Br. David Steindl-Rast OSB
Wer eine Nachricht sendet, will eine sofortige Antwort. Alles, was Zeit braucht, macht uns ungeduldig. Wir haben verlernt, die Vorfreude auszukosten, die uns geschenkt wird, wenn wir auf etwas warten müssen – die Fähigkeit zu Impulskontrolle und Belohnungsaufschub, wie Psychologen sie nennen. Ihr Fehlen ist ein ernster Persönlichkeitsmangel und weist auch auf ein gestörtes Verhältnis zur Zeit hin: auf eine dauernde Angst, Zeit zu verlieren, mehr Zeit zu brauchen, keine Zeit zu haben. Wir fühlen, dass die Zeit verrinnt und wir mit ihr. Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt. So klagt die «Stimme eines jungen Bruders» in Rilkes «Stundenbuch» und viele junge Menschen haben heute dieses Gefühl. In Wirklichkeit aber ist Zeit der rhythmische Taktschlag des Lebens und wir können lernen, danach zu tanzen. Das setzt aber voraus, dass wir unsere Neigung zur Eile überwinden und uns im Stillwerden üben.
Im Rythmus des Lebens
«Ich sprach zu meiner Seele, sei still und warte», sagt T. S. Eliot. Aber er weiß auch, dass Stille beängstigend werden kann, weil sie uns des Lärms beraubt, mit dem wir uns gern ablenken von der Dunkelheit, die in uns aufsteigt, wenn wir still werden. Fürchte dich nicht, sagt daher der Dichter, du kannst der inneren Stille und Dunkelheit vertrauen. Und er schließt mit den tröstlichen Worten: «Die Dunkelheit wird das Licht sein und die Stille das Tanzen.» Wenn wir also ein gesundes Zeitbewusstsein wiederfinden wollen, müssen wir zunächst gewahr werden, dass wir nicht im Schritt sind mit dem großen Tanz. Rilke weiß: Wir sind nicht einig mit dem Rhythmus des Lebens und darum auch nicht einig mit uns selbst.
Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt. Überholt und spät, so drängen wir uns plötzlich Winden auf und fallen ein auf einen teilnahmslosen Teich.
Auch wir werden also Zeiten stillen Ausruhens in unseren Alltag einbauen wollen – wenn auch noch so kurze Zeiten, in denen wir alle unsere Bildschirme ausschalten. Vielleicht gelingt es uns, wenigstens am Ende unseres Werktags einen klaren Schlussstrich zu ziehen nach all dem eilenden Treiben, um Dingen von bleibendem Wert den Abend zu weihen.
Freude am Feierabend
Mir selbst ist dies äußerst wichtig geworden. Als Autor hatte ich die Gewohnheit, wenn ich zu müde wurde, mit «Hier morgen weitermachen» im Text anzumerken, wie weit ich gekommen war. Dann kam mir eines Tages der Einfall, stattdessen das Datum hinzuschreiben und das Wort «Feierabend». Es erstaunt mich noch heute, welche Freude mir immer wieder dieses wunderschöne Wort «Feierabend» schenkt. Schon wenn ich es niederschreibe, beginne ich den Abend jetzt wirklich mit Muße zu feiern. Muße ist ja nicht der Luxus derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen; Muße ist die Tugend derer, die allem, was Zeit braucht, ein gerechtes Maß an Zeit schenken. Nach getaner Arbeit verdienen wir Zeit, das zu tun, was uns freut.
Millionen müssen sich bis zur völligen Erschöpfung abmühen und haben kaum genug Freizeit, um zu schlafen. Auch da verstößt unsere Gesellschaftsordnung gegen die Menschenwürde und schreit nach unserem Einsatz für gerechte Freizeit. Aber die Unrast, von der wir hier sprechen, lässt auch Millionen, die besser dran sind, es versäumen, Muße zu finden, sogar in ihrer Freizeit. «Muße ist mit den äußeren Fakten von Arbeitspause, Freizeit, Wochenende, Urlaub nicht schon gegeben. Muße ist ein Zustand der Seele!» Das schrieb Josef Pieper (1904–1997), der in der Muße die Voraussetzung aller Kultur erblickte. Nur durch Muße finden wir den rechten Rhythmus für Arbeit und Entspannung, fürs Allein- und Beisammensein, fürs Schlafen und Wachen und für alles, was wir tun. Wir stimmen uns ein auf den Rhythmus im großen Tanz.
Quelle: Auszug aus Orientierung finden – Schlüsselworte für ein erfülltes Leben.
Erschienen in miteinander, das Magazin des Canisiuswerkes, Wien 7-8/2022