Br. David Steindl-Rast OSB

der moench in unsCopyright © - Wilfried F. Noisternig

Als ich heute Morgen hier hereinkam, war der kleine Damian im Zimmer und fragte mich: «Wirst du heute da oben sitzen und reden?» Ich antwortete: «Ja», und er sagte; «Wird das auch etwas für Kinder sein?» Ich musste nein sagen, denn auf der Ebene, auf der er die Frage gestellt hatte, war das die richtige Antwort. Aber auf einer anderen Ebene glaube ich, dass dies hier sehr wohl für Kinder ist, eigentlich nur für Kinder, denn ich will über planetare Religion sprechen, und zwar unter dem Aspekt des Mönchs in jedem von uns.

Der Mönch in uns ist sehr eng verwandt mit dem Kind in uns oder, wenn Sie so wollen, mit dem Mystiker in uns ‒ denn schließlich sollten wir alle Mystiker sein. Wir tun den Mystikern keinen guten Dienst, wenn wir sie auf ein Podest stellen und sie als eine besondere Art von Menschen betrachten. In Wahrheit ist nämlich jeder Mensch eine Art Mystiker, und das bedeutet eine immense Herausforderung, nämlich genau der Mystiker zu werden, zu dem wir bestimmt sind. Ich gebrauche hier Mystik im wörtlichen Sinn als die Erfahrung der Teilhabe an der letzten Wirklichkeit. Jeder von uns ist dazu berufen, diese Einheit zu erfahren. Und es gibt niemanden, wird niemanden geben und hat nie jemanden gegeben, der die letztliche Wirklichkeit auf dieselbe Art und Weise erfährt wie Sie. Deshalb sind Sie dazu berufen, der Mystiker zu sein, der nur Sie allein sein können.

Wenn ich nun sage, dass dies etwas mit dem Kind in uns zu tun hat, dann meine ich damit, dass es im Kind eine Sehnsucht nach Sinnfindung gibt, eine Offenheit für den Sinn, die durch unsere Zweckorientierung droht verlorenzugehen oder überschattet zu werden. Ich sollte wohl gleich zu Anfang feststellen, dass ich dabei nicht versuche, «Zweck« gegen «Sinn» oder «Sinn» gegen «Zweck» auszuspielen. Aber in unserer Zeit und in unserer Kultur sind wir derart vom «Zweck» in Anspruch genommen, dass man tatsächlich dazu gezwungen wird, die Bedeutung der Dimension des «Sinns» überzubetonen; sonst bekommt das Schiff Schlagseite. Wenn Sie also meinen, dass der Sinn hier außergewöhnlich stark betont wird, so geschieht das nur, um einen Ausgleich zu schaffen.

Im Kind gibt es eine riesige Neugierde herauszufinden, wie die Dinge funktionieren, und einen starken Ansatz zur Zweckgerichtetheit; und dies ist der einzige Antrieb, den wir in der Regel fördern. Aber es gibt auch ein großes Verlangen nach Kontemplation, das wir in der Regel nicht fördern. Wenn wir heutzutage ein Kind auf der Straße sehen, so wird es meistens an einem langen Arm entlanggezogen, und wer immer es zieht, sagt: «Komm, wir müssen weiter! Wir haben keine Zeit! Wir müssen nach Hause (oder sonst wohin). Steh da nicht einfach herum! Tu was!» So sieht der Kern der Sache aus. Aber es gab andere Kulturen, zum Beispiel viele amerikanische Indianerstämme, die ein gänzlich anderes Erziehungsideal hatten: «Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und schauen können, wenn es nichts zu schauen gibt». Und: «Ein gut erzogenes Kind sollte sitzen und zuhören können, wenn es nichts zu hören gibt.» Das ist zwar eine Einstellung, die völlig anders ist als unsere, doch wird sie dem Wesen der Kinder viel gerechter. Genau das möchten sie nämlich tun: einfach nur herumstehen und schauen und völlig in dem aufgehen, was sie sehen oder hören oder lutschen oder lecken oder womit sie gerade spielen. Und natürlich zerstören wir diese Fähigkeit zum Offensein für Sinn bereits sehr früh; indem wir sie zu Sachen zwingen und die Dinge in die Hand nehmen, steuern wir sie ausschließlich in die Zweckbezogenheit hinein.

Vielleicht sollte ich noch ein paar Worte zu den Begriffen «Zweck» und «Sinn» sagen und dazu, wie ich sie hier verwende, aber ich will Ihnen nicht meine Definitionen aufdrängen. Ich möchte Sie vielmehr auffordern, einmal über eine Situation nachzudenken, in der Sie einen bestimmten Zweck erfüllen müssen, und zu sehen, welche innere Dynamik dabei wirksam wird und dies dann mit einer Situation zu vergleichen, in der etwas für Sie sinn-voll wird. Wenn Sie einen bestimmten Zweck erfüllen sollen, dann kommt es vor allem darauf an, dass Sie die Dinge in die Hand nehmen. Wenn Sie gar nicht wissen, worum es eigentlich geht, dann muss Ihnen jemand sozusagen das Geländer zeigen, damit Sie wissen, wie Sie an die Sache herangehen können. Sie müssen die Dinge in die Hand nehmen, die Situation anpacken, die Sache handhaben, die Dinge unter Kontrolle bekommen, sonst sind Sie niemals sicher, dass Sie Ihr Ziel erreichen werden. All dies ist außerordentlich wichtig, weil man es mit einer Situation zu tun hat, in der ein bestimmter Zweck erfüllt werden soll.

Stellen Sie sich nun eine Situation vor, in der etwas für Sie sinn-voll wird. Was gibt es dort anzupacken? Was muss man da unter Kontrolle halten? Darum geht es überhaupt nicht. Sie werden plötzlich Ausdrücke verwenden, in denen Sie völlig passiv sind, oder zumindest passiver. «Empfänglich» ist eigentlich der genauere Ausdruck; Sie verhalten sich passiver als in einer Situation, in der Sie einen Zweck erfüllen wollen. Sie werden vielleicht sagen: «Das hat mich wirklich beeindruckt.» Jetzt sind nicht Sie es, der die Dinge unter Kontrolle hat und sie handhabt und manipuliert; stattdessen bewirkt die Erfahrung etwas in Ihnen. «Das hat mich tatsächlich berührt» oder, wenn es sehr stark war: «Das war wie ein Schlag auf den Kopf!» Oder: «Das hat mich umgehauen!» ‒ irgendetwas in der Art. Dann ist irgendetwas für Sie bedeutungsvoll geworden. Was wirklich geschah, war, dass Sie sich einer Sache, was immer es auch gewesen sein mag, hingegeben haben und in diesem Moment wird sie Ihnen ihre Bedeutung offenbaren. Und lassen Sie mich noch einmal betonen, dass dies keine entweder/oder Feststellung ist. Beides gehört zusammen, aber um einen Sinn in unseren zweckgerichteten Aktivitäten zu finden, müssen wir lernen, uns zu öffnen, uns dem hinzugeben was wir tun. Und das ist genau die Einstellung, die ein Kind hat.

Lassen Sie mich zu einer sehr wichtigen Art von Erfahrung kommen, die von Maslow studiert wurde und die er «Gipfelerfahrung» genannt hat: jene Augenblicke, in denen sich uns der Sinn offenbart ‒ und wir es wissen. Um mehr darüber sagen zu können, ist es wieder notwendig, dass ich nicht von etwas spreche, das keine Beziehung zu Ihrer eigenen Erfahrung hat, besonders, weil die Gipfelerfahrung in ihrem Inhalt so schwer zu fassen ist. Um überhaupt darüber sprechen zu können, sollten wir das eigentlich in eine Dichterlesung oder eine Musikveranstaltung oder etwas Derartiges verwandeln. Wenn wir darüber diskutieren wollen, so können wir nur ein paar strukturelle Aspekte ansprechen, und es jedem einzelnen überlassen, den Kontext selbst auszufüllen. Für diejenigen unter Ihnen, die vielleicht mit dem Begriff nicht vertraut sind oder die eine kleine Erinnerungsstütze brauchen: Denken Sie einmal an eine Erfahrung zurück, von der Sie sagen können: «So etwas macht das Leben lebenswert.» Oder denken Sie an den Begriff «Gipfelerfahrung», ein ausgezeichneter Begriff, der unter anderem andeutet, dass es sich um etwas handelt, das aus Ihren normalen Erfahrungen herausragt, darüber steht. Es ist ein Augenblick, in dem Sie sich irgendwie erhaben fühlen, oder wenigstens erhabener als sonst. Und es ist nur ein Augenblick, auch wenn er lange dauern kann, vielleicht sogar eine Stunde; selbst dann erscheint so eine Erfahrung wie ein Augenblick. Immer wird sie als ein Punkt innerhalb der Zeit empfunden, so wie auch ein Berggipfel immer ein Punkt ist. Es kann ein hoher oder ein niedriger Gipfel sein; worauf es jedoch ankommt, ist, dass ein Gipfel erreicht wird.

Wenn Sie nun Ihren Tag oder Ihr Leben oder irgendeine Zeitspanne überblicken, dann sehen Sie diese Gipfel herausragen, und es sind Punkte einer erhabenen Erfahrung, Punkte einer Erfahrung des Schauens, einer Erkenntnis, wenn Sie so wollen. Das ist auch ein wichtiger Aspekt bei dieser Vorstellung vom «Gipfel». Wenn Sie sich auf einem Gipfel befinden, dann haben Sie eine bessere Sicht. Sie können nach allen Seiten sehen. Solange Sie noch aufsteigen, wird ein Teil Ihrer Sicht, ein Teil des Horizonts, von dem Gipfel verdeckt, den Sie ersteigen. Aber einmal auf dem Gipfel angekommen, erhalten Sie einen Einblick in den Sinn, in die Bedeutung. Es ist ein Augenblick, in dem Sie vom Sinn wirklich berührt werden. Das ist die Art des Erkennens, von der jetzt die Rede sein soll. Es bedeutet nicht, die Lösung für ein Bündel konkreter Probleme zu finden; es ist vielmehr ein Augenblick uneingeschränkten Erkennens. Sie setzen Ihrem Erkennen keine Grenzen.

Versuchen Sie nun einmal, an solch einen Augenblick zu denken und ihn sich zu vergegenwärtigen, und zwar sehr präzise und fest umrissen. Verallgemeinerungen werden uns hier nichts nützen. Es braucht kein riesiger Gipfel zu sein, das ist sowieso sehr selten im Leben. Ein Ameisenhügel ist auch ein Gipfel, also genügt uns alles, was einen Gipfel darstellt. Versuchen Sie es einfach, erinnern Sie sich ganz konkret an eine Erfahrung, in der Sie etwas sehr tief berührt hat, eine Erfahrung, in der Sie auf irgendeine Weise über die normale Ebene erhoben wurden. Ich mache jetzt eine kleine Pause, damit auch ich mich daran erinnern kann, und dann wollen wir uns ein wenig mit der Struktur dieser Erfahrungen beschäftigen. Und wenn diese Erfahrungen, wie ich glaube, tatsächlich Inbegriffe mystischer Erfahrung sind, dann müssen sich auch in unserer ameisenhügelhaften Gipfelerfahrung die typischen Strukturen mystischer Erfahrung finden, die typische Struktur dieses kindlichen Offenseins für den Sinn ‒ die typische Struktur des mönchischen Lebens, wie ich Ihnen dann zeigen werde. Versuchen Sie es jetzt also bitte, und konzentrieren Sie sich auf eine dieser Gipfelerfahrungen...

Ich sagte, dass der Inhalt dieser Erfahrungen schwer zu fassen sei. Sie könnten sogar sagen: «Mensch, da ist ja überhaupt nichts Richtiges passiert!» Nun, das ist ein tiefer Einblick, denn wenn Sie es nicht zulassen, dass etwas geschieht, dann ist das die größte mystische Erfahrung. Wenn Sie weiter versuchen, darüber zu reden, werden Sie auf Redewendungen kommen wie: «Ich habe mich einfach ganz verloren. Ich habe mich verloren, als ich dieses Stück Musik hörte.» Oder: «Ich habe mich verloren, als ich diesem Strandläufer zuschaute; sobald die Wellen kommen, läuft er zurück, und dann läuft er wieder den Wellen nach.» Sie verlieren sich in einer solchen Erfahrung, und wenn Sie sich für eine Weile verloren haben, sind Sie nie mehr ganz sicher, ob die Wellen den Strandläufer jagen, oder ob der Strandläufer die Wellen jagt, oder ob überhaupt irgendjemand irgendjemanden jagt. Aber es ist dort etwas geschehen, und Sie haben sich wirklich darin verloren.

Und dann, seltsamerweise, paradoxerweise ‒ und genau darauf wollen wir hinaus; auf die Paradoxa, die in jeder mystischen Erfahrung vorhanden sein müssen ‒, stellen Sie auch fest, dass Sie in dieser Erfahrung, in der Sie sich verloren haben, wirklich Sie selbst gewesen sind. «Das war ein Augenblick, in dem ich wirklich ich selbst war, mehr als sonst. Es hat mich einfach fortgetragen.» Das ist ein poetischer Ausdruck. Manche Dinge im Leben kann man nur dichterisch ausdrücken, und so geraten diese Ausdrücke auch in unser Alltagsleben. Aber auch hier finden wir wieder das Paradoxon, denn über dieselbe Erfahrung, von der wir gesagt haben: «Es hat mich fortgetragen», müssen wir auch sagen: «Ja, aber in dem Augenblick, in dem ich am stärksten fortgetragen wurde, war ich viel stärker in der Gegenwart, als ich es sonst jemals bin.» Wie die meisten von uns, so muss auch ich zugeben, dass ich nicht voll dort gegenwärtig bin, wo ich jetzt bin. Statt dessen bin ich mir selbst zu neunundvierzig Prozent voraus und werde schon von dem angezogen, was noch kommt, und zu neunundvierzig Prozent bin ich hinter mir, hänge noch an dem, was schon vorbei ist. Es ist kaum etwas von mir übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein. Dann passiert etwas, das gar nicht fassbar ist, jener Strandläufer etwa, oder Regen auf dem Dach, das trifft mich plötzlich und für den Bruchteil einer Sekunde bin ich wirklich da, wo ich bin. Es trägt mich fort und ich bin dort, wo ich mich befinde. Ich habe mich verloren, und ich habe mich gefunden, mein wirkliches Selbst.

Ich komme auf ein weiteres Paradoxon zu sprechen. Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen einen Augenblick gewählt haben, in dem Sie allein waren ‒ ein Augenblick allein in Ihrem Zimmer, beim Strandspaziergang, im Wald oder vielleicht auf einem Berggipfel. In einer dieser Erfahrungen stellen Sie fest, dass Sie, obwohl Sie allein waren ‒ und, paradoxerweise, nicht obwohl Sie allein waren, sondern gerade weil Sie in diesem Augenblick so allein waren ‒ mit allem und jedem vereint waren. Wenn es keine Menschen um Sie herum gab, mit denen Sie sich vereint fühlen konnten, dann waren es die Bäume oder die Felsen oder die Wolken oder das Wasser oder die Sterne oder der Wind oder was auch immer. Es fühlte sich an, als dehne sich Ihr Herz aus, als ob Ihr Wesen ausgedehnt würde, um alles zu umarmen, als ob die Schranken auf irgendeine Weise heruntergerissen oder aufgelöst worden wären, und Sie mit allem eins wären. Sie können das im Nachhinein überprüfen, indem Sie feststellen, dass Sie keinen Ihrer Freunde auf dem Gipfel Ihrer Gipfelerfahrung vermisst haben. Einen Augenblick später mögen Sie vielleicht gesagt haben: «Ach, ich wünschte, der-und-der könnte jetzt hier sein und diesen herrlichen Sonnenuntergang erleben, oder könnte dies sehen, oder diese Musik hören.» Aber auf dem Gipfel Ihrer Gipfelerfahrung haben Sie niemanden vermisst, und der Grund dafür liegt nicht darin, dass Sie alle anderen vergessen hätten, sondern dass die anderen bei Ihnen waren, oder Sie bei den anderen. Weil Sie mit allem eins waren, war es sinnlos, irgend jemanden zu vermissen. Wenn man so will, hatten Sie den Mittelpunkt erreicht, von dem die religiöse Tradition manchmal spricht, und in dem jeder und alles zusammenschmelzen.

Nun gut, es ist also ein Paradoxon, dass ich, wenn ich am stärksten allein bin, eins mit allem bin. Man kann das auch umdrehen. Manche von Ihnen haben vielleicht an eine Erfahrung gedacht, in der ein Teil der Gipfelerfahrung gerade darin bestanden hat, dass Sie sich innerhalb einer riesigen Menschenmenge mit allen eins fühlten. Das war vielleicht eine liturgische Feier, vielleicht aber auch ein Friedensmarsch, ein Konzert oder ein Theaterstück ‒ irgendeine Versammlung, in der ein Teil Ihrer überströmenden Freude darin bestand, dass sie das Gefühl hatten, alle seien ein Herz und eine Seele, und jeder mache dieselbe Erfahrung. Übrigens mag das objektiv gar nicht gestimmt haben. Es ist möglich, dass Sie der Einzige waren, der in einer solchen Stimmung war, aber Sie haben es so erfahren als ob es jeder genauso empfände. In diesem Fall drehen wir das Paradoxon um. Wenn man mit allen am meisten eins ist, ist man auch wirklich allein. Sie sind plötzlich herausgehoben, als ob jenes besondere Wort des Redners (falls es ein Vortrag war, der dies bewirkte) an Sie persönlich gerichtet gewesen wäre, und fast werden Sie rot. «Warum spricht er über mich? Warum wählt er mich dafür aus?» Oder: «Diese Passage einer bestimmten Symphonie ist für mich geschrieben, für mich komponiert worden und wird für mich aufgeführt; was für eine wunderbare, vollkommene Aufführung ‒ und alles für mich, jetzt und hier!» Sie sind auserwählt; Sie sind völlig allein. Und wir erkennen, dass das kein Widerspruch ist. Wenn man wirklich allein ist, ist man eins mit allem ‒ schon das Wort «allein» spielt darauf an. Es mag vielleicht nur eine Gedächtnisstütze sein, sich das zu merken, aber es kann auch mehr dahinterstecken ‒ all-ein, eins mit allem, wirklich allein.

Ich möchte noch ein drittes Paradoxon anführen, das in gewisser Hinsicht das Wichtigste ist. Sie können selbst feststellen, ob es sich mit Ihrer Erfahrung deckt. Wenn die Gipfelerfahrung Sie trifft oder fortträgt oder was immer, dann ergibt alles blitzartig einen Sinn. Nun ist das etwas ganz anderes, als wenn man mühsam die Lösung für ein Problem sucht; üblicherweise meinen wir ja, dass wir, auf diese Art und Weise schließlich dazu kommen, dass alles einen Sinn ergibt. Wir glauben, dass wir die Antwort haben, aber sobald sie da ist, tauchen neue Probleme auf. Also denken wir: Nun gut, gehen wir auch dieser Frage noch bis zum Ende nach; wir glauben, dass wir uns von Frage zu Antwort, von neuen Fragen zu neuen Antworten und zu weiteren Antworten forthangeln könnten, bis wir dann irgendwann die letzte Antwort finden. Aber was schließlich passiert ist, dass die Kette zum Kreis wird, in dem wir immer und immer und immer wieder herumgehen; die letzte Antwort wirft wieder die erste Frage auf und so geht es weiter.

In Ihrer Gipfelerfahrung wird Ihnen intuitiv bewusst, dass Sie die Frage fallen lassen müssen, um die Antwort zu bekommen. Etwas reißt Sie fort, und für den Bruchteil einer Sekunde lassen Sie die Frage fallen, und in diesem Augenblick ist die Antwort da. Auf einmal haben Sie den Eindruck, dass die Antwort schon immer versucht hatte, zu Ihnen durchzudringen, und dass der einzige Grund, weshalb das nicht gelang, die Tatsache war, dass Sie zu sehr mit dem Fragen beschäftigt gewesen waren.

Warum ist das so? Warum geschieht dies während unserer Gipfelerfahrung? Es scheint ein grobes Missverhältnis zwischen Ursache und Wirkung zu geben. Ich habe doch nichts anderes getan, als einem Strandläufer zuzuschauen, der den Wellen nachlief und vor ihnen wieder davonlief; ich habe doch nichts anderes getan, als wach zu liegen und dem Regen zu lauschen, wie er aufs Dach trommelte; warum sollte alles plötzlich einen Sinn ergeben?

Es gibt noch einen anderen Weg, diese Sache anzugehen. Man könnte sagen, sofern man die Erfahrung wirklich durch und durch nachvollzieht und untersucht, dass da etwas ist, das Sie immer wieder dazu bringen will, Ja zu sagen. Sie sehen den Strandläufer, und etwas in Ihnen sagt aus vollem Herzen Ja; oder sie hören den Regen und Ihr ganzes Wesen sagt Ja dazu. Es ist eine besondere Art von Ja: es ist ein unbedingtes Ja. Und in dem Augenblick, da Sie zu einem Teil der Realität Ja gesagt haben, haben Sie auch bedingungslos zu allem anderen Ja gesagt; nicht zu jedem einzelnen Ding, sondern Ja zu allem, was sie sonst in die Schubladen von «gut» und «schlecht» und «weiß» und «schwarz» und «oben» und «unten» stecken. Sie machen plötzlich keine Unterscheidungen mehr. Sie sagen nur Ja und mit einem Mal ordnet sich alles zu einem Muster, und Sie bejahen das ganze Muster.

Wenn Ihnen dies nun in irgendeiner Weise etwas sagt, Ihnen real vorkommt, wenn in Ihrem Herzen eine Antwort ist, die lautet: «Ja, das ist etwas, das mit meiner eigenen Erfahrung zu tun hat», dann ist das Beweis genug dafür, dass ein jeder von uns an einem äußerst wichtigen Punkt seines Lebens genau das erfahren hat, was das mönchische Leben ausmacht, was es antreibt. Das ist sehr wichtig, besonders hier, an einem Ort namens Lindisfarne, diesem seltsamen Namensvetter eines Klosters, das schon seit tausend Jahren nicht mehr existiert. Es ist wichtig, denn wenn es keine Verbindung zwischen mir ‒ einem jeden von uns, wer immer wir auch sein mögen ‒ und dem mönchischen Leben gäbe, dann wäre diese ganze Sache nicht sonderlich interessant; aber wenn ich erkennen und würdigen kann, dass einige der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens genau das sind, was den Kern des mönchischen Lebens ausmacht, dann bringt mich das in eine ganz andere Position. Und eben das meine ich, wenn ich vom Mönch in jedem von uns spreche.

Ich möchte jetzt gerne ein paar Bemerkungen zum mönchischen Leben machen. Erstens ist das Klosterleben eine besondere Art von Leben. Das Kloster ist ein besonderer Ort und eine besondere Umgebung. Man könnte es eine professionelle Umgebung, eine kontrollierte, geregelte Umgebung, ein Labor, eine Werkstatt nennen. Und in der Tat nennt die «Regel des Heiligen Benedikt», eines der Schlüsseldokumente unserer abendländischen Tradition des Mönchstums, das Kloster eine Werkstatt. Es ist ein Ort, an dem alles darauf ausgerichtet ist, jene kontemplative Dimension zu pflegen, von der wir gesprochen haben, jene mystische Einstellung zu pflegen, jenes Offensein für den Sinn, das wir alle in unseren Gipfelerfahrungen kennengelernt haben.

Wir alle sind also in unserem Leben in gewissem Sinne Amateure des mönchischen Lebens. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Mönchen besteht darin, dass die Mönche Fachleute sind. Aber gerade in unserer Zeit wissen wir, dass die Fachleute sehr oft in ihrem Fach weniger leisten als manche Amateure. Deshalb: je mehr Menschen entdecken, wie wichtig der Mönch in ihnen ist, und je mehr sie entdecken, wie wichtig das Offensein für den Sinn ist, umso wichtiger wird es, dass jeder, Amateur oder Fachmann, ab und zu Zugang zu dieser geregelten Umgebung bekommt, in der er die mönchische oder kontemplative Dimension seines Lebens fördern kann.

Ich will nun noch einmal kurz auf diese drei Paradoxa eingehen und zeigen, dass wirklich sie es sind, die das mönchische Leben, oder religiöses Leben als professionelles religiöses Leben, ausmachen.

Wenn jemand das Paradoxon erfahren hat, dass er sich findet, wenn er sich verliert, dann hat er einen inneren Zugang zum wahren Kern dessen gefunden, was ein «Leben in Armut» bedeuten sollte. Ein Leben in Armut hat nur ein Ziel, nämlich sich selbst zu verlieren, um sich zu finden. Alles, was sonst noch mit dem Armutsgebot in den verschiedenen mönchischen Traditionen zu tun hat, alles andere, was Sie vielleicht als Erscheinungsform der Armut deuten mögen (Mönche haben kein Geld; oder sie besitzen all ihr Geld gemeinsam und haben viel mehr Geld als andere Leute; oder sie müssen erst um Erlaubnis fragen, bevor sie das Auto benutzen dürfen; oder sie dürfen nur so-und-so-viel Geld in ihren Taschen haben; oder sie dürfen kein Geld berühren und müssen deshalb andere für sie das Geld berühren lassen...), all das sind nur asketische Mittel, diesen Samen zu hegen und zu pflegen.

Wir sollten nicht den Fehler machen zu sagen: «Ich verliere mich selbst, um mich selbst zu finden.» Dadurch wird die ganze Sache schon wieder auf einen Zweck ausgerichtet, und das ist völlig falsch. Ich verliere mich und entdecke, dass ich mich dadurch gefunden habe. Und jetzt verbringe ich mein Leben damit, diesen Samen zu pflegen. Was zwischen dem Samen und der Ernte liegt, das sind die vielen, vielen verschiedenartigen asketischen Anstrengungen in den verschiedenen mönchischen Traditionen. Und die Ernte ist nichts anderes, als das, was der Samen war, und man erntet nichts anderes als das, was man gesät hat. Das bedeutet: man verliert sich selbst und findet sich selbst - nur stärker, das ist alles.

Wenn man das zweite Paradoxon nimmt, dass man, wenn man wirklich allein ist, mit allen eins ist, dann hat man den Samen des Lebens im Zölibat. Wiederum besteht das, was zwischen Samen und Ernte liegt, nur aus einer asketischen Bemühung, die sehr viele Formen annehmen kann. Es ist nur dazu gedacht, diesen Samen zu pflegen, so dass man am Ende genau das erreicht, nämlich eins zu sein mit allem und allein. Man könnte sehr viel Sinnvolles für ein eheliches Leben anführen (allerdings glaube ich, dass das jemand anders tun sollte, nicht ein Mönch): dass das Eheleben auch ein Weg zum gleichen Ziel ist, mit allem eins und wahrhaft allein zu sein. Das bedeutet, dass man mit sich selbst eins ist, dass man nicht nur die Hälfte eines Paares ist, sondern dass man wirklich allein und mit allem eins ist ‒ nicht nur mit dem eigenen Partner, sondern mit allem. Die Ehe ist kein Egozentrismus für zwei.

Und das dritte Paradoxon liegt schließlich an der Wurzel dessen, was wir Gehorsam nennen. Das erste, an was wir dabei denken ist, dass man etwas tun soll, was einem ein anderer befiehlt. Das ist zwar ein altehrwürdiges und sehr hilfreiches asketisches Mittel, doch daran hängenzubleiben wäre vollkommen falsch und vollkommen fruchtlos. Wenn es nur darum ginge, meinen Eigenwillen durch den Eigenwillen eines anderen zu ersetzen, dann würde ich lieber meinen eigenen Eigenwillen behalten, der liegt mir schließlich näher. Der eigentliche Sinn besteht darin, über den Eigenwillen an sich hinauszukommen, denn es ist der Eigenwille, der sich zwischen uns und das Zuhören stellt. Unser ganzes Fragen, all unser rasendes Suchen nach Lösungen ist nur Ausdruck unseres kleinen Eigenwillens, der sich gegen die Ganzheit auflehnt und sich über sie erhebt. Sobald ich das fallen lasse und aufgebe, dringt die Ganzheit zu mir durch und gibt sich mir hin. Wenn ich mich ihr hingebe, dann bin ich nicht so sehr darauf fixiert, sie zu greifen, sie an mich zu raffen und festzuhalten.

Gehorsam (engl.: obedience, Anm d. Übers.) bedeutet wörtlich ein intensives Zuhören: ob audire bedeutet, gänzlich zuzuhören oder, wie es in der jüdischen Überlieferung heißt, «sein Ohr entblößen.» Die Ohrenlocken müssen entfernt werden, damit man richtig zuhören kann. Das ist der Gehorsam im Alten Testament. In vielen vielen Formen, in vielen vielen Sprachen bedeutet das Wort Gehorsam ein intensives Zuhören ‒ horchen, ge-horchen; audire, ob-audire; etc..

Mit anderen Worten: Gehorsam, nämlich zu tun, was einem ein anderer zu tun befiehlt, kann als eine asketische Methode benutzt werden, den Eigenwillen zu überwinden, das Immer-eigene-Vorstellungen-haben, eigene kleine Pläne. Es ist ein Mittel, dies alles fallen zu lassen und das Ganze zu sehen und das Ganze zu preisen wie Augustinus es ausdrückt. Aber das Entscheidende ist, das Zuhören zu lernen, und sehr oft kann das Befolgen eines anderen Willens ein Hindernis beim Erlernen des Zuhörens sein; man wird zu einer Marionette, deren Fäden gezogen werden. Das ist äußerst wichtig im Zusammenhang mit der Sinnfindung, jenes Zusammenhangs, in dem die mystische Erfahrung ihren Platz hat. Wenn man etwas als sinnlos ansieht, dann nennt man es absurd. Aber wenn Sie «absurd» sagen, dann verraten Sie sich selbst, denn der Begriff absurdus ist das genaue Gegenteil von ob-audiens. Absurdus bedeutet «völlig taub.» Wenn Sie also etwas absurd nennen, dann sagen Sie damit: «Ich bin völlig taub für das, was mir dies sagen will. Die Ganzheit spricht zu mir und ich bin völlig taub.» Es gibt nichts Taubes da draußen; man kann der Quelle des Tons keine Taubheit zuschreiben. Sie sind taub. Sie können nicht hören. Und deshalb besteht die einzige Alternative, für jeden von uns, in welcher Lebenssituation auch immer, darin, die absurde Einstellung mit der gehorsamen Einstellung zu vertauschen. Es braucht ein ganzes Leben, um darin auch nur ein wenig voranzukommen.

Worauf all dies hinausläuft ist, dass das Leben sehr viel mehr ist, als nur die Erscheinungswelt. Es gibt eine Lebensdimension, der wir mit ganzem Herzen zuhören müssen, mit voller Geistes-Gegenwart. Geistes-Gegenwart ist notwendig, um einen Sinn zu finden ‒ und der Intellekt ist nicht der ganze Geist. Man muss natürlich sofort zugeben, dass der Intellekt ein außerordentlich wichtiger Teil unseres Geistes ist, aber eben nicht alles. Was ich eigentlich meine, ist das, was die Bibel und viele andere religiöse Überlieferungen das «Herz» nennen: die Aufmerksamkeit des Herzens, die Herzensfülle. Das Herz ist die ganze Persönlichkeit, nicht nur der Sitz der Emotionen. Das Herz, von dem hier die Rede ist, ist das Herz, das Liebende meinen, wenn sie sagen: «Mein Herz gehört Dir.» Das bedeutet nicht, dass ich Dir einen Teil meiner selbst gebe; es bedeutet, dass ich mich Dir ganz gebe. Und wenn wir davon sprechen, mit dem ganzen Herzen dabei zu sein, das Leben aus der Fülle des Herzens anzugehen, mit der Aufmerksamkeit des Herzens, dann ist das die einzige Einstellung, mit der wir uns dem Sinn hingeben können.

Ein Fachausdruck, der hauptsächlich in der katholischen Überlieferung verwendet wird, und der dies gut beschreibt, ist «Beschaulichkeit» ‒ beschaulich sein, beschaulich leben. Beschaulichkeit ist Konzentration ohne Auslassung (so drückt T. S. Eliot es aus), ein Paradoxon, denn normalerweise begrenzt die Konzentration. Wenn man aber Konzentration ohne Beschränkung erreichen kann, d.h. wenn man sich zwar auf etwas konzentrieren kann und dennoch völlig offen und ohne Horizonte zu sein vermag, dann hat man das erreicht, was unter Beschaulichkeit verstanden wird. Dann hat man erreicht, was alles mönchische Leben ‒ welcher Tradition auch immer anstrebt: beschauliches Leben, besinnliches Leben. Als Thoreau sich an den Pond zurückzieht, da sagt er: «Ich bin in die Wälder gegangen, um ein besinnliches Leben zu führen.» Das bedeutet beschaulich, wie es hier verstanden wird. Es gibt zahlreiche Formen des mönchischen Lebens, die nicht registriert und nicht als solche erkannt werden, und vielleicht sind sie die wichtigeren. Das entscheidende Merkmal, an dem man das mönchische Leben erkennen kann, besteht darin, dass es sich um ein beschauliches Leben handelt, um ein Leben der Aufmerksamkeit, aus der Fülle des Herzens. Erst durch das Leben aus vollem Herzen fließt Sinn in unser Leben. Das bedeutet, dass wir uns, auch wenn wir mit einem Zweck beschäftigt sind, für ein Einfließen des Sinns offenhalten. Wir bleiben nicht am Zweck kleben.

Es mag eine Hilfe sein, wenn wir erkennen, dass Arbeit im engen Sinn nah mit dem Zweck verwandt ist. Arbeit ist die Art von Handeln, die einen bestimmten Zweck verfolgt, und wenn dieser Zweck erreicht ist, dann hört die Arbeit als Arbeit auf. Im Gegensatz dazu steht das Spiel. Das Spiel verfolgt keinen bestimmten Zweck. Das Spiel hat Sinn, es ist das Aufblühen des Sinns. Man arbeitet so lange, bis man seinen Zweck, sein Ziel erreicht hat. Man putzt den Boden, bis er geputzt ist. Aber man singt nicht, um ein Lied zu Ende zu bringen ‒ man singt, um zu singen. Und, wie AIan Watts bemerkt hat, man tanzt nicht, um irgendetwas zu erreichen; man tanzt, um zu tanzen. Es ist in sich selbst sinnvoll.

Nun meinen wir gewöhnlich, dass das Gegenteil von Arbeit Muße sei. Aber Muße ist nicht das Gegenteil von Arbeit; Spiel ist das Gegenteil von Arbeit, wenn man schon solche Gegensätze aufstellen will. Muße ist vielmehr die Überbrückung dieses Gegensatzes zwischen Arbeit und Spiel. Muße ist, genau betrachtet, Arbeits-Spiel und Spiel-Arbeit. Muße bedeutet, seine Arbeit zu tun, als spiele man. Das heißt, in die Arbeit genau das hineinzulegen, was das Wichtigste am Spiel ist, sie nämlich um ihrer selbst willen zu tun und nicht, um einen bestimmten Zweck, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das bedeutet, dass man ihr Zeit widmen muss. Die Muße ist kein Privileg von Leuten, die sich Zeit zur Muße leisten können, Muße ist eine Tugend. Es ist die Muße derer, die allem, was der Zeit bedarf, die Zeit schenken, die es braucht, und die folglich mit Muße arbeiten und in Ihrer Arbeit einen Sinn finden und dadurch gänzlich lebendig werden. Wenn wir eine strenge Arbeitsmentalität haben, dann sind wir nur halb lebendig. Wir sind dann wie Leute, die nur einatmen und dann ersticken. Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob man nur einatmet oder nur ausatmet: man wird auf jeden Fall ersticken. Das zeigt sehr klar, dass wir hier nicht die Arbeit gegen das Spiel oder den Zweck gegen den Sinn ausspielen. Man muss beides miteinander verbinden. Wir müssen ein- und ausatmen, nur so bleiben wir am Leben. Das ist es schließlich, was wir alle anstreben, und worum es bei jeder Religion gehen sollte ‒ lebendig sein.

Nun lautet die große Frage: warum sind wir nicht lebendiger? Die Antwort findet sich in einem Wort: Furcht. AII das, was das Leben verzerrt oder zerstört, hat eine Wurzel und das ist die Furcht. Wir fürchten uns einfach davor zu leben. Warum fürchten wir uns davor zu leben? Weil «leben», lebendig-sein bedeutet, sich selbst zu geben, und wenn wir uns wirklich geben, wissen wir nie, was mit uns geschehen wird.

Solange wir alles schön unter Kontrolle halten, alles zweckorientiert ist und wir alles im Griff haben, solange gibt es keine Gefahr ‒ aber auch kein Leben. Eine Welt, in der wir alles unter Kontrolle halten könnten, wäre so langweilig, dass wir alle tot wären. Wir würden sterben vor Langeweile. In gewisser Weise erfahren wir das jeden Tag ein bisschen. Wir bekommen Angst und halten die Dinge unter Kontrolle, aber sobald wir sie im Griff haben, langweilen wir uns. Denken Sie einmal an persönliche Beziehungen: «Ich habe sie im Griff; ich weiß, wie ich sie anpacken muss; ich weiß, wie ich ihn anpacken muss.» Bis zu einem gewissen Grad ist das ganz gut, es ist sehr beruhigend. Aber dann geraten wir an einen Punkt, wo das entsetzlich langweilig wird, und dann sagen wir: «Lass uns ein kleines Abenteuer wagen.» Sobald wir aber ein Abenteuer wagen, ist Gefahr da, ist ein Risiko da. Ohne Risiko können wir kein Abenteuer erleben, also öffnen wir uns ein wenig. Wir lockern unseren Griff ein bisschen, und sofort wird die Sache sehr interessant und abenteuerlich, aber auch furchterregend. Kaum haben wir uns versehen, da haben wir uns auch schon wieder eingeigelt und versuchen, die Dinge wieder in den Griff zu bekommen. So bewegen wir uns hin und her, hin und her, und das ist es, worum es im spirituellen Leben eigentlich geht. Das ist es, worum es bei der Religion eigentlich geht: die Überwindung der Furcht, uns selbst zu verlieren.

Das, womit man die Furcht besiegt, ist der Mut. Aber Mut ist nur unsere heutige Bezeichnung dessen, was die überlieferte Religion in all ihren verschiedenen Formen den Glauben genannt hat. Wir wollen den Begriff des Glaubens nicht öfter verwenden als notwendig, denn er stößt uns leicht ab. Wir haben falsche Vorstellungen vom Glauben; wir meinen, Glaube bedeutet: etwas glauben. Ja, Glaube bedeutet tatsächlich: etwas zu glauben. Wenn wir jemandem wirklich vertrauen, wenn wir wirklich an einen Freund glauben, dann bedeutet das auch, dass wir bestimmte Dinge über diesen Freund glauben. Aber das ist allenfalls zweitrangig, und wenn wir daran hängenbleiben, dann werden wir nie die Wurzeln des Glaubens erkennen. Das ist es nicht, was Glaube bedeutet. Glauben zu haben bedeutet nicht, auf irgendwelche Dogmen oder Glaubenssätze oder ähnliches eingeschworen zu sein. Letztendlich ist Glaube ein mutiges Vertrauen in das Leben. Die jeweilige Ausprägung, die unser religiöser Glaube annimmt, hängt völlig vom Ort und der Zeit und den gesellschaftlichen und kulturellen Umständen ab, in die wir hineingeboren werden, und davon gibt es eine unendliche Vielfalt. Aber die Essenz unseres Glaubens ist immer und überall dieselbe, nämlich ein mutiges Vertrauen in das Leben.

Glaube gegen Furcht ‒ das ist der Zentralpunkt der Religion. Das ist auch der Schlüssel zu unserem Verhältnis zur Wahrheit. Wir wissen wohl, dass Religion etwas mit Wahrheit zu tun hat, aber es ist keine Wahrheit, die wir an uns raffen und nach Hause tragen könnten. Wenn wir gewisse Wahrheiten an uns reißen und festhalten, dann geraten wir mit all denen in Konflikt, die diese Wahrheiten nicht besitzen. Wenn man es genau betrachtet, besitzt jeder eine andere Wahrheit; es gibt so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt. Wenn wir also darauf bestehen, dass Wahrheit etwas sei, was wir besitzen können, dann befinden wir uns im Widerspruch mit der ganzen Welt. Aber die wirkliche Wahrheit, um die es uns geht, ist etwas, das uns besitzt; sie besitzt uns, wenn wir uns hingeben, in jenen Augenblicken, in denen wir uns wirklich öffnen. Es gibt nur eine Wahrheit, und sie nimmt jeden auf eigene Weise in Besitz. Es muss eine unendliche Vielfalt von Wegen geben, auf denen die Wahrheit jeden von uns in Besitz nimmt, denn in dieser Vielfalt blüht die Einheit der Wahrheit auf. Und das ist schön, und wir müssen es bejahen, und wir müssen es feiern. Das ist Leben, und das ist auch religiöses Leben. Es bedeutet, sich selbst der Wahrheit hinzugeben, nicht, die Wahrheit zu nehmen, nach ihr zu greifen, sie festzuhalten. Nur die Wahrheit, der wir uns hingeben, wird uns frei machen. Die eine Wahrheit, die für jeden von uns gilt, lautet, den Mut aufzubringen, uns der Wahrheit hinzugeben. Furcht klammert sich fest. Die Furcht greift immer nach irgendetwas. Sobald wir furchtsam werden, greifen wir nach etwas mit dem Reflex eines Äffchens, das nach der Mutter greift. Es steckt tief genetisch in uns drin, dass uns Furcht dazu bringt, an etwas festzuhalten. Glaube dagegen bedeutet, loszulassen. Sogar in religiösen Systemen, die den Begriff des Glaubens nicht verwenden, werden sie diesen Kernpunkt finden, nämlich das Loslassen.

Das ist die neue Situation globaler Religion, in der wir uns heute befinden. Wir haben endlich begriffen, dass es der Glaube ist, der sämtlichen Religionen eigen ist, diese Einstellung des Loslassens, dieses mutige Vertrauen in das Leben. Das konnte uns nicht viel früher als heute, 1974, bewusst werden, weil wir einfach noch nicht so viel Stoff beisammen hatten, um vergleichen zu können, um festzustellen, worum es bei anderen Überlieferungen eigentlich geht. Viel Religionsvergleich und Faktensammeln war nötig, um dies wirklich zu erkennen, aber inzwischen ist es einer erheblichen Anzahl von Menschen bewusst geworden (und wird jedem Menschen auf dieser Erde zunehmend bewusst werden), dass es im Endeffekt nur zweierlei Arten der Religiosität gibt. Die Grenzlinien, von denen wir annahmen, dass sie zwischen Christen und Buddhisten, zwischen Buddhisten und Hindus und Muslims und Juden verliefen, sind letzten Endes irrelevant. Es gibt nur eine Linie, die trennt, und die verläuft in einer anderen Richtung, nämlich horizontal. Durch alle Buddhisten, durch alle Hindus, durch alle Christen, und durch jeden Einzelnen von uns, verläuft die Linie zwischen der richtigen Weise, religiös zu sein, und der falschen Weise, religiös zu sein. Es ist die Linie zwischen Furcht und Glauben. Furcht in ihrer religiösen Ausdrucksweise nimmt verschiedenste Gestalt an, sei es Dogmatismus, wo es am offensichtlichsten ist, oder Szientismus, der eigentlich nur eine andere Form des Dogmatismus ist, oder sei es Fundamentalismus. Auch der Moralismus ist eine Gestalt der Furcht; denn er bedeutet, dass man sich an etwas festhält, das man tun kann ‒ es ist das, was Paulus das Gesetz im Gegensatz zur Gnade genannt hat, oder die Werke im Gegensatz zum Glauben. Man tut etwas: solange man es tun kann, hat man etwas im Griff. Man braucht auf nichts zu vertrauen; man vertraut auf das, was man erreichen und handhaben kann. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass es auf der Welt nur noch zwei Arten gibt, religiös zu sein. Wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, dann will ich die eine Art die fundamentalistische nennen, das ist die Religion der Furcht. Es ist zwar ganz offensichtlich, dass sie in meinem Sinne eigentlich gar keine Religion ist, aber sie wird nun einmal Religion genannt, und so wollen wir es bei diesem falschen Ausdruck belassen: es ist die Affenreligion, die äffende Religion, die Religion der Furcht. Und im Gegensatz dazu steht die katholische Religion, aber wir wollen katholisch bitte mit einem kleinen «k» schreiben, denn das große Problem der Katholiken besteht darin, dass sie nicht katholisch genug sind. Es gibt katholische Buddhisten, die viel katholischer als die Katholiken mit dem großen «K» sind, und es gibt katholische Juden und katholische Muslims und katholische Hindus. Es gibt sogar katholische Atheisten, aber auch fundamentalistische Atheisten. Hier eben verläuft die Trennungslinie.

lm Mittelpunkt des katholischen Glaubens liegt der Sinn. Es geht darum, wie unser Freund Paolo gestern Abend sagte, das Fahrrad zu fahren, anstatt es auseinanderzunehmen. Wenn wir das Fahrrad auseinanderbauen, dann müssen wir die Dinge in die Hand nehmen, und das ist in Ordnung. Es ist gut, den Zweck des Fahrrads zu sehen, seinen Mechanismus zu erkennen, aber das muss im Zusammenhang mit dem Ganzen geschehen. Wenn wir uns dem Sinn hingeben, dann müssen wir uns völlig geben, und wir wissen ja, wie schwierig es für uns ist, uns völlig hinzugeben. Wenn Sie daran zweifeln, dann beobachten Sie einmal Ihre Sprache, und stellen Sie fest, wie oft Sie täglich idiomatische Redewendungen gebrauchen, die die Bedeutung haben: «Ich nehme dies» und «Ich nehme das». Wir haben keine Redewendung, die bedeutet: «Ich gebe mich etwas hin». Wir nehmen an einem Kurs teil, an einem Examen, wir nehmen eine Tablette, eine Mahlzeit, ein Bad, wir nehmen Platz und nehmen alles Mögliche, was man überhaupt nicht nehmen kann ‒ einen Mann, eine Frau, einen Mittagsschlaf. (Wenn Sie jemals versucht haben, einen Mittagsschlaf zu «nehmen», dann war es der sicherste Weg in die Schlaflosigkeit. Aber sobald man sich dem Mittagsschlaf hingibt, schläft man auch schon.)

Das ist der Grund, weshalb es Orte wie Lindisfarne geben muss, wo wir lernen, uns hinzugeben, während wir die Dinge in die Hand nehmen. In Lindisfarne oder in Häusern des Gebets oder an anderen ähnlichen Orten versucht man heutzutage, mönchisch und katholisch zu werden, aber es ist noch ein weiter Weg zurückzulegen, bis wir wirklich mönchisch und wirklich katholisch geworden sind. Jeder von uns hat noch einen weiten Weg zu gehen.

Aber wir sind schon weit gekommen, weil unser Weltbewusstsein heutzutage von dem Gefühl durchtränkt ist, dass es vor allem auf den Sinn ankommt. Als Kinder haben wir Bindfäden in eine Salzlösung gehalten und beobachtet, wie die Kristalle daran hochwuchsen; wie gesättigt die Lösung auch gewesen sein mag, die Kristalle wuchsen nicht ohne den kleinen Faden. Nun mag Lindisfarne vielleicht nicht mehr sein, als ein kleiner Faden, aber er hängt in der richtigen Lösung, und was sich für jeden einzelnen von uns daran herauskristallisiert, das ist der Mönch in uns und ‒ für uns alle ‒ eine weltumspannende Religion.

 



Quelle: Als Beitrag von David Steindl-Rast OSB im Buch «Antwort der Erde» (1978) unter Der Mönch in uns
(aus dem Amerikanischen übersetzt von Ralph Tegtmeier)

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