Artikel in «moment by moment» von Ursula Richard über David Steindl-Rast OSB

dsr ein meister der dankbarkeitCopyright © - Diego-Ortiz-Mugica

«Dankbarkeit ist das Gedächtnis des Herzens.» – Jean-Baptiste Massillon

Eine ältere Frau läuft den Bahnsteig entlang, will den abfahrbereiten Zug noch erreichen. Ein junger Mann, auf den nachfolgenden Zug wartend, sieht das, stellt sich in die Tür des Zuges. Er reicht der Frau seine Hand, sodass sie sicher einsteigen kann. «Vielen Dank», sagt sie noch ganz außer Atem und lächelt. «Gern», sagt der Mann, strahlt ebenfalls und springt aus dem Zug.

An der Supermarktkasse lassen Sie eine junge Frau vor, denn sie scheint es eilig zu haben; vor der Tür gibt ein Mann einem Obdachlosen etwas Geld in seinen Becher, reicht ihm den heißen Tee, den er im Laden für ihn gekauft hat, ihre Blicke kreuzen sich – kurze, flüchtige Alltagsmomente, die wir meist ganz schnell wieder vergessen, in denen aber ganz viel geschieht: Menschen nehmen einander wahr, erkennen, was der andere gerade braucht, und sind bereit, es zu geben, freiwillig, unaufgefordert. Solch kostbare, gar nicht so seltene Augenblicke entzünden in uns den Funken angenehmer, wärmender Gefühle von Verbundenheit, Freude – und Dankbarkeit. Dankbarkeit verbindet uns miteinander. Sie ist Ausdruck oder Bestätigung einer Beziehung des Gebens und Nehmens, so flüchtig diese auch sein mag, so klein die Gabe auch ist – und sie tut gut! Das wurde in den letzten Jahren mehr und mehr auch in der psychologischen und medizinischen Forschung erkannt: Dankbarkeit ist eine allumfassende Grunderfahrung des Menschen, die wesentliche Auswirkungen auf sein körperlich- seelisches Befinden hat. Mittlerweile gilt sie als wichtiger Baustein eines glücklichen – und eines gesunden – Lebens. Dankbarkeit stärkt das Immunsystem, trägt damit zu mehr Energie, Wachheit, Enthusiasmus und Vitalität bei, verbessert den Umgang mit Stress, unterstützt Gefühle von Sinnhaftigkeit und Resilienz und wirkt positiv auf das Herz-Kreislauf-System und die Blutdruckregulation. Sie stärkt das Selbstwertgefühl und erleichtert den Umgang mit Belastungen. Wer dankbar ist, verhält sich hilfsbereiter, und das wiederum verbessert die eigenen sozialen Beziehungen, man kann positive Erfahrungen mehr genießen und erlebt weniger schwierige, leidbringende Gefühle wie Ärger, Eifersucht, Groll oder Schuld. Es ist nicht möglich, gleichzeitig dankbar und ärgerlich oder feindselig zu sein. Dankbarkeit gilt heute als eine der machtvollsten Kraftquellen für ein glückliches, erfülltes Leben.

Dankbarkeit als spiritueller Weg

Als eine solch wirkmächtige Kraftquelle wird die Dankbarkeit schon von alters her in den Religionen betrachtet. Eingebettet in das jeweilige Glaubenssystem, drückt sie sich in Bitt-, Lob- und Dankgebeten, in Ritualen, Zeremonien und Festen aus. In den monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – wird Gott durch solche Gebete nicht als ein fernes, unpersönliches Gegenüber erfahren, sondern als das große DU, zu dem der Mensch in einer aktiven, gestaltenden Beziehung steht. «Wäre das Wort <Danke> das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen», sagt Meister Eckhart. Für den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber verläuft der Weg zur Gotteserkenntnis über den Weg der Mitmenschlichkeit, und so kann die Dankbarkeit gegenüber Mitmenschen als ein Weg der Dankbarkeit Gott gegenüber verstanden und auch eingeübt werden. Ähnlich im Islam: «Derjenige, der anderen gegenüber nicht dankbar ist, ist nicht dankbar gegenüber Allah», heißt es dort.

Auch im Buddhismus spielt Dankbarkeit eine große Rolle. Praktizierende danken dem Buddha, den Lehrerinnen und Lehrern, die ihnen den Weg zu mehr Weisheit und Mitgefühl gewiesen haben, danken den spirituellen sowie blutsverwandten Vorfahrerinnen und Vorfahrern. Sie drücken ihnen Dank in Essensritualen aus, im Dank für die Speisen, die vor ihnen stehen, für die Arbeit, die damit verbunden war, sie danken den Wesen, die dafür haben leiden müssen, und so weiter.

Die religiöse Landschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert: Den christlichen Kirchen laufen die Gläubigen davon, weltweit erstarken eher fundamentalistische Strömungen, und wie sich buddhistische Traditionen hier im Westen letztendlich verwurzeln werden, ist noch nicht abzusehen. Eine spirituelle Haltung scheint sich aber mehr und mehr zu verbreiten: Menschen fühlen sich nicht mehr (nur) einer religiösen Tradition zugehörig oder verpflichtet, sondern suchen sich aus den verschiedenen Traditionen das zusammen, was sie als hilfreich für die eigene Praxis empfinden. Und hier ist die Dankbarkeit ein wunderbares inspirierendes Fundstück, ein sehr kraftvoller Pfeiler für eine zeitgemäße, zukunftsfähige Spiritualität.

Staunen über alles, was ist

«Wenn wir dankbar leben als spirituelle Übung ansehen», so der Benediktinermönch David Steindl-Rast, «dann verwirklichen wir das, was jede andere Spiritualität oder spirituelle Methode zu verwirklichen versucht. Denn in dem Augenblick, in dem wir dankbar sind, sind wir im Jetzt – man kann für die Vergangenheit dankbar sein, – man kann für die Zukunft dankbar sein – dankbar sein kann man immer nur im Jetzt. Sind wir im Jetzt, sind wir wir selbst.»

Dankbarkeit ist für Bruder David die Quintessenz eines erfüllten Lebens, die Wurzel jeder Religion und setzt doch keinen Glauben an irgendwelche Dogmen oder komplexen Rituale voraus. Bei den Haudenosaunee (Irokesen) heißt es, dass Worte der Dankbarkeit vor allen anderen Worten sind.

Dankbarkeit ist auch deshalb ein so anziehender spiritueller Weg, weil die «Belohnungen» nicht lange auf sich warten lassen. Während es bei Zen oder Yoga manchmal recht lange dauern mag, bis sich «Erfolge» einstellen, die Ziele oft in weiter Ferne zu liegen scheinen und zu dessen Erreichen manche Härten und Schmerzen durchzustehen sind, werden sie bei der Dankbarkeit sofort spürbar – in Form von Freude, Wertschätzung und Glück. «In jede hohe Freude mischt sich eine Empfindung der Dankbarkeit», so die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach.

Für Bruder David Steindl-Rast beginnt Dankbarkeit da, wo wir uns von den Dingen, die uns so selbstverständlich erscheinen, überraschen, in Staunen versetzen lassen. Die einfache Frage «Ist das nicht erstaunlich?» kann uns aufwecken für die Wunder der Welt, in der wir leben.

Ist es nicht erstaunlich, dass

  • es einen Boden untere unseren Füßen gibt, der uns trägt?
  • unser Körper ohne unser Zutun so gut funktioniert, Millionen und Abermillionen Bakterien in uns aktiv sind, Zellen geboren werden und sterben und uns das Leben ermöglichen, das wir kennen?
  • wir Liebe, Freude, Vertrauen und Glück empfinden können?
  • es überhaupt etwas gibt? (Frage des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz)

Das uns so selbstverständlich Erscheinende auf diese Weise neu zu beleuchten, fördert unsere Offenheit, Neugierde und auch Zugewandtheit.

Die Welt in einem anderen Licht

Ich habe das große Glück gehabt, Bruder David einige Male persönlich begegnet zu sein. Einmal war ich mit ihm und einer kleinen Gruppe von Mitreisenden in der tunesischen Wüste. Vormittags hielt er in einem großen Zelt Vorträge, meist über Gedichte von Rainer Maria Rilke, nachmittags hatten wir Zeit, diese wunderreiche Sanddünenlandschaft zu erkunden. Mehr als an seine Worte erinnere ich mich an seine von Freude und Dankbarkeit durchwirkte Art und Weise, in der er den Tee entgegennahm, der ihm gereicht wurde, in der er die Hand ergriff, die ihm jemand hinstreckte, damit er aufstehen konnte, in der er Menschen grüßte und die Dromedare, die unsere Lasten getragen hatten, streichelte. Er kreierte ein solch starkes, kraftvolles Feld der Dankbarkeit, dass mir die Welt in diesen Tagen wie verzaubert erschien, und mir wird auch heute noch, da ich mich daran erinnere, die damalige Atmosphäre sehr lebendig.

«Unser Dasein, die Welt. Alles unverdient. Und wenn alles Geschenk ist, dann ist die einzig passende Antwort: Dabjbarjeut», so Bruder David. Eine solche Sicht verschiebt unseren Fokus fast von selbst vom Mangel auf die Fülle.

Dankbarkeit als Lebenskunst zu verstehen und sich darin zu üben, ist ein Weg, der von Beginn an mit den schönsten Ausblicken belohnt, aber der manchmal auch durch steiniges Gelände führt. Der Einstieg gelilngt am einfachsten in Zeiten, in denen es uns gut geht und es uns daher nicht schwerfällt, uns und unser Umfeld mit den Augen der Dankbarkeit zu betrachten. Dies ist eine gute Prophylaxe für schwierige Zeiten.

Schmerzhafte Erfahrungen

Doch in manchen Situationen ist es einfach nicht möglich, Dankbarkeit zu empfinden, und wir sollten sie uns und vor allem anderen auch nicht verordnen, «weil sie doch ein so schönes Gefühl und so heilsam ist». Sätze nach einer Trennung, wie: «Sei doch dankbar, dass du ihn los bist» oder nach dem Verlust des Arbeitsplatzes etwa: «Sei doch dankbar für die Möglichkeit zur Neuorientierung» oder bei einer Erkrankung: «Krankheit ist auch eine Chance, für die du dankbar sein solltest», verbieten sich fast von selbst, und doch neigen wir manchmal zu solchen Äußerungen, aus dem Bedürfnis heraus, andere zu trösten und zu ermutigen und uns selbst nicht als so hilflos zu erleben.

Es geht aber nicht darum, dass wir uns nach irgendwelchen Maßstäben selbst so weit optimieren, auch nicht spirituell gesehen, dass wir vollkommene Menschen werden, stets positiv gestimmt und dankbar, sondern darum, dass wir immer menschlicher werden, und dazu gehören auch unsere Wut und Verzweiflung, auch die brauchen Raum, wollen gesehen und angenommen werden.

Für schmerzhafte Erfahrungen, für Krankheiten, für seelische Krisen können wir, wenn wir sie gerade durchleben, meist nicht dankbar sein. Doch wir können schauen, welche Gelegenheiten sei uns eröffnen – zum Beispiel die Gelegenheit, innezuhalten und einmal genauer hinzuschauen, ob wir nicht etwas verändern sollten in unserem Leben, in unserer Sicht auf die Welt, in unseren Prioritäten.

Etwas, das trägt

So vieles, was uns umgibt, was uns nährt, was uns trägt, steht uns zur Verfügung, ohne dass wir etwas dafür getan hätten. Unser Wohlergehen, letztlich unser ganzes Leben hängen vom Zusammenwirken unzähliger Lebewesen ab. Wenn wir uns näher damit befassen, woher unsere Nahrung, unsere Kleidung oder unsere sonstigen Dinge des Alltagsleben stammen, wird uns aber nicht nur deutlich, wie viel uns gegeben wird, sondern auch, dass dies oftmals unter menschenunwürdigen oder umweltschädigenden Bedingungen erfolgt. Dankbar für die erhaltenen Gaben zu sein, unter denen sie zustande kommen. Unsere wechselseitige Verbundenheit und Abhängigkeit zu sehen beinhaltet auch, sich mehr und mehr der Verantwortung bewusst zu werden, die wir zum Beispiel als Verbraucherinnen und Verbraucher haben.

Dankbarkeit als Lebenskunst bedeutet, mehr die Fülle zu sehen als den Mangel. Unsere Wirtschaftsordnung aber lebt davon, in uns das Gefühl des Mangels anzusprechen und unsere Gier zu wecken, damit wir auch noch die unsinnigsten Produkte kaufen. Sie lebt davon, dass wir das Glück im Außen suchen und ihm nachjagen. Sie verdient an unserer Bereitschaft, Stress, Überforderung, Arbeiten rund um die Uhr hinzunehmen, da wir immer noch glauben, dadurch irgendwann in der Zukunft glücklich zu sein.

Dankbarkeit als Lebenskunst aber zeigt uns, dass wir das Glück in uns selbst, in unserem offenen, weiten Herzen finden, und zwar hier und jetzt. Sie ist damit ein wunderbares Gegenmittel für Gier, sonstige Mangelgefühle, Stress, aber auch für Gefühle der Ohnmacht und Vereinzelung. Sie macht es uns leicht, uns mehr auf das auszurichten, was wirklich wichtig und wesentlich ist, und unterstützt uns dabei, die Stimme der Sehnsucht in uns zu hören und ihr zu folgen.

Wenn uns unsere Verbundenheit mit anderen und unsere damit einhergehende Abhängigkeit von ihnen immer gegenwärtiger sind, werden wir im täglichen Leben behutsamer, wohlwollender, pfleglicher mit Menschen, Tieren und Dingen umgehen. Dies wiederum verstärkt unser Gefühl der Verbundenheit, der wechselseitigen Abhängigkeit, der Bedingtheit unseres Lebens. Und mit immer tieferer Wertschätzung für dieses Geflecht namens Leben erfahren wir diese Verbundenheit als Geborgenheit. Dankbarkeit stärkt unser Vertrauen in das Leben, denn sie selbst ist Ausdruck des Vertrauens, dass alles Beziehung, dass alles Geschenk ist

Mehr und mehr erkennen wir, dass unser Leben letztlich ein «getragenes» ist. Wir sind getragen von einem großen, unteilbaren Netzwerk, zu dem wir zugleich selbst gehören.

 


Quelle: moment by moment - Ausgabe 01 / Frühling 2023

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