Franz Kuno Steindl-Rast
Ein Kunstwerk ist angewiesen auf Menschen, die bereit sind, es wahrzunehmen, zu schauen und zu lauschen. Bruder David beschreibt in dieser Niederschrift in Bildern und Versen von R. M. Rilke die Welt, die ihm die «Unvollendete Sinfonie» von Franz Schubert erschlossen hat.
Ich halte dafür, dass es kein absolutes Kunstwerk gibt! - Solange die Idee des Kunstwerkes noch rein im Geiste des Künstlers beschlossen liegt, ohne in irgendeiner Weise Gestalt angenommen zu haben, solange können wir noch nicht von einem Kunstwerk sprechen; sobald diese Idee aber gestaltet wird, spricht sie zu den Sinnen, und setzt also ein Wesen voraus, da sie durch seine Sinne aufnehmen kann. Die Tiefe des Ideengehaltes, die Vollendung des Künstlers und das Empfängnisvermögen des Beschauers wirken in gleicher Weise zusammen, um das vollkommene Kunstwerk erstehen zu lassen.
So vielmals ist zum Beispiel irgendeine symphonische Aufführung ein Kunstwerk, als Zuhörer ihr in inniger Zuwendung folgen, und ihr Licht im Spiegel der eigenen Seele zurückstrahlen. Wehe aber denen, die nur mit den Ohren einem Musikstück folgen, und denen ein Bild nur bis in die Augen vordringt! Rainer Maria Rilke nennt sie in seinem «Malte Laurids Brigge»: «Die ewig reden, die niemals empfangen.»
Wenn also der Geist des Zuhörers oder Beschauers von entscheidender Bedeutung für das entstehende Kunstwerk ist, dann ist es auch nicht uninteressant, einen Kunsteindruck irgendeines Menschen, und somit den Teil des Gesamtkunstwerkes kennenzulernen, der vom Beschauer beigetragen wird.
(Schwer ist es, den Eindruck eines Musikstückes wiederzugeben, weil es ein weiter Schritt zum Greifbaren ist, vom aufklingenden Ton und den Gefühlen, die er erzeugt, bis zum niedergeschriebenen Wort. Trotzdem will ich meine Erinnerungen an eine Aufführung von Schuberts «Unvollendeter Symphonie» niederschreiben, die ich vor einigen Wochen hörte:)
Da steht ein Thema ‒ aus Erde, aus starker, regenfeuchter Erde, aus frühlingskräftiger Erde; oder soll ich es vergleichen mit einem Vulkan, der weinbergüberwuchert, duldend ruht, bis er endlich ausbricht in der Lust und dem Schmerz einer feurigen Geburt, und ausspeit Flammen und flüssige, glühende, kochende Erde, die er hingießt über die Ebene, die erkaltet und wieder Leben nährt, und aus der schwellende Früchte Leben saugen? Es ist das Thema der Urzeugung, der samenkräftigen Erde am ersten Tage der Schöpfung, da sie noch alle Kraft in sich trug, und alle Entfaltung der Zukunft zusammengeballt war in einem einzigen frohen Aufschrei des Lebendigen.
Und nun beginnt die Entfaltung dieses Lebens und nun beginnt die Abwandlung dieses Themas in der Musik mit immer rauschenderen Bildern und immer klareren Akkorden.
Aber eine unüberwundene Schwere liegt lastend über diesem Thema der Erde ‒ bis es sich löst, bis es sich hebt und erstrahlt und ausbricht, als der lichte, begreifende, jubelnde, dankende Geist über der Schwere der Erdgebundenheit, bis das zweite, leichte und doch so glutgeladene Thema hinwogt in breiten, singenden, warmen Wogen, der Tanz der Erlösung, der Gesang der ruhenden Gewalten über dem Wechsel der ewig sich verändernden Erde.
Dieses zweite Thema wird nicht verändert, denn es ist das Ewigbleibenden, es steigt nur, oder es schreitet als Bassstimme zum wogenden Rhythmus einer Gegenstimme.
Was nun kommt ist das ewige sich durchdringen von Geist und Materie, von Himmel und Erde, in den beiden Themen.
Äußerlich ist es der Lauf des Jahres, der sich in mächtigem Schwung an uns vorüberdreht: Tobende Winterstürme, aufjauchzender, dampfender Lenz, blütenschwerer Sommer in breiten Akkorden, und über allen Veränderungen des ersten, des «irdischen» Themas, steht die ewige Ruhe des Geistes, des hinflutenden Liedes.
«Einzig das Lied überm Land / heiligt und feiert!» (R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX).
Dann singt es sich noch einmal aus, dieses Lied, dann schwingt er noch eine Weile nach, dieser Tanz der Ideen; und die Vollendung kommt im Herbst, im ganz verklärten Erdenthema, veredelt und gereift durch den Geist, geläutert und herrlich in seiner ausatmenden Fülle, die verklingt.
Himmel und Erde, Natur und Übernatur, Idee und Form stehen im ersten der beiden Sätze. Der zweite ist der «Satz des Lebens»!
Beethovens fünfte Symphonie hat man die «Schicksalssymphonie» genannt, und nicht mit Unrecht wohl; die «Unvollendete» möchte ich im Gegensatz dazu die «Lebenssymphonie» nennen.
Noch einmal will ich hier R. M. Rilke zitieren, der im «Malte Laurids Brigge» schreibt:
«Das Schicksal ist schwierig durch seine Vielfalt,
das Leben durch seine Einfachheit!»
Einfach ist auch das Hauptthema des zweiten Satzes: Ein zartes, gebrechliches, inniges Lied, das zitternd und arm zwischen den rasenden Gewalten, denen wir schon im ersten Satz begegneten, auf und niederschreitet, das niedergezogen wird von den Erdenmächten, aus denen es sich nährt, und in Ketten liegt, voll Sehnsucht nach dem ewigfernen Idealen; das umbuhlt wird von zwei starken Liebenden: von der Natur und Übernatur, und diesem schwachen Leben ist es aufgeladen, Maß zu halten, damit es nicht untergehe.
Wenn wir in einer Tragödie mit Spannung verfolgen, wie der Held, eben weil er dieses Maß überschreitet, gefällt wird vom Zorn Gottes, (wie ein Baum, den der Blitz trifft, weil er hervorragt über die andern Bäume des Waldes), so rollt sich hier vor uns mit atemberaubendem Schwung ein Leben ab, das dieses Maß erträgt, das von allen Höhen herab, und aus allen Tiefen zurückfindet zu Maß und Entsagung. So klingt dieses mächtige Kunstwerk aus, still und beherrscht, aber voll Kraft und Mut.
Was sollte noch aufgerollt werden in einem weiteren Satz? Natur und Übernatur ‒ zusammengefasst in dem festen Knoten des menschlichen Lebens: So ist die «Unvollendete» vollendet.
Quelle: Privat-Archiv David Steindl-Rast OSB, Niederschrift Ein Kunsteindruck (1947)