Interview mit David Steindl-Rast OSB als Bachelorabschluss-Arbeit von Marcel Zeumer.
Bruder David blickt auf fast einhundert Lebensjahre zurück. Zu Beginn seines Lebens erlebte er den Zweiten Weltkrieg. Wenn er heute auf diese Zeit zurückblickt, stellt er fest, dass er damals dennoch sehr glücklich war – obwohl die meisten seiner Freunde gefallen waren. Woher kam diese Zufriedenheit? Das fragte er sich später. In der Benediktsregel fand er mit der Aufforderung «Den Tod allzeit vor Augen haben» seine Antwort. Das Leben im gegenwärtigen Augenblick war in der Zeit des Krieges das Natürlichste, was es gab. Nach dem Krieg dachte er: «Eigentlich sollte ich Mönch werden.» Nach einer Zeit des Zögerns schlug er diesen Lebensweg ein. 1953 trat er in das neu gegründete benediktinische Reformkloster Mount Saviour in Elmira, N.Y., USA, ein. Daraufhin wurde er im Jahr 1965 von seinem Abt beauftragt, sich dem interreligiösen Dialog zwischen Christentum und Buddhismus zu widmen. Er erlernte Zen und gründete später mit weiteren spirituellen Lehrern das Center for Spiritual Studies in New York. Bruder David lebte immer wieder als Eremit und ging auf Vortragsreisen. Ein bekanntes Format mit ihm ist der TED Talk aus dem Jahr 2013. Darüber hinaus ging er in den Austausch mit Ordensgemeinschaften, Doktoranden renommierter Universitäten sowie mit Friedensaktivisten. Auch engagierte er sich bei Friedensmärschen, insbesondere gegen Atomkraft im Krieg. Währenddessen entstanden Bekanntschaften zu anderen spirituellen Größen, wie u. a. Thích Nhất Hạnh (verst. 2022) und Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama. Sein Wirken für den interreligiösen Dialog wurde mit dem Martin Buber Preis, dem Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen sowie mit dem Goldenen Ehrenzeichen der Republik Österreich ausgezeichnet. In seinen Büchern beschäftigt sich Bruder David mit seinem Lebensthema, der Dankbarkeit als auch mit dem Common Sense der Menschen. Ebenso arbeitet er traditionelle Texte neu auf, um den Ursprungsgedanken herauszukristallisieren.
Lieber Bruder David, zu Beginn dieses Jahres gabst du dem SRF ein Interview, indem du die Welt als verfahren beschrieben hast. Wobei du auch nicht genau weißt, wie es weitergeht. Haben es spirituelle Menschen denn zumindest leichter?
Spiritualität macht das Leben immer leichter für alle Menschen und zu allen Zeiten, weil wir als Menschen auf Spiritualität angelegt sind.
Wie würdest du den Begriff Spiritualität beschreiben?
Wir sind als Menschen darauf angelegt, uns mit dem großen Geheimnis des Lebens auseinanderzusetzen, und das ist Spiritualität. Spiritualität, der Name kommt ja von Spiritus, Geist oder Lebensatem, und Spiritualität ist eigentlich die Lebendigkeit auf allen Ebenen.
Wenn man Menschen auf der Straße fragen würde, ob sie spirituell sind, würden sicherlich einige sagen: „Das ist nichts für mich.“
Für wen ist die Spiritualität?
Das ist nur eine Frage der Definition von Spiritualität und viele Menschen, die man da auf der Straße fragt, stellen sich irgendwas Esoterisches vor. Aber wenn man sie fragt: „Haben Sie schon einmal das große Geheimnis des Lebens erfahren?" Dann sind sie erstaunt. Wir sind jene Tiere, die auf das große Geheimnis in unserem Bewusstsein hin angelegt sind. Das ist schon eine Ur-Gegebenheit unseres Bewusstseins, dass wir auf ein großes Du, auf ein großes Geheimnis hin angelegt sind und uns damit immer wieder neu auseinandersetzen müssen.
Welche Rolle spielen Religionen bei der Spiritualität?
Die Religionsgründer wie der Buddha, Jesus Christus oder auch Mohammed bauten, wenn ich das bildlich ausdrücke, einen Brunnen, welche das Wasser der allen Menschen angeborenen Religiosität heraufbrachte. Dies in einer Form, die für diese Zeit, wo diese Religionsgründer leben, angemessen und zündend war.
Doch wenn diese Religionen eine gewisse Größe erreichen, entwickeln sie sich zu Institutionen. Wir wissen alle, dass Institutionen, ob politische, erzieherische, medizinische, o. a., nach kurzer Zeit ihr Eigenleben entwickeln. Der ursprüngliche Gründungsgrund geht immer mehr in Vergessenheit und sie werden immer mehr auf sich selbst konzentriert. Gar nicht mehr so auf das, was eigentlich ihr Anliegen sein sollte. Und das gilt genauso für die Religionen.
Lass uns nochmal auf den ursprünglichen Gedanken der Religionen zu sprechen kommen. Du nennst es das große Geheimnis. Ist es das, was im Christentum auch Gott oder das Göttliche genannt wird?
Da brauchen wir nur schauen, was sich die Leute unter Gott vorstellen und was sie im Namen Gottes getan haben, im Laufe der Geschichte. Aber Gott, wenn es richtig verwendet wird, ist der Ausdruck für das große Geheimnis. Denn Gott heißt ursprünglich im etymologischen Sinn das Angerufene. Und unter dem Aspekt des Anrufens und des sich in Beziehung setzen mit dem großen Geheimnis kann man auch von Gott sprechen. Vorausgesetzt, dass die Gesprächspartner auch dieses Verständnis haben.
Du hast gerade auch davon gesprochen, sich mit dem großen Geheimnis in Beziehung zu setzen. "In Beziehung kommen" ist auch der Slogan eures Klosters. Wie kommen wir in Beziehung zu uns selbst, zu anderen und dem großen Geheimnis?
Immer wieder in der Gegenwart zu leben, das ist die große spirituelle Aufgabe. Und ‚Gegenwart' sagt ja schon, dass etwas entgegen wartet, und das ist das große Geheimnis.
Warum ist es so schwer, diese Gegenwart zu verwirklichen? Du hast sicherlich viele Erfahrungen im Eremitenleben gesammelt. Wie entkommt man den Ablenkungen, um die Gegenwart zu leben? Es scheint so einfach und doch so schwer zugleich.
Es ist ganz einfach. Aber die einfachsten Dinge fallen uns eben so schwer. Man kann es auf den ganz kurzen Merkspruch ‚stop, look, go' vereinfachen. Immer wieder innehalten, immer wieder hinschauen und hinhorchen, mit allen Sinnen offen sein. Was will das Leben in diesem Augenblick von mir und was schenkt es mir? Diese beiden Dinge – die Gabe und die Aufgabe. Und dann drittens, Go, mach das! Antwortet dem Leben! Und freu dich an dem, was das Leben dir schenkt. Ganz einfach. Aber natürlich auch ziemlich schwierig. Man muss das ganze Leben üben, um es zu können.
Ein weiteres Thema in deinem Leben ist die Dankbarkeit. Magst du dazu was sagen?
Das ist eigentlich schon Dankbarkeit, das ‚stop, look, go'. Denn daraus entspringt Lebensfreude. Weil man dann erst sieht, wie häufig sogar inmitten der größten Schwierigkeiten, für die man nicht dankbar sein kann, dennoch Gelegenheiten zur Dankbarkeit stecken. Selbst inmitten der Schwierigkeiten schenkt uns das Leben immer noch so viel, dass man gar nicht um die Dankbarkeit herumkommt, wenn man ‚stop, look, go' übt. Das Danksagen ist eine Höflichkeit, aber hat weiter nichts damit zu tun. Man sieht mit der stop-look-go-Übung sehr bald, innerhalb von wenigen Minuten, wie sehr wir uns, ohne es zu ahnen, ohne uns dessen bewusst zu werden, Augenblick für Augenblick auf das Leben verlassen. Das Leben lebt uns viel mehr, als wir das Leben leben. Das Leben erhält unseren Körper, erneuert unseren Körper, Augenblick für Augenblick. In jeder Sekunde sterben zwei Millionen roter Blutkörper und werden ersetzt. In jeder Sekunde. Das können wir uns gar nicht vorstellen. Und das ist dein eigener Körper. Und dieses Phänomen lässt sich für jemanden, der den Körper gut kennt, vertausendfachen.
Spannend. Lass uns nochmal auf einen gesellschaftlichen Aspekt blicken, der die Religionen betrifft. Eigentlich sollen die Religionen den Menschen heilen. Auch handeln die religiösen Texte verschiedener Religionen von dem Umgang mit Feindseligkeiten, von denen es ja nach wie vor genügend gibt. Können Religionen hierbei helfen?
Das ist eine sehr gute Frage. Du hast schon gesagt, die Religion soll heilen. Dazu braucht es eine gelebte Spiritualität in der Religion. Wenn wir nicht geheilt sind, fehlt uns etwas. Was fehlt uns? ‚Es' fehlt uns. Und das ist, was uns fehlt, es, die Beziehung zum großen Geheimnis. (Vergleichbar: „Es gibt uns.“ – Was ist das ‚Es' das alles / das Leben gibt?) Und das ist was die Religion, wenn sie funktioniert, wenn sie wirklich lebendig ist, vermittelt, anspornt, unterstützt.
Wenn aber die Religion in die Irre geht und Glauben jetzt nicht mehr Vertrauen heißt (etymologischer Sinn des religiösen Glaubens: Vertrauen), sondern etwas glauben, dann werden Menschen rabiat, weil der andere etwas anderes glaubt. Und auch zu den Kriegen haben die Religionen sehr, sehr viel beigetragen. Die Religionen werden häufig bewusst vereinnahmt von Machthabern und Machtsuchern. Diese verzerren die Religion. Und die verzerrten Religionen, die ausschließlich etwas glauben, statt sich als Vertrauen identifizieren, die stehen ständig im Gegensatz.
Kann man somit zusammenfassen, dass die Religionen zum Guten in der Welt beitragen, wenn sie eben funktionieren und nicht fehlgeleitet sind?
Also eine im besten Sinne religiöse Welt ist eine heile Welt und ist eine Welt, die nicht gespalten ist. Ein guter Maßstab für das Heilsein einer Religion ist, wie gut sie mit allen anderen Religionen auskommt. Aber leider vergessen eben die Religionen, worum es geht. Und sie glauben wie Institutionen: Ich will mich durchsetzen gegen alle anderen. (Haut auf den Tisch.) Naja, dann geht es nicht. Aber stell dir eine Welt vor, in der alle Religionen einander schätzen. In einer solchen Welt könnten wir, könnten die Religionen dazu beitragen, dass wir gemeinsam unsere großen Probleme wie den Klimawandel, die Überbevölkerung, Kriege und so weiter gemeinsam überwinden. Zum Glück gibt es immer wieder Menschen, die innerhalb dieser missglückten Religion vom Standpunkt der Spiritualität oder Religiosität, immer wieder neu das Grundwasser heraufbringen. Oder um es mit einem anderen Bild zu sagen: Die Institutionalisierung kann man vergleichen mit dem Einfrieren. Was ursprünglich lebendiges, fließendes, lebensgebendes Wasser war, ist jetzt Eis. Und das muss mit der Wärme des eigenen Herzens wieder aufgetaut werden.
Ein schönes Bild. Du hast dich in deinem Leben auch viel dem interreligiösen Dialog gewidmet. Manche nennen dich auch Zendiktiner (Kunstwort aus Zen und Benediktiner). Schaust du dennoch weiter als 100-prozentiger Christ aufs Leben?
Wenn man auf die Welt nur durch die Brille der eigenen Religion schaut, ist man schon auf dem falschen Weg. Besonders wenn es darauf ankommt, andere Religionen anzuschauen. Man muss auf die angeborene Religiosität schauen. Auf die kommt es an. Nicht auf die Formen, in denen man sie übernommen hat und praktiziert.
Ich denke, das ist ein gutes Schlusswort.
Hab vielen Dank für Deine Zeit.
Gerne, sehr gerne.
Quelle: Bachelorabschluss-Arbeit von Marcel Zeumer