+Liebe Freunde,
Es schneit noch hier im Salzkammergut, und nur unser Zitronenbäumchen blüht herinnen im Warmen. Und doch ist Ostern, und da kann der Frühling nicht mehr fern sein. Es ist auch höchste Zeit. Der Winter war lang und nicht leicht für mich. Auf neue Weise musste ich mich mit meiner Sterblichkeit auseinandersetzen und alte Fragen neu stellen. So etwa die Frage: Worauf kommt es letztlich an im Leben?
Wenn ich auf mein eigenes Leben zurückschaue, so ging es immer um Entwicklung. Es lässt sich kaum abstreiten, dass wir uns alle ein Leben lang entwickeln. Was wir aber darunter verstehen ist nicht eindeutig. Meist meinen wir einen klar abzusehenden Prozess, etwa vom Samen zum Keim, zur Blüte und zur Frucht – die selber wieder Same wird. Man kann aber auch an Entwicklungsprozesse denken, deren Ergebnis völlig unabsehbar bleibt, etwa an das Zusammenstellen einer Sammlung. Nichts hindert Sammler daran, sich auf ganz unvorhergesehene Schätze einzulassen, die das Gesamtbild völlig verändern.
Entwicklung im Sinn von Reifung prägt gewiss auf manche Weise unser Leben, aber doch nur innerhalb von Raum und Zeit. Die Ernte, die wir vom Baum unseres Lebens erhoffen dürfen, bleibt wohl immer fragwürdig. Werden seine Früchte ausreifen, bevor unsere Zeit um ist? Müssen wir nicht mit Rilke befürchten, dass am Ende „Engel ziehn wie Vogelschwärme“ und „alle Früchte grün“ finden.
Rilke schenkt uns aber auch ein hoffnungsvolleres Bild für Entwicklung -- im Sinne von Bereicherung: „Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Voll Begeisterung sammeln wir den Nektar des Sichtbaren, um ihn in der großen goldenen Honigwabe des Unsichtbaren aufzuheben.“ Wir sind dazu fähig, denn im „absichtslosen Augenblick“ der Begeisterung (wie T. S. Eliot ihn nennt,) sind wir völlig im Jetzt, „im Punkt, wo Zeitloses sich schneidet mit Zeit“ – „in und außer der Zeit.“ Was sich hier entwickelt durch Bereicherung, geht über Raum und Zeit hinaus.
Was sich in diesem Jetzt ereignet, ist, dass wir ein uneingeschränktes „Ja“ sagen zum Leben und dieses „Ja“ mit unserem ganzen Sein verwirklichen; das aber ist Liebe. Jeder liebende Augenblick unseres Lebens trägt einen süßen Tropfen bei zu jenem goldenen Honigschatz, dem auch der Tod nichts anhaben kann, weil er „in und außer der Zeit“ im Jetzt Bestand hat.
Und was sich da entwickelt – in einem dritten Sinn des Wortes – wie beim Entwickeln eines Fotos, das ist unser gültiges Bild. Auch der geheimste Gedanke des Friedens, jeder mutige Schritt der Vergebung, jeder verschwiegene Liebesdienst macht dieses bleibende Bild strahlender. Auf der persönlichen Ebene reift so unser „Ich selbst“ – unser einmaliges geschichtliches Ich als einzigartiger Ausdruck des einen, uns allen gemeinsamen, menschlichen Selbst. Auf der gesellschaftlichen Ebene reifen auf ähnliche Weise Gemeinschaften, die einen Augenblick lang aufleuchten lassen, was menschliche Gemeinschaft in ihren Sternstunden sein kann – gewaltfrei, geschwisterlich, gerecht. Uns dafür zu entscheiden – immer wieder, immer umfassender, immer entschiedener – das scheint mir wahre Entwicklung zu sein.
„Meide den Irrtum“, sagt Rilke, „meide den Irrtum, dass es Entbehrungen gäbe, für den geschehnen Entschluss, diesen: zu sein!“ Am Karfreitag schienen Leben und Gemeinschaft Jesu zerstört. Die Botschaft von Ostern ist: Er lebt im Jetzt, und wir dürfen leben, durch unseren Entschluss, im Jetzt zu sein. Dieses Leben ist über Zeit (und so auch über den Tod) erhaben und es ist Leben in der „Gemeinschaft der Heiligen“, die in der Zeit hie und da aufblitzt, jenseits der Zeit aber unbeirrbar leuchtet. Nach ihr sehnt sich ja unser Herz als nach dem tiefsten Sinn des Lebens.
Darum ist dies auch mein Osterwunsch für uns alle, dass es uns gelingen möge, inmitten von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung an gewaltfreier, geschwisterlicher und gerechter Gemeinschaft mitzubauen. An einer Zukunft also, die nicht später kommt, sondern jetzt und jetzt anbricht.
Mit der Bitte um Verständnis, dass ich E-Mail kaum mehr beantworten kann, aber auf diese Weise unsere Verbundenheit ausdrücken möchte,
Herzlichst,
Euer Bruder David