Franz Kuno Steindl-Rast
Im Januar 2022 hat Bruder David ein Originalmanuskript (mit österreichischem Zensurstempel) zu einem Vortrag zur Verfügung gestellt, das er selber um 1946 geschrieben hat noch unter seinem Geburtsnamen Franz Kuno Steindl-Rast. Dieser Vortrag führt uns zu den biografischen Wurzeln von Bruder David, seiner Analyse der realen und geistigen Situation im bombenzerstörten Wien und seinem wachen Gespür für die Vorboten der Wende in Religion und Kultur, synchron mit den Naturwissenschaften: Der Vortrag ist ein Weckruf des 20 jährigen Mannes, auf der Grundlage einer Revolution der Herzen die Aufgabe der Kunst verbindlich wahrzunehmen, und folgerichtig für die Ausbildung junger Künstler neue Formen zu entwickeln in Richtung Zusammenleben mit Lehrern, Bildhauern, Malern, Musikern, Dichtern und Tänzern unter einem Dach.
[1] Sie sind alle einer anonymen Einladung gefolgt. Irgendjemand, den sie nicht kennen, hat sie gerufen, wo er sie gerade fand. In den Akademien und Schulen, an der Universität und in den Kirchen, auf der Straße. Er hat sie angerufen mit den beiden Worten: die Kunst und junge christliche Generation.
Dass sie gekommen sind, gibt uns, die sie geladen haben, die Gewissheit, die uns freut: diese beiden Worte haben in jungen Menschen ein Echo gefunden: es gibt eine Jugend, die gleich uns gepackt ist von einer Unruhe, von einem Fragen und Suchen, das nach einer Lösung der offenen Frage drängt: die junge christliche Generation und ihre Kräfte in der Kunst.
Vielleicht ist ihr Echo dieselbe Hoffnung, die wir an diesen Abend knüpfen, die Hoffnung: jemanden zu finden, der auch danach strebt, in seinem Leben diese beiden Bereiche zu erfüllen: Christ und Künstler. Nicht in einem Nebeneinander, sondern in einer ursächlichen Durchdringung und gegenseitigen Steigerung. Vielleicht ist ihr Echo die Freude, dass jemand da sei, der ausspricht, was so viele empfinden: dass unserer jungen Generation ein Anfang aufgetragen ist, der (wohlgemerkt) mit der längst vorgestrig [wirkenden] Moderne, wie sie uns aus den Kunstzeitschriften und Ausstellungen des Jahres 1946 entgegenstaubt, nichts zu tun hat, und dass es um die Erfüllung dieses Auftrags geht. Vielleicht ist ihr Echo auch nur das Interesse an einer geistreichen Debatte über Kunstprobleme, vielleicht hat sie auch nur die Neugier hergeführt, und sie zucken ratlos die Schultern zu unserem Abend. Oder sie sind gekommen, weil sie der Zusammenhang, den sie auf unserer Einladung fanden: Christentum und Künstler, zum Wiederspruch reizt. Sie wollen vielleicht unseren Weg als Irrweg zeigen, den wir zu gehen begannen. Wie dem auch immer sei, wir danken Ihnen ihr Vertrauen, das sie uns durch [2] ihr Kommen geschenkt haben, und [wir] werden es bestimmt nicht durch Enge der Auffassung und Ausschließlichkeit enttäuschen.
Wir wollen es auch gleich frei sagen: es geht uns um dieses Echo, das wir bei ihnen finden wollen.
Wer sind wir nun, die sie geladen haben?
Haben wir uns aus Lust am Geheimnisvollen in das Dunkel der Anonymität gestellt, oder sind wir die wahrhaft noch Namenlosen, aus denen noch alles werden kann, weil noch keine Möglichkeit vergeudet ist?
Sind wir vielleicht Künstler, die sie gerufen haben, um über ihre Arbeit sprechen zu können, zu prahlen mit Plänen, zu plaudern von Bildern, die sie malen wollen. Kein wahrer Künstler würde ein Wort dazu sagen. Seine Antwort wäre das Werk.
Vielleicht Kritiker, die über Werke junger christlicher Künstler urteilen wollen? Wo wären die Werke, die zur Diskussion stünden? Nein: wir sind nur Fragende, die glauben, eine Antwort vernommen zu haben, Suchende, die meinen, ganz fern ein Ziel zu sehen. Wir sind aus der Jugend, die ausgestreut worden ist von einer furchtbaren Zeit als Same. Und wir sind solche, die ihre Träume nicht abstreifen wollen mit den Kinderschuhen, sondern ihnen treu bleiben wollen und sie erfüllen wollen ein Leben lang. Wir sind aus der Jugend, die von den Alten aufgegeben wird, weil sie die verdorbene Frucht sei, im Kriege gereift. Wir sind solche, die an diese Jugend glauben, weil wir an uns selber glauben.
Unsere einzige Berechtigung, dass wir ‒ weder Kritiker, die über Vorhandenes richten wollen, noch Künstler, die auf Geschaffenes blicken dürfen ‒, den Mund auftun, ist, dass wir dem Kommenden dienen wollen, dem heute kaum einer dient mit aller Leidenschaft des Herzens und mit allem Wagnis des Muts, mit allem Glauben und aller Demut.
[3] Es geht uns um Ihre Stimme, meine Zuhörer, mehr als um Ihr Ohr, das sich vielleicht einen ausgearbeiteten Vortrag zu diesem Thema, neuartige Kunsttheorien oder spekulative Erörterungen erwartet hat. Solche Hoffnung müssen wir enttäuschen.
Wir sind der festen Überzeugung, dass kein Kunstwerk, oder gar die Entwicklung einer jungen Künstlergeneration, auf einer spekulativen Fragestellung, oder gar auf ästhetischen Begriffen beruht, sondern auf einer mit dem Verstande nicht zu entwirrenden Vielfalt von Erlebnissen. Diese, und die durch sie geweckten Kräfte müssen Gegenstand unserer Betrachtung sein.
Wir müssen leise sein und einander zuzuhören verstehen, wenn unsere Gedanken fruchtbar werden sollen. Unsere Gedanken, die uns Erlebnisse sind, die uns zu Entscheidungen aufrufen, zu Entscheidungen unserer Verantwortung vor Gott und der Zeit, zu Entscheidungen, die heute niemandem anderen aufgetragen sind, als gerade der Jugend dieser Zeit, die bestehen oder unterliegen kann.
Wir, die zu Ihnen sprechen, sind bereit, sie zu vollziehen und zu erfüllen, und jeder, der uns hört ist aufgerufen, mitzuentscheiden durch sei Ja oder Nein, hinter dem sein ganzer persönlicher Einsatz stehen muss.
Es geht uns darum:
Nicht mehr allein zu sein, Wenige, Einzelne, voneinander getrennt durch eine Masse der Gleichgültigen, Einsame, die verzweifelt einen verlorenen Posten halten, nur an eine Hoffnung geklammert: «Irgendwo muss doch ein Mensch sein, der neben dir stehen könnte, wenn er dich hörte». Wir wollen nicht mehr in allen Schulen und Akademien, auf allen Straßen in den Gesichtern der jungen Menschen forschen nach einem verwandten Zug, nach einem Blick, der einen Bruder verspricht, einen, der hilft, der mitträgt.
[4] Um dieses Finden geht es uns. Dass diese Einzelnen sich mit dem Rücken aneinanderstellen, einander deckend und stärkend.
Darum lehnen wir jede Debatte ab, die sich nur am Streite freut und am Gegensatz. Wir lehnen ab jeden Wiederspruch, der nur trennen will. Aber lebendige Diskussion ist eben nicht Angreifen um jeden Preis, parlamentarisches Wortgefecht oder Niederreißen jeder Meinung. Diskussion ist ein Helfen im Bejahen und Verneinen, ein Bestärken durch das Aufdecken des Eigenen. Wir bitten um jedes Wort, das vereinen kann, das die Fremden einander zuführt als Freunde.
Und wenn einer unter Ihnen ist, der aufstehen kann und Gedanken sagen, die uns noch nicht gekommen sind, der einen Weg weiß, der weiterführt als unser Blick reicht, wenn unsere Sehnsüchte und Hoffnungen in seinen Worten Ausdruck finden, so wollen wir ihn hören und selber die Geladenen sein. Wir wollen mit unserer Diskussion dem Leben dienen, im Bejahen und Verneinen ihm zur Entfaltung helfen. In diesem Sinn darf sie verlangt werden und wird sie fruchtbar sein.
Werfen wir nur einen Blick auf unsere Zeit, um zu sehen, wo wir überhaupt stehen. «Der Mensch liegt in größter Not.» Dieser Aufschrei, [den Gustav Mahler durch seine zweite Symphonie klingen lässt], gilt unserer Zeit mehr als der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Ja, es gibt keinen erschütternderen Hilferuf aus unserer Zeit als diesen: «Der Mensch liegt in größter Not.» Aber nicht nur er, alles, was von ihm geschaffen wurde, ist zerstört und geschändet, alles, was ihm zum Dienste und zur Freude vom Schöpfer gegeben wurde, hat er missbraucht und entweiht. Es scheint so, als ob der Fluch auf alles gefallen sei, das er berührte.
[5] Wenn man jedoch seine Situation, die entsetzliche innere und äußere Not der Zeit analysieren und beschreiben wollte, müssten wir sie wohl öfters zusammenrufen, um schließlich doch nur Teile und Komponenten aufgezeigt zu haben. Darum geht es uns aber auch nicht. Die wenigen Worte, die wir hier unter diesem Gesamtblickpunkt zusammenfassen, sollen uns eine Realität wachrufen, die wir selbst in mannigfaltiger Form erlebt und überdacht haben: die Tatsache der schreienden Not des heutigen Menschen. Wer dies nicht glaubt, der möge nur einmal auf die Straße gehen und mit offenen Augen die an ihm vorüberhastenden Männer und Frauen betrachten, die Kinder, wie sie in die Schule kommen, blass, mit freudlosen, versorgten Gesichtern, mit glanzlosen Augen und bitteren Mündern, mit den Sorgen und Erfahrungen der Erwachsenen: Wir brauchen da nicht gleich an die Flüchtlinge und Entrechteten anderer Nationen, nicht an die grauenhaften Gesichter heimkehrender und in Lumpen gehüllter Soldaten, nicht an die Arbeitszüge politischer und krimineller Häftlinge und Verbrecher denken. Im Antlitz eines Jeden, der uns begegnet, werden sich Spuren und Zeichen dieser Situation finden.
Wenn wir in kurzen Streiflichtern einige Punkte berühren, die nun über das persönliche Augenblickserlebnis hinausgreifen, wird der Eindruck in einer erschütternden Weise noch vertieft: Krieg in China, Terror in Palästina, Hetze und Propaganda verschiedenster Ideologien und Parteirichtungen, Hunger in allen Winkeln der Erde, Mangel an den nötigsten Gebrauchsgütern, Schleichhandel mit Arzneimitteln und Waren und Spenden für notleidende Völker, Aufruhr gegen Kirche und Christentum, bettelnde und sich verkaufende Kinder in allen Straßen der Städte der ganzen Erde, Raub, Totschlag, Schändung Quälerei, [6] Rachgier, Ehrgeiz, Verzweiflung, Selbstmord.
Es ist Karfreitag und die Welt schlägt Christus ans Kreuz und merkt nicht, dass sie sich selbst - mordet in ihm. Denn was bleibt, wenn die Liebe getötet ist?
Ich weiß nicht, ob es nach den wenigen Sätzen noch viel bedarf, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass der Mensch ein Enterbter und Entrechteter ist.
«Der Mensch liegt in größter Not.» Wir alle sind mitgerissen in dieses Chaos und fühlen die hilflose Einsamkeit des einzelnen Menschen, weil wir zu vielen Malen erlebt haben, dass wir in Auflehnung gegen Untergang und Verderben allein gestanden sind. Wir wissen, dass nicht alle dem Ruf nach Macht und Ehrgeiz folgen, wir wissen, dass sogar viele bereit sind, wenn es sein soll, selbst ihr Leben einzusetzen. Aber sie stehen allein in ihren Bestrebungen und Hoffnungen, sie werden umspült von einer Masse ablehnender und angreifender Menschen, dass sie sich hilfesuchend nach Gleichgesinnten umsehen müssen. Sie erkennen mit einmal, dass sie allein auf einem verlorenen Posten stehen, und einzig der Wunsch, das Leben sinnvoll einzusetzen, lässt sie Ausschau halten, wenigstens eine kleine Schar ähnlich Denkender und ähnlich Fühlender zu finden.
Freilich könnte hier nun jemand den Einwurf laut werden lassen, dass es sinnlos ist, von Wunden und Schmerzen der Mitmenschen zu sprechen, wenn Künstler dies tun, da sie ja niemals die Absicht haben werden, praktisch in das Leben einzugreifen, um wenigstens an einer kleinen Stelle die Not zu lindern.
[7] Trifft uns als Christen dieser Vorwurf nicht mit Recht? Müssten wir nicht alle die nächstliegenden karitativen Berufe ergreifen: Arzt, um die Kranken zu heilen, Hilfsschwestern, die lindern, wo es nur geht, Priester, die aufrichten und trösten, Lehrer und Erzieher, um an den Brennpunkten menschlichen Elends und innerer Verwahrlosung einzugreifen? Ist das nicht unsere nächstliegende christliche Aufgabe: «Hungernde speisen, Nackte bekleiden»?
Unter solchen Gesichtspunkten lässt sich nun die Berechtigung der Kunst in dieser Zeit natürlich unter Zweifel stellen. Wenn aber jemand glaubt, er lebe allein vom Brot, und alle Not der Völker erwachse allein aus dem Mangel an den nötigen Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern, dann wird er die Kunst mit allen ihren Zweigen wohl entbehren können. Er wird sie unter Trümmern und Elend vielleicht sogar als Hohn empfinden.
Wir aber, glaub ich, müssen doch darauf hinweisen, dass die Wurzel derartiger Weltkatastrophen und ihrer folgenden Nöte tiefer liegen. Wir müssen auch vor der Annahme warnen, dass die Überwindung des materiellen Chaos von der Materie kommt.
Wir glauben daran, und die Furchtbarkeit der Zeit hat uns darin recht gegeben, dass der Mensch «nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort lebt, das aus dem Munde Gottes kommt» (Mt 4,4). Es ist schwer, ein derartiges Wort auszusprechen, um darin die Berechtigung des künstlerischen Berufes unter Beweis zu stellen, und man muss sich der Verantwortung bewusst sein, wenn man behauptet, dass die Kunst irgendwie ein Wort Gottes sei. Wenn wir uns klar werden, worin das Geheimnis der Schöpfung und ihres Schöpfers liegt, wenn wir erkennen, wie alles Leben in der Liebe erst das Leben gewinnt, und wie aller Ewigkeitswert in der Liebe liegt, dann wird unser Vergleich etwas an Gewagtheit verlieren, denn jedes Wort Gottes vermittelt uns immer nur die unendliche Liebe dessen, der vom Anfang war und bis in alle Ewigkeit hin sein wird.
[8] Will die Kunst etwas anderes als den Menschen zum wirklichen Leben rufen? Darin liegt ihre Größe und ihr Ewigkeitswert, darin allein ihre Sendung an den Menschen. Glauben sie nicht, dass der Keim zu all den angedeuteten Katastrophen, zu Chaos und Verzweiflung, im Mangel an Liebe und in der Abkehr von ihr liegt? Die Menschen sind obdachlos, hungern und frieren, dass ein Stück Brot eine Kostbarkeit ist.
Aber mehr noch als an Hunger leiden sie an dem Verlangen nach Liebe. Ich würde mich nie getrauen, zu behaupten, dass alle die Mädchen, die nun ihre Unberührtheit an Fremde wegwerfen, dies allein aus materiellen Beweggründen tun. Wohl treibt der Hunger viele in die Arme von Soldaten, viele aber werden auch von einem unbestimmten Gefühl getrieben, dass man irgendwo noch etwas anderes finden müsse als Essen und Trinken. Wenn sie auch schon lange nicht mehr an ein Glück glauben, so hoffen sie im Geheimen doch auf kurze Augenblicke der Liebe.
Es ist [so] entsetzlich, wie verirrt und verrannt der Mensch in seiner Not ist, dass es nicht mehr genügt, ihm Brot und Kleidung zu reichen. Weder mit Mechanisierung, noch mit Organisation, wird es gelingen, die Ordnung wieder herzustellen, die im letzten doch nur ein Erscheinungsbild der Liebe ist. […]
Die Forderung der Zeit ist die Summe aus den Forderungen aller Menschen. Die aber schreien in die Welt hinaus, dass es nur endlich jemand erkenne: Mehr als nach dem Brot hungert uns nach Liebe.
Das scheint mir die Berechtigung der Kunst, dass sie einen Hauch vom Worte Gottes in sich trägt, dass sie im Geist der Liebe die Materie neu beseelt, um den absterbenden Menschen zum Leben zu rufen.
Entspricht aber das konkrete Bild des Künstlers in unserer Zeit diesen Anforderungen? Wir könnten mit Recht daran zweifeln, wollten wir die als Maßstab nehmen, denen die Tagesmeinung den Ehrentitel von Künstlern zugesteht. Gibt es aber nicht auch heute noch [9] solche, denen Künstlersein ein karitativer Beruf ist? Das innerste Wesen des Künstlers ist doch die Liebe. Sein Beruf umfasst in einem, was unserer Zeit nottut: Er ist Priester, ist Lehrer und ist Arzt zugleich, der heilt. Und darum gibt es für den Künstler eine Berechtigung in solcher Zeit. Ja, er ist ihre Notwendigkeit im wörtlichen Sinne, der, der die Not wendet. Wie wir von Wissenschaftlern nicht nur, wie die Generation vor uns, erwarten, dass er in der Durchforschung seines engen Bereiches ein Wissender sei, sondern darüber hinaus, dass er in der Anschauung des Ganzen ein Weiser werde, so verlangen wir vom Künstler auch mehr, als dass er ein bloßer Könner sei. Er soll in der Begegnung mit der Welt ein großer Liebender werden. Er wird anschauen lieben und liebend gestalten und so Wegweiser sein über den Wandel hinaus ins Ewige.
Aber unsre Zeit ist hart und wird den unbarmherzig richten, der ihr aus Halbheit versagt, was sie fordert. Denn die Zeit richtet ihre Propheten strenger, als sie sich selber richtet. Wer ihr dienen will, muss sich selber vergessen; er muss arm werden, weil die Zeit arm ist, grauenhaft arm, und weil sie nur von dem Wahrheit annehmen wird, der sich entblößt und nichts hat und nichts verlangt als die Wahrheit; er muss keusch sein, weil nur der reine Spiegel das Bild des Geschauten rein wiedergeben kann, und nur der kindlich Reine über den Sumpf gehen wird wie über festes Land; er muss gehorsam sein, weil nur der den Weg der Ordnung weisen kann, der sich ihr zuerst in seinem persönlichen Leben bedingungslos unterwirft. Armut, Keuschheit und Gehorsam ‒ das Bild des mönchischen Christen; an ihm müssen wir uns erproben und ausrichten, um mündig zu werden als Künstler vor unserer Zeit.
[10] Es geht um das Antlitz unserer Zeit. Ob aus diesem ungeformten Stoffe, wie ihn alle brodelnden, suchenden und einander abstoßenden Kräfte darstellen, ein Antlitz sich erhebt, das das Zeichen des Menschen auf der Stirne trägt und wahrhaft Ebenbild Gottes heißt: An diesem Bild zu formen, darum geht es. Und es wird geformt daran, jeglichen Augenblick, ob wir uns im Ernst darum mühen in täglich neuem Beginnen, in zähestem Ringen, oder ob wir den Meisel aus der Hand legen und müde beiseite stehen. Es sind Kräfte am Werk unablässig: die Generation arbeitet an ihrem Bild.
Wir müssen uns langsam zu der Erkenntnis durchringen, dass jeder von uns mitverantwortlich ist für den Ablauf der Geschichte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, und darüber hinaus vielleicht noch mitbestimmend an der Gestaltung kommender Jahrhunderte. [Wir mögen uns hier nur daran erinnern, wie die Wellen der französischen Revolution noch an die Ufer der Gegenwart schlagen, wie Ideen ausgehend von einigen Wenigen noch die Gehirne vieler beherrschen.]
Es nützt uns sehr wenig, zu bedauern, in eine so verworrene Situation hineingeboren zu sein. Kritik, Bedauern und Unzufriedenheit mit der Lage der Welt und der Menschheit führt bestens zur Resignation und zur Zurückgezogenheit des Einzelwesens. Bewährung bedeutet uns aber aufopfernde Stellungnahme zu den Gegebenheiten der Gegenwart. Freilich ist damit ein Übergang von der passiven zu einer aktiven Lebensgestaltung erforderlich. Das bedeutet, die Defensivstellung aufgeben und zum Angriff übergehen. Solange wir nur darauf bedacht sind, die überlieferten Schätze und Positionen zu bewahren, wird man uns Stück für Stück des eigenen Lebensraumes entreißen, ja, wir werden auf das Versprechen hin, geduldet zu sein, wichtige Bastionen aufgeben, um uns am Ende kaum mehr von Menschen anderer Gesinnung zu unterscheiden.
[11] Allein zu einer wirklichen Bewährung gehört mehr als nur Aktivismus. Es wäre verfehlt, zu meinen, damit den richtigen Weg zu einer Gesundung schon gefunden zu haben. Jeder Schritt, der unternommen wird, möge allein aus der einer Erkenntnis entsteigenden Notwendigkeit geboren werden.
Wir selbst scheinen verbraucht und müde, dass es einem unmöglich vorkommt, das Erbe der gegenwärtigen Situation übernehmen zu können. Aber vielleicht sind es gerade unsere Ausgelaugtheit und Müdigkeit, die uns so klar vor Augen stellen, dass es höchste Zeit ist, endlich den neuen Boden vorzubereiten, der ein gesünderes und in der Ordnung verwurzeltes Leben möglich macht. Nicht die Fortsetzung des alten Weges, sondern der Aufbruch zu einem neuen wird die Bewährung unserer Generation in dieser Zeit sein.
Es ist leicht, an bestehenden Dingen Kritik zu üben, ohne selbst einen Ausweg daraus zu kennen, d.h. wenigstens Ansatzpunkte dazu zu sehen. Darum soll hier angedeutet werden, worin nicht nur ein Ausweg aus einer Situation, sondern ein gültiger Weg liegen könnte. Um es klar und einfach zu sagen: Ich meine damit eine christliche Generation, die imstande ist, eine Revolution der Herzen durchzuführen, die die Vormachtstellung einer materialistisch diesseits gerichteten Welt durchbricht. Eine Generation, die endlich einmal zuerst das Reich Gottes sucht und damit den Traum eines in Organisation und Mechanisierung gesicherten Lebens aufgibt. Eine Generation, die bereit ist, in ihre Herzen das Gesetz der Liebe zu brennen, weil Christus Mensch geworden ist, und er mit seinem Tod am Kreuze und seiner Auferstehung uns die Gültigkeit dieses Gesetzes bewiesen hat. Eine aufbrechende christliche Generation würde bedeuten: bereit zu sein, vor der Welt Bekenntnis abzulegen, dass Christus nicht in die behüteten Räume unserer Wohnung, nicht in Klöster und Kirchen gebannt werden kann, sondern dass er Anspruch erhebt auf alle Menschen und alle Bereiche des Lebens. Allerdings nicht in Gewalt, [12] sondern allein in der Macht der Liebe.
Ich will Sie mit dieser Tatsache, wie gering der Anteil der christlichen Kräfte in unserer Generation ist, nicht beunruhigen, denn wer immer sich mit der Frage der Generation beschäftigt, wird auf den Begriff der «Wenigen» stoßen. Die Wenigen, die von einer nachkommenden Zeit gesehen, der Generation das Gesamtgepräge geben. Es gibt in jeder Generation die kleine Schar dieser Wenigen, die den geheimen Hebel ihrer Zeit finden, wo sie sich fast selbstverständlich aus den eingefahrenen Geleisen einer Entwicklung heben lässt. Um was Andere sich mühen und mit allen Anstrengungen nicht zustande bringen, gelingt diesen Wenigen, als ob ihre Hand geführt würde, traumwandlerisch, und es gelingt immer, wenn es der Schwerpunkt ist, an den sie die Hände legen.
Dass wir mit einer derartigen Auffassung von der Welt von den weitesten Kreisen als Narren, Phantasten und Utopisten abgetan werden, muss uns bei einiger Offenheit nicht wundern. Und auch die Generation vor uns wird wahrscheinlich kein anderes Urteil fällen. Aus diesem Grund ist unsere Stellung zu ihr schon in einer Weise bestimmt. Da wir mit ihr in unseren Gedankengängen in Widerspruch geraten, ist uns der geschichtliche Weg einer Nachfolge und Fortsetzung unmöglich geworden.
Eine Generation hat als erstes Gemeinsames die Grenzen: gegen in die ältere und gegen die nachfolgende. Die Grenze, die wir ziehen sollten, gilt vor allem den Richtungen, für die Verachtung der Natur, Zerschlagung aller uns als Sinnbilder gegebenen Formen, Zynismus und auswegloser Individualismus kennzeichnend sind. Gegen die müssen wir eine scharfe Trennungslinie ziehen. Wir wollen gläubig die Natur und alle uns gegebene Formen sehen und sie aufschließen zu einem Hintergrund, dass sie zu leuchten beginnen als Gleichnis und Bild.
[13] Wir können aber nicht so einfach die gesamte Vätergeneration als Ganzes betrachten. Es sind in ihr ebenso mannigfaltige Komponenten zu einer Resultierenden zusammengefasst, wie dies auch bei uns selbst der Fall ist. So finden wir in ihr auch kleinere Teile, die uns gedanklich nahestehen, doch fallen diese geistig schon in die kommende Zeit, da sie in ihrem Wirken nicht den Zeitgenossen, sondern einem folgenden Geschlecht mit das Gepräge geben. Wir nennen hier nur zum Beispiel den «Renouveau catholique» in Frankreich mit all seinen Kräften. Wir stehen somit in einer ablehnenden Haltung gegenüber der Gesamtentwicklung der letzten Jahrzehnte, ohne aber in das Extrem der absoluten Ablehnung und Verneinung aller Überlieferung zu fallen. Eine Revolution bringt immer die Gefahr der Einseitigkeit mit sich, und es könnte auch in einer anbahnenden geistigen sich manches einschleichen, das dem Geist der Liebe nicht entspricht. Darum möchten wir von vornherein betonen, dass uns die Tradition als unbedingt wertvoll und notwendig erscheint. Ablehnung der Hauptzüge einer Vorgängergeneration bedeutet daher in keiner Weise Negierung jeglicher Tradition. Ja gerade aus ihr fließen uns viele Kräfte zu, die einem neuen Aufbruch die notwendigen Grundfundamente sein könnten. Tradition, das bedeutet uns nicht, starres Festhalten am Althergebrachten, sondern lebendiges Gegenwärtigsein aller geschaffenen abendländischen Formen, nicht um sie zu verwerten in Nachahmung, sondern um selbst Spitze zu sein an einem lebendigen Wachstum, um einen Schwerpunkt in sich zu tragen, der uns Gewicht und Standfestigkeit gibt.
Wir wollen uns nun auf einige wesentliche Merkmale der älteren Generation besinnen und müssen dabei die schon erwähnte Aufspaltung in mehrere Komponenten aufgreifen, damit uns die Stellung unserer Generation umso klarer werde. Zu Anfang möchte ich die traditionellen Richtungen erwähnen, die in Fortsetzung liberaler und christlich formaler Überkommenheiten das Einzelindividuum zu bewahren trachteten.
[14] Ihre Kräfte strömten allein aus dem geschichtlichen Erbe, ohne dass sie wirklich imstande gewesen wären, dieses lebendig fortzusetzen, um daraus eine Gültigkeit für alle Schichten einzuleiten. Allein durch die Impulse der Vergangenheit getragen, mussten sie immer mehr an Schlagkraft verlieren. Auch stellte diese Entwicklung immer mehr den autonomen Menschen als egoistisches Zentrum in den Vordergrund. Diese Entwicklung ist einfach die letzte Konsequenz und äußerste Überspitzung dessen, was in der Renaissance begonnen. Für uns gibt es in diesem Punkt nur ein völliges Neubeginnen. Das Vorherrschen eines gewissen ästhetischen Materialismus musste eine Reaktion hervorrufen. In Wirklichkeit waren nun die Folgen in ihrer Erscheinung zweigeteilt. Das Auftreten der marxistischen Richtungen und die Nationalvergottung brachten zwar die Überwindung des Einzelegoismus, aber nur um einem Kollektivegoismus Raum zu geben. Einzig und allein der Kampf um die Materie beherrschte das Einzelwesen, genauso wie Parteien und Staaten. Der Menschen wurde nunmehr nach seiner äußeren Machtstellung, und nicht mehr nach innerem Wert und Charakter beurteilt. Aufgelöst in ein System kausaler Notwendigkeiten, wurde er selbst nur mehr getriebene, verantwortungslose Materie. Der ganze Ablauf der Geschichte spiegelt ein gigantisches Ringen der Völker um Macht, Besitz, Einflusssphäre, Vormachtstellung und Herrschaft. Die innere Entwicklung brachte die notwendigen äußeren Folgeerscheinungen, nämlich zwei Kriege, die die Brennpunkte der menschlichen Situation wurden. Wir junge Menschen, in die Zeit dieser Auseinandersetzungen hineingeboren, führten die Waffen auf Geheiß [unserer] Väter gegeneinander, um bei einem friedlichen Zusammentreffen zu erkennen, dass zwischen uns nichts als der Befehl und das Wollen der verantwortlichen Männer gestanden habe. Dieses äußere Schicksal kam jedoch nicht von selber über uns, es wurde von allen jenen heraufbeschworen, die damals verantwortlich waren, wie wir es heute für die Gegenwart sind.
[15] Wie die äußeren Katastrophen aus der inneren Situation der älteren Generation geboren wurden, so hinterließ das Erlebnis dieser Zeit in den jungen Menschen eine trostlose innere Situation, die sich auf die weitere Entwicklung im öffentlichen, privaten und beruflichen Leben verheerend auswirkte. Wohl war manchen die Erkenntnis gekommen, dass sie vieles versäumt hatten, dass erst ein innerer Aufbau und eine wesentliche Neugestaltung menschlichen Geistes die materielle Not ändern könnte, doch wurde ihre Hoffnung, sich tatkräftig in einen Gesundungsprozess einzuschalten bald enttäuscht, da es an Lehrern fehlte, die auch nur die Grundlagen dazu hätten vermitteln können. Es fehlte an Lehrern und fehlt natürlich noch immer. Was blieb den trotzdem Suchenden übrig, als zu Autodidakten zu werden, um in mühsamer Kleinarbeit sich Schritt für Schritt weiterzutasten.
Ich erinnere mich noch gut, wie wir hoffnungsvoll auf das Leben der von uns abgeschnittenen Umwelt warteten, wie wir glaubten, dass uns vieles nur vorenthalten worden war, um nun endlich mit umso größerer Gewalt an uns heranzutreten. Das Ende war doch, dass wir Sucher bleiben mussten. Mit fiebrigen Augen tasten sich einzelne weiter. In ihren Herzen sind sie Einsame geworden und können nicht verstehen, dass man ihre innere Glut nicht begreift, die mit Schrecken erleben, dass man ihre in Not und Entsagung gefassten und sorgsam gehüteten Hoffnungen mit Füßen tritt. Und trotzdem sind sie es, die den Glauben an die Größe des Menschen bewahrt haben, um in seltenen Augenblicken überglücklich zu sein, auf dem Wege einmal einen Verstehenden gefunden zu haben. Der größere Teil kann sich jedoch der immer stärker aufsteigenden inneren Müdigkeit nur schwer erwehren. Heimtückisch kriecht sie in das Innere des Menschen, um alle Bereiche in ihm zu durchsetzen und schließlich in den Gedanken ihren Niederschlag zu finden. Wie eine verheerende Krankheit zehrt sie die Kräfte der menschlichen Seele auf, dass sich der junge Mensch den immensen und äußeren Schwierigkeiten nicht mehr gewachsen fühlt.
[16] Wir haben versucht, in groben Linien unsere äußere und innere Lage zu umreißen und es gilt jetzt, einen Ausweg zu finden. Wir stehen an einer Wende, leben in einer Zeit, in der es heißt, die alten Werte neu zu wägen. Wer aber abwägen will zwischen zwei Werten, der muss einen dritten finden, dessen objektive Gültigkeit ihm erst den festen Stand gibt. So ist ein Abwägen auch in unserer Frage erst möglich geworden durch eine Neuentdeckung, wenn wir so sagen können, durch eine Neueroberung der objektiven Wahrheiten des christlichen Glaubens in der religiösen Erneuerung unserer Zeit. Wir wollen es offen bekennen: die Angel, in der wir unsere Waage aufhängen, ist er christliche Glaube. Der feste Boden, auf den wir gestellt sind, ist die katholische Kirche, und wenn wir uns zum katholischen Christentum bekennen, so meinen wir damit im wörtlichen Sinn ein allumfassendes Christentum, ein Christentum, das alle Lebensbereiche durchdrängt, und damit auch letzte Gültigkeit hat in unserer Frage nach dem neuen Weg unserer Generation in der Kunst, ja, kein anderes Licht uns leuchten kann aus der Verirrung, in die wir geraten sind, und keine andere Kraft das Neue prägen kann.
Vielleicht würde die religiöse Erneuerung unserer Zeit allein noch nicht genügen, eine Wendung auch in der Kunst zu bewirken, obwohl das Religiöse zu jeder Zeit Urgrund und Rückhalt alles Kunstschaffens war. Es wurde dies Anfang dieses Monats in einem ausgezeichneten Vortrag in einer Vortragsreihe der Katholischen Hochschulgemeinde dargelegt, den vielleicht der eine oder andere von Ihnen gehört haben wird.
Aber wir stoßen noch von einer zweiten Seite auf dieselbe Notwendigkeit: In unseren Tagen geht zugleich eine grundlegende Wandlung und Neugestaltung unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes vor sich: und das neue Weltbild verlangt eine völlig neue Stellungsname auch der Kunst. Nicht, als ob die religiöse Erneuerung [17] und die Wandlung unseres Weltbildes die Beweggründe wären für eine Wende auch in der Kunst. Eine neue Generation wächst auf zu einer ganz bestimmten Form aus einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation, und diese neue Generation, der einzelne Mensch dieser Generation, vollzieht die Wendung. Vollzieht eine neue Bekehrung ‒ die religiöse Erneuerung, vollzieht eine neue Schau ‒ die Erneuerung des Weltbildes, er will sich eine neue Wertung vollziehen ‒ die künstlerische Erneuerung.
Es ginge weit über den Rahmen dieser nur abrisshaften Darlegung und über unsere Kräfte hinaus, wollten wir näher auf die Wandlung unseres physikalischen Weltbildes eingehen. Nur so viel sei angedeutet: Wir haben begonnen, das Alte Weltbild, aufgebaut auf einer Zweiheit, entspringend der tiefsten Spaltung aller Erscheinungen in Energie und Materie, zu ersetzen durch ein neues Weltbild, dem die Einheit zugrunde liegt, eben die Identität von Energie und Materie, die bisher als die äußersten Gegensätze betrachtet wurden. Die Erkenntnis vom allgemeinen Zusammenhang im Kosmos, in einer alle Ahnungen früherer Zeiten übersteigenden Weise, ist also die bewegende Erkenntnis: die Einheit in der Vielfalt.
Und wie ist es im religiösen Bereich? Die Vielfalt aller Erscheinungen, sei es im historischen Sinne, oder in welchem immer, ist uns transparent geworden, und lässt die eine Ur-sache durchstrahlen, den Logos, Jesus Christus, in dem alles seinen Bestand hat. Nicht als ob dies eine neue Erkenntnis wäre: Sie ist seit zweitausend Jahren der Anfang der Frohbotschaft. Aber ihre Neuentdeckung gibt unserer Zeit die religiöse Gestaltungskraft, wie dem Mittelalter etwa das «Memento mori» seine entscheidende Prägung gab. Die beiden beredtesten Zeugnisse für die Kräfte entfesselnde Gärung dieser Erkenntnis sind vielleicht Victor Poucels «Mystique de la terre» [1937] und die Enzyklika «Mystici corporis Christi» [1943] des regierenden Papstes Pius XII selbst.
[19] Im religiösen, wie auch im naturwissenschaftlichen Bereich ist also die Einheit in der Vielfalt der Schlüssel des Neuen. Erkennen Sie jetzt, dass auch in der Kunst der Weg von der Zersplitterung zur Einheit in der Vielfalt der neue Weg ist? Kann man nicht überhaupt von unserer Zeit sagen, sie sei eine Zeit der Besinnung auf das Wesentliche, der Sammlung aus der Zerstreuung, der Vereinigung des Zersplitterten.
Drei Punkte stellen sich uns vor allem dar, in denen die Einheit zerstört ist durch Zersplitterung. Es ist dies erstens die auf die Spitze getriebene Spezialisierung der einzelnen Kunstzweige, dann die widernatürliche Trennung von Kunst und Kunsthandwerk, und drittens die Trennung der künstlerischen Ausbildung von der übrigen geistigen und charakterlichen Erziehung an unseren Schulen und Akademien.
Es soll hier gleich vorweggenommen werden, dass uns die Fragen der Kunsterziehung deshalb so brennend sind, weil wir selber noch in einem Alter stehen, in dem wir der Führung und der Schulung bedürfen, zugleich aber vor so neue Aufgaben gestellt sind, dass wir umsonst nach einem Meister unserer älteren Generation ausschauen, der uns den Weg weisen könnte. Wohl sind wir den Männern dankbar, die uns das Werkzeug rein bewahrt haben, und es uns werkgerecht führen lehren, den Weg aber müssen wir selber finden. Wo wäre dann heute der Meister, der nicht nur Spezialist ist auf seinem Teilgebiet, sondern tief hinabreicht, gleichsam bis zu den Wurzeln, in denen Farbe, Ton und Gebärde noch eins sind, bevor sie ihre Ausformung finden durch den Geist, der den Werkstoff prägt. Und doch: die Kunst ist eine unteilbare eine und ihre einzelnen Zweige sterben ab, sobald sie getrennt werden vom lebendigen Strom, der den Stamm durchpulst. An unserer Generation liegt es vielleicht, ob in Zukunft wieder einmal junge Maler in enger Verbundenheit an einer Akademie herangebildet werden können mit Musikern, Dichtern und Tänzern, wie das ja auch in unserer Zeit in anderen Ländern möglich ist, oder ob die widernatürliche Spezialisierung ohne Einhalt [20] weiterschreiten soll bis zur Selbstverstümmelung.
Widernatürlich ist aber auch die Trennung von Kunst und Kunsthandwerk. Das beschränkt sich nicht etwa auf die bildende Kunst, wenngleich der Missstand dort am augenfälligsten wird, weil die Trennung von Kunstakademie und Hochschule für angewandte Kunst ein willkürlicher tötlicher Schnitt ist, der einen lebendigen Organismus zerstört, denn er beraubt das Handwerk des Geistes und die Kunst ihres Leibes. Wir sind der Meinung, dass nur auf einem gesunden handwerklichen Können in jedem Teilgebiet Kunst aufbauen kann, die anderes sein will als Zeitvertreib für schöngeistige Schwärmer oder Nervenkitzel für Neuerungssüchtige: Kunst, die in Wahrheit dem Leben dienen will, und sich nicht scheut, ihm dort zu dienen, wo es des Dienstes bedarf. Kunst, die auch verstanden werden will. Sie kann nur verständig sein, wenn sie auf dem festen Boden handwerklichen Könnens steht. Sie will aber verstanden werden, wenn sie über Stimmung und Erlebnis des Einzelnen hinausstößt, und Verkündigung wird, Verkündigung der Ordnung, der Liebe und der Erlösung.
Sollen der kommenden Zeit Künstler geschenkt werden, die das zu künden vermögen, weil sie ihr Leben einer höheren Ordnung eingegliedert haben, so müssen junge Menschen zugleich mit ihrer künstlerischen Ausbildung hineinwachsen in eine Lebenshaltung religiöser Bindung und in ein geordnetes freies Gesellschaftsleben. Dazu ist es aber nötig, dass ein Meister mehr geben kann und will als täglich einige Unterrichtsstunden an irgendeiner Lehranstalt, denn nur dem wird er von seinem Leben mitteilen können, mit dem er sein Leben teilen will, mit dem er nicht ansteht, auch unter einem Dach zu wohnen und an einem Tisch zu essen. Und was er ihm durch sein Beispiel zeigt, wird [21] entscheidender sein, als was er vom Lehrstuhl herab doziert. Auch ist es nicht getan damit, dass man mit achtzehn Jahren die Aufnahmeprüfung an irgendeiner Akademie besteht. Die alten Meister haben schon gewusst, warum sie bereits junge Knaben, die Begabung zeigten, schauen und gestalten lehrten.
Um es noch einmal zusammenzufassen: an unseren Akademien ist die organische Geschlossenheit überlieferter Kunstwerkstätten zerstört durch die Zerreißung der Kunst in die Künste, durch die Trennung von Kunst und Kunsthandwerk, von Kunsterziehung und Charakterbildung. Der Lehrbetrieb an unseren Akademien ist dadurch von innen her ausgehöhlt und wird in sich selbst zusammenstürzen, sobald das Neue aufsteht.
Dass es aber aufstehe, dafür ist unsere Generation, jeder Einzelne von uns, dafür sind wir alle verantwortlich. Alles Große will langsam in der Stille reifen. Aber einmal müssen wir einen Anfang setzten, und wir sind bereit, ihn zu setzen, auch unter Opfern, denn wer sollte zum Opfer bereit sein, wenn nicht eine christliche, junge Generation? Wir sind bereit, nach besten Kräften und mit der letzten Konsequenz die Forderungen unserer Zeit zu erfüllen, so wie wir sie erkennen:
Es gilt der Veräußerlichung und Haltlosigkeit ein Leben religiöser Verinnerlichung entgegenzustellen, der Spezialisierung und dem Individualismus ein Leben der Gemeinschaft, mit allen persönlichen Opfern, die ein solches fordert; der Dekadenz die ernste Arbeit technischer Vervollkommnung. Es gilt, eine Werkgemeinde junger Künstler aufzubauen, in der Bildhauer, Maler und Musiker neben Dichtern und Tänzern stehen, neben Architekten und Schauspielern, in klarer Abgrenzung der Bereiche, und doch in ununterbrochener gegenseitiger Befruchtung und Zusammenarbeit: An lebendigen Werken wie es Bühne, Bauhütte, Orchester, Verlag oder Werkstatt sind. Müssen wir noch näher ausführen, dass auch beinahe jeder Zweig des Handwerks seinen Platz in der [22] organischen Ordnung einer solchen Gemeinde findet? Das Leben aus dem Glauben gibt ihr den inneren Halt, und Liturgie im Kreislauf des Jahres ist ihre erhabenste Lebensäußerung.
Man wird uns mit Schülern vergleichen, die ihre Lehrer davonjagen, und einander selber unterrichten wollen. Der Vergleich ist falsch. Wir jagen unsere Lehrer nicht davon, sie haben uns im Stich gelassen, weil sie selber keinen Ausweg wissen. Wir wollen uns auch nicht gegenseitig unterrichten, wollen nur gemeinsam lernen, aus der Ordnung der Natur, aus der Überlieferung der Kunst und von Männern, die demütig, wahr und weise sind, auch wenn wir sie an anderen Orten suchen müssen als auf Lehrkanzeln. Wir müssen heraus aus der Enge. Alle Altersstufen und alle Zweige der künstlerischen Arbeit sollen Raum haben in diesem Rahmen.
Ein Werk, das so alle Zweige der Kunst und des Handwerks umspannt, und im Religiösen wurzelnd die ganze Breite des Lebens erfassen will, ist keineswegs Selbstzweck, ist keine Insel der Seligen, es will sich nur dienend einer höheren Ordnung der menschlichen Gesellschaft eingliedern. Es ist keine Erfindung und keine überlegungsmäßige Konstruktion, sondern einfach die konsequente Gestaltung dessen, wonach unsere Zeit verlangt. Der Individualismus hat sich selber ad absurdum geführt, und der Einzelne ist nicht mehr fähig, den allgemeinen Verfall aufzuhalten. Einer verschworenen Schar aber, und wenn es nur eine Handvoll ist, kann es noch gelingen. Verzeihen Sie daher, wenn hier vor einer Öffentlichkeit, auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden, Dinge ausgesprochen werden mussten, die uns so heilig sind, das wir sie lieber in zarter Ehrfurcht scheu verschwiegen. Wir werden für eine lange Zeit wieder in das Dunkel und in die Stille zurücktreten müssen. Aber jetzt geht es darum, dass diese Schar sich findet.
Ver sacra: der heilige Frühling unserer Jugend muss sich finden, muss sich sammeln, muss aufstehen und ausziehen und Besitz [23] ergreifen von dem neuen Land, das vor unseren Blicken auftaucht.
Meine Zuhörer! Haben wir unsere eigene Situation richtig gesehen? Haben wir in kritischer Selbstbetrachtung unsere Kräfte auch richtig eingeschätzt? Ist der Weg, den wir zum gemeinsamen Ziel: dem Künstler unserer Zeit, gehen wollen, auch Ihr Weg? Sind sie überzeugt, dass der erste Schritt, den wir zu tun haben, die weltanschauliche Entscheidung bedeutet und das Bekenntnis zu religiöser Verantwortung?
Quelle: Privat-Archiv David Steindl-Rast OSB, Vortrag Die Kunst und junge christliche Generation (ca. 1946)