Interview mit David Steindl-Rast OSB von Josef Wallner

weihnachten geht nicht nurCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Wenn Weihnachten nicht zur Brauchtumspflege verkommen soll, ist es sinnvoll nachzudenken, in welchem Umfeld wir das Fest feiern. Bruder David, in welcher Welt leben wir?

Wir leben in einer grossen Krise, einer Weltkrise. Die Zivilisation, wie wir sie kennen, ist an ihr Ende geraten. Im Blick auf die Umwelt sieht man es am deutlichsten. Wir sind dorthin gelangt, wo unsere Gesellschaft selbstmörderisch geworden ist. Und das auch auf anderen Gebieten. Wer heute nicht Angst hat, muß blind sein. Wir sind in die Enge getrieben. Das Wort Angst kommt ja von Enge.

Bezüglich der Umwelt werden Ihnen vermutlich die allermeisten zustimmen, aber in anderen Bereichen?

Auch die Aufrüstung mit Atomwaffen ist selbstmörderisch. Oder schauen wir auf die Politik. Endlich setzt sich Demokratie durch, da bedroht in vielen Ländern der Populismus die Demokratie. Wir geraten überall in Sackgassen.

Was soll, was kann man dagegen tun?

Zunächst müssen wir unterscheiden zwischen Angst und Furcht. Angst läßt sich im Leben nicht vermeiden. Aber sich fürchten, das ist etwas anderes. «Fürchtet euch nicht!» lautet die Weihnachtsbotschaft.

Was verstehen Sie unter Furcht?

Wer sich fürchtet, sträubt sich gegen die Angst und bleibt so drin stecken. Im Gegensatz dazu läßt sich der Mutige vertrauensvoll aufs Leben mit all seinen Ängsten ein. Furcht ist der Anfang von allem, was in unserer Gesellschaft und im Privatleben schiefläuft. Furcht macht uns aggressiv: Wir geben aus Furcht weltweit Unsummen für Waffen aus. Aus der Furcht, dass andere mich übervorteilen könnten, entspringt Rivalität; die Ellbogen werden eingesetzt. Und aus Furcht, dass nicht genug da ist für alle, wird gerafft: Geiz, Neid und Habsucht entspringen der Furcht. Die Machtpyramide unserer Gesellschaft wird durch Furcht aufrechterhalten. Man will uns Furcht machen, denn wer sich fürchtet, läßt sich leicht manipulieren.

Wie findet man einen Weg aus dieser Umklammerung durch die Furcht?

Wir müssen alle Machtpyramiden von Furcht, Gewalt, Rivalität und Habsucht durch Netzwerke ersetzen – Netzwerke, die auf Vertrauen gründen, die Gewalt durch Friedensbereitschaft ersetzen, Rivalität durch Zusammenarbeit und Habsucht durch Teilen. Wir dürfen dabei Angst haben, aber wir können mit Lebensvertrauen jede Angst, jede Enge, jede Krise überstehen. Das gilt für die Gesellschaft und fürs persönliche Leben. Rückblickend sehen wir oft: Wenn es wieder einmal recht eng geworden war, wir aber mit Vertrauen in eine schwierige Situation hineingegangen sind, dann kamen wir auf der anderen Seite neu geboren heraus.

Wie kann man als Einzelner den Weg des Vertrauens im Alltag verwirklichen?

Ganz konkret: sich nicht fürchten, den anderen nicht verdächtigen. Wenn etwas verdächtig erscheint, vertrauensvoll darüber sprechen. Aus dem Vertrauen entspringt das Hinhorchen auf den anderen, das Gespräch. Es braucht immer wieder einseitiges Vertrauen, denn wenn man wartet, bis es beidseitig wird, kommt es nie zustande. Aus dem Vertrauen entspringen dann Friedfertigkeit, Zusammenarbeit und Teilen.

Mit Ihrer Spiritualität, Bruder David, verbindet man den Begriff Dankbarkeit und dankbar leben. Ist das ein Weg zum Vertrauen?

Für mich ist Dankbarkeit ein wichtiger Begriff, weil alle Menschen Dankbarkeit kennen und schätzen. Man muß da nicht viel erklären. Jeder weiß, dass Dankbarkeit dem Vertrauen entspringt und auch gegenseitiges Vertrauen aufbaut.

Im Dank steckt die Frage: Wem danke ich? Liegt es nicht nahe zu sagen: Ich danke Gott für das Leben?

Wenn wir das Wort Gott richtig verwenden, dann richtet sich Dank letztlich auf Gott. Aber das Wort Gott ist heute für viele Menschen so von Mißverständnissen belastet, dass wir es oft besser vermeiden. Man kann auch sagen: Wir danken dem Leben. Gott ist ja ein Gott des Lebens. Paulus sagt – und das ist für mich ein ganz wichtiger Satz: «In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir», völlig eingebettet also in das göttliche Geheimnis.

Das schließt ein, dass wir miteinander vertrauensvoll in Frieden leben, dass wir zusammenarbeiten, dass wir teilen. Leider hört man sehr selten Predigten über diesen Lehrsatz des hl. Paulus im 17. Kapitel der Apostelgeschichte. Wir sind immer noch verfangen in einem falschen Gottesbild: Gott steht uns gegenüber als himmlischer Polizist, als strenger Lehrer oder zorniger Machthaber. Erst wenn wir aus der Verbundenheit mit Gott, miteinander und mit unserem wahren Selbst leben, kann sich menschliches Zusammenleben vertrauensvoll entfalten.

Das Weihnachtsfest, das wir in wenigen Tagen feiern, hat mit Vertrauen zu tun ...

Was wir zu Weihnachten feiern, geht nicht nur uns Christen an. Gerade in der heutigen Zeit sollten wir uns bewußt sein, dass wir etwas feiern, was Menschen seit Jahrtausenden gefeiert haben, nämlich die Hoffnung auf ein Kind, das eine neue Weltordnung bringt. Wenn ich in einer klaren Winternacht unterm Sternenhimmel stehe, schaue ich hinauf und denke mir: So sind Menschen zehntausende Jahre lang unter diesem Himmel gestanden und haben sich das Sternkind ersehnt. Es geht dabei um Menschwerdung, um Menschwerdung des großen Geheimnisses, um Menschwerdung Gottes, aber auch um unsere eigene Menschwerdung.

Wer kann unter diesem Sternenhimmel stehen, ohne Sehnsucht zu bekommen nach einer friedlicheren Welt, nach einem kommenden Kind, mit dem menschliches Zusammenleben neu beginnt? Die Erfüllung dieser Sehnsucht drückt unsere Tradition so aus: Jesus wird geboren, Jesus Christus weist uns den Weg zu einer friedlichen Weltordnung, und wir sind aufgerufen, sie zu verwirklichen im Privatleben und in unserer Gesellschaft. So sollen wir also seine Geburt feiern: uns mit allen Menschen verbinden und versöhnen, weil sich ja alle letztlich nach wahrer Menschwerdung sehnen, nach echter Menschlichkeit.

Der schönste Satz im Evangelium des Heiligen Abends ist der Gesang der Engel: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens».

Ja, mitten in der Dunkelheit unserer Welt strahlt durch die Engelsbotschaft die Gewißheit auf: Der Friede unter Menschen ist möglich. Das ist zugleich eine Herausforderung. Denn dieses Friedenskind muß in uns selbst geboren werden. Angelus Silesius sagt: «Ach, könnte nur dein Herz zu einer Krippe werden, Gott würde noch einmal ein Kind auf dieser Erden.» Dieses göttliche Kind wird in uns geboren, wo immer echtes Menschsein verwirklicht wird.
Letztlich geht es also um unsere eigene Menschwerdung. Es fehlt noch sehr viel, bis wir wirklich Menschen geworden sind. Wir leben noch sehr unmenschlich – wenn man auf unsere Gesellschaft schaut.
Menschwerdung muß bei jedem Einzelnen von uns beginnen, aber nur gemeinsam können wir sie verwirklichen.

Wie feiern Sie selbst dieses Weihnachtsfest?

Also, im Kloster feiern wir es ganz festlich mit Christmesse, wunderschönen Liedern. Persönlich scheint es mir wichtig, zu Weihnachten Frieden zu machen, wo sich Unfriede eingeschlichen hat. Gemeinsam feiern ist immer eine gute Gelegenheit, wieder Frieden aufblühen zu lassen mitten im kalten Winter unserer Welt.

Erinnern Sie sich an ein Weihnachtsfest, das sich ganz tief in Ihnen eingeprägt hat?

Ja, das war mein erstes Weihnachten in den USA. Ich war etwa zwanzig Jahre alt. Meine Großmutter, die in New York lebte, beschäftigte viele Angestellte aus Harlem, dem afroamerikanischen Stadtviertel von New York. Oma behandelte sie mehr wie Freunde als wie Angestellte. Im Jahr 1951 lud uns eine katholische Familie dieser afroamerikanischen Freunde zur Christmette nach Harlem ein. Wir waren die einzigen Weißen in der Kirche. Heutzutage geht ein Weißer bei Nacht lieber nicht nach Harlem. Selbst die dort wohnen, haben bei Nacht heutzutage dort Angst.
Der Gottesdienst war verglichen mit einer Christmette in Österreich ganz ungewöhnlich, aber wunderschön. Es wurden Spirituals aus der Zeit der Sklaverei gesungen. Anschließend feierten wir in der Wohnung unserer Freunde weiter und lernten dort Weihnachtslieder, die wir als Österreicher gar nicht kannten. Das war für mich Friede auf Erden. Heute ist die Kluft zwischen ethnischen Gruppen groß, das Gegeneinander wird sogar noch geschürt und bis zum Exzess getrieben. Damals beim gemeinsamen Feiern und beim gemeinsamen Singen durfte ich den Frieden spüren, der reines Geschenk ist.

Als Benediktiner sind Sie ein Mann der Kirche. Warum tun sich viele Menschen mit der Kirche so schwer? Schmerzt Sie das?

Ja, es tut mir weh, aber ich tu mir ja selber mit der Kirche schwer. Die Krise der Kirche – das ist wiederum so ein Engpaß, durch den wir mit Gottvertrauen durchgehen müssen. Der Engpaß läßt sich kurz so umreissen: Jesus hat zu seinen Lebzeiten das Reich Gottes auf Erden damit angebahnt, dass er arme Menschen inspiriert hat, noch ärmeren zu helfen. Das kann man historisch ganz überzeugend rekonstruieren. Kirche hat ursprünglich mit kleinen Gemeinden begonnen. Paulus spricht von der Kirche im Haus von Nympha oder von Priscilla and Aquila. Die Kirche war eine konkrete kleine Gemeinschaft. Nur abstrakt konnte man von der Kirche im Allgemeinen sprechen, von der Vernetzung der kleinen selbständigen Netzwerke zum Zweck gegenseitiger Hilfe. Durch Kaiser Konstantin wurde aus dem Hilfsnetz eine Machtpyramide. Das ist die Katastrophe.
Mit der Kirche als Machtpyramide haben viele von uns große Schwierigkeiten. Aber diese Form von Kirche ist am Zusammenbrechen. Ob wir es wollen oder nicht. Man braucht schon gar nicht mehr daran rütteln. Wir müssen uns vielmehr bemühen wieder Netzwerke zu schaffen, damit die Botschaft vom Reich Gottes nicht verstummt, wenn die Machtpyramiden-Kirche verschwindet. Gott sei Dank haben wir in Franziskus einen Papst, der um eine neue Form von Kirche bemüht ist – um die ursprüngliche, soweit das in seinen Händen liegt. Er setzt auch ganz klare Zeichen, die zeigen, dass er nicht an der Spitze einer Machtpyramide stehen will. Papst Franziskus ruft vielmehr zur Zusammenarbeit und zum Miteinander auf. Ich bin sehr dankbar für unseren Papst.

Bruder David, sie stehen im 91. Lebensjahr. Sie kommunizieren über Email und Sie sind an so vielem interessiert. Wie bleibt man so wach?

Je mehr man sich interessiert, desto mehr findet man, was man noch nicht weiß, und dann interessiert man sich für noch mehr. Für mich ist das Internet eine fast unerschöpfliche Quelle von Information. Facebook und Twitter benutze ich nicht, aber das Internet. Dass ich das Internet noch erleben durfte, dafür bin ich wirklich dankbar.

Wie gestaltet sich ihr Tagesablauf?

Ja, es ist der gewöhnliche Tagesablauf eines Benediktinermönchs: Stundengebet, Meditation und Studium, auch ein bißchen Handarbeit (bei mir ist’s das Geschirrabwaschen). Zu der Zeit, wo die anderen Mönche meiner Gemeinschaft anderen Arbeiten nachgehen, kann ich mich dem Schreiben widmen.

Woran arbeiten Sie gerade?

Ich bin immer am Bücher schreiben. Als wichtigste Aufgabe erscheint es zur Zeit, Menschen zu helfen, Orientierung zu finden. Viele sind heute desorientiert. Das kann man wohl sagen. Veraltete Denkweisen sind zusammengebrochen und wir tasten nach Orientierung. Ich bemühe mich darum, die großen Fragen des Lebens mutig durchzudenken und Orientierungsansätze zu finden. Da bin ich dran, immer.



Quelle:
Kirchenzeitung Diözese Linz (2016)

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