisten haben so ein Tischgebet. Das beginnt mit den Worten: ‹Unzählige Arbeiten haben uns diese Speise gebracht: Wir sollten wissen, wie sie zu uns kommt. Unzählige Arbeiten waren notwendig, um uns diese Speise hier auf den Tisch zu stellen: Wir sollten wissen, wie sie zu uns kommt›. Das ist etwas, was mit dieser Sensibilität zu tun hat.»

[4] Dankbarkeit ‒ alles ist Gelegenheit (2013): Interview von Rudolf Walter mit Bruder David:

«Dankbarkeit ist ansteckend, das ist das Wunder: Ein dankbarer Mensch, der sich schon am frühen Morgen freut, einen neuen Tag vor sich zu haben, auch wenn das Wetter nicht gerade wünschenswert ist, wird freundlich in den Tag hineingehen, und wir wissen wie ansteckend Freundlichkeit ist. Ganz fremde Menschen, die einen anlächeln, können den ganzen Tag verändern. Wir können die Welt ändern dadurch, dass wir freudig ins Leben gehen. Freude macht uns lebendiger, kräftiger, verbindet uns mit den anderen.»

 

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