Br. David Steindl-Rast OSB

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Eine Welt, in der alle mit allen immer enger verknüpft sind, wird zu einer einzigen großen Tischgemeinschaft.

Kana in Galiläa. Der Name dieses Dorfes weckt in mir nicht nur die Vorstellung des biblischen Hochzeitmahles, sondern vor allem die Erinnerung an ein mir besonders liebes persönliches Erlebnis. Während die anderen Pilger noch einer Führung folgten, bei der ihnen vielleicht die sechs steinernen Wasserkrüge gezeigt wurden, in denen Jesus Wasser in Wein verwandelte, saß ich lieber allein in der Mittagsstille auf dem Vorplatz der Kirche. Hitze ließ die Luft flimmern, so dass außer mir kein Mensch im Freien war. Aber doch: ein etwa Vierjähriger watschelt da von irgendwoher auf mich zu, Eis am Stiel leckend. Mein Hebräisch reicht gerade aus, mich vorzustellen und nach seinem Namen zu fragen. Adam heißt er — „Mensch“. Ich sitze auf einem Randstein, mein kleiner Mitmensch mit dem großen Namen steht vor mir. Unsere Augen sind auf gleicher Höhe. Fast feierlich schaut er mich an, zieht das Eis aus seinem Mund und steckt es in meinen.

Dieser Aspekt von Essen, der mehr bedeutet als Ernährung, wird uns wohl nie verlorengehen, was auch die Zukunft bringen mag. Er reicht ja auch weit in unsere Vergangenheit zurück. Seit Urzeiten gehört für uns Menschen zum Essen das Teilen. Ein Mahl bedeutet Gemeinschaft. Bei der Mahl-zeit steht die Zeit still; Vergangenheit und Zukunft werden Gegenwart. Wenn wir Kerzen anzünden auf einem festlichen Tisch, dann spiegelt sich in unseren Augen das Licht von Geburtstagskerzen noch ungeborener Kinder, dasselbe Licht, das die Augen von Urmenschen leuchten ließ, wenn sie beim gemeinsamen Mahl ums Feuer hockten. Wir sollen nicht nur mit dem Mund essen, lehrt uns indische Weisheit, sondern mit den Augen, wie die Götter; erst dann essen wir wahrhaft menschlich. Aber die Augen sehen mehr als die Speise; sie sehen auch unsere Tischgenossen, mit denen wir die Speise teilen. Was Menschen am Leben erhält, ist nicht essen, sondern gemeinsam essen.

Ein mittelalterlicher Vorläufer wissenschaftlicher Versuchsmethoden, der Hohenstaufen Kaiser Friedrich II., stellte, so wird berichtet, ein Experiment an: Ein Dutzend Waisenkinder bekamen so viel zu essen wie sie wollten; nur ansprechen durfte sie niemand. Der Kaiser wollte wissen, welche Sprache die Kinder spontan sprechen würden. Er fand es nie heraus. "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein." Ohne menschlichen Kontakt starben die Kinder alle. Zum Überleben braucht der Mensch nicht nur Lebensmittel, sondern Lebensvermittlung durch Gemeinsamkeit.

Eine Welt, in der alle mit allen immer enger verknüpft sind, wird zu einer einzigen großen Tischgemeinschaft. Wir kennen die Statistiken: von zwölf, die sich zum Essen an diesen Tisch setzen, müssen sechs hungrig wieder weggehen. Wie wir mit dieser Tatsache umgehen, wird über die Zukunft der Welt entscheiden.

Ich kenne Hunger. Ich zweifle, ob meine Brüder und ich als Halbwüchsige in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges jemals wirklich satt vom Familientisch aufgestanden sind. Das hat sogar etwas Gutes an sich: Nur wer sich je ernstlich fragen musste, ob er wirklich verhungern werde, kann den Duft von Bratäpfeln so genießen, kann sich so an Linsensuppe freuen, so den Flaum von Pfirsichen bewundern oder den Staubzucker auf der braunen Kruste vom Apfelstrudel.

Ich kenne Hunger — die hungrigen Augen, mit denen wir Brüder uns gegenseitig auf die Teller schauten. Einmal schnappte ich meinem jüngeren Bruder das winzige Stückchen Wurst vor der Nase weg, das er als Leckerbissen bis zuletzt aufgespart hatte. Das war als Spaß gemeint, aber mein Bruder lachte nicht. Er sprang nicht einmal zornig auf mich los. Der Fünfzehnjährige saß da und weinte.

In einer Fernsehwelt wird der Familientisch unserer Erde immer überschaubarer. Hungrige Augen schauen mir auf den Teller. Ich höre Donner in der Ferne. Das Wort unserer Mutter schaffte Frieden unter uns Brüdern, aber welches Zauberwort kann Frieden schaffen in einer Welt, in der die einen hungern und die andern prassen? Nur eines kommt mir in den Sinn, und nur zögernd schlage ich es vor: Dankbarkeit.

Unter den Hungernden in Indien habe ich oft mehr Dankbarkeit gefunden als unter den Satten bei uns. Wir sind es, die Dankbarkeit lernen müssen. Wir leben im Überfluss und wollen immer noch mehr. Dankbarkeit macht genügsam. Erst wenn ich dankbar bin — für Kirschen etwa, nehme ich sie nicht mehr als selbstverständlich hin. Dankbarkeit macht mir die pralle Rundung, das tiefe Rot, den süßen Saft, erst so recht bewusst. Jetzt habe ich mehr Freude an einer einzigen Handvoll, als vorher an einem ganzen Körbchen; den Rest kann ich jetzt anderen schenken. So macht Dankbarkeit aus Freude großmütig; so führt Dankbarkeit zum Teilen.

Vielleicht lag darin das eigentliche Wunder bei Jesu wunderbarer Brotvermehrung: „Er dankte und teilte“. Vielleicht regte sein Beispiel alle übrigen an, auch dankbar zu sein für das Wenige, das sie hatten, und es mit anderen zu teilen. Vielleicht brauchen wir gar nicht anzunehmen, dass die fünf Gerstenbrote und die zwei Fischchen sich vermehrten, sondern es war schon genug, dass Dankbarkeit und die Geste des Teilens so ansteckend wirkten. Plötzlich hatten Fünftausend genug zu essen und, was übrig blieb, füllte zwölf Körbe. Eine derartige Brotvermehrung brauchen wir, damit in unserer überbevölkerten Welt alle essen können. Nur als Tischgemeinschaft in Dankbarkeit hat unsere Welt Zukunft.



Quelle:  Was kommt, was geht, was bleibt (2001)
, ©Verlag Herder

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