+ Liebe Freunde,
Mit diesem erst zwei Wochen alten Foto von meinem Heimflug über die Anden grüße ich Euch jetzt aus dem Kloster Gut Aich. Dieser Sommer war wieder bis zum Rand angefüllt mit Vortragsreisen – Schottland, Kalifornien, Argentinien, Chile – und jetzt muss ich mich wieder auf eine Zeit in die Stille zurückziehen und an Leib und Seele meine Batterien aufspeichern. Weil ich also auch E-Mail auf ein Minimum beschränken muss, möcht' ich wenigstens durch diesen Rundbrief unsere Verbindung aufrechterhalten.
Was mich zur Zeit bewegt, ist der ständig wachsende Hunger vieler Menschen nach "Glück" – was auch immer damit gemeint sein soll. In Chile, z. B., ist der Lebensstandard in den letzten Jahren gestiegen, die Menschen fühlen aber, dass trotzdem die Lebensqualität gesunken ist. Gemeinschaftssinn wird verdrängt durch Konkurrenz. Alles wird auf Zweck ausgerichtet, droht aber zugleich, seinen Sinn zu verlieren. Wohlstand steigt, Wohlbefinden sinkt ab. Tief im Herzen scheint noch eine Ahnung wach zu sein, dass das am Mangel an Dankbarkeit liegen könnte. Tief im Herzen wissen wir Menschen ja, dass Dankbarkeit der Schlüssel zur Freude ist – zu einem Glück also, das gar nicht davon abhängt, ob uns etwas glückt oder nicht.
Darum wird auch immer mehr von Dankbarkeit geredet. Freilich, von Dankbarkeit reden hilft nur, wenn wir auch dankbar leben. Überall fragen Menschen: "Wie können wir Dankbarkeit üben?" Wir brauchen eine Methode. Die einfache Anweisung (einfach und doch nicht leicht) lässt sich in drei Worten geben: "Stop, look, go!" Wir müssen innehalten, sonst laufen wir an der Gelegenheit vorbei, die der Augenblick uns hier und jetzt bietet. Dann müssen wir offen und wach sein, um die Gelegenheit wahrzunehmen. Aber auch das genügt noch nicht. Wir erweisen uns erst dankbar für die Gelegenheit, die uns das Leben bietet, wenn wir etwas aus ihr machen, etwas mit ihr tun.
Meist besteht dieses Tun darin, uns einfach am Augenblick zu freuen, ihn zu genießen. Erst, wenn wir das Innehalten und Aufmerken üben, bemerken wir, wie viel Gelegenheit zum Lebensgenuss unseren Sinnen jeden Augenblick geschenkt wird. Manchmal freilich wird Schwierigeres von uns verlangt. Aber auch wenn wir für das, was uns begegnet, als solches nicht dankbar sein können – Krieg etwa, Zerstörung der Umwelt, Naturkatastrophen und persönliches Leid – so doch für die Gelegenheit, die uns dabei geschenkt wird – etwa die Gelegenheit, daran zu reifen, davon zu lernen, oder anderen zu helfen und für sie einzutreten. Immer ist Gelegenheit das eigentliche Geschenk, der eigentliche Grund zur Dankbarkeit. Indem wir die Gelegenheit beim Schopf packen, gehen wir auf das ein, was das Leben uns anbietet, zum Wohl für uns selbst und für die ganze Welt.
Es freut mich, dass in so vielen Teilen der Welt und jetzt auch in Lateinamerika (wo meine Bücher nun auf Spanisch und Portugiesisch erscheinen) Menschen durch dankbares Leben den Weg zur Freude finden und ihre Umwelt zum Bessern verändern. Inmitten so vieler Ereignisse, die uns verzagt machen können, gibt mir das doch auch Hoffnung. Die Freude dieser Hoffnung wünsch' ich auch Euch von ganzem Herzen,
Euer Bruder David