Artikel in COMMUNIO von Andreas Main über David Steindl-Rast OSB

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David Steindl-Rast trifft einen Nerv der Zeit

David Steindl-Rast ist Benediktiner und erreicht weltweit ein spirituell suchendes Publikum. Bis heute ist der fast Hundertjährige aktiv. Er schreibt und schreibt und schreibt – und zuletzt gab er ein fast einstündiges Interview im Schweizer Fernsehen, das es in sich hat. Andreas Main erzählt, wie er auf der Suche nach dem inneren Mönch zu diesem Mönch fand und wie das sein Leben bis heute prägt.

Bruder David ist mir in den vergangenen Jahren zum Bruder geworden. Auch wenn wir uns noch nie persönlich begegnet sind. Oder vielleicht besser: David Steindl-Rast OSB ist mir zum Begleiter geworden. Vor allem in Form von Büchern. 10 Titel, die 19 Regalzentimeter ausmachen, habe ich gelesen – beginnend in einem Mini-Sabbatical im Juni 2022.

Als ich das erste Mal von ihm las, spürte ich: Der könnte ein Seelenverwandter sein. Auch wenn ein fast 100-Jähriger, der seit mehr als 70 Jahren Benediktiner ist, selbstverständlich für einen Normal-Menschen wie unsereins einen nicht einzuholenden Vorsprung auf dem geistlichen Weg hat.

Dass ich von seinem Namen noch nie gehört hatte, erzählt womöglich einiges über unsere kirchliche Situation in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hierzulande. Ich - wie vermutlich viele - hatte mich nur noch mit der Oberfläche beschäftigt. Mit Kirchen- und Religionspolitik. Im besten Fall mit akademischer Theologie, egal ob evangelisch oder katholisch.

Der unsichtbare Pirol

Es war in einer heißen Juni-Woche: Ich reiste in die Stille. Genauer: in die Sologne. Eine Gegend südlich von Orleans, die wohl nur echte Frankreich-Freunde kennen. Ich wusste nichts über dieses 5000 Quadratkilometer große Waldgebiet, das einen Durchmesser von rund 60 Kilometer in alle Richtungen hat. Mittendrin: ein Kloster. Hier leben ein paar Schwestern der Communauté de Jerusalem. Wer einkehrt in «Magdala» kann gewiss sein: Hier sind Sammlung und Einkehr möglich. Einsamer geht wohl kaum in Westeuropa.

Die Gebetszeiten der «Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem» sind lang. Ich habe keine ausgelassen in jener Woche; auch wenn ich kaum ein französisches Wort verstehe. Außer «Seigneur» und «paix» zum Beispiel. Ich wollte in die Stille gehen.

Seit Tagen ist es 31 Grad. Der Silberreiher im Weiher unterhalb des Konvents wird mir ebenso zum Freund wie der Pirol, der eindeutig da ist, sich aber nicht zeigt. Er ist immer wieder zu hören in der Stille. Aber einfach macht er es mir nicht. Ich tauche immer tiefer ein in die Wälder. Mal ist er da, dann wieder weg. Nein, kein Lockvogel. Die Sehnsucht ist in mir.

In Ermangelung von echten Wanderwegen in dieser weitgehend untouristischen Region lasse ich mich einfach durch die Wälder streifen. Ohne Plan, ohne Wander-App, ohne Netz und doppelten Boden. Okay, zur Sicherheit ist das iPhone dabei. Von wegen GPS. Aber nur für den Notfall.

Ich sitze stundenlang auf einem umgefallenen, toten Baum und schaue auf die lebenden Brüder und Schwestern Eiche. Da ist er wieder: der Pirol. Er begleitet mich. Sein «dü-delüü-lio» - oder auch «büloo-büloo» - eindeutig zu identifizieren. Aber er zeigt sich nicht: dieser leuchtend-gelbe Singvogel. Vielleicht ist es ein Pirol-Weibchen. Oder sagt man Pirolin? Egal. Auf jeden Fall ein ausgeprägter Fall von Sexualdimorphismus.

Ich habe auch ein Buch im Rucksack – für den Fall, dass mich die Stille überwältigt. Und so lese ich im Wald ein – sagen wir mal – spirituelles Buch. Und zwar von Cornelius Bohl OFM: Vom Geschenk der Dankbarkeit. Er zitiert mehrfach David Steidl-Rasts Buch: Dankbarkeit: das Herz allen Betens. In diesem Moment unter jener Eiche weiß ich – es ist einer dieser Momente, in denen der Mensch eine absolute Klarheit verspürt: Das muss ich weiterverfolgen.

An meinem letzten Morgen in Magdala übrigens gibt mir der Pirol dann doch noch ein eindeutiges Zeichen. Der Wecker ist für die Laudes gestellt – auf 6:10 Uhr. Aber der Pirol weckt mich ein paar Minuten früher. Ich höre ihn direkt vor meiner spartanisch eingerichteten Zelle in einem ehemaligen Pferdestall: Ich schleiche mich raus – aber wie zuvor in der Tiefe der Wälder: Ich bekomme dieses gelb-schwarze Wunder nicht zu Gesicht. Aber er oder sie ist erneut ganz nah. Ist einfach da. Immer wieder. Bis zum letzten Tag in Magdala. Ich kann ihn oder sie nicht sehen – aber hören im säuselnden Sommerwind.

Zurück in Deutschland und nach Beendigung des Internet-Fastens suche ich im Internet nach David Steindl-Rast und bin beschämt, dass ich ihn nicht kenne. Er ist sozusagen ein «internationaler Promi». Bei den TED-Talks, jenem Videoformat aus den USA, bei dem kluge Köpfe in 14 Minuten den Kern ihres Denkens präsentieren, kommt David Steindl-Rast mittlerweile auf fast zehn Millionen Abrufe.

Schauen, Hören, Staunen

Der Mann erzielt auch mit anderen Videos Reichweiten, von denen die meisten nur träumen können. Seinen Vortrag über «Gratitude» (Dankbarkeit) habe ich mir mehrfach angesehen. Da merkt man, dass Bruder David ein halbes Jahrhundert in den USA gelebt hat. Er versteht es, klar und auf den Punkt zu sein. Er scheut sich nicht vor einfachen Sätzen. Es geht ihm nicht um ihn, sondern um seine Botschaft und die Adressaten. Etwa wenn er sagt: «It’s not happiness that makes you grateful. It’s gratefulness that makes you happy.» Das lese ich als einen hochpolitischen Akzent in einer Zeit des egozentrischen Strebens nach Glück oder der gemütlichen Variante des Hygge-Kults. Jenen, die dem Glück ständig nachjagen und es trotzdem nie finden, empfiehlt der Benediktiner: Haltet inne, schaut, hört und staunt.

Bruder David findet Worte für jene, die sich nach etwas Anderem sehnen,
die ahnen, dass die Angst, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit unserer Tage
nicht alles sein kann, die aber womöglich nie verwurzelt waren in einer Kirche
oder deren Wurzeln abgeschnitten sind, vertrocknet oder wie auch immer.


Dann habe ich begonnen, ihn zu lesen. Neben Jon Fosse ist David Steindl-Rast seitdem der Autor, den ich am meisten lese. Steindl-Rast begleitet mich. Tag für Tag. In der Sendung «Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft» im Deutschlandfunk habe ich zweimal versucht, dieses Phänomen einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln: Ende 2022 Mystiker und Internet-Star: der Benediktiner David Steindl-Rast übers Vaterunser  sowie April 2024 über neuere Bücher. Und ich durfte den Kollegen Jörn Florian Fuchs begleiten bei der Produktion seines Features: Eine Kultur der Ehrfurcht neu entdecken – der Benediktiner David Steindl-Rast. Er durfte Bruder David in seinem Kloster treffen.

Bruder David findet Worte für jene, die sich nach etwas Anderem sehnen, die ahnen, dass die Angst, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit unserer Tage nicht alles sein kann, die aber womöglich nie verwurzelt waren in einer Kirche oder deren Wurzeln abgeschnitten sind, vertrocknet oder wie auch immer. Für diese Menschen und auch für jene, die sich allzu lange mit der Oberfläche der Religionsgemeinschaften beschäftigten, sucht David Steindl-Rast nach neuen alten Worten. Und er findet sie. Er schöpft dabei aus benediktinischen und mystischen Traditionen sowie aus amerikanischer und europäischer Lyrik.

David Steindl-Rast wird geboren am 12. Juli 1926 in Wien. Bevor er in die Vereinigten Staaten von Amerika geht, schließt er als Franz Kuno Steindl, so sein bürgerlicher Name, ein Kunst- und ein Psychologiestudium ab. Daneben studiert er Anthropologie und promoviert danach in Psychologie. 1952 folgt er seiner Familie, die bereits früher emigriert ist. Immer wieder betont Steindl-Rast, wie unglücklich er anfangs in den Vereinigten Staaten gewesen sei.

Er hat auch Kritiker

1953 tritt er in das kurz zuvor gegründete Benediktinerkloster Mount Saviour ein. Das liegt in der Nähe von Elmira im US-Bundesstaat New York, nicht weit entfernt von der Ivy-League Uni-Stadt Ithaka und den Five Finger Lakes. Keine schlechte Gegend. Aus Franz Kuno wird Bruder David. Er ist froh, dass dieses neue Kloster den Anspruch hat, die Benediktsregel besonders konsequent umzusetzen. Das schließt aber nicht aus – weder für ihn noch für seinen Abt – dass Bruder David 1965 beginnt, Zen zu praktizieren. Und er soll sich im interreligiösen Dialog engagieren. Das bedeutet: Reisen, Vorträge, Gewusel.

Steindl-Rast zieht sich aber auch immer wieder zurück in eine Einsiedelei in der Nähe seines Klosters. Heute lebt er in der benediktinischen Gemeinschaft des Europaklosters Gut Aich in Sankt Gilgen. 2022 erhält er den Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen und 2023 das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.

Und zuletzt jenes große TV-Interview in der Sendung Sternstunde Religion  im SRF, dem Schweizer Radio und Fernsehen. Dieses Format ist ein Kleinod in der deutschsprachigen Medienlandschaft. Moderatorin Olivia Röllin, die Bruder Davids Enkelin sein könnte, fühlt sich ein, hört zu, ist als Philosophin und Religionswissenschaftlerin bestens vorbereitet und sie tut das, worum Bruder David sie bittet: Sie duzt ihn, wie er sie duzt. «Wir tun das so hier im Kloster», sagt er. Nur einmal fällt sie zurück ins «Sie» – einer von vielen liebenswerten Momenten. Einen 98-Jährigen mit kritischen Fragen zu löchern - darauf verzichtet sie. Aber wenn es etwas unklar bleibt, dann fragt sie nach. Im Zusammenspiel mit ihr skizziert Bruder David seine spirituellen Kerngedanken in aller Klarheit – und erzählt auch von amerikanischen Zigaretten nach dem Zweiten Weltkrieg und von seinen «girl friends» in jener Zeit.

David Steindl-Rast trifft einen Nerv der Zeit, aber er hat auch Kritiker. Nicht sehr laute, aber durchaus ernst zu nehmende, die sich den Hype nicht ganz erklären können. Manche sehen bei ihm eine schöpfungstheologische Tendenz, die in Pantheismus umkippen könnte. Sie fragen: Löst sich bei ihm alles in kosmologisches Denken und Fühlen? Ist bei ihm zu wenig Platz für Jesus als Christus sowie für die Kirche? Und ist sein Religionsverständnis zu pluralistisch?

Aus- und Abgrenzungen interessieren ihn nicht. Ihm geht es um das, was Menschen verbindet:
Sie atmen, sie wollen lieben und geliebt werden, wollen sich getragen wissen.

Das sind berechtigte Fragen, aber letztlich akademische Fragen. David Steindl Rast ist auf einer anderen Baustelle unterwegs. Er setzt weniger bei den Lehrbüchern an, sondern eher bei der religiösen Sehnsucht der Menschen. Aus- und Abgrenzungen interessieren ihn nicht. Ihm geht es um das, was Menschen verbindet: Sie atmen, sie wollen lieben und geliebt werden, wollen sich getragen wissen. Es geht ihm um die mystischen Seiten jeglicher Religion – egal ob jüdisch, christlich, muslimisch.

Und so ist zuletzt von ihm ein buddhistisch geprägtes Buch erschienen: Der Fließweg. Da hat David Steindl-Rast gemeinsam mit dem Schweizer Balts Nill das Daodejing neu ins Deutsche übertragen. Das Daodejing des Laozi soll nach der Bibel das am weitesten verbreitete Buch der Welt sein. Es ist eine Spruchsammlung mit Weisheitstexten, rund 2.300 Jahre alt. Sie gelten als Gründungsschrift des Daoismus. David Steindl-Rast kommentiert diese Weisheits-Texte auf der Basis seiner jüdisch-christlichen Spiritualität – es zeigt sich aber auch hier seine große Offenheit für andere Religionen und Philosophien. Ein lohnenswertes und schön gemachtes Buch! Und doch: Meine Favoriten sind und bleiben jenes übers Vaterunser  und das Buch Orientierung finden.

Lektüre für Suchende

Wem ich dennoch von der Steindl-Rast-Lektüre abraten würde: all jenen, die sich ihrer Sache sehr sicher sind und die sehr feste Überzeugungen haben. David Steindl-Rast spricht eher wenig von Gott, oder besser: Er nimmt den Gottesnamen selten in den Mund. Stattdessen spricht er vom «großen Geheimnis» oder vom «Quellgrund allen Segens».

Umgekehrt, wem ich die Lektüre empfehlen würde: ganz eindeutig allen spirituell suchenden Menschen – jenen, denen es nicht auf Spitzfindigkeiten ankommt. Das sind spirituelle Bücher – allerdings aus meiner Sicht auf einem vernünftigen, theologischen Fundament, reflektiert, wohlbegründet und unterfüttert mit eigener Lebenserfahrung. David Steindl-Rast passt auch zu Leserinnen und Lesern, die eine eher «meditative» Lektüre schätzen, und zu solchen, die eine Antenne für Poesie haben. Der Titel eines eher biografisch ausgerichteten Interview-Buchs spricht Bände: Ich bin durch Dich so ich.

Wer sich einen Überblick über die vielen Veröffentlichungen von Steindl-Rast verschaffen will, hat es auf den ersten Blick nicht einfach. Manche sind in kleineren Verlagen erschienen, etwa Erkenntnis  in der «Edition A» - zusammen mit Johannes Pausch, auch er Benediktiner und Psychotherapeut sowie Experte für Kräuter- und Heilkunst. Andere sind in größeren Verlagen wie Herder oder bei Tyrolia oder im Viertürme-Verlag erschienen. Vieles wird auch gerade wieder neu übersetzt und wieder aufgelegt. Offenbar gibt es da eine wachsende Nachfrage – ein Phänomen, das womöglich die religiösen Bedürfnisse vieler Menschen widerspiegelt.

Wer sich einen Überblick verschaffen will: Klaudia Menzi-Steinberger in der Schweiz hat im Netz eine Bibliothek David Steindl-Rast OSB  begründet. Da ist alles zu finden – auch weit über seine Bücher hinaus.

Vielleicht klappt es ja noch mit einer persönlichen Begegnung mit jenem Bruder David, der mich begleitet auf meiner Suche nach dem «Mönch in mir». Ich ahne, wie Bruder David reagiert, wenn er diese meine versteckte Interviewanfrage liest. Er wird sanft lächeln. Und er wird sich denken: «Quellgrund allen Segens, Du segnest uns damit, unser Vertrauen ins Leben mit anderen zu teilen. Unergründliches Geheimnis, es liegt nicht in meiner Hand, wann ich wem Interviews geben kann. Möge der Geist der Stille und der Dankbarkeit sich durch mich verbreiten – oder durch andere.»



Quelle: COMMUNIO
  (Internationale Katholische Zeitschrift), Mai 2024
Siehe auch Audio-Interview Dankbarkeit als Lebensthema  im Deutschlandfunk über das Phänomen David Steindl-Rast.

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