Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wer eine Autobiografie aufschlägt, lässt sich darauf ein, auch über das Sterben nachzudenken. Das gilt ebenso für Helmut von Loebells Buch Der Stehaufmann (2016).
Ist nicht das ganze Leben ein Sterbenlernen? Ist nicht jedes Umgestoßenwerden des Stehaufmanns ein Sterben, jedes Wiederaufstehen eine Art «Auferstehung»? Ich bin einer, der gelernt hat, aufzustehen, wenn er fällt, schreibt der Autor, und jede Seite dieses Buches liefert den Beweis dafür.
Auch jeder Abschied ist ein Sterben. «Beständiges Abschiednehmen gehört zu den einschneidendsten und schlimmsten Momenten meines Lebens», lesen wir und werden vielleicht an den Vers erinnert, mit dem Rainer Maria Rilke lapidar unser ganzes menschliches Leben beschreibt: «so leben wir und nehmen immer Abschied.»[1]
Jede Trennung ist ein Sterben für uns, besonders die letzte Trennung durch den Tod von uns nahestehenden Menschen. Über den Tod seiner Mutter schreibt Helmut von Loebell: «Sie zog damit die Zugbrücke endgültig ein, die den Graben zwischen uns zeit ihres Lebens nie hatte überbrücken können.» Wir hören das Rasseln dieser Brückenketten und spüren erschüttert, dass hier nicht nur die Mutter starb, sondern er selber.
Scheitern und Enttäuschung können ebenso ein Sterben sein. Bittere Todeserfahrung spricht aus Sätzen wie diesen: «Damit war uns die Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit entzogen. Wir mussten das Projekt aufgeben.» Oder: «Die Schule als Einrichtung des Freien Geisteslebens ist auf Schenkgeld angewiesen. ... Schließlich führte an der Einführung fester Schulbeiträge kein Weg mehr vorbei. Für mich war das ein Scheitern ...»
Nicht nur über sein eigenes Sterben durch Abschiednehmen, Trennung und Scheitern berichtet der Autor mit entwaffnender Aufrichtigkeit, auch in seinem Umfeld hat er Tag für Tag den Tod vor Augen. «In diesem Slumgebiet wird täglich ein Mensch ermordet», berichtet er lakonisch. Ärgeres noch: «Kinder, ... [die] einfach am Leben kein Interesse mehr haben.» Er lebt mit «Erpressungen oder Drohungen gegen Leib und Leben, bei denen ich mich nur mit meinem gepanzerten Toyota-Jeep, dem Chauffeur und einem 38er-Revolver schützen kann». ‒ «Ich hatte schreckliche Ängste durchlebt, Todesängste.»
Aber mitten in einer Welt von Gewalttätigkeit, Tod und unvorstellbarem Elend weiß dieser erfolgreiche Geschäftsmann Mithelfer zu finden und zu begeistern und schafft mit ihnen ‒ weitgehend aus seinen eigenen Mitteln ‒ «eine Atmosphäre der Liebe und eines tiefen Friedens, … einen Hort der menschlichen Wärme».
Und das gelingt ihm nicht nur einmal, sondern immer wieder von Neuem ‒ neuen Notständen angepasst ‒, an einem Ort nach dem anderen.
Als seine «ureigenste Motivation» erkennt er: «Das ehemals traumatisierte Kind hilft anderen traumatisierten Kindern» ‒ steht ihnen bei, «ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und aus dem Kreislauf von Gewalt und Tod auszuscheren». Das heißt tapfer und beherzt zu leben!
«Querdenken wollte ich, um die Not zu wenden, und vertrauen.»
Dieses Lebensvertrauen bewährt sich immer wieder. «Um mit Hölderlin zu sprechen: ‹Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch›!»[2] ‒
«Während der Untersuchungshaft war ich an meine eigenen Grenzen gestoßen und hatte erfahren, dass es eine höhere Kraft in mir gab, die mich diese Zeit hatte überleben lassen.»
Überleben! Nicht um ein geschwächtes Überdauern geht es dabei, sondern um eine Lebendigkeit, die ‒ inmitten von Gefahr ‒ durch Mut zum Wagnis geradezu überschäumt.
Rühmen nennt Rilke diese Lebendigkeit. Rühmen ist für ihn nicht ein zahmes Besingen, sondern der Inbegriff gewagten Lebens. Auf die Frage, worum es denn eigentlich gehe im Leben, antwortet der Dichter:
«Rühmen, das ist's!»[3]
Aber «Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.»[4]
Unter Todesschatten und Schicksalsschlägen lebt Helmut von Loebell, dieser Stehaufmann, ein randvolles Menschenleben. Durch seinen Lebensmut liefert er den Beweis für die leidgeprüften und doch triumphierenden Worte Rilkes:
«Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»[5]
Diese Autobiografie ist ein Rühmen, ein Lobpreis des Lebens ‒ allem Tod zum Trotz. Dadurch wird sie zur Herausforderung und Lebensschule für uns alle. Auch wir leben ja unter dem Schatten des Todes ‒ unseres eigenen Todes zumindest ‒, dem Höhepunkt jeder Biografie. Höhepunkt, denn
«der Mensch stirbt nicht am Tode, sondern an ausgereifter Liebe.» (Otto Mauer)[6]
«Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.»[7]
Auch für Helmut von Loebell bleibt das Ausreifen selbstverständlich noch Aufgabe.
«Ich war immer ein Mensch, der sich nicht auf Erreichtem ausgeruht hat, sondern, wenn etwas abgeschlossen war, sich auf den Weg zu neuen Zielen gemacht hat. Was bleibt mir also für die Zukunft zu wünschen?» ‒
Was bleibt uns, den Lesern, zu wünschen? Die große amerikanische Dichterin Mary Oliver gibt eine Antwort auf diese Frage, der ich von Herzen zustimmen kann:
«Wenn‘s aus ist, möchte ich sagen, mein Leben lang
war ich als Braut dem Staunen angetraut,
nahm ich als Bräutigam die Welt in meine Arme.»[8]
Und dann stellt sie uns die Frage, die auch dieses Buch uns letztlich stellt, eine unumgängliche Frage, der wir uns verantwortlich stellen müssen:
«Stirbt nicht alles zuletzt und zu bald?
Sag' mir, was planst denn du zu tun mit deinem
einen abenteuerlichen und so kostbaren Leben?»[9]
[Obiger Text unter dem Titel: ‹Lobpreis des Lebens› ist das Vorwort von Bruder David im Buch Der Stehaufmann (2016); siehe auch den Film Würde ‒ was wären wir ohne sie? (2018), Übersicht über die Themen des Gesprächs und Auszüge]
[Ergänzend:
1. Abschied, der Klang des Lebens
2. Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag: Drei Grundfragen Warum? Was? Wie? (Bruder David):
(32:10) Unsere Aufgabe: ‹Rühmen, das ists› (Rilke: Sonette an Orpheus ‒ ‹Ich geh doch immer auf dich zu› (Rilke: ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst›) ‒ Kann man denn alles rühmen? ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) ‒ ‹Zwischen den Hämmern besteht unser Herz› (Rilke: Die Neunte Elegie) ‒ Die Dunkelheit, der Schatten des Geheimnisses und unser eigener Schatten gehören zum Ganzen dazu ‒ ‹Du Dunkelheit aus der ich stamme› (Rilke: Das Stunden-Buch)
(58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen
3. Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur – ‹Rühmen, das ists› (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII) – Gott verherrlichen / ‹O trotz Schicksal: die herrlichen Überflüsse› (Die Sonette 2. Teil, XXII) – Wir sind die Treibenden (Die Sonette 1. Teil, XXII) / (31:05) ‹Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst› (Die Sonette 2. Teil, XXI) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (hl. Augustinus) / (35:04) Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn (Die Sonette 1. Teil, VIII) – Zwischen den Hämmern besteht unser Herz (Die neunte Elegie) / (39:35) ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Brief an Witold Hulewicz, 13. Nov. 1925) – ‹Preise dem Engel die Welt› – ‹Aber weil Hiersein viel ist› (Die neunte Elegie)
Schweigen
(28:01) Denn wir sind nur die Schale und das Blatt (Das Stundenbuch); siehe auch Anm. 7]
________________
[1] Rilke, der letzte Vers in der achten Duineser Elegie: ‹So leben wir und nehmen immer Abschied›; siehe das Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
[2] Friedrich Hölderlin: ‹Patmos›; Bruder David in seinem Buch Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 168f.; ebd. in Reich Gottes ‒ die Vision leben: Ergänzend: 3.:
«Die einzige Antwort, die ich für mich persönlich [auf das Scheitern der ursprünglich gelebten franziskanischen Bewegung] finde, sind Hölderlins Verse:
‹Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.›
‹An Zimmern›
Ich glaube an eine Vollendung aller positiven Bemühungen jenseits der Zeit. Dafür kann ich keine Beweise liefern, aber das Gute, das Schöne, das Wahre hat Bestand und unterliegt zu einem gewissen Grad nicht der Zeit. Alle Aufopferung, die wir dem Guten, Schönen und Wahren widmen, vor allem die Mühe, die wir dafür einsetzen, kann nicht verloren gehen. Mehr kann ich nicht sagen. Diese Überzeugung brauchen wir, sonst müssen wir verzagen.»
[3] Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 132-134
[4] R. M. Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, IX; siehe auch Doppelbereich Ich-Selbst und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 99-101
[5] Rilke: Die neunte Duineser Elegie; siehe auch Singen: Haupttext und Anm. 2
[6] Das Wort von Otto Mauer ist ein Leitwort für Bruder David, das wir immer wieder von ihm lesen und hören. Eindrücklich am Schluss des Filmes Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024)
[7] Rilke: Das Stunden-Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 118
[8] aus: Mary Oliver: When Death Comes:
«When it’s over, I want to say: all my life
I was a bride married to amazement.
I was the bridegroom, taking the world into my arms.»
[9] aus: Mary Oliver: The Summer Day:
«Doesn't everything die at last, and too soon?
TeIl me, what is it you plan to do
With your one wild and precious life?»