Franz Kuno Steindl-Rast
Der Vortrag des 21jährigen Franz Kuno war für alle Anwesenden auch ein optisches Erlebnis dank den im Saal ausgestellten Kinderzeichnungen. Inhalt und Ziel des Vortrags war, Menschen, die mit Kindern gestalterisch arbeiten, für die Bedürfnisse der Kinder und kindgerechte Kunst zu sensibilisieren. Der Anspruch ist hoch: «Wer für Kinder arbeitet, muss dieser Arbeit ganze Bereitschaft, restlose Hingebung und das Äußerste an künstlerischer Auseinandersetzung opfern, dessen er fähig ist.
[1] Was hier zu diesem Thema gesagt werden soll, entspringt der Liebe zu den Kindern und der praktischen Arbeit. Die theoretischen Ausführungen sind auf das allernötigste Maß beschränkt und haben nur den einen Zweck, wieder in die praktische Arbeit zu münden.I.
In einem Aufsatz, der, wie ich weiss, vielen von Ihnen bekannt geworden ist, und Ihre Zustimmung gefunden hat, haben wir folgenden Satz festgehalten: «Die Kunst muss dem Leben dienen wenn sie Berechtigung haben will.» Um zu unterstreichen, dass wir dies nicht nur in irgend einem philosophischen Zusammenhang erklügelt haben, sondern dass wir es als klare Forderung an uns gestellt sehen, haben wir noch hinzugefügt: «Sie darf sich nicht schämen, dem Leben dort zu dienen, wo dieses des Dienstes bedarf.» Ich will voraussetzen, dass Sie in diesem Punkt mit mir übereinstimmen und stelle nun, zunächst ganz allgemein, die Frage: Wo bedarf das Leben in der konkreten Situation, in der wir uns befinden – Österreich – Wien – 1947 – am meisten des Dienstes? Sie wissen, worauf ich abziele. Aber jeder von Ihnen, der nur dieses einzige Mal am heutigen Abend, jetzt, vor wenigen Minuten, mit offenen Augen und einem aufgeschlossenen Herzen das kleine Stück Weg von der Straßenbahn bis hierher zum Stephansplatz gegangen ist, dem werden bei dieser Frage die K i n d e r in den Sinn kommen, die ihm begegnet sind: liebe, süsse, reine, [2] unschuldige, schöne Kinder. In allen Straßen können wir sie sehen: verwaiste Kinder, verwilderte, verschlagene Kinder, verbitterte, verkommene, verdorbene, verlorene Kinder. Daneben verzärtelte, verwöhnte, verzogene Kinder, die in das Schicksal hineinwachsen, den Hass herauszufordern, in den die minderbegünstigten getrieben werden. Das einzige Kind aber, das den Frieden bringen kann, der Knabe, den der Prophet schaute uns ausrief: «Kalb, Löwe und Schaf werden friedlich beisammen weilen, ein kleiner Knabe treibt sie zur Weide zusammen», das Christkind, ist selbst unter den Kindern schon halb verkitscht, halb vergessen. Das allgemeine Elend ist uferlos. Am herzzerreissendsten aber ist die Not der Kinder, denn sie sind die einzigen, die völlig unschuldig leiden.
Am schreiendsten also verlangt das Leben in diesen Tagen nach dem Dienst an den Kindern. Dieser Dienst wird aber zugleich auch zum fruchtbarsten für alle, denn wer den Kindern dient, der dient dem Kommenden. Das geringste Samenkorn, das unter die Kinder fällt, kann zum Baum aufwachsen, schneller als wir meinen: zum giftigen Baum des Verderbens oder zur köstlichen Nahrung für viele.
Noch etwas muss hier erwähnt werden: jeder von Ihnen weiss wohl, dass in diesen Tagen in dieser unserer Stadt beinahe dreiviertel aller empfangenen Kinder im Mutterleib ermordet werden. Wer aber weiss, wie weit nicht er selber durch die dunklen Verknüpfungen aller unserer Sünden Anstoß gegeben hat zu dieser letzten Auswirkung unserer Lieblosigkeit? Wer weiss, wie weit er nicht selber schuldig geworden ist? Die Kirche betet: «Bewahre uns vor fremder Schuld.» Wir wissen nicht, wie weit sie auf uns fällt. Vielleicht können wir einen Bruchteil von dem, was an den unschuldig hingemetzelten Kindern für Zeit und Ewigkeit gesündigt wird, an den lebendigen sühnen.
Wenn also die Kunst dem Leben dienen muss, um Berechtigung zu haben, wenn sie sich nicht schämen darf, dem Leben dort zu dienen, wo dieses am meisten des Dienstes bedarf, so muss die Kunst, so müssen wahre Künstler [3] zuallererst den Kindern dienen.
II.
Sie fragen mich: Ja, geht es denn bei irgendwelchen Illustrationen zu Kindergeschichten überhaupt um Kunst? Sie ist doch das Heiligste, was dem Menschen im natürlichen Bereich überhaupt gegeben ist. Ist sie nicht viel zu kostbar, viel zu hoch, viel zu schwer für die Kinder?
Um darauf antworten zu können müssen wir zuerst folgendes betrachten: Das Kind ist kein verkleinerter Erwachsener. Auch kein unvollkommener Erwachsener, sondern es ist ein in sich geschlossenes, selbständiges, eigenwertiges, anderes Bild des Menschen. Es steht dem Erwachsenen gegenüber, nicht wie der grobbehauene Steinblock dem fertigen Bildwerk, sondern vielmehr wie die Blüte der Frucht.
In dem ihm eigenen Lebensraum ist das Kind, wie der Erwachsene in dem seinen, selbst kunstschöpferisch. Hier wie dort ist
K u n s t d i e D a r s t e l l u n g d e r O r d n u n g d u r c h d i e S c h ö n h e i t. Und daran ändert sich nichts, wenn auch die Erkenntnis der Ordnung in ungezählten Stufen aufsteigt und damit ihre Darstellung durch die geschaffenen Beziehungen innerhalb des Bildes und darüber hinaus immer reicher wird.
Die Kunst des Kindes ist für jeden, der sich mit bildender Kunst befasst von grundlegender Bedeutung. Aber es würde viel zu weit führen, wollte ich Ihnen auch nur einen kurzen Überblick über dieses wundervolle Gebiet zu geben versuchen. Es ist überhaupt so wenig, auf was ich Sie in dieser Kürze aufmerksam machen kann. Nur, wenn es Ihre Freude an der Sache weckt, dass Sie sich selber damit beschäftigen, dann war es nicht umsonst.
[4] Wir wollen also das bisher Gesagte an zwei Bildern durchführen:
Stellen wir das Selbstbildnis eines Kindes dem grossen Nürnberger Selbstbildnis Dürers gegenüber. Nur zur grösseren Klarheit ist die Sache auf die Spitze getrieben. Was diesem Kind hier besonders anschaulich gelungen ist, das gelingt jedem beliebigen Kind immer und auf den ersten Versuch, bildnerisch zu gestalten: die Darstellung der Ordnung durch Schönheit. Das glückt ihm kraft seiner noch ungelösten Verbundenheit mit dem Urgrund, mit dem Mutterboden, dem ja diese natürliche Ordnung wesenhaft eingeschrieben ist. Das Kind schaut nicht nach aussen, wenn es gestaltet, es schaut nach innen und schöpft die Formen seiner A b b i l d e r aus derselben Quelle, aus der auch die U r b i l d e r geflossen sind. So wird jedes seiner Bilder Darstellung der in die Natur gelegten Ordnung und ist, wie diese, gnadenhaft schön.
Darstellung der Ordnung durch Schönheit: ist nicht das Nürnberger Selbstbildnis letztlich dasselbe? Und doch: wieviel grösser, wieviel tiefer ist hier die Erkenntnis der Ordnung. Was das Kind unbewusst, spielend gestaltet, ist hier erlitten und bewusst erkauft mit allem Leid und allem Ringen eines vollen Menschenlebens. Die persönliche Begegnung mit Gott in seiner Offenbarung hat die Erkenntnis der Ordnung in die Späre des Übernatürlichen gehoben. Die übernatürliche Ordnung hat das Bild dieses Menschen geprägt, wie ein Petschaft das Wachs prägt zum Siegel nach seinem Zeichen. Das Zeichen der übernatürlichen Ordnung aber ist das Kreuz.
Wir reden von natürlicher und übernatürlicher Ordnung. Letztlich aber gibt es ja nicht zwei Ordnungen, sondern, soweit es wahrhaft Ordnung ist, nur d i e Ordnung. Diese eine nun ist es, die das Kind ursprünglich innehat, während der Meister sie sehnsüchtig suchen und schliesslich schmerzlich auf sich nehmen muss. Der Knabe Parzival, der «tumbe Tor», stösst auf die Gralsburg, jedoch erst der Mann, auf vielen Irrfahrten gereift, findet sie wieder.
[5] Zwischen dem Blühen des Kindes und dem Fruchten des reifen Menschen liegen die Irrfahrten der Reifejahre. Sie sind eine noch völlig undurchforschte Umwälzung, ein Sprengen aller bisher gemässen Formen, ein erstes Ende, ein ganz neuer Anfang. Sie sind eine Erschütterung, in der viele zerbrechen, ungezählte Schaden leiden, über die nur wenige heil und rein hinwegkommen. Darum sind alle Kinder kunstschöpferisch, während von den Erwachsenen nur einzelnen wenigen diese Gabe gnädig erhalten bleibt. Die romantische Anschauung vom paradisischen Kinderland liegt uns fern, weil wir wissen, dass auch in das Leben des Kindes schon der Kampf zwischen Guttat und Sünde gestellt ist, der Bruch zwischen Leben und Tod. Die natürliche Fähigkeit aber, künstlerisch zu gestalten, die allen Kindern eignet, ist eine paradisische Gabe. (In diesem Zusammenhang ist es auch bemerkenswert, sich des Wortes zu erinnern, welches das völlige Einswerden von Kunst und Leben eine gegebene Tatsache des zukünftigen Himmelreiches nennt. ((«Das Leben als Kunstwerk – ein eschatologisches Faktum», Otto Mauer, Aphorismen zur Kunst.)) Das Leben wird ja dann selbst nichts anderes mehr sein als himmlisch schöne Darstellung der gottgewollten Ordnung. Dann wird den Heiligen in Fülle wiedergegeben werden, was die Kinder gleichsam schattenhaft schon hier besitzen.
Wir haben also gesehen: Die Kindheit ist ein geschlossener Bereich des Lebens. Ganz eigene Gesetze walten in ihm. Eine ganz eigene Kunst bringt er hervor. Wer dies zu Ende denkt, wird von tiefer Ehrfurcht ergriffen werden. Es wird ihm keine Frage mehr sein, ob es denn auch eines Künstlers würdig sei, mit seinen Arbeiten den Kindern zu dienen. Sie sind es wert und Kunst ist niemals zu kostbar für sie. Freilich: zu hoch und zu schwer kann sie sein. Und darum ergibt sich aus der Eigengesetzlichkeit des kindlichen Lebens die Forderung: Kunst, die dem Kinde dienen soll eben diesen selben Gesetzen zu unterwerfen.
III.
[1] Wir wollen also versuchen, an Hand von Kinderzeichnungen*) aus der Wesenseigenart des kindlichen Menschen die Gesetzte seiner Kunst abzuleiten. Freilich muss die Genauigkeit unserer Betrachtung darunter leiden, dass wir nicht auf die einzelnen, sehr unterschiedlichen Stufen des kindlichen Gestaltens eingehen können, sondern uns auf das beschränken müssen, was für die ganze Kindheit gilt. Dies wird uns aber genügen, um die wichtigsten Gesetze ablesen zu können, die in der Kinderkunst wirken und nach denen auch die Zeichnung für Kinder gestaltet werden muss.
1. Betrachten wir zuerst die U n e n t f a l t e t h e i t des Kindes. Sie macht sein eigentliches Wesen aus. Was wir mit dem missverständlichen Wort «einfach» bezeichnen, ist eben diese Unentfaltetheit, die aber in sich schon alles umschlossen hält, was später sich e n t - falten wird. Der Vergleich mit einer Knospe ist naheliegend und trifft.
Diese knospenhafte Unentfaltetheit äussert sich klar an den frühesten Kinderzeichnungen, während die fortlaufende Entwicklung zugleich als Entfaltung im Bild ersichtlich wird.
(Zwei Beispiele: Schliesst diese Darstellung des Kugerlscheibens nicht alle Entfaltungsmöglichkeiten des Spieles in sich? Ist nicht in der gewaltigen Ruhe dieser Figur die Fülle der Bewegung zusammengeballt und in die Strenge der Form gepresst, wie Feuer in einem Vulkan oder – bleiben wir bei dem Vergleich – wie die Blüte in einer zum Platzen prallen Knospe?)
2. Eine zweite Wesenseigenart des Kindes ist seine E i n d e u t i g k e i t und seine geradezu brutale Bestimmtheit. (Denken Sie nur daran, was z.B. ein Kind treiben kann, um seinen Willen durchzusetzen.) Scheinbar in Widerspruch dazu steht die überaus zarte
E m p f i n d s a m k e i t des selben Kindes.
[2] Ein Beispiel für diese Spannung sind auch die gewalttätigen Zärtlichkeiten der Kinder.
Der scheinbare Gegensatz, der hierin liegt, findet eine feine harmonische Ausformung in der Kunst des Kindes: Während die Komposition nämlich auf die großen, klaren und eindeutigen Formen und Sinnzusammenhänge aufgebaut ist, geht das Kind gleichzeitig den Einzelheiten mit unermüdlicher Sorgfalt in inniger Liebe nach. Während bei farbigen Kompositionen ausschließlich die Grundfarben und die einfachsten Mischfarben verwendet werden, erreicht das Kind mit diesen einfachsten Mitteln unglaublich zarte, feinfühlige Farbwirkungen.
Wieder zwei Beispiele: Das Thema Kugerlscheiben ist hier geradezu gewalttätig einfach dargestellt. Mit welcher Zartheit aber geht das Kind in demselben Bild dem Schwung der Metallversteifung am Dach des Kinderwagens nach, mit welcher Liebe bildet es jedes einzelne Blatt an den Bäumen, die Röserln und roten Bänder) – Und hier die Farben: «Kampf des Frühlings gegen den Winter». Das Blatt ist eindeutig in eine leuchtende und eine matte Seite geteilt. Wie zart aber ist innerhalb der Winterhälfte z.B. die Verwendung des Blau. Wie tief empfunden im Kleid des Frühlings die Steigerung der brennenden Farben:)
3. Ein ähnliches, ebenso scheinbar wiederspruchsvolles Paar zweier Wesenseigenschaften des Kindes ist V e r t r ä u m t h e i t und A u f g e w e c k t h e i t. Ihr Widerspruch ist der Widerspruch des Erwachsenwerdens überhaupt. Einerseits ist das Kind vom Urgrund des Traumhaften in dem auch Märchen und Mythos wurzeln und eben, noch nicht völlig entbunden, andererseits ist es geradezu sein Beruf, Tag für Tag Neues zu lernen und es bei der Begegnung möglichst schnell und sicher zu erfassen. Die Logik des Kindes ist eine Traumlogik, nichts scheint unmöglich. Trotzdem aber werden die logischen Zusammenhänge des schon Bekannten oft verblüffend klar und treffsicher durchschaut. Nicht an ein besonderes Thema ist das Phantastische gebunden, nicht im Thema liegt das Märchenhafte, [3] es schläft vielmehr bleich unter der Oberfläche der alltäglichsten Dinge und besitzt die Kraft, plötzlich zu erwachen und in einem Augenblick alles zu verwandeln. Dann wird das Holzscheit zur Puppe, die Puppe zum Kind; ein Fetzen bunten Tuches genügt, und es gibt keine Gestalt, in die das Kind sich nicht mit seiner Hilfe verwandeln könnte. Zügellose Phantsie und wache Realistik stehen hart nebeneinander.
Diese Eigenheit des Kindes prägt sich auch entscheidend aus in seiner Kunst.
(Ein Beispiel: «Der gestiefelte Kater». Das Märchenhafte des Himmels, der Landschaft, der königlichen Kutsche, des Katers, ist mit üppiger Phantasie durchgestaltet – das Pferd, obwohl ganz der Gesamtkomposition eingegliedert, ist dabei in der Bewegung seines Springens so wirklichkeitsgetreu erfasst, dass wir kaum glauben können, das Blatt eines 6jährigen Kindes vor uns zu haben. – Ein anderes Beispiel für die treffende Wesenserfassung eines 7jährigen Kindes ist dieser Hase, wie alle Kinderzeichnungen völlig aus der Vorstellung gezeichnet . – Auf einem anderen Blatt ist das Wesentliche des «Amerikaners», wie ihn das Kind am Schulweg begegnet, nicht ohne Komik erfasst. – Als letztes Beispiel für die völlige Durchdringung von Traum und Wachwirklichkeit in der Vorstellungswelt des Kindes will ich Ihnen dieses Blatt zeigen: seine Entstehungsgeschichte ist folgende: der kleine Helmut wollte zuerst, angeregt von einem japanischen Holzschnitt, den er gesehen hatte, eine Stufenbrücke zeichnen. Die rote Farbe, durch die er zuerst nur das Original aus der Erinnerung nachahmen wollte, gewann plötzlich Gewalt über ihn und riss seine Phantasie fort. Die Vorstellungsverknüpfung mit der Hölle war durch das Rot gegeben. Die Brücke wurde mit Teufeln bevölkert und schließlich unterlegte das Kind dem Ganzen einen völlig neuen Sinn und hielt ihn auch durch eine Aufschrift fest: jetzt ist es das «Teufeltheater», und weil Wien weit ist, kann man sich leicht vorstellen, dass es in Wien ist, wie auch daraufsteht. Sehr bezeichnend ist auch die Rückseite: eine Schlittenfahrt, die [4] Eisenbahn, die Eisvorrichtung – Motive aus dem Alltag des Kindes, charakteristisch erfasst, und dazwischen wimmelt es plötzlich von Zwergen, mit denen seine Phantasie die Landschaft bevölkert.
4. Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass das Wesen des Kindes durchaus dynamisch ist. Von Natur aus wird es in Wachstum und Entfaltung ununterbrochen verändert, ist in ständiger Bewegung. Obwohl das gesunde Kind fest verwurzelt ist und in ruhiger Gelassenheit reift, ist ihm Stillstand wesensfremd.
Daher ist auch die einzige ihm gemäße Aussageform das Epische. Lyrik setzt Ruhen und Selbstbetrachtung voraus, Dramatik irgend eine Zweipoligkeit, beides ist dem Kinde ungemäß. Alle seine Darstellungen sind daher auch erzählend. Jede Gegebenheit wird in Erzählung aufgelöst. Jedes Bild ist eine hingeschriebene Aufzählung.
(Hier z.B. ist folgende Begebenheit illustriert: Ein Kind geht mit einem Korb voll Früchten, stolpert über einen Stein, der Korb fällt ihm aus der Hand und die Früchte werden über den ganzen Boden hingestreut. Das Bild ist einfach Vergegenwärtigung der Dinge, auf denen die Erzählung rührt. Es ist nicht von dieser zu trennen. – Im folgenden Bild ist ein an sich ruhendes Thema «Der Garten» aufgelöst in eine Fülle von Aufzählungen und erzählten Begebenheiten: Das Rotkehlchen, der Specht, der an dem Baum klopft, die Amsel, die dem Schmetterling nachjagt, das Umstechen, das Blumenpflücken und die Aufzählung jeder einzelnen Blume.)
Hierher gehört auch die Tatsache, dass das Kind keinen Bildraum konstruiert, in den es die Begebenheit stellt, sondern, dass es ein Ding neben das andere auf das Papier schreibt. Das Kinderzeichnen ist eben, besonders in seinen frühen Stadien, eine Art Bilderschrift. Es hat diese Eigenart der kindlichen Darstellung, aber auch noch einen viel tieferen Sinn: Wie der Ikonenmaler die Heiligen auf den Assist stellt, auf den Goldgrund als das Sinnbild der göttlichen Herrlichkeit, vor der sie stehen wie durchscheinende Wände, so kommen die Figuren und Dinge [5] in der Darstellung des Kindes aus dem unbemalten Hintergrund und der wird sinnbildlich für die unbegrenzten Möglichkeiten einer noch unerforschten Welt, aus der dem Kind täglich neue Wunder zustoßen. Je geschlossener das Weltbild des Kindes wird, desto mehr schließen sich auch die farbigen Flächen in seinen Bildern zusammen, bis es schließlich anfängt, einen eigenen Bildraum zu bauen, nach-dem es innerlich sein Weltbild gebaut hat. (Diese Entwicklung werden Sie an den ausgestellten Bildern selbst verfolgen können. Alle diese Blätter stammen von 7jährigen, verschieden entwickelten Buben und Mädchen.)
5. Eine der wichtigsten Tatsachen für die Kinderkunst ist, dass dem Kind Ironie vollkommen ungemäß ist. Ironie sagt einen inneren Bruch aus. Das Kind aber ist, wie schon vorhin erwähnt, wesentlich in sich geschlossen. Daher kann es auch am Gegenstand, den es betrachtet, einen inneren Bruch nicht erkennen. Es meint selber alles ehrlich und hält darum auch alles für wahr. Mit dem Zerbrechen dieser inneren Geschlossenheit geht zugleich auch das Kindsein in Scherben. Darum wuchert die Ironie bei vielen Kindern in den Jahren der Geschlechtsreife plötzlich so üppig und die Zeichnungen dieser Altersstufe sind zum Großteil Karikaturen. Die Haltung, mit der das Kind jedoch der Umwelt zunächst begegnet, ist Staunen und Liebe. Und diese Haltung muss ihm als der kostbarste Besitz bewahrt, muss, wenn sie verloren gegangen ist, mit aller Sorgfalt wiederhergestellt werden, denn nur aus dieser Haltung kann sich im Inneren des Kindes aus der bunten Vielfalt, die ihm zustößt, ein rechtes Weltbild fügen und kristallähnlich wachsen. Die Karikatur ist dem Kind wesensfremd und es hat keinerlei Beziehung dazu. Wohl hat es Spass an der krotesken Übertreibung, die es auch selber anwendet, es nimmt aber seine Bilder bis ins letzte ernst und das ist wohl der entscheidendste Gegensatz zur karikierenden Auffassung und Darstellungsweise.
(Sie werden diesen zarten und doch so schwerwiegenden Unterschied selbst an dem folgenden Beispiel erfühlen können:
[6] Die Zeichnung stellt «Die Nachbarn» dar. Die beiden sind auch ganz danach angetan, das Interesse dieses 6jährigen Buben zu erwecken. Er begegnet hier zum erstenmal einer rauchenden Frau und kann genau das Anzünden einer Zigarette mittels eines Feuerzeuges beobachten. Die ganze Blödsinnigkeit dieser so ernstgenommenen Beschäftigung ist so treffend charakterisiert, dass der innere Bruch, der darin liegt – dem Kinde völlig unbewußt – den Erwachsenen zum Lachen reizt und die Darstellung auf ihn wie eine Karikatur wirkt. Vom Kinde her ist sie jedoch bei aller Heiterkeit des Themas ernst gemeint und es verfolgt in liebevollem Staunen jede Einzelheit.)
6. Zusammenfassend will ich Sie noch einmal an die schon mehrmals erwähnte Abgerundetheit und innere Geschlossenheit des kindlichen Wesens erinnern. Ihretwegen nämlich können wir die Kinderkunst v o l l e n d e t nennen. Wer sich je mit ihr befasst, wird darin die Vollendung der höchsten Meisterwerke menschlicher Kunst gnadenhaft vorweggenommen finden. Worauf es ankommt, das hat sich hier ereignet: die Ordnung ist dargestellt durch die Schönheit.
Am deutlichsten wird das dort, wo dem Bild schon vom Thema her Gewicht gegeben ist. (Als Beispiel die Darstellung der Kreuzigung von einem 7jährigen Mädchen. Ganz gleichgültig, wieviel hier bewußt und gewollt ist, wieviel unbewußt, geschenkt; wer kann dies bei einem Meisterwerk selbst der hohen Kunst entscheiden? Fest steht nur, dass das Kind nichts darstellen kann, was es nicht innerlich zuerst erschaut hat; fest steht, dass hier ein wahres Kunstwerk an das Mysterium dieses Opfertodes rührt, der den Himmel sich vor Gram umnachten lässt, die Erde aber aufblühen macht unter dem strömenden Blut der Erlösung. Das ist halt das bedeutendste und schönste Bild. Jedes der ausgestellten Blätter ‒ jede Zeichnung eines gesunden Kindes ‒, ist wahrhaft Kunst.
IV.
[7] Überblicken wir abschließend noch einmal das bisher Erarbeitete, um aus der Eigenart der Kinderkunst selbst die wichtigsten Gesetze der Illustration für Kinder abzulesen:
1. Wir haben erkannt: die Kunst des Kindes stellt aus der inneren Wesensschau die Dinge und Begebenheiten in praller Unentfaltetheit dar.
Daraus ergibt sich die Forderung an jeden, der für Kinder gestaltet, um das innerste Wesen der darzustellenden Gegenstände und Vorgänge zu ringen und es mit den einfachsten Mitteln darzustellen. Das Einfachste ist aber, wie immer, das Größte und nur ein großer Könner wird es wirklich erfassen.
2. Das Kind sagt in seinen Bildern das Wesentliche unumwunden aus und setzt es vollkommen in klare, eindeutige Formen um. Gleichzeitig aber geht es mit großer Empfindsamkeit auf die zartesten Feinheiten in Form und Farbe ein.
So muss auch das Thema, das für das Kind dargestellt werden soll, völlig in Formen umgesetzt werden, die für das Kind fasslich sind. Keinesfalls aber darf die liebevolle Durchbildung der Darstellung darunter leiden.
3. Die Kunst des Kindes ist eine lebendige Einheit von allesdurchdringender Märchenhaftigkeit und handgreiflicher Wirklichkeitsnähe. Wer also für Kinder malen oder zeichnen will, muss selber in der rechten Mischung weltoffen und traumoffen sein, damit seine Darstellungen nichts auslassen, was dem Kinde wichtig ist, zugleich aber der kindlichen Phantasie Spielraum genug lassen und sie nicht vergewaltigen.
4. Die dem Kinde gemäße Darstellungsform ist rein erzählend. Wiedergabe von Stimmungen kennt es nicht. Es baut keinen Bildraum, sondern schreibt Formen und Begebenheiten erzählend nieder, auf den Untergrund.
[8] Das Kind wird daher auch nur aufnehmen können, was ihm in erzählender Form nahegebracht wird. Jede Sprunghaftigkeit in der Erzählung muss vermieden werden, da das Kind gleichsam des Gehens noch ungeübt im rechten Maß geführt werden muss, im rechten Maß aber auch eigenen Bemühungen überlassen werden soll. Nur Handlungen werden in ihm Stimmungen wecken, nicht Stimmungsschilderungen. Raumkonstruktionen im Bild muss es erst in die ihm eigene flächenhafte Bildwelt übersetzen. Der wirkliche Könner wird also bei Illustrationen für Kinder alles in flächenhafte Darstellung umsetzen können.
5. Das Kind nimmt alle seine Darstellungen ernst und nimmt alle ihm gebotenen Bilder ernst.
Das verbietet uns, ihm Karikaturen vorzusetzen, für die es ausserdem gar kein Auffassungsvermögen hat. Es verpflichtet uns selbst, mit dem letzten Ernst hinter den Arbeiten zu stehen, die wir den Kindern widmen.
6. Die bildnerischen Darstellungen des Kindes sind vollkommene Kunstwerke, wie sie nur von den reifsten Meistern in einer höheren Ebene wieder erreicht werden. Das Kind ist für wahre Kunst aufgeschlossen und empfänglich.
Wer für Kinder schafft, muss dieser Arbeit ganze Bereitschaft, restlose Hingebung und das Äusserste an künstlerischer Auseinandersetzung opfern, dessen er fähig ist.
V.
[9] Wer für Kinder zeichnet, soll sich vor den Werken der Kinderkunst immer wieder selber prüfen, soll sich immer wieder an ihrem Beispiel ausrichten. Das ist nicht leicht und Sie werden oftmals von der klaren Einfachheit und reinen Selbstverständlichkeit des kindlichen Gestaltens beschämt und in den Schatten gestellt werden.
Sie werden nun aber auch Beispiele für die Art von Illustration sehen wollen, von der ich geredet habe. Da muss ich nun gestehen: ich kenne keine. Es gibt noch kaum einen Meister, der den Kindern wirklich mit dem Ernst gedient hätte, dessen dieser Dienst würdig ist, – ausser Ludwig Richter vielleicht. Der aber hat für die Kinder der Romantik gezeichnet, während wir den ganz konkreten Kindern unserer Tage dienen müssen. Und das ist eine Tatache, auf die ich Sie noch ganz besonders hinweisen möchte. U n s e r e n Kindern, wie sie heute sind, gilt es zu helfen. Es hätte nun gar keinen Sinn, wenn ich versuchen wollte, herauszuheben, was die heutigen Kinder besonders kennzeichnet, was ihnen gerade besonders nottut. Darum rate ich Ihnen: suchen Sie jede Gelegenheit, mit diesen Kindern zusammenzukommen, sie anzuschauen, mit ihnen zu reden, zu spielen, wo immer Sie solche Kinder finden, in irgend einer finsteren Gasse, wo sie am ärmsten sind. Und je ärmer sie sind, desto besser. Die ganz armen müssen Sie kennenlernen, denn ihnen zuerst muss unsere Arbeit dienen. Und nicht nur mit Bleistift und Feder sollen Sie ihnen helfen, sondern auch ganz handgreiflich, wo es gerade nottut, sie zu waschen, zu schneuzen, zu kämmen, ihnen irgend etwas zu schenken, für sie zu beten. Erst wenn Sie jedes Kind, das Ihnen irgendwo begegnet, so anschauen und so anreden können, dass es sich Ihnen nicht verschließt, dann dürfen Sie sicher sein, dass auch Ihre Zeichnungen nicht Übersetzungen ins Kindliche sind, sondern Aug in Aug die Kinder mit ursprünglich kindlichen Worten anreden und sie zutiefst berühren.
«Welch Geheimnis ist ein Kind......»
*) Die im Vortrag erwähnten «Kinderzeichnungen» stehen nicht zur Verfügung!
Quelle: Privat-Archiv David Steindl-Rast OSB, Vortrag Zeichnungen von Kindern und Zeichnungen für Kinder (1947)