INTERVIEWS mit David Steindl-Rast

INTERVIEWS mit David Steindl-Rast

Interview in der Sonderbeilage der SN von Josef Bruckmoser mit Pater Pausch und Bruder David

Die Welt steckt mitten in der Pubertät. Ihre autoritären Führer agieren wie trotzige Lausbuben. Wie kann man mitten in diesem Chaos dem Leben trauen? Zwei Mönche sind mir zu Seelenbegleitern geworden.

Der eine ist Bruder David Steindl-Rast OSB, welterfahrener Mystiker und Brückenbauer zwischen den Religionen. Der andere ist Pater Johannes Pausch OSB, Gründer des Klosters Gut Aich in St. Gilgen. Es ist seit Jahrzehnten ein großes Glück für mich, mit diesen wissenden, weisen, frommen Menschen über Gott und die Welt und das Leben nachdenken zu dürfen.

Bruder David, du bist im 99. Lebensjahr. Ist unser Gefühl real, dass wir in einer besonders schwierigen, unruhigen Zeit leben, oder hast du das schon oft erlebt?

Bruder David Steindl-Rast: Menschen haben im Laufe der Geschichte immer wieder gefunden, dass sie eine Zeit des Zusammenbruchs erleben, das Ende der Welt sogar. Aber unsere Zeit hat einen ehrlichen Anspruch darauf, ganz besonders eine Zeit des Verfalls genannt zu werden. Ich kann ganz genau mit einem Wort sagen, was im Laufe meines langen Lebens in unserer westlichen Gesellschaft verloren gegangen ist: die Ehrfurcht. Es hat in der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaft gegeben, die so sehr die Ehrfurcht verloren hat. Wir nennen das manchmal den Verlust der Religiosität. Aber es geht viel tiefer. Schon in meiner Kindheit ist dieser Verfall eingetreten. Nach dem Ersten Weltkrieg. Da gab es geschichtlich einen starken Bruch.

Wovor ging die Ehrfurcht verloren?

Bruder David: Vor dem Leben, vor der Welt, vor der Schöpfung, vor der Natur, vor dem nächsten Menschen, vor den Einrichtungen der Gesellschaft. Letztlich ist es unsere Beziehung zum innersten Geheimnis des Seins, die Ehrfurcht vor einem letzten Geheimnis des Lebens. Das ist das Tiefste, was uns zusammengeschweißt hat.

Pater Johannes Pausch: Die Katastrophen, die wir im Großen und Kleinen erleben, haben ihren Grund im Verlust der Beziehungsfähigkeit, des Wir-Bewusstseins, der Wir-Verantwortung. Wir haben äußerliche Erfolge, die man nicht kleinreden darf. Wir scheitern nicht an der Eroberung des Mondes. Wir scheitern an der Beziehungslosigkeit zu uns selbst und zu den anderen. Sonst würden wir die Umwelt nicht kaputtmachen. Niemand bezweifelt mehr, dass biologischer Anbau sinnvoll ist. Aber wenn du in einen Supermarkt gehst, hast du drei Sorten spanische Erdbeeren, von denen zwei vergiftet sind. Und alle reden von bio …

Ist der Mensch grundsätzlich auf ein größeres Geheimnis, auf Gott verwiesen?

Bruder David: Das macht uns zu Menschen. Wir sind die Tiere, die nicht darum herumkommen, uns irgendwann im Leben mit dem großen Geheimnis des Seins auseinanderzusetzen.

Pater Johannes: Wenn wir keine Antworten finden, spielen wir verrückt und versuchen, das durch materielle Dinge zu ersetzen.

Bruder David: Wir stecken als Menschheit in der Pubertät. Wir benehmen uns ganz so.

Pater Johannes: Wie pubertierende Lausbuben.

Kann das nicht auch eine Hoffnung sein? Eltern von pubertierenden Kindern sagt man, das geht vorbei …

Bruder David: Das gibt uns Hoffnung. Wir sind im Vergleich zu allen anderen Lebewesen eine sehr junge Spezies. Die Menschheit ist ganz jung. Aber die Pubertät ist manchmal mit großen Problemen und mit großem Schaden verbunden, der angerichtet wird.

Liegt alle Verantwortung bei uns oder auch bei dem, der den Menschen so mangelhaft geschaffen hat?

Bruder David: Das große Geheimnis mischt sich nicht ein. Es hat uns die Freiheit gegeben. Aber dieses Geheimnis, Gott, ist in jedem Augenblick völlig da. Als Kraft, die wir frei verwenden können. Wir müssen still werden, damit wir überhaupt bemerken, was vorgeht in der Welt. Die meisten Menschen haben nur selten einen Augenblick der Stille, am ehesten, wenn jemand stirbt oder sonst etwas Schlimmes passiert …

Was kann aus dieser pubertären Menschheit werden? Gibt es einen Fortschritt zu mehr Menschlichkeit?

Bruder David: In gewissem Sinne gibt es einen Fortschritt, aber auch immer wieder einen Rückschritt. Die Erklärung der Menschenrechte war ein großer Schritt vorwärts. Dass der Papst sagt, die Todesstrafe ist nicht gerechtfertigt, Krieg ist nie gerechtfertigt, ist ein großer Fortschritt.

Pater Johannes: Auch das Bewusstsein ist gewachsen, dass wir Menschen zusammenhängen mit der gesamten Natur, mit der gesamten Schöpfung. Wenn ich keinen Müll wegwerfe, wenn ich die Landschaft nicht missbrauche, sondern sauber halte, trage ich dazu bei. Die anderen, Putin mit seinem Krieg, Trump mit seinen Zöllen, sind die Weltverschmutzer.

Habt ihr Hoffnung, dass die Menschheit einmal ohne Krieg leben wird?

Bruder David: Unser Gehirn ist sehr entwicklungsfähig. Wir sind erst am Anfang. Daher habe ich große Hoffnung. Aber es geht nicht nur um das Denken, sondern um das Fühlen und das Wollen, um das Mitfühlen mit den Leidenden. Alle wissen, dass Waffen nur dazu da sind, andere Menschen umzubringen. Trotzdem verschwenden wir Milliarden für Aufrüstung …
Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir einmal auf den Krieg verzichten können. Gott ist Überraschung. Religiöse Hoffnung ist die völlige Offenheit für Überraschungen. Wenn jemand sich darauf einstellt, merkt er, wie viele Überraschungen jeder einzelne Tag bringt.

Wenn die Tiefe des Religiösen fehlt: Was haben die Religionen falsch gemacht?

Pater Johannes: Dass der Glaube zum Dogma gemacht wurde, reglementiert wurde und auf den Vollzug von Äußerlichkeiten reduziert. Die Beziehungsfähigkeit zu sich selbst und zur Transzendenz, zu Gott, wurde vernachlässigt. Jesus hat die Kinder zu sich genommen, die Frauen wertgeschätzt, hat sich um Menschen gekümmert, die Fehler gemacht hatten, um Randgruppen. Diese Botschaft kann ich nicht als Dogma aufnehmen, sondern nur, wenn ich sie im eigenen Leben sehen, begreifen und spüren kann.

Bruder David: Da stimmen wir völlig überein. Im Laufe der Geschichte ist die Institution Kirche immer mehr verkalkt. Das ist so bei Institutionen. Aber es hat innerhalb der Institution in jedem Jahrhundert auch viele Aufbrüche von lebendigem Glauben gegeben. Das ist so lange unterdrückt worden, bis viele gesagt haben: Wozu brauchen wir die Institution Kirche noch?

Was wäre in unserer heutigen Zeit der Kalklöser?

Bruder David: Der Kalklöser wäre, auf Jesus zurückzukommen. Jesus hat keine Institution gegründet. Es ist unglaublich, wie selten man in der Kirche vom Reich Gottes hört … Dieses Reich Gottes, wie Jesus es meinte, war im Gegensatz zur Machtpyramide ein Netzwerk von Netzwerken. Gewalt, Rivalität und Habsucht charakterisieren die Machtpyramide, Gewaltfreiheit, Zusammenarbeit und Teilen charakterisieren die Netzwerke des Reichs Gottes. Papst Franziskus zielte mit seiner Synodalität weg von der Machtpyramide der Institution und hin auf das, was Jesus mit dem Reich Gottes wollte.

Wie würdet ihr jungen Leuten sagen, welcher spirituelle Schatz ihnen verloren ging und wie sie ihn heben könnten?

Bruder David: Das würde ich nie versuchen. Ich würde nicht für diese Institution werben. Das interessiert mich überhaupt nicht. Ich würde fragen: Wo seid ihr lebendig, wo habt ihr eine Beziehung zum großen Geheimnis des Lebens, in der Musik, in der Poesie, in der Freude …
Wenn sich die Institution Kirche erfängt, werden die Menschen sie auch wiederfinden. Für mich ist das ungeheuer wichtig, ich würde es nie vermissen wollen. Aber nicht als Institution, sondern als Quelle, die mich immer wieder hinführt zur Ehrfurcht, zum Geheimnis des Lebens.

Wo kann man heute in der Welt der Handys und der künstlichen Intelligenz das Geheimnis wiederentdecken?

Bruder David: Ich würde sagen, genau in dieser technisierten Welt, in der sie leben. Wenn sie mit der KI versuchen, das Schöne, das Wahre, das Gute zu verwirklichen. Da steckt ungeheures Potenzial drinnen. Das ließe sich mit Liebe erfüllen und könnte Unglaubliches für die Menschheit leisten. Ich möchte da den jungen Menschen völlig freien Lauf lassen und sie nicht dabei stören, was herauskommen könnte. Wenn ich das wüsste, bräuchten wir eh die jungen Leute nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass künftig niemand mehr mit der Hand schreibt.

Pater Johannes: Obwohl du so schön schreibst.

Bruder David: Ja, mir würde es leidtun, wenn die Handschrift verloren ginge. Aber es muss offenbleiben, was kommt.

Bruder David, du hast die Dankbarkeit immer als Kern des Menschseins betont. Wofür bist du besonders dankbar?

Bruder David: Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass die Dankbarkeit eine Folgeerscheinung ist. Das Eigentliche, was dahinter liegt, ist das Lebensvertrauen. Das macht kreativ, daraus entspringt alles. Als Christ kann ich sagen dass ich dieses Lebensvertrauen auf den lebendigen Gott beziehe. Aber ich würde das niemandem einreden. Es genügt das Vertrauen auf das, was im Leben selbst, im Sein selbst liegt.

Wie kann man Menschen zu diesem Lebensvertrauen führen?

Bruder David: Das ist einfach. Man braucht nur zu zeigen, dass das Leben uns am Leben erhält, mit Tausenden Einflüssen und Vorgängen, über die wir überhaupt keine Macht haben. Der Herzschlag, die Atmung, der Lymphfluss. Das Leben lebt uns, und wenn das auf der physischen Ebene so offensichtlich ist, kann ich vertrauen, dass das auf der geistigen Ebene nicht anders ist.

Dafür braucht es keinen Gott?

Bruder David: Nicht unbedingt das Wort «Gott». Aber mein eigenes Denken und Schreiben kreisen seit langer Zeit um die Namen Gottes. Das ist mir sehr wichtig. Wenn wir vernünftig von Gott sprechen, dann sprechen wir von dem großen innersten Geheimnis des Seins. Aber unter dem ganz bestimmten Gesichtspunkt, dass wir eine persönliche Beziehung zu diesem Geheimnis haben können. Das ist etwas Unglaubliches.

So unglaublich, dass viele diesen Sprung nicht vollziehen können?

Pater Johannes: Meine Erfahrung ist – so furchtbar das ist –, dass Menschen diesen Sprung am ehesten schaffen, wenn sie Leid erfahren. Wenn kranke Menschen Hilfe bekommen, besser mit ihrer Situation umzugehen, finden sie auch Zugang zu diesem letzten großen Geheimnis.

Not lehrt beten, heißt es, aber man kann das niemandem wünschen.

Bruder David: Das brauchst du dir nicht zu wünschen. Das ist so. Jeder Atheist, der den Schlüssel verloren hat und in der Nacht vor der verschlossenen Haustür steht, sagt: Mein Gott, was mache ich jetzt!? Das ist kein Zufall. Gott ist das große Du, das von keinem anderen Du, von keinem menschlichen Du ausgeschöpft wird. Das erleben alle Menschen. Wir haben eine Lebensgeschichte, das sind keine Episoden, sondern es ist eine Geschichte. Die wollen wir also jemandem erzählen, je mehr wir jemanden lieben, desto mehr. Nie aber gelingt uns das ganz, weil unser letztes Du dieses große Geheimnis ist. Diesem großen Gegenüber erzählen wir, ob wir es wollen und wissen oder nicht, unsere Lebensgeschichte. Diese tiefste Beziehung bewusst zu machen und in die Praxis umzusetzen, ist die Aufgabe der Religion.



Quelle: Sonderbeilage 80 Jahre Salzburger Nachrichten  vom 7. Juni 2025

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